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Kurzbeschreibung:

Durch die Hilfe der Rebellen ist Tyr dem Tode entronnen, doch wird er nun in ihren Krieg gegen den Kreis der Erhobenen verwickelt. Unter Mördern und Plünderern muss er fortan seinen Wert beweisen und seine Schuld begleichen, wenn er seine Heimat je wiedersehen möchte. Dabei macht er eine schreckliche Entdeckung, die alles verändert.

Tom K. Williams

Apokalyptika 

Vierter Akt: Unter Mördern

Edel Elements

Vierter Akt

III. Mein Zuhause, meine Burg

Das Hauptquartier der Widerständler lag noch im nächtlichen Schlummer, als die drei Reisenden die Pforte ins unterirdische Reich durchquerten. Müde und erschöpft fiel Dipterus auf seine Pritsche, ohne die Zeit zu haben, sich der verdreckten Reiseklamotten zu entledigen. Tyr und Araneus ließen sich in der Haupthalle nieder.

Eine Zeit lang schwiegen beide, streckten ihre müden Füße durch und genossen die Stille.

Nach einer Weile stand Tyr auf und sprach: „Ich gehe mich noch waschen, dann sehe ich nach Aveline.“

Der Schwarzäugige nickte abwesend. „Ja, tu das. Genieße die Jugend, mein Freund.“

Verwundert sah Tyr ihn an. „Was ist los mit dir?“

Der Sitzende schenkte ihm nur einen müden Blick. „Ich meine nur, dass du die Freuden der Zweisamkeit genießen sollst, so lange du noch kannst. In dieser Welt musst du schnell sein, ungebunden, nicht verletzbar. Eine Frau ist ein Klotz am Bein, verstehst du?“

„Nicht wirklich. Du machst nicht den Eindruck, als würdest du dir viel aus solchen Dingen machen. Warum also so verbittert?“

Plötzlich sprang Araneus auf, Wut stand ihm in den Augen. „Verbittert? Heb dir dein Gefasel für deine Beischläferin auf. Ich sehe die Welt nur so, wie sie wirklich ist. Freu du dich am Leben und an der Illusion, obwohl deine Begeisterung für die Kleine im Grunde nur der Wunsch deiner Natur ist – und zwar nach Fortpflanzung.“

„Du bist ein Idiot, Araneus.“

Tyr wollte gerade gehen, da sprach ihn der Schwarzäugige noch einmal von hinten an: „Vielleicht habe ich uns beide verwechselt.“

Er wandte sich mit fragendem Gesichtsausdruck um.

„Vergiss, was ich gesagt habe.“

„Was ist mit ihr passiert?“, wollte Tyr wissen.

Araneus Gesichtsausdruck durchlief eine grundlegende Wandlung. „Sie ist tot. Schon lange…“

„Die Strahlung?“

„Ja.“

Für einige Augenblicke sahen sich die beiden schweigend an.

„Schlaf gut, Araneus. Lass die Toten ruhen.“

„Ich werde es versuchen…“

Dann ging Tyr in Richtung seines Schlafquartiers davon, der Schwarzäugige verharrte in der Haupthalle und ließ den Kopf auf die Brust sinken.

Vorsichtig und auf leisen Sohlen betrat Tyr den Raum. Schwaden von verbrannten Duftkräutern hingen in der Luft, dazu der vertraute Geruch von Aveline. Erst streifte er sich seine Kleider vom Leib, warf sie unachtsam in eine Ecke und verstaute seine Stiefel im Eingangsbereich, dann senkte er sich behutsam zu ihr herab. Sie schlief fest und regungslos, hatte ihm den Rücken zugewandt. Sie hatte sich beide Decken um den Körper gewickelt, also griff er sich ein Ende der Wulst und schob sich darunter. Ihre Wärme zu fühlen, gefiel ihm, einen Arm um sie legend schloss er die Augen. Im Schlaf schien sie ihn zu bemerken – sie lächelte sanft und nahm seine fleischliche Hand. Morgen würde sie sich wohl erschrecken, wenn sie den kalten Stahl seines anderen Armes fühlte, aber das hatte Zeit. Jetzt wollte Tyr einfach nur schlafen.

Tyr wurde nicht vom erwachenden Körper seiner Gefährtin geweckt, auch nicht vom spitzen Schrei aus ihrer Kehle, weil sie seinen künstlichen Arm bemerkt hatte. Es war ein Donnern, tief und eindringlich.

Der Boden zitterte.

Sofort war er aufgerichtet, seine Augen weit geöffnet.

Tyr packte Aveline und schüttelte ihre Schulter.

„Was ist los?“, fragte sie überfordert. Sichtbar setzte sich das Bild des Raumes für sie nach und nach zusammen.

„Zieh dich an. Jetzt!“ Da war er auch schon aufgesprungen, sammelte hektisch seine Klamotten zusammen. Aveline hatte noch immer nicht begriffen.

„Verdammt noch mal, Aveline, steh endlich auf!“ Kraftvoll stieß er seine Füße in die schweren Stiefel. „Da draußen ist irgendwas im Gange!“

Plötzlich hörte er dumpf das vertraute Rattern automatischer Waffen. Dann weitere Erschütterungen. Ihre Augen weiteten sich entsetzt.

„Da draußen wird gekämpft. Los, geh in die Haupthalle! Such die Kinder zusammen und versteckt euch irgendwo!“

Schon wollte Tyr durch den Eingang stürmen, da rief Aveline ihm nach: „Und was machst du?“

Kurz verharrte er, langsam drehte er den Kopf herum. „Ich geh raus und helfe den anderen.“

In ihren Augen glänzte es feucht. „Pass auf dich auf…“

Er nickte. Dann rannte er um die Ecke in den Flur.

Auf den Gängen war der Lärm größer. Menschen liefen durcheinander, schrien, griffen sich Waffen oder suchten ihre Angehörigen.

Plötzlich stand Odonata vor ihm. Er schrie sie an: „Was zum Teufel ist hier los?“

„Was denkst du, du Schwachkopf? Die Legion ist hier! Die Aasfresser haben uns gefunden.“ Als ob ihre Worte unterstrichen werden sollten, erschütterte eine nahe Explosion den Tunnel. Etwa zwanzig Meter vor ihnen schoss das Erdreich zusammen mit Feuer und Rauch aus der Wand und begrub flüchtende Menschen unter sich. Durch das Loch strömten Hilfstruppen und Legionäre des Kreises hinein. Sie schossen wahllos um sich – hilflos mussten die beiden mit ansehen, wie herumirrende Frauen und Kinder blutend zusammenbrachen.

Odonata schrie aus voller Kehle, riss einen Revolver aus ihrem Gürtel und feuerte los. Die Feinde erwiderten die Schüsse aus dutzenden Läufen. Ein bewaffneter Widerständler, der neben den beiden stand und noch in Schlafklamotten gekleidet war, wurde am Kopf getroffen. Eine Blutfontäne schoss ihm aus dem Hinterkopf, dann riss es ihn von den Füßen. Tyr packte die rasende Odonata an der Schulter und zog sie tiefer in den Gang hinein.

„Lass mich los, du Bastard! Lass mich los! Ich werde sie alle umbringen!“

Er zog sie umso fester. „Sei still! Wir sammeln uns mit den anderen!“

Tyr hatte die Situation erkannt – sie hätten keine Chance gehabt. Überall flogen Querschläger umher, Erdbrocken wurden aus den Tunnelwänden gerissen, Menschen brachen verwundet zusammen. Die Legionäre gingen organisiert und tödlich präzise vor und hatten das Überraschungsmoment auf ihrer Seite. Jeder, der keine eiserne Maske im Gesicht trug, wurde niedergemäht. Verwundete flehten um Gnade, sie bekamen das Bajonett zu spüren. Menschenmassen, die sich durch die engen Passagen des Labyrinths drängten, wurden mit Kugelsalven eingedeckt. Immer wieder erschütterten heftige Detonationen das Hauptquartier. Der Angriff war gut geplant und vorbereitet.

Tyr bog mit Odonata um eine Tunnelgabelung – sie wurden beinahe von den eigenen Leuten erschossen. Dipterus und Vespa Crabro hatten mit einem halben Dutzend Widerständlern einen Hinterhalt gelegt.

„Verdammt, geh mir aus der Schusslinie, du Hundesohn!“ Der Dreiohrige zeigte den Gesichtsausdruck eines angriffslustigen Bären. Tyr und seine Begleiterin stürmten durch die Gruppe hindurch und griffen sich Gewehre. „Wo kommt ihr her?“

„Von Osten. Da lebt keiner mehr…“ Tyrs Kehle schnürte sich zusammen, als er die Worte aussprach. Er dachte an Aveline. „Wo sind Araneus und der Kommandant?“

Der stumme Vespa Crabro gestikulierte wild und zeigte nach Westen.

Nach einer Weile blaffte Dipterus: „Ist auch scheißegal. Wir sollten sehen, dass wir uns in die Haupthalle vorarbeiten. Immer drei Mann voraus – will nicht in einen Hinterhalt laufen. Verwundete werden liegengelassen. Noch Fragen?“

Keine Antwort. Die Gruppe stürmte los.

Sie liefen nur etwa hundert Meter bis zur nächsten Kreuzung, da wurde die drei Mann starke Vorhut von einem Sturmhagel von Projektilen in Stücke gerissen. Die anderen warfen sich auf den Boden. Tyr kroch zu Dipterus hinüber. Er spürte, dass er mit dem Unterarm in einer Pfütze warmen Blutes lag.

Vespa Crabro sprang unvermittelt auf und zog ein unscheinbares Päckchen aus dem Mantel. An diesem hing eine dünne Schnur, die er entzündete. Weiße Funken sprühten aus dem kleinen Glutfleck, der sich immer näher an das Päckchen heranfraß. Träger, dunkler Qualm stieg auf. Als die Glut das Paket fast erreicht hatte, schleuderte er es mit unglaublicher Wucht den Gang entlang. Eine durchdringende Explosion erschütterte den Tunnel, Schrapnelle flogen durch die Luft, wehklagende Schreie gingen im Getöse unter. Sofort lehnte sich Odonata um die Ecke und feuerte aus allen Rohren.

„Weiter!“, schrie Dipterus und sprang auf die Beine. „Unsere Leute brauchen uns!“

Tyr biss die Zähne zusammen. Wie konnte das alles nur passieren? Überall lagen tote Widerständler und deren Angehörige, nur vereinzelt Männer des Kreises. Dies war ein vernichtender Schlag. Der Kreis wollte sein Problem für alle Zeiten aus der Welt schaffen.

Sie bogen in die Haupthalle ein und stießen auf das nächste Schlachtfeld.

Dort, wo Tyr noch Stunden zuvor mit Araneus zusammengesessen hatte, tobte ein erbittertes Gefecht. Widerständler hatten Tische umgestoßen und feuerten aus ihrer Deckung heraus, Feinde stürmten in Wellen nach vorne, blieben liegen, wichen zurück und griffen wieder an. Sperrfeuer deckte die Verteidiger ein. Inmitten des Chaos stand Araneus aufrecht, brüllte Befehle und feuerte um sich. Seine Deckung zerbröselte allmählich wie trockenes Brot.

Tyr rannte zu Araneus in Sicherheit und ließ sich neben ihm auf den Boden fallen. Dieser brüllte ihn noch im Kommen an: „Wo bist du gewesen, du nutzloser…“

„Habe versucht, nicht getötet zu werden!“

Odonata kam neben den beiden zum Stehen. „Wo ist der Kommandant? Er muss den Gegenangriff anführen!“

„Gegenangriff? Bist du irre? Das ist ein Totalangriff. Das Einzige, was wir tun können, ist, unsere Familien hier rauszubekommen und dann kämpfend zu sterben!“

Odonata holte zu einer Ohrfeige aus, die in der Luft erstarrte. „Wo ist dieser Feigling nun?“

„Er ist immer noch dein Vorgesetzter!“

Wie aufs Stichwort erschien der Kommandant mit entschlossener Miene hinter den Verteidigern, gesäumt von vier Widerständlern in voller Kampfmontur. In seiner Faust hielt er eine Handfeuerwaffe mit großem Trommelmagazin.

Er fragte mit kalter Stimme: „Wie hoch sind unsere Verluste?“

Dipterus wirkte, als wollte er ihm augenblicklich ins Gesicht spucken. „Wie hoch unsere Verluste sind? Sieh dich doch nur um, Mann! Das hier ist das Ende, das Hauptquartier ersäuft im Blut!“

Eine ungezielte Salve aus dem Hinterhalt prasselte zwischen ihnen nieder, ein Begleiter des Kommandanten wurde am Hals getroffen. Er brach röchelnd zusammen.

„Nimm dich zusammen! Wir müssen unsere Kräfte sammeln und so viele retten, wie es uns nur möglich ist!“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Ich stehe zu Araneus. Es wird uns nichts anderes übrigbleiben, als bis zum Ende durchzuhalten. Der Geheimtunnel aus meinem Dienstzimmer…“ Eine lange Salve zischte über ihre Köpfe hinweg, die Widerständler erwiderten nach Gehör das Feuer. „Der Geheimtunnel führt hinaus in die Ödnis. Wir werden ihn verteidigen müssen, wenn Kinder, Frauen und die Verwundeten Zeit für die Flucht haben sollen.“

Zwei Sprengladungen explodierten im nächsten Augenblick scheppernd in der Haupthalle.

„Es geht wieder los!“, brüllte Dipterus und warf sich auf den Bauch, neben ihm Vespa Crabro, der eine provisorische Granate vorbereitete. Tyr riss sein Gewehr empor und schoss das gesamte Magazin leer, ging in Deckung und lud nach. Dann das gleiche Spiel nochmal. Er zielte nicht, er sprang einfach auf, ließ den Lauf kreisen und drückte den Abzug durch. Das Hämmern des Rückstoßes schlug monoton gegen seine Brust, leere Patronenhülsen flogen seitlich aus der Waffe. Das stakkatoartige Aufleuchten der Mündungsblitze ließ sein wutverzerrtes, schreiendes Gesicht tatsächlich wie das eines Dämons erscheinen. Auch die restlichen Verteidiger, eingeschlossen der Kommandant, wehrten sich aufs Äußerste. Vespa Crabros Sprengladung detonierte zwischen zwei Feinden, die damit ihren letzten Kampf geschlagen hatten.

Plötzlich tauchte aus einem nicht besetzten Seitengang vor den Verteidigern ein langer Zug von Flüchtigen auf. Sie rannten geduckt auf die Verschanzung zu. Die dem Kampfrausch verfallenen Soldaten des Kreises schwenkten sofort ihre Waffen herum. Ein Blutbad zeichnete sich ab. Es brauchte keinen Befehl – laut schreiend sprangen die Verteidiger aus ihren Deckungen und rannten auf den abgelenkten Feind zu. Etliche Widerständler brachen im blitzschnellen Gegenfeuer zusammen, überschlugen sich und blieben liegen. Der Großteil jedoch erreichte den Gegner, allen voran Tyr und Araneus. Nun kam sein Stahlarm zum Einsatz! Während er mit seinem menschlichen Arm Legionäre von sich wegstieß, schlug er mit dem anderen gnadenlos auf sie ein. Araneus riss ungläubig die Augen auf, als er zu ihm hinübersah. So etwas hatte er in seinem Leben wohl noch nie gesehen! Doch es blieb ihm keine Zeit fürs Staunen. Ein unachtsamer Moment und er sah in den Lauf einer gegnerischen Waffe. Noch bevor der Hilfstruppensoldat vor ihm abdrücken konnte, hatte er ihm mit voller Wucht in den Bauch getreten. Als dieser sich zusammenkrampft und bückt, rammt ihm der Schwarzäugige sein krummes Messer in den Rücken. Jetzt war keine Zeit für Fairness oder Gnade, jetzt ging es ums nackte Überleben! Während die Widerständler im Nahkampf steckten, konnten sich Dutzende Flüchtige hinter die Verschanzung retten. Der Kommandant befahl den Rückzug in der Sekunde, in der alle gerettet schienen. Tyr packte sich einen der Feinde und hielt ihn als menschliches Schutzschild vor sich, während er zurückwich. Viele folgten ihm.

Die übriggebliebenen Legionäre und ihre gerade herangeeilte Verstärkung wussten nicht, was sie tun sollten. Während sie mit sich haderten, ob sie auf ihre eigenen Kameraden schießen sollten, brachten sich die Verteidiger in Sicherheit. Unmittelbar dröhnte das Gegenfeuer durch die Gänge.

Tyr sprang mit seinem Gefangenen hinter eine umgefallene Steinsäule und schlug ihn nieder. Um den würde er sich später kümmern. Jetzt musste er weiterkämpfen. Doch gerade, als er sein Gewehr über die Deckung schieben wollte, kam ihm ein allzu dringlicher Gedanke. Hinter ihm wurden gerade die Flüchtenden zum Dienstzimmer des Kommandanten geleitet, von wo aus sie nach draußen geschafft werden sollten. Ohne darüber nachzudenken, setzte er sich nach hinten ab.

Die erstbeste freiwillige Helferin sprach er an: „Habt ihr Aveline gesehen? Sie wollte die Kinder evakuieren, sie…“

Die Frau riss die Augen auf. „Ja, ich hab sie gesehen, sie hat uns die Kinder anvertraut und ist mit zwei anderen Frauen im Schlafsaal der Kinder geblieben. Ich glaube, sie hat jemanden gesucht.“

Tyrs Herz begann schneller und schneller zu schlagen. Wieso hatte er nicht daran gedacht? Natürlich würde Aveline dort warten, damit er sie fand. Bei dem Gedanken, dass der Kampf bis dorthin vorgedrungen war, lief es ihm eiskalt den Rücken hinunter.

Gehetzt lief er zum Kommandanten. Dieser fummelte gerade eine neue Munitionstrommel in seinen Revolver. „Ich muss hier weg, schnell!“

„Verlierst du die Nerven, Junge?“ In den Augen des Anführers lag Verachtung.

Tyrs Züge verhärteten sich. „Aveline, sie ist da draußen und wartet auf mich!“

„Wir alle haben Familie, Junge! Heul nicht rum und schieß zurück!“ Eine gut gezielte Salve zertrümmerte die Deckung des Kommandanten.

„Ich geh da raus!“

„Nein, tust du nicht!“