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Lo Jakob

GELOGENE WAHRHEITEN

Eine Fortsetzung des Romans
Ehrliche Haut

© 2020

édition el!es

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ISBN 978-3-95609-307-4

Kapitel 1

Flix

Flix schob ihren Putzwagen wie schon die letzten vierzehn Tage durch das Museum für alte Kulturen und ging dem nach, wofür sie hier angestellt worden war: Putzen.

Heute stand eine außerordentliche Putzaktion auf dem Plan, und sie und ihre Kolleginnen waren ausgeschwärmt wie die Heuschrecken. Es galt, sich an ein festes Zeitfenster zu halten, das hatte ihnen ihr Vorarbeiter solange eingehämmert, bis es ihnen zu den Ohren herauskam. Denn die Alarmanlage für die einzelnen Schaukästen würde ausgeschaltet werden. Genau für eine Stunde. Keine Sekunde länger.

Flix hatte ein gelangweiltes Gesicht gezogen und Kaugummi gekaut. Wie schon die letzten vierzehn Tage. Sie war stets der Inbegriff der nicht besonders hellen, verkrachten Partymaus, die schon bessere Zeiten erlebt hatte. Keiner hatte ihre Fassade angezweifelt, und heute würde sich das auszahlen.

Sie kam in dem ihr zugeteilten Raum an. Sie wäre zur Stelle, wie es ihr Vorarbeiter verlangt hatte. Nur wusste der Ärmste nichts von ihrem Plan.

Ganz wie befohlen nahm Flix den Staubwedel zur Hand und wartete auf die Lautsprecherdurchsage, die das Startsignal geben würde. Ihr Auftrag lautete, die Vitrinen sowie die Zimmerecken an der Decke zu entstauben. Aus naheliegenden Gründen wurde das nur einmal im Jahr gründlich gemacht. Und wenn es gemacht wurde, gab es so viele Sicherheitslücken, dass man wie durch eine Gardine durchschauen konnte.

Es war unglaublich, wie leicht das Museum es ihr machte. Das Sicherheitspersonal war zwar anwesend, konnte aber nicht überall gleichzeitig sein.

Flix würde nur exakt dreieinhalb Minuten allein im Raum mit abgeschalteten Sensoren brauchen. Das war alles. Und bisher war noch kein Sicherheitsmensch zu sehen, und nach ihrer Schätzung würde sie auch niemanden mehr zu sehen bekommen. Rein rechnerisch war die Wahrscheinlichkeit sehr gering. Sie hatte wie immer alles akribisch vorbereitet und geplant. Meisterdiebin blieb eben Meisterdiebin.

Mit dem Staubwedel in der Hand stellte sie etwas ungeschickt ihre mitgebrachte Aluleiter zurecht, um in der vom Eingang gesehen linken Ecke anzufangen mit der Spinnwebenbeseitigung. Das war die Vorgabe des Vorarbeiters, bis das Signal kam. Geradezu ideal für ihre Pläne.

Sie war sich die ganze Zeit bewusst, dass sie theoretisch beobachtet wurde. Jede Sekunde, jeder ihrer Schritte. Nämlich genau von der Überwachungskamera in der linken Ecke, in der jetzt ihre Leiter stand. Mit Sicherheit wurde das auch aufgezeichnet. Alles andere wäre grob fahrlässig gewesen.

Wie dem auch sei, sie gab eine hervorragende, fast schon an Slapstick grenzende Einlage: die dusselige Putzfrau und ihre Leiter. Harold Lloyd wäre stolz auf sie gewesen.

Flix kletterte hoch und fing umständlich an, Spinnweben wegzufeudeln. Mit dem Gesicht ganz dicht an der Kamera ließ sie ihre Kaugummiblase platzen. Das Spiel machte richtiggehend Spaß. Gleichzeitig war da dieses Kribbeln, diese geile Aufregung, die sie eine lange Zeit vermisst hatte. So langsam sollte das Signal mal kommen, dachte sie. Nicht weil sonst ihr Plan nicht klappte, sondern schlicht und ergreifend weil sie sich wie ein gedoptes Rennpferd in seiner Startbox fühlte. Sie wollte losrennen und nicht zurückschauen. Doch ihr Paps hatte sie gelehrt, genau diese Impulse gut unter Kontrolle zu halten. Die waren es nämlich, die einem einen Riesenärger einhandeln konnten. So wie den mit Dschafarow vor zwei Jahren. Das war ihr eine Lehre gewesen.

Flix atmete einmal tief durch und wedelte in aller Seelenruhe weiter. Spinnweben gab es schon lange keine mehr, aber das konnten ihre Beobachter am anderen Ende des Kamera-Signals ja nicht wissen.

Der alberne kurze Kittel in schreiendem Pink, den sie zur Arbeit hier im Museum tragen musste, kniff sie schon wieder ins rechte Schulterblatt. Wie gut, dass heute der letzte Tag war, an dem sie ihn tragen musste. Die armen Kolleginnen, die das nicht sagen konnten.

Das schrille Klingeln des Signals riss sie aus ihren abschweifenden Gedanken. Sie tat so, als ob sie erschrak und beim Versuch, schnell von der Leiter zu steigen, mit ihrem ausschlagenden Wedel die Kamera traf. Soooo ungeschickt!

Der Schlag war allerdings genau berechnet und drehte das Kameraauge aus seiner ausgeklügelten Position, in der es den ganzen Raum hatte erfassen können. Jetzt erfasste es nur noch die Wand ganz rechts. Für den Rest des Raumes war die Linse jetzt blind. Flix konnte, bis das bemerkt würde, machen, was sie wollte.

Sie sprang von der Leiter und war in zwei Sekunden bei der Vitrine, auf die sie es abgesehen hatte. Die Bewegungssensoren waren wie angekündigt auch hier tot. Ansonsten wäre der Alarm losgegangen, als sie jetzt kurzerhand das ganze Ensemble anhob. Der gläserne Kasten ließ sich ohne Weiteres vom Boden trennen, und vor ihr lag eine aus Schwanenknochen geschnitzte Urzeitflöte. Ein unbezahlbares, weltweit einzigartiges Artefakt. Wenn sie nicht schon Handschuhe angehabt hätte, hätte sie sich jetzt welche übergestülpt. Solche heiklen Gegenstände sollten nicht mit bloßen Händen berührt werden.

Aus dem Müllbeutel an ihrem Putzwagen holte Flix das Spezialgefäß heraus, das sie für diesen Moment dort deponiert hatte. Sie hatte es extra für die Flöte hergestellt. Gepolstert und wasserdicht würde es eine vorübergehende sichere Heimat für die Schwanenknochenflöte sein.

Vorsichtig transferierte sie das Artefakt von seiner Vitrine in die Box und ließ es sofort ins Putzwasser gleiten. Sanft sank es hinab und war in dem seifigen Wasser außer Sichtweite. Dann zog Flix einen lackierten Holznachbau, ebenfalls Marke Eigenbau, selbst geschnitzt und angemalt, aus dem Müllsack und deponierte ihn in der Vitrine. Glaskasten wieder drauf. Fertig.

Blick auf die Uhr. Die ganze Aktion hatte seit Ertönen des Signals zwei Minuten und siebenunddreißig Sekunden gedauert. Sie war noch schneller, als sie es gedacht hatte. Flix war von sich selbst ganz begeistert und davon, dass ihre Fähigkeiten kein Stück rostig geworden waren. Sie gemahnte sich allerdings sofort zur Vernunft und schnappte sich wieder den Staubwedel. Sie ging zur am weitesten entfernten Vitrine und fing dort an, mit Wedel und antistatischem Tuch ihrem Job nachzugehen.

So wurde sie dann auch vom Sicherheitsmann gefunden, der wegen der aus der Position geratenen Kamera angerannt kam. Flix ließ ihren Kaugummi knallen und spielte die von Partydrogen dusselig gewordene Putzkraft, die alle im Museum schon kannten, weil sie wirklich knalldoof und schon nach vierzehn Tagen bekannt wie ein bunter Hund dafür war.

Er lachte nur gehässig über ihre saudämliche Begründung für die Sache mit der Kamera, stieg auf ihre Leiter und schob das Ding angeleitet über sein Walkie-Talkie in Position zurück.

Flix arbeitete sich währenddessen von einer Vitrine zur anderen. Der Wachmann schenkte ihr beim Verlassen des Raumes ein hämisches Grinsen und ließ sie allein zurück. Von einer Dumpfbacke wie ihr erwartete er nichts, außer dass sie vielleicht so dämlich war, über eine Vitrine zu stolpern. Ihr Schatzkistchen im Putzwasser war in Sicherheit, solange sie nur ihr Image aufrechterhielt.

Als die Vorwarnung erklang, dass das Alarmsystem wieder aktiviert wurde, war sie mit allem fertig, was ihr aufgetragen worden war.

Sie schlenderte mit einem neuen Kaugummi im Mund durch die Flure und schob gelangweilt ihren Putzwagen vor sich her. Innerlich war sie aber das Gegenteil. Alles in ihr vibrierte mit Leben und wurde mit Adrenalin durchgespült bis in die Haarspitzen. Ein saugutes Gefühl, das sie nicht durchschimmern lassen durfte.

Ihre Kaugummiblasen wurden immer größer, und als sie den ersten Kolleginnen begegnete, verdrehten die nur die Augen.

Auf den kommenden Moment hatte Flix sich sehr gut vorbereitet. Jetzt würde es noch mal heikel werden. Sie musste die Box mit der Flöte aus dem Putzwasser unbeobachtet in ihre Tasche verfrachten. Als Vorbereitung darauf hatte sie schon seit ihrem ersten Arbeitstag als Raumpflegerin im Museum dafür gesorgt, dass sie für das Auswischen der Putzeimer zuständig war. Sie hatte behauptet, dass sie das gern machte, und da alle anderen Frauen nach Schichtende nichts wie raus wollten, um für die aus der Schule kommenden Kinder zu kochen, überließen sie ihr das nur allzu gern. Wer wischte schon gern die Putzeimer aus, wenn es solch eine Hohlbirne wie Flix gab?

Keine fünf Minuten später stand sie also allein da mit acht geleerten Eimern und ihrem immer noch mit schmutzigem Seifenwasser gefüllten. Die letzte Kollegin winkte ihr noch freundlich und sogar mit einem Dank zu, und Flix hörte die Tür ins Schloss fallen, als sie gerade Eimer Nummer vier auswischte und in seinen Wagen zurückstellte.

In aller Seelenruhe angelte sie die Spezialbox aus dem Schmutzwasser, trocknete sie am Handtuchautomaten ab und huschte eilig zu ihrem Spind im Nebenraum. Ihr Rucksack hatte einen doppelten Boden, und da hinein verschwand die Tausende von Jahren alte Schwanenknochenflöte. Bestens behütet in der Obhut einer der besten Diebinnen der Neuzeit.

Flix grinste. Es war Schichtende, und sie hatte den spektakulärsten Kunstraub der letzten Jahre begangen, ohne geschnappt zu werden. Fast war sie ein wenig enttäuscht darüber, wie leicht das gelaufen war. War sie vielleicht einfach zu gut in ihrem Job?

Sie würde jetzt noch zügig die letzten Eimer auswischen, und dann wäre sie raus hier. Für immer. Putzen war ja so gaaaar nicht ihr Ding.

Rike

Zusammen mit ihrer Chefin Luisa Sander saß Rike in der Besprechung mit der Museumsleitung. Die Schwanenknochenflöte lag vor ihnen auf dem Konferenztisch, und die Herrschaften ihnen gegenüber waren im Zustand schweren Schocks. Sie blinzelten alle ungläubig, und Rike konnte zumindest beim Sicherheitschef den Blutdruck an der stetig röter werdenden Gesichtsfarbe ansteigen sehen.

Es war das erste Mal, dass sie ihre neue Chefin, für die sie erst seit ein paar Monaten arbeitete, so in Aktion sah. Säße sie auf der anderen Seite, sie hätte wohl eine gehörige Portion Respekt vor ihr gehabt. Vielleicht sogar ein bisschen Angst. Die Kuratorin des Museums sah auf alle Fälle so aus, als ob sie in ihrem Businesskostüm schlottern würde. Vielleicht hatte sie aber auch nur Angst um das kostbare Artefakt.

Rike hatte bisher nichts gesagt und hatte auch weiterhin vor sich zurückzuhalten. Das hier war nicht ihr Projekt gewesen. Sie war lediglich für die Imagepflege dabei. Die Detektei Sander+Frenzel nahm das hier sehr ernst, sollte ihre Anwesenheit zeigen. Und Flix hatte aus naheliegenden Gründen nicht mitkommen können.

Rike war noch immer über allen Maßen erschüttert – und zugegebenermaßen auch voller Hochachtung – darüber, mit welcher unglaublichen Frechheit und Genialität Flix das Sicherheitssystem ausgetrickst hatte. Im vollen Einverständnis ihrer Auftraggeber. Den gleichen Herrschaften, die ihnen jetzt gegenübersaßen. Die waren nämlich vor diesem Sicherheitscheck vollständig von ihrem undurchdringlichen und feinmaschigen Schutz überzeugt. Vor allem der rotgesichtige und überhebliche Sicherheitschef. Weshalb Rike auch keinen Funken Mitleid mit ihm verspürte, als jetzt die Kulturbürgermeisterin, die den Sicherheitscheck eingefordert hatte, ein großes Donnerwetter losbrechen ließ. Und es galt nicht Luisa und ihr.

Ihre Chefin schenkte ihr aus ihren kalten grauen Augen einen Blick, den Rike nicht deuten konnte. Überhaupt konnte sie Luisa Sander sehr schlecht einschätzen. Sie war Rike zu unterkühlt. Deren Lebensgefährtin und Geschäftspartnerin Flix war hingegen das totale Gegenteil, und mit ihr hatte Rike gleich einen Draht gehabt. Fast wünschte sie sich, dass die jetzt hier säße. Aber natürlich musste sie lernen, mit Luisa auf professioneller Ebene auszukommen. Sie lüpfte deshalb fragend eine Augenbraue – so subtil, dass das hoffentlich keiner der Anwesenden bemerkte. Aber die waren sowieso zu sehr mit ihrer Standpauke beschäftigt. Worte wie »inkompetent« und »Kindergarten« fielen.

Sie wäre fast vom Stuhl gekippt, als ein triumphierendes kleines Lächeln zurückkam. Ein fast unmerkliches Zucken der Mundwinkel, aber es war ganz eindeutig. Luisa Sander freute sich offensichtlich tierisch, was für ein Coup ihnen geglückt war, und wollte sie daran teilhaben lassen. Vielleicht würde das doch noch was werden mit dem Arbeitsverhältnis zwischen ihnen.

Rike zwinkerte unauffällig hinüber. Ihre tiefbraunen Augen konnten ihre Erheiterung sehr gut widerspiegeln. Wenn sie gut drauf war. Was sie im letzten Jahr nicht wirklich oft gewesen war, aber jetzt hier in diesem Moment, als ihnen die Anwesenden aus der Hand fraßen und sie für Sicherheitsgenies hielten, da ging es ihr richtig gut.

Dank Flix’ Expertise waren sie sogar tatsächlich Sicherheitsgenies. Rike hätte es wirklich interessiert, woher ihre zweite Chefin dieses ganze Spezialwissen hatte. Wobei . . . bei genauerer Überlegung . . . vielleicht war es besser, sie wusste das nicht allzu genau.

»Woher wissen wir denn, dass das hier das Original ist? Das könnte genauso gut eine geschickte Fälschung sein, und das Original liegt weiterhin gut gesichert in seiner Vitrine«, fragte die Kuratorin, die bisher vorwiegend geschwiegen hatte. Sie war eine für den Job noch sehr junge Frau, und Selbstbewusstsein war kein herausragender Wesenszug bei ihr. Sie schien sich in allen Fragen, die nicht die Ausstellungsstücke selbst betrafen, vollkommen auf den Sicherheitschef zu verlassen, der so viel testosterongesteuerte Selbstüberzeugung ausstrahlte, dass die Kuratorin neben ihm ganz verblasste.

Nicht so die Kulturbürgermeisterin. Sie war eine Frau, der man nicht so schnell das Wasser abtrug. Luisa anscheinend auch nicht, deshalb ließ sie die Kuratorin kaum ausreden und dem Sicherheitschef keine Chance, direkt reinzugrätschen.

»Dann schlage ich vor, Sie sehen mal nach. Holen Sie es doch her«, erwiderte Luisa gelassen.

Die Kulturbürgermeisterin war nicht begeistert von diesem Vorschlag, musste aber wohl erlauben, dass diese Möglichkeit ausgeschlossen wurde. »Tun Sie das. Aber zügig, wenn ich bitten darf.«

Während der Sicherheitschef zusammen mit der Kuratorin verschwand, versorgte sich der Rest der Runde mit Getränken.

Rike nahm die Gelegenheit wahr, auf die Toilette zu gehen. Das war ihre große Schwäche: Sie hatte ein Pennälerbläschen. Eine ihrer Schwächen, die in Besprechungen und anderen Geschäftsterminen immer sehr lästig war. Ein Freund, mit dem sie exzessiv Spiele am Computer und der Konsole spielte, hatte ihr mal Windeln vorgeschlagen. Damit sie länger durchhielt. Aber das war ein Schritt in ihrer Spielsucht, den sie nicht gehen würde. Auf gar keinen Fall.

Rike trat wieder aus der Kabine und überprüfte ihr Äußeres, das ihr in letzter Zeit gar nicht gefiel. Aber Hauptsache, sie sah aus wie eine ernstzunehmende Mitarbeiterin der Detektei.

Die Klamotten jedenfalls stimmten. Sie hatte einen dunklen Pulli an und eine dunkle Bluse darunter. Die Stoffhose saß perfekt, seit sie ein paar Kilo abgenommen hatte. Wofür Trennungen alles gut waren. Die dunklen Augen und ihre kaffeefarbene Haut hatte sie von ihrem Vater geerbt, der aus Martinique stammte. Zusammen mit ihrem französischen Namen: Frédérique. Meist wurde er in Deutschland für einen Männernamen gehalten. Aber das ärgerte sie nur noch selten. Sie kürzte ihn einfach zu Rike ab, und das Problem war gelöst.

Rike zog ein unteres Augenlid herunter und starrte in ihr Auge. Sie fand sich blass, ihre Augen hatten ihr Strahlen verloren. Auch der Trennung zu verdanken. Früher war sie immer zufrieden gewesen mit ihrer Optik. Wenn Frauen ihr Komplimente machen wollten, hatten sie sie immer als exotische schwarze Schönheit tituliert. Was natürlich krass rassistisch war, aber sie hatte es trotzdem auch genießen können. Auf schräge Art. Irgendwie. So wie manche Frauen es angeblich gut fanden, wenn ihnen Bauarbeiter lüstern hinterherpfiffen. Sie hatte zwar noch keine getroffen, der das tatsächlich schmeichelte, aber die sollte es hypothetisch geben.

Die Frau, die ihr aus dem Spiegel entgegensah, war auf alle Fälle keine exotische Schönheit, sondern lediglich eine Einundvierzigjährige, die von ihrer langjährigen Lebensgefährtin für eine andere verlassen worden war und deshalb nach fast einem Jahr immer noch vollkommen ausgelaugt und traurig war. Und auch genau so aussah. Wie eine Abservierte, die dadurch ihr ganzes Selbstbewusstsein verloren hatte. Toll. Vielleicht war sie doch nicht so viel anders als die Kuratorin. Vielleicht hatte die ja auch eine fiese Trennung hinter sich.

Rike wandte sich von ihrem Spiegelbild ab und ging zurück zu ihrer neunundzwanzigjährigen blonden Chefin, die, wenn sie lange Haare gehabt hätte und nicht superkurz geschoren wäre, auch Modell hätte sein können. Vielleicht ein bisschen zu muskulös und zu wenig dürr dafür, aber das machte sie definitiv mit ihren großflächigen Tätowierungen wett. Werbung für Motorräder – das wäre es. Luisa wäre perfekt dafür. Aber offensichtlich war sie in ihrem Beruf auch sehr gut. Sonst säßen sie nicht hier. Solche Aufträge bekam nicht jede popelige Detektei. Luisa Sander sah nicht nur gut aus, sie hatte auch noch was auf dem Kasten. Toll. Noch mehr Minderwertigkeitskomplexe gefällig?

Gerade rechtzeitig für den Showdown setzte Rike sich wieder an den Konferenztisch. Der Sicherheitschef legte mit seinen behandschuhten Händen Flix’ Fälschung, wie ein Heiligtum auf ein Polster gebettet, auf den Tisch. Dafür, dass Flix keine Archäotechnikerin war – den Begriff für Menschen, die historische Artefakte mit den Hilfsmitteln der jeweiligen Epoche nachbauten, hatte Rike neulich erst gelernt – sah das Ding wirklich verblüffend echt aus. Selbst die Kuratorin schien zu denken, dass sie das Echte aus der Vitrine gezogen hatten und die Detektei eine Fälschung angebracht hatte. Das sah man an den zuversichtlichen Minen. Bei genauerer Untersuchung würde es natürlich auffliegen. Das war klar. Und Luisa würde diese Seifenblase jetzt zum Platzen bringen.

Aber stattdessen erhielt Rike einen kleinen Stupser mit der Schulter und wertete das als Aufforderung, dass sie sagen durfte, was jetzt gesagt werden musste. Der große Bäng.

Kurz war sie verblüfft, fing sich aber schnell. Es war ihr eine Ehre. »Wir sind uns einig, dass wir dieses Objekt hier«, sie zeigte auf das echte Artefakt, »in der Transportbox mitgebracht haben und Sie das Objekt auf dem grünen Polster«, jetzt zeigte sie auf Flix’ Fälschung, »soeben aus der Vitrine des Museums geholt haben. Korrekt?«, fragte Rike in die Runde.

Die Kulturbürgermeisterin schien wie auf Kohlen zu sitzen, denn sie wedelte sämtliche Einwände und Proteste, die von Seiten der Museumsleute kommen wollten, einfach weg. »Ja, ja, da sind wir uns einig. Und jetzt? Für mich sehen die gleich aus. Aber ich nehme an, sie belehren mich gleich eines Besseren?«

Rike hatte das Gefühl, der Mittfünfzigerin machte das hier so langsam Spaß. Es war ja auch ein herrliches Verwirrspiel. Eine richtige Charade. Wenn der eigene Job nicht auf dem Spiel stand. Das tat er vermutlich beim Sicherheitschef. Zumindest, wenn er sich weiterhin so uneinsichtig zeigte. Fehler zu machen war ja durchaus menschlich, aber so borniert zu sein und sie nicht eingestehen zu wollen, das konnte sich niemand erlauben. Nicht in solch einer heiklen Position. Wäre die Schwanenknochenflöte wirklich gestohlen worden, wäre sie mit Sicherheit in irgendeiner geheimen Privatsammlung gelandet und auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Ein nicht mit Geld aufzuwiegender Verlust. Artefakte wie dieses waren unbezahlbar, weil sie einmalig waren. Das durfte man einfach nicht durch Borniertheit aufs Spiel setzen. Das wusste auch die Kulturbürgermeisterin und hatte dafür die Detektei engagiert, weil es ihr Spezialgebiet war. Kunstexpertisen und Sicherheitslücken.

Rike war keine Kunstexpertin. Dafür gab es Flix in der Detektei. Sie selbst war Computerspezialistin. Eine perfekte Ergänzung für die junge Detektei, wie ihre neuen Chefinnen beim Einstellungsgespräch erklärt hatten. Und sie musste zugeben, sie hatte einfach Spaß beim Arbeiten. Jetzt gleich mit Sicherheit noch sehr viel mehr als sonst.

»Wenn Sie bitte das Objekt vom grünen Polster aufnehmen würden«, bat Rike.

Dieses Mal wollte die Kuratorin protestieren, aber auch sie wurde weggewedelt. Die Kulturbürgermeisterin fieberte geradezu mit. »Tun Sie es einfach. Ich nehme an, Frau Tomme weiß genau, warum sie Sie darum bittet. Und ich muss sagen, ich bin gespannt wie ein Flitzebogen, was jetzt kommt.«

Rike holte die spitz zulaufende Pinzette aus ihrem Mäppchen, die sie dort für genau diesen Anlass gebunkert hatte, und reichte sie über den Tisch. »Jetzt greifen Sie bitte mit Hilfe der Pinzette in das dritte Schallloch und holen den Zettel heraus, der da drinsteckt.«

Die Kuratorin schaute sie an, als ob sie nicht ganz knusper wäre und sie ihr kein Wort glauben würde. Auf ein Räuspern der Kulturbürgermeisterin trat sie jedoch in Aktion. Es bedurfte keiner großen Mühen. Sie hatte den Zettel sofort und zog ihn heraus.

Die Spannung im Raum war fast zum Greifen. Alle starrten auf den Zettel. Luisa Sanders Gesicht zierte ein Lächeln, das besagte, dass sie wusste, was darauf stand und sie sich auf die Reaktionen freute.

Die Kuratorin faltete ihn auf ein ungeduldiges Zeichen der Kulturbürgermeisterin hin auseinander und hielt ihn in die Runde. Drei mal drei Zentimeter groß. Darauf stand in schöner Schreibschrift und in Neongrün ÄTSCH! und darunter made in Berlin. Flix’ Humor war einfach rotzfrech. Und würde ihr irgendwann mal noch Ärger einhandeln.

Aber heute war nicht der Tag. Die Kulturbürgermeisterin lachte röhrend los, dass die Wände wackelten.

Nickel

Nicola ›Nickel‹ Morell nutzte die tote Zeit in ihrer Galerie, um das zu tun, was sie am besten konnte. Sie nannte es lapidar immer Malen nach Zahlen. Aber natürlich war das weit von der Wahrheit entfernt. In Wirklichkeit schuf sie wahrhafte Kunstwerke, die ihresgleichen suchten. Es wusste nur niemand. So gut wie niemand. Und das war ganz genau so, wie es sein sollte. Denn sonst wäre ihrer ›Kunst‹ im wahrsten Sinne des Wortes ein Riegel vorgeschoben worden. Nämlich der an der Tür zu ihrer Gefängniszelle.

Sie musste bei dem Gedanken grinsen, und ihr Mund verzog sich schief. Sie wusste, ihr Grinsen verriet ziemlich genau, wie es mit ihrem Innersten bestellt war. Man konnte ihrem Gesicht dann, wenn sich ihr großzügig geschnittener Mund so schief verzog, angeblich ansehen, dass sie eine Art Dämon in sich trug. Zumindest hatte es so ihre Ex formuliert, bevor sie sie und ihren gemeinsamen anderthalbjährigen Sohn verlassen hatte.

Die Jahre seither – ziemlich genau zehn Jahre und sechs Monate waren das – hatte Nickel immer wieder in den Spiegel gestarrt und das versucht zu verifizieren. Sie musste zugeben, dass ihr Grinsen nicht gerade schön war. Eher etwas, das zeigte, dass sie schon allerhand gesehen hatte und nicht mehr jung und naiv war. Aber einen Dämon hatte sie noch nicht sehen können. Vielleicht brauchte man auch einfach eine gute Ausrede, um die Partnerin mit einem Kleinkind sitzenlassen zu können.

Nickel wischte ihren Pinsel ab, weil sie völlig aus dem Takt geraten war bei diesen dämlichen Gedanken.

Sie wollte gerade mit einem frisch gemischten Klecks dunkelgrüner Farbe neu ansetzen, als Tristan zur Tür ihres kleinen Ateliers in den Hinterzimmern der Galerie hereingestürmt kam.

Sie hatte ihm schon oft gesagt, dass er damit mal noch ihren plötzlichen Herztod auslösen würde, aber die Pubertät schlug bei ihm mächtig auf das Gehör.

»Das war’s. Ich geh nie wieder in die Schule.«

Er warf seine Schultasche in die Ecke und ließ sich in einen roten Sitzsack fallen, den sie hauptsächlich für ihn in ihrem Studio hatte.

Das Knirschen der vielen kleinen Kunststoffkügelchen, mit denen er gefüllt war, ließ die feinen Härchen an ihren Armen sich aufstellen. Aber beim Anblick ihres Sohnes vergaß sie das ganz schnell wieder. Das schien nicht die übliche Krise zu sein, sondern schwerwiegender. Zumindest sah sein Gesichtsausdruck wirklich finster aus. Aber sie hatte schon öfter feststellen müssen, dass sie beim Interpretieren von Jungs diesen Alters wirklich ganz schlecht war. Sie kam sich vollkommen unfähig vor.

Nickel setzte sich auf den Boden neben ihn. »Was ist los?«, fragte sie und hoffte, darauf auch eine Antwort zu erhalten. Früher hatte sie ihn in den Arm nehmen dürfen, wenn er traurig war. Aber das war schon lange vorbei. Jetzt war Tristan viel zu cool dafür.

»Ich geh nicht mehr hin. Das war es einfach.« Er sah sie gar nicht an, sondern spielte nur mit seinem Handy.

Dass Tristan ihr Sohn war, sah man sofort. Er sah ihr wahnsinnig ähnlich. Sie hatten beide den gleichen etwas zu großzügig geschnittenen Mund. Die gerade Nase darüber und die großen Augen, die wohl ihr bestes Merkmal waren. Nickel war gespannt, wie diese Kombination später mal in einem Männergesicht wirken würde. Als Frau machte es sie nämlich interessant, aber nicht gerade zu einer wirklichen Schönheit. Vielleicht wäre es später, wenn Tristan erwachsen war, ja durchaus markant. Ihre mausbraunen Spaghettihaare halfen dem Ganzen jedenfalls nicht gerade. Egal ob Mann oder Frau. Trotzdem sah ihr Sohn irrsinnig süß aus. Auch wenn er gerade anscheinend das ganze Elend dieser Welt auf seinen schmalen zwölfjährigen Schultern trug.

»Und erzählst du mir, was passiert ist, dass du zu solch einer dramatischen Entscheidung gekommen bist?« Nickel versuchte es mit einem lockeren Ton.

»Nichts«, lautete die Antwort, die sie erhielt. Es war zum Haareraufen. Aber sie versuchte, sich ihre Frustration nicht anmerken zu lassen.

»›Nichts‹ ist natürlich ein guter Grund. Ja, das seh’ ich ein.« Nickel verzog das Gesicht.

Tristan hatte früher immer lachen müssen, als er noch kleiner war, wenn sie lustige Grimassen schnitt. Aber irgendwie war das abhandengekommen und zog nicht mehr. Er rollte nur genervt mit den Augen. »Gott, du bist so peinlich.«

Ihr Sohn wurde unglaublich schnell groß und war doch noch ein halbes Kind mit zwölf. Jetzt war einer der Momente, in dem Nickel sich eine Partnerin an der Seite gewünscht hätte, die sie unterstützen würde. Sie wusste einfach nicht mehr, wie sie an den Jungen herankommen sollte. Er ließ sie einfach nicht mehr rein.

Meistens saß er am Rechner oder an der Konsole und spielte. Stundenlang. All ihre Versuche, etwas gemeinsam zu unternehmen, blockte er ab. Als ob sie ihm etwas getan hätte. Aber sie war sich keiner Schuld bewusst. Außer der, dass sie ihn allein erzog und sein Vater Samenspender aus einer Samenbank war. Reichte vielleicht schon aus. Aber ob er ihr das nachtrug, wusste sie noch nicht mal. Er hatte es jedenfalls noch nie gesagt. Weil er einfach gar nichts mehr erzählte.

War sie auch so gewesen, als sie in der Pubertät war? Sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, sooo extrem gewesen zu sein. Aber sie hatte sich das als Pflegekind auch gar nicht leisten können. Der Gedanke machte sie wütend auf Tristan, der gar nicht wusste, wie gut er es hatte.

Vielleicht hätte sie einfach einen Moment warten sollen, bevor sie aussprach, was ihr in den Sinn schoss. »Dir ist schon klar, dass es keine Option ist, dass du nicht mehr in die Schule gehst?« Sie wusste sofort, dass das komplett das Falsche war, was sie da gerade gesagt hatte.

Tristans Kopf schnellte wütend hoch, und er funkelte sie aus verwaschenen blauen Augen an. »Und dir ist schon klar, wenn ich dich verpfeife, dass du dann in den Knast kommst und ich tun und lassen kann, was ich will?«

Das war natürlich völlig absurd. Trotzdem war Nickel echt schockiert, dass er so was sagte. Es verletzte sie wirklich. »Willst du deiner eigenen Mutter drohen?«, fragte sie deshalb und hörte, wie ihre eigene Stimme ganz atemlos klang.

Aber Tristan bockte einfach nur weiter. »Willst du deinen eigenen Sohn zu etwas zwingen, was er nicht will?« Er sprang auf, bevor sie reagieren konnte, schnappte sich seine Tasche und rannte hinaus. Nickel hörte Türen knallen, dann Getrampel auf der Treppe und Schritte oben in der Wohnung.

Bravo. Das war ja wunderbar gelaufen.

Sie war als Mutter ein Totalausfall. Auf ganzer Linie hatte sie versagt. Sie wusste noch nicht einmal, was sie jetzt wieder falsch gemacht hatte. Na ja, gut, der eine Satz war nicht gerade feinfühlig gewesen. Sie hatte daher wohl ein Stück weit verdient, was er gesagt hatte. Doch sie wusste, dass er das nie machen würde, sie anzeigen. Im Grunde waren sie doch immer noch ein Zweiergespann gegen den Rest der Welt.

Sie würde ihn erst einmal seinen Ärger am Computer wegballern lassen und dann später in aller Ruhe versuchen herauszufinden, was los war. Auch wenn es ihr gerade schwerfiel.

Aufgewühlt wandte Nickel sich wieder ihrem Gemälde zu. Ein amerikanischer Maler des ausgehenden neunzehnten, beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts. Eher unbekannt in Europa. Bretonische Fischerboote im Hafen. Ein hübsches Bild. Kein Meisterwerk, aber gut, solide.

Sie fragte nie, wofür ihre Auftraggeber die originalgetreuen Fälschungen brauchten. Sich damit herauszureden, dass sie für die Wohnzimmerwand waren, würde ihr aber trotzdem nichts helfen. Denn wieso konnte sie dann nicht selbst ihr eigenes Kürzel daruntersetzen und das Bild signieren? Warum musste sie sogar die Unterschrift der gefälschten Kollegen bis aufs Kleinste kopieren? Doch nur aus einem Grund. Sie musste sich nichts vormachen. Schon oft genug hatte sie aus den Medien erfahren, dass eines der Bilder, die sie kopiert hatte, als gestohlen gemeldet wurde. Oft erst Jahre später.

Dieser Gedanke lockte ein Schmunzeln hervor, trotz der düsteren Gedankengänge. So gut waren ihre Kunstwerke. So nah am Original. Dass es erst bei genauen Untersuchungen auffiel, dass sie ausgetauscht worden waren. Von wem und wie ging sie nichts an. Das war nicht ihre Sorge.

Grundsätzlich war sie sowieso der Ansicht, dass es irre war, dass manche Gemälde riesige Millionenbeträge bei Versteigerungen einbrachten. Ein Jackson Pollock, von dem sie als Maler sowieso nicht viel hielt – weil Tristan das in einem seiner Tobsuchtsanfälle ebenso auf die Leinwand hätte schmieren können, rein technisch betrachtet –, hatte hundertvierzig Millionen Dollar bei einer Versteigerung eingebracht. Hundertvierzig Millionen! Das war doch nicht mehr an der Realität gemessen. Die Künstler, die die Bilder gemalt hatten, waren eh schon lange tot, und wer daran verdiente, waren die Kunsthändler und sonst niemand. Ein perverses Geschäft. Von dem sie eben auch ein paar Krumen abbekam. So war das.

Hätte sie von ihren eigenen Bildern und denen der anderen unbekannten Künstler, die sie in ihrer Galerie ausstellte, leben wollen, wären sie und Tristan schon längst verhungert. Das war Realität. Nickel fand es moralisch absolut gerechtfertigt, was sie tat. Auch wenn es rein juristisch betrachtet eine Straftat war. Was nur mal wieder zeigte, wie weit die Gesetze von den Menschen entfernt waren. Mehr nicht.

Rike

Auf die Abdeckhaube der Mikrowelle hatte jemand ein Zitat von Virginia Woolf geschrieben: Man kann nicht gut denken, gut lieben, gut schlafen, wenn man nicht gut gegessen hat.

Wohl wahr. Rike konnte ein Lied davon singen. Aber umgekehrt funktionierte das ja genauso: Man konnte nicht gut essen, wenn man nicht gut geliebt wurde. Sie war auch dafür das beste Beispiel. Ihr Appetit war verschwindend klein, seit Gerhilt sie verlassen hatte. Sie hasste sich selbst dafür, dabei wollte sie doch Gerhilt hassen. Im Grunde war sie ja auch darüber hinweg. Es war ja nicht so, dass sie Gerhilt zurückwollte. Nicht einmal dann, wenn sie zurückgekrochen käme. Was jedoch ganz abwegig war, denn sie war mit ihrer Neuen anscheinend sehr glücklich, was sie in der einen oder anderen E-Mail, die sie Rike aufs Auge drückte, immer wieder betonte.

Die Mikrowelle plingte kurz, das Mittagessen war fertig. Irgendein Fertiggericht aus dem Supermarkt. Rike hatte noch nicht einmal richtig darauf geschaut, was es war. Irgendwelche Nudeln.

»Komm mit. Notfalltermin bei der Kulturbürgermeisterin. Luisa ist noch außer Haus.«

Rike unterbrach ihre Pläne, sich die Nudeln ohne Appetit hinunterzuzwingen. Selten war ein ungeplanter Arbeitstermin so willkommen gewesen.

Eigentlich hätte ihre Aufgabe heute ja darin bestanden, damit zu beginnen, die Computersysteme des Museums auf Sicherheitslücken zu kontrollieren. Rike hatte ja schon bei einem ersten Check gesehen, dass sie löchrig wie ein Schweizer Käse waren. Sonderlich Spaß wäre dabei also eh nicht im Spiel gewesen. Zu wenig Herausforderung.

Dass sie jetzt zum zweiten Termin des Tages musste, entsprach so überhaupt nicht ihrem üblichen Arbeitsalltag. Hätte sie bei der Einstellung gewusst, dass sie so oft unterwegs sein würde und nicht einfach hinter ihrem Rechner hocken konnte, hätte sie vielleicht nicht zugesagt. Aber als sie jetzt neben der quasselnden Flix im Auto saß, hätte sie es nicht anders haben wollen. Es tat ihr offensichtlich gut, ab und zu mal ihre Komfortzone zu verlassen.

Flix erzählte irgendeine Geschichte, die sie mit Luisa erlebt hatte. Wieder war Rike erstaunt über dieses ungleiche Paar. Flix war die meiste Zeit ein richtiger Kindskopf, supersympathisch und offen. Auch ein bisschen verrückt, durchgeknallt manchmal, voller Ideen. Gleichzeitig war sie auch eine geniale Strategin und ein wandelndes Kunstlexikon. Und sie sah richtig gut aus. So richtig gut. Blaue Augen, braune Haare, schmal gebaut.

Luisa war schon optisch der totale Kontrast, von der Persönlichkeit gar nicht zu sprechen. Unnahbarkeit, das verkörperte Luisa in Reinform. Sie war nicht unfreundlich oder abweisend, aber an sie ranzukommen war fast unmöglich. Rike war es jedenfalls bisher noch nicht gelungen, sie war aber auch nicht besonders gut darin.

Mit ihren flächendeckenden Tätowierungen an beiden Armen und am Hals abwärts und den kurzgeschorenen blonden Haaren sah Luisa richtiggehend martialisch aus. Leute – Männer – machten Platz auf dem Gehweg für sie. Rike selbst hätte das auch gemacht, wenn sie ihr nachts in einer dunklen Ecke begegnet wäre.

Dass Luisa lesbisch war, konnte man ja auf zweihundert Metern Entfernung sehen, so androgyn, wie sie aussah. Aber bei Flix wäre sie nie im Leben darauf gekommen. Was absolut nichts heißen musste, denn Rike hatte überhaupt kein funktionierendes Gaydar. Das war ihr ein Buch mit sieben Siegeln. Ihr musste man es immer direkt sagen, damit sie es kapierte. Ihre zweite Schwachstelle nach dem Pennälerbläschen. Hätte sie vor dem Losfahren noch einmal aufs Klos sollen? Vermutlich würde sie im Rathaus gehen müssen.

Dafür war dann aber überhaupt keine Zeit, und Rike musste während des gesamten Termins den Impuls unterdrücken, von einem Bein aufs andere zu tippeln, weil sie so dringend musste. Dabei war der Notfall, der sie an diesem Tag das zweite Mal im Museum mit Kulturbürgermeisterin Kupfermann zusammenbrachte, der Hammer. Innerlich war Rike am Staunen, was sie mit der Detektei an unglaublichen Fällen erlebte. Einfach nur unglaublich.

Auf dem Besprechungstisch, an dem sie standen, lag ein Gemälde, das Flix eingehend studierte.

»Was meinen Sie? Hat die Versicherung recht?« Die Kulturbürgermeisterin tippelte fast so nervös herum wie Rike. Aber bei ihr lag es sehr wahrscheinlich an der Materie.

Flix wandte den Blick keine Sekunde von der Darstellung eines Mädchens ab. »Mit ziemlicher Sicherheit. Die Kopie ist aber ein Meisterwerk in sich selbst. Fantastisch gearbeitet. Es ist wirklich kaum zu sehen, wenn man nicht danach sucht.« Sie zeigte mit einem Bleistift in respektvollem Abstand auf einige Stellen im Gemälde, die sie anscheinend für auffällig hielt.

Rike sah schlicht und ergreifend gar nichts. Sie hätte mit der Nase direkt draufstoßen können, und ihr wäre nichts aufgefallen. Farben, Leinwand, Pinselstriche, mehr nicht.

So viel hatte sie bisher an Informationen aufsaugen können: Es handelte sich um ein unbekannteres Gemälde der polnischen Malerin Tamara de Lempicka. Art déco, was auch immer das heißen mochte. Sie würde das nachher alles googeln müssen. Oder Flix fragen, deren ganzes Gesicht vor Aufregung glühte und deren Augen fast schon Funken sprühten. Man hätte meinen können, die Fälschung des Gemäldes würde sie in Begeisterung ausbrechen lassen. Was irgendwie absurd war. Aber so war eben Flix.

»Das Gemälde zeigt de Lempickas Tochter Kizette. Das Original ist in den Zwanzigern in Paris entstanden«, sagte Flix fachkundig. »Ich schätze mal 1925 oder ’26, nach dem Alter der Tochter zu urteilen. Oder? Was sagen Ihre Unterlagen?«

»1926.« Kulturbürgermeisterin Kupfermann hatte es momentan fast die Sprache verschlagen.

Flix nickte nur.

Rike war das ein Rätsel. Wie konnte man bitte von einem Gemälde so exakt sagen, wann es gemalt wurde, ohne das vorher nachzulesen? Sie wusste zwar, dass Flix ein Fernstudium in Kunstgeschichte absolviert hatte, aber sie hatte das eigentlich mehr für einen geschickten Schachzug der Detektei gehalten. Dass Flix richtig Ahnung hatte, wurde ihr jedoch gerade erst so richtig klar.

Es herrschte respektvolles Schweigen, während Flix in das Gemälde vertieft war. Schließlich richtete sie sich auf. »Und es ist absolut unklar, wann es ausgetauscht wurde? Seit wann ist es denn in städtischem Besitz?«

Die Kulturbürgermeisterin ging zu ihrem Schreibtisch, zog einen bereits geöffneten Aktenordner an die Kante und blätterte darin. »Seit den siebziger Jahren. Damals war es eindeutig das Original, das erworben wurde. Es sei denn, der Gutachter damals war bestochen, was ich mir allerdings nicht vorstellen kann.«

Das Funkeln in den Augen ihrer Chefin musste inzwischen auch Kupfermann auffallen. Flix vibrierte geradezu. Rike war inzwischen auch angesteckt. Das war hier wirklich besser als jedes Computerspiel.

Flix war ganz in ihrem Element. »Wir müssen sämtliche Unterlagen des Museums durchforsten. Können Sie uns Zugang auch zu diesem Computersystem gewähren, ohne großen Wirbel zu verursachen? Ich nehme an, das soll erst einmal geheimgehalten werden?«

Die Kulturbürgermeisterin in ihrem sachlichen Businessanzug und mit ihrer praktischen grauen Kurzhaarfrisur hatte Rike schon gleich beim ersten Termin heute als eine Frau der Tat wahrgenommen. Sie ließ sich offensichtlich auch von diesem herben Schlag nicht aus der Bahn werfen. »Ein Ja zu beidem. Frau Frenzel, Frau Tomme«, auch Rike wurde mit einem strengen Blick gewürdigt und war merkwürdig stolz, dass diese vielbeschäftigte Frau ihren Nachnamen abgespeichert hatte, »ich muss mich da vollkommen auf ihre Detektei verlassen können. Wenn das rauskommt, wird es ein Skandal. Da will ich, wenn es hart auf hart kommt, etwas in der Hand haben. Am besten wäre natürlich eine Spur des Originals. Dass Sie uns die Diebe servieren, erwarte ich gar nicht. Oder den Fälscher. Aber falls doch, hätte ich natürlich nichts dagegen.«

Rike hatte das Bedürfnis, ›zu Befehl‹ zu sagen und zu salutieren.

Aber Flix war von der Ansprache offensichtlich nicht beeindruckt. Sie nahm nur eine Sache wahr. »Den würde ich auch gern mal kennenlernen. Ein wahrer Meister.«

Rike klinkte sich ein, weil Flix’ Begeisterung gerade ihren Geschäftssinn überlagerte. Sie war eben die Kunstexpertin. Für die sachlichen Geschäftssachen war wohl normalerweise Luisa zuständig. Diese Rolle würde jetzt Rike einnehmen müssen, obwohl sie ja nur eine angestellte Computerspezialistin war. »Wir garantieren Ihnen absolute Diskretion. Sie kennen unsere Arbeit ja von der Schwanenknochenflöte. Das hier ist ein wenig diffiziler, weil ein echter Kunstraub passiert ist. Die Diebe setzten sicherlich darauf, dass der Austausch nie entdeckt wird. Jetzt, da wir es wissen, haben wir einen entscheidenden Schritt in die richtige Richtung gemacht. Diese Strategie der Diebe ist schon mal nicht aufgegangen. Jetzt werden wir auch Spuren finden.«

Flix zwinkerte ihr ganz kurz zu, und Rike wertete das als Zeichen, dass sie ihre Sache gut gemacht hatte. Das war ja nett von der Chefin, aber warum eine junge Frau wie dieser Kindskopf hier dachte, dass man Rike ermuntern musste, war ihr gleichzeitig ein Rätsel. Wirkte sie etwa so unsicher? So wenig geschäftstauglich?

Die Kulturbürgermeisterin stieß einen tiefen Seufzer aus, der Rikes Gedanken wieder auf die Thematik lenkte. »Ihr Wort in Gottes Ohr. Das könnte mich Kopf und Kragen kosten.« Sie ging hinter ihren Schreibtisch zurück. »Ich leite sofort alles in die Wege. Sie haben freie Hand.«

Rike nickte. Mehr gab es wohl nicht zu sagen.

»Sehr gut, sehr gut.« Flix hüpfte fast auf den Fußballen. Ihr konnte es nicht schnell genug losgehen.

»Wenn wir das hier durchgestanden haben, erhält die Detektei Sander+Frenzel den Auftrag, das Sicherheitskonzept sämtlicher städtischer Museen zu überprüfen. Das garantiere ich Ihnen schon jetzt persönlich.« Kupfermann klopfte mit den Fingerknöcheln auf ihren Schreibtisch. Als ob sie diese Aussage bekräftigen wollte.

Rike wusste jedoch, dass es mit kommunalen Aufträgen nicht so einfach war, wie sich das jetzt anhörte. Aber es klang, als ob sie eine echte Gönnerin gefunden hätten. Sie mussten nur noch herausfinden, wer dieses teure Gemälde ausgetauscht hatte. Nichts leichter als das, dachte Rike sarkastisch. Aber wie sie Flix nach der kurzen Zeit schon kannte, würde sie nicht locker lassen – wie ein Jagdhund, der eine Fährte erschnüffelt hatte. Sie würde sich vermutlich in jeden noch so gefährlichen Dachsbau graben ohne Rücksicht auf Verluste.

Es würden interessante Wochen werden, die da vor ihnen lagen, und Rike hatte das Gefühl, mit dem neuen Job womöglich einen zu großen Happen abgebissen zu haben. Mehr als sie kauen und schlucken konnte.

Aber jetzt musste sie erst einmal auf die Toilette. Dringend.

Nickel

Anti Schoko – was war das denn für ein Name? Die Kneipe war wirklich das Letzte. Zumindest für ein Familientreffen. Hätte Nickel sich einen wilden, feuchtfröhlichen Abend machen wollen, dann wäre dieser Ort ja der richtige gewesen, aber sie saß hier mit ihrem zwölfjährigen Sohn und ihrer Ex, die einen Anfall von schlechtem Gewissen oder Muttergefühlen oder was auch immer gehabt hatte.

Sie saßen an einem hohen Tisch auf Barhockern in einer Ecke neben dem Eingang. Der Blick auf das Treiben am frühen Abend war bestens. Die Leute hier boten auf alle Fälle was fürs Auge. Wenn man auf tätowierte, gepiercte Menschen mit einem kreativen Klamottengeschmack stand. Was Nickel durchaus tat. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte sie das bunte Treiben vielleicht sogar genießen können und sich die durchaus interessanten Frauen unter den Gästen genauer angesehen. Aber nicht bei dieser Familienzusammenführung.

Sie hatten Julia bestimmt schon an die drei Jahre nicht mehr gesehen. Und es lag mit Sicherheit nicht an ihr. Sie hätte ihrer Ex immer die Möglichkeit gelassen, Tristan zu sehen. Hätte das sogar unterstützt, weil sie es für Tristan gut gefunden hätte. Aber Julia hatte nicht sonderlich viel Interesse gezeigt. Außer sie hatte eine Krise oder eine Anwandlung so wie heute. Nickel setzte nicht viel auf dieses Treffen. Julias maximale Dosis Tristan war immer schnell erreicht.

Tristan hingegen schien mal wieder alles scheißegal zu sein. Er hatte Julia noch nicht einmal richtig begrüßt und spielte die ganze Zeit an seinem verflixten Handy herum. Aber Nickel konnte es ihm nicht verübeln. Er kannte es nicht anders, als dass seine zweite Mutter immer mal wieder auftauchte, dann schnell genug hatte und wieder in der Versenkung verschwand. Was erwartete Julia da?

Nickel erinnerte sich, wie er sich als kleines Kind immer wahnsinnig gefreut hatte, Julia zu treffen. Ihre Geschenke, die meist unpassend waren, heiß und innig geliebt hatte. Und dann jedes Mal geheult hatte, wenn sie ihn wieder und wieder verlassen, beiseitegeschoben hatte. Nickel musste gestehen, dass sie Julia zwar die Trennung noch immer nachtrug, aber dafür, wie sie Tristan über die Jahre behandelt hatte, hasste sie sie richtiggehend. Ja, hassen war gar nicht übertrieben. Weil sie so viel bei ihm kaputtgemacht hatte.

Nickel sah sich noch einmal um und brach dann das unangenehme Schweigen am Tisch. »Hältst du das wirklich für den richtigen Ort, um dich mit uns zu treffen? Wirklich? Wie konnte ich nur auf die Idee kommen, mit dir ein Kind haben zu wollen? Nein, beantworte das bitte nicht. Das wäre zu niederschmetternd.« Sie hätte noch viel mehr sagen können und wollen, war sich aber der Anwesenheit Tristans zu sehr bewusst. Er musste den ganzen Dreck, den sie Julia auftischen wollte, nicht unbedingt mitkriegen.

»Du bist noch immer die gleiche Bitch, Nickel.« Julia griente zu ihr herüber.

Trotz allem konnte Nickel immer noch verstehen, wieso sie rein optisch auf Julia abgefahren war. Mit ihren ebenmäßigen Gesichtszügen, den großen Augen und ihren schönen welligen Haaren war sie wirklich gutaussehend. Fast schon zu gutaussehend, falls es so etwas gab. Nickel hatte nur leider viel zu spät Julias charakterliche Defizite bemerkt. Jetzt waren die für sie so brüllend offensichtlich, dass sie sich über ihre eigene Blindheit wundern musste. Sprichworte stimmten manchmal eben doch: Liebe machte blind. Aber wahrscheinlich war das eher akute Lust gewesen. Hormone außer Kontrolle.

Gott sei Dank war ihr das seither nie wieder passiert. Und Gott sei Dank hatte sie damals so viel Restverstand aufgebracht, Julia nicht zu erzählen, womit sie wirklich ihr Geld verdiente. Sie hatte mehrmals angesetzt, sich zu offenbaren, aber immer einen Rückzieher gemacht. Irgendwas hatte sie zögern lassen. Ganz tief in ihrem Inneren hatte sie eben instinktiv gewusst, dass sie Julia nicht hundertprozentig trauen konnte.

»Und deshalb hast du mich verlassen, als Tristan ein Jahr alt war. Schon klar.« Sie hörte ihren eigenen giftigen Ton, konnte aber nicht anders. Nicht einmal für Tristan gelang es ihr, sich freundlicher anzuhören.

»Gott, kannst du das einmal nicht erwähnen? Ich war dem Ganzen eben nicht gewachsen.«

Das hörte sich bei Julia immer ganz logisch an. So wie man vielleicht einem Bungeesprung nicht gewachsen war. Keine große Sache. Besser man merkte es und ließ es. Dass ein Säugling keine Sache war, die man mal so eben doch nicht wollte, das war bei Julia nach zwölf Jahren immer noch nicht in den Frontallappen vorgedrungen. Oder wohin auch immer in ihrem Gehirn.

»Das ›Ganze‹ sitzt hier mit uns am Tisch und hört alles, was du sagst. Stimmt’s, junger Herr?« Nickel versuchte, Tristan ins Gespräch zu ziehen. Schließlich kam er so langsam in ein Alter, in dem man ihn und seine Meinungen ernstnehmen sollte.

Er blickte noch nicht mal vom Bildschirm seines Smartphones auf. »Mir egal. Macht alles keinen Unterschied für mich.« Er tat immer so, als ob sein iPhone X, das er Nickel mit ständigem Generve aus den Rippen geleiert hatte, das Wichtigste für ihn wäre. Aber Nickel wusste mit dem Instinkt einer Mutter, dass er ganz Ohr war, dass er alles ganz genau mitkriegte und aufsaugte. Was er dann daraus machte, stand auf einem anderen Blatt.

»Super«, sagte sie deshalb sarkastisch. Aber natürlich drang das nicht einmal zu Julia durch.

»Siehst du? Kein Schaden entstanden. Lass also mal die Vorwürfe stecken. Das ist absolut unsexy.« Julias schiefes Aufreißergrinsen hätte Nickel ihr am liebsten aus dem Gesicht gehämmert.

»Ich bin für dich gern so maximal unsexy, wie es nur geht. Kannst du mir glauben.«

Das hatte sie schon sehr oft und in verschiedenen Varianten gesagt. Bisher war auch das nicht in Julias Hirn angekommen. Sie dachte wahrscheinlich immer noch, dass Nickel nur darauf wartete, dass sie mit dem Finger schnippte und sie zurücknahm. Doch da konnte sie lange warten. Lieber blieb sie für den Rest des Lebens allein. Auch wenn das keine wirklich tolle Aussicht war.

Julia überraschte sie in diesem Moment jedoch ausnahmsweise mit gänzlich atypischem Verhalten: Sie stand auf und knuffte Tristan kumpelhaft in die Seite. »Los komm, Großer. Wir spielen eine Runde Billard.«

Und zu Nickels maßlosem Erstaunen steckte ihr Sohn tatsächlich sein Handy weg und ging bereitwillig mit Julia in den Nebenraum.

Sitzengelassen. Wieder einmal. Wirklich toll.

An ihrer Cola nippend schaute Nickel sich um. Sollte sie den beiden hinterhergehen? Konnte sie Tristan wirklich guten Gewissens mit Julia alleinlassen? Selbst für ein harmloses Billardspiel? Sie zwang sich, nicht zu den beiden zu gehen und stattdessen ihrem Sohn diesen Freiraum zu lassen. Für Julia machte sie das alles nicht. Es war ganz allein für Tristan.

Nickel ließ sich vom Barhocker gleiten und folgte dem Toilettenzeichen in einen schummrigen Zwischengang. Die Wände der Frauentoilette waren schwarz gestrichen und alles andere dunkelblau. Die Türen, der Handtuchspender, alles. Und das nicht besonders sorgfältig. Sah ein bisschen schäbig aus, aber es passte zu dieser Kneipe.

Beide Kabinen waren besetzt und Nickel überlegte, ob sie wieder gehen sollte oder es wagen konnte, sich hier wartend gegen eine Wand zu lehnen. Sie entschied sich dafür, in den Zwischenraum zurückzugehen und dort zu warten. Sie würde es ja sehen, wenn jemand herauskam.