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Claudia Lütje

NUR MIT DIR

Roman

© 2019

édition el!es

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Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-295-4

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iStock.com/gdefilip

1

Thea streckte den Rücken durch und warf einen kurzen Blick auf ihre Armbanduhr. Feierabend war schon lange vorbei, doch sie hatte noch eine Menge Arbeit vor sich liegen. Sie seufzte. Zu Hause wartete eh niemand auf sie. »Also kein Grund zu jammern, du wolltest es doch so«, murmelte sie. Ihre Worte hallten dumpf durch das leere Großraumbüro.

Schicksalergeben griff sie nach einem weiteren Blatt und gab die Daten in ihren Computer ein, als sie hinter sich ein Geräusch hörte. Ihre Halswirbel knackten. Uh, sie hatte etwas zu schnell über ihre Schulter geschaut, aber irgendwie hatte das Geräusch sie überrascht. Normalerweise war um diese Zeit niemand mehr hier. Außer natürlich . . . War die Putzkolonne schon da?

Ja, anscheinend. Sie sah eine Gestalt sich aus dem Halbdunkel des Büroeingangs herausschälen. Die Frau würde wahrscheinlich gleich anfangen, hier sämtliche Schreibtische abzuwischen und die Papierkörbe auszuräumen. Vielleicht sollte sie jetzt doch besser gehen. Aber nach Hause? Nein, sie wollte lieber ihre Arbeit erst noch beenden.

»Oh, Sie sind heute Abend aber früh dran«, sagte sie deshalb und fuhr sich etwas irritiert durch die kurzen Haare. »Könnten Sie die anderen Plätze bitte zuerst reinigen?« Sie hob den Arm und wies auf die andere Seite des Büros. »Ich brauch hier noch etwas.«

Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte sie sich zum Bildschirm und zog sich das nächste Blatt heran.

»Warum sind Sie überhaupt noch hier? Es ist doch schon nach sieben.«

Die sanfte Stimme in ihrem Rücken ließ Thea erneut einen überraschten Blick über die Schulter werfen.

Sie versuchte, in den Gesichtszügen der unbekannten Frau zu lesen, doch das Halbdunkel des Büros machte ihr einen Strich durch die Rechnung.

Irritiert zog sie die Augenbrauen zusammen und strich sich über die Nasenwurzel. »Ich glaube nicht, dass ich Ihnen erklären muss, warum ich noch arbeite, oder? Fangen Sie doch einfach bei den anderen Plätzen an. Bis Sie dann hier sind, bin ich sicher fertig.« Die Worte kamen härter hervor, als sie es beabsichtigt hatte, und so schob sie schnell noch ein »Bitte« hinterher.

Die Frau kam noch einen Schritt auf Thea zu und trat somit in den Lichtkreis der Schreibtischlampe.

Der intensive Blick aus ihren dunklen Augen jagte Theas Puls nach oben. Wow, ist die aber niedlich, schoss es ihr durch den Kopf. Sie atmete zweimal tief durch und wartete darauf, dass sich ihr Herzschlag wieder beruhigte. Was für ein erfreulicher Anblick in diesem Büro.

Bevor Thea noch weiter über die junge Frau nachdenken konnte, wurde hinter ihnen die Tür aufgestoßen, und die Putzkolonne betrat lärmend das Büro.

Die Vorarbeiterin drückte den Lichtschalter und gab einen überraschten Laut von sich, als sie Thea und die andere Frau in der Ecke sah. »Oh, es hat uns niemand gesagt, dass heute noch jemand da ist.«

»Schon gut.« Thea fuhr den Computer herunter und schaltete ihre kleine Lampe aus. »Bei dem Krach kann man eh nicht arbeiten.« Sie schnappte sich ihre Jacke und drückte sich an der jungen Frau vorbei, die noch immer neben dem Schreibtisch stand.

Vor dem hohen Gebäude atmete sie tief die kühle Nachtluft ein. Langsam stieg sie die Stufen nach unten und machte sich auf den Heimweg. Ihre Wohnung war nur einige Minuten zu Fuß entfernt, und sie genoss normalerweise den kleinen Spaziergang durch die Straßen der Stadt.

An diesem Abend drehten sich ihre Gedanken jedoch um die junge Frau, die sie zuvor überrascht hatte. Sie hatte angenommen, dass sie zur Putzkolonne gehörte, doch die Vorarbeiterin schien sie nicht gekannt zu haben. Außerdem, Thea seufzte leise, ihr Auftreten war so anders gewesen. So anmutig und grazil und doch auch so bestimmt.

Nachdenklich stand sie an der Mainbrücke und blickte auf das dunkle Wasser unter ihr. Du hast dich schon lange nicht mehr so vom Anblick einer hübschen Frau aus der Ruhe bringen lassen, oder? Vielleicht solltest du mal wieder ausgehen, anstatt dich im Büro zu vergraben.

Blödsinn, gab sie sich selbst die Antwort. Du weißt doch, warum du die Überstunden machst.

Stimmt, ja. Trotzdem . . .

Sie drückte ihren Rücken durch und ging mit schnellen Schritten nach Hause.

»Nanu, Thea, du bist ja richtig früh heute.« Denise steckte ihren Kopf aus der Küche, als Thea die Tür aufschloss und in die Wohnung trat. »Du kommst genau richtig, das Essen ist gleich fertig.«

»Ich habe keinen Hunger, Denise.« Thea wollte sich an ihrer Mitbewohnerin und auch guten Freundin vorbeidrücken, doch Denise trat ihr flink in den Weg.

»Du musst was Anständiges essen. Außerdem brauche ich deine Meinung. Ich habe ein neues Rezept ausprobiert.« Sie warf Thea einen bittenden Blick zu, der sogar Steine hätte erweichen können. Zumindest dachte Thea das manchmal.

»Also gut.« Lachend gab sie nach. »Aber nur probieren. Hunger habe ich wirklich keinen.«

Sie setzte sich an den Küchentisch und beobachtete Denise fast bewundernd, die geschickt die Pfannen schwang und zwei Teller füllte. Sie selbst hatte sich nie so für Kochen interessiert, aber für Denise war es ihr Beruf und ihre Berufung.

»Das ist ein Rezept aus der Kochschule, leicht abgewandelt und verfeinert«, erklärte Denise. »Sag mir, was du denkst und ob ich es meinem Chef vorführen soll.« Nervös beobachtete sie Thea, die ihre Gabel füllte und langsam zum Mund führte.

»Das ist köstlich.« Thea kaute bedächtig und ließ die feinen Aromen über ihre Zunge gleiten. »Du wirst immer besser. Wann bekommst du deinen ersten Stern?« Sie lächelte Denise freundlich an.

»Ach, das dauert wohl noch ein bisschen.« Denise ließ sich auf ihren Stuhl fallen. »Immerhin durfte ich schon eigene Kreationen ausprobieren, und mein Chef ist noch gut auf mich zu sprechen. Aber ein Stern . . .« Sie senkte den Blick und lächelte verträumt vor sich hin. »Das wäre schon der Hammer. Zuerst muss ich allerdings meine Prüfungen hinter mich bringen, und bei meiner Prüfungsangst . . .«

Thea legte ihre Gabel weg und strich Denise unterstützend über den Arm. »Du schaffst das schon. Setz dich mit den Prüfungen nicht so unter Druck.« Lächelnd drückte sie Denise’ Hand und nahm ihre Gabel wieder auf. »Du bist eine hervorragende Köchin, und die theoretischen Sachen, die hast du doch schon längst intus.«

Denise seufzte. »Dein Wort in wessen Gehörgang auch immer.«

»Siehst du, wie es mir schmeckt?« Thea aß mit Appetit weiter. »Und dabei hatte ich wirklich keinen Hunger.« Fast ohne dass sie es merkte, leerte sie den ganzen Teller. »So eine leckere Mahlzeit kann niemand stehenlassen.« Mit einem frechen Blinzeln legte sie zum Schluss ihr Besteck hin und sah Denise an. »Ich nicht und niemand anderer.«

Denise stand auf und räumte die leeren Teller in die Spüle. »Ich tue jetzt einfach mal so, als würde ich das glauben«, erwiderte sie seufzend. »Vielleicht kann ich mich bei der Prüfung ja daran erinnern.« Sie begann die Teller abzuspülen und sah kurz sehr in sich gekehrt aus. »Oh, entschuldige«, sagte sie dann plötzlich und drehte sich halb wieder zu Thea um. »Ich rede nur über mich selbst und habe dich noch gar nicht gefragt, wie dein Tag war. Wann entscheidet es sich denn nun, ob du die neue Abteilungsleiterin wirst?«

Seufzend streckte Thea ihre langen Beine von sich. »Ich habe keine Ahnung. Eigentlich habe ich heute schon mit einer Entscheidung gerechnet. Aber ich bin ja nicht die einzige Bewerberin für den Posten.«

»Das weiß ich doch.« Denise warf ihr einen Blick über die Schulter zu, während sie nun Wasser aus dem Kessel, den sie so nebenbei zum Kochen gebracht hatte, als sie abspülte, in zwei Teebecher goss. »Aber du bist die Einzige, die in Frage kommt. Deine Kollegin ist doch nicht wirklich Konkurrenz für dich. Arbeitet sie auch immer so lange wie du, oder hat sie andere Qualitäten?«

Thea machte eine abwinkende Geste. »Ach, was weiß ich, welche Kriterien für die Firmenleitung eine Rolle spielen. Aber Dagmar als Chefin, das wäre der blanke Horror.« Vor ihren Augen tauchte Dagmars höhnisches Grinsen auf und jagte ihr einen Schauer über den Rücken. »Ich hoffe, dass die Geschäftsleitung das auch so sieht. Außerdem würde eine Beförderung auch eine Gehaltserhöhung bedeuten, und das wäre schon schön. Dann bräuchte ich nicht mehr so viele Überstunden zu machen.«

»Na dann.« Denise stellte einen Becher Tee vor sie hin und lächelte sie nun wieder fröhlich an. »Ich bin sicher, dass sie sich für dich entscheiden. Etwas anderes kommt doch gar nicht in Frage. Komm, trinken wir schon einmal auf deine Beförderung.«

»Das wäre dann vielleicht doch etwas verfrüht.« Thea lachte etwas unsicher. »Und außerdem ein schlechtes Omen.« Sie verzog die Mundwinkel zu einem leicht gequälten Lächeln. »Ich warte lieber noch etwas, bevor wir darauf anstoßen.«

8

»Oh Gott!« Am nächsten Morgen traf sie Denise ziemlich verkatert in der Küche an, die sich den Kopf hielt. »Konntest du mich nicht davon abhalten, so viel zu trinken?«

»Dich und Babsi?«, fragte Thea schmunzelnd. »Wohl kaum. Wo ist sie?« Sie blickte suchend zur Tür, während sie zum Kühlschrank ging und sich etwas fürs Frühstück herausnahm.

»Schon weg«, sagte Denise. »Mitten in der Nacht. Ihre Eltern . . .«

»Ach so, ja.« Thea nickte. Dann ging sie ins Bad, holte ein Aspirin, löste es in Wasser auf und schob Denise das Glas hin. »Trink. Dann geht es dir besser.«

Grimmig, wenn auch dankbar blickte Denise sie von unten herauf an. »Nicht dass du denkst, sie trinkt immer so viel«, sagte sie, während sie das trübe sprudelnde Getränk misstrauisch betrachtete, das Glas dann nahm und auf einen Sitz halb leerte. »Sie trinkt auch nicht mehr als ich. Normalerweise. Gestern waren wir beide ein bisschen . . . aufgekratzt.«

»Habe ich mir schon so gedacht«, antwortete Thea friedfertig. »Ist ja auch kein Wunder, dass ihr noch so viel zusammen . . .«, sie zögerte, sagte dann aber: »feiern wollt wie möglich, bevor du weggehst.«

Mit Widerwillen trank Denise die zweite Hälfte des Glases aus. »Erinnere mich bloß nicht daran. Wie kann das sein?« Ungläubig blickte sie zu Thea hoch. »Erst diese Chance in Paris . . . und dann lerne ich ausgerechnet Babsi kennen. Beides tolle Sachen. Aber jetzt gerade mehr als unpassend.«

Thea nickte, setzte sich und begann zu frühstücken. »Wann ist es schon passend?«, fragte sie achselzuckend. »Man wünscht es sich und wünscht es sich, und es passiert nichts. Und dann plötzlich –« Sie brach ab.

An diesem Morgen war Denise noch nicht fit genug, um das sofort zu bemerken, aber nach einer Weile stützte sie ihren Kopf nicht mehr in die Hände, sondern blickte Thea an. »Ja, richtig«, sagte sie. »Wie war das bei dir letzte Nacht?«

Abwehrend lachte Thea auf. »Nicht so wie bei dir!«

»Ja, gut, du hast deine Mel nicht mit nach Hause gebracht«, sagte Denise, »aber –«

»Aber gar nichts«, unterbrach Thea sie schnell. »Es war geschäftlich. Rein geschäftlich. Wir waren kurz in diesem Bistro, haben etwas wegen des Sommerfests besprochen, und dann hat sie mich nach Hause gefahren. Sonst nichts.«

»Sie hat dich nach Hause gefahren«, wiederholte Denise.

»Och Denise . . .«, erwiderte Thea nur.

Mittlerweile war Denise jedoch so weit wiederhergestellt, dass sie sich nicht so leicht abwimmeln ließ. »Warum bist du so vernagelt?«

Überrascht richtete Thea sich auf. »Was meinst du damit?«

Denise griff nach ihrer Hand und drückte sie leicht. »Wenn du von Mel erzählst, dann glänzen deine Augen.«

Thea hob eine Hand, um sie am Weitersprechen zu hindern, aber das hielt Denise nicht ab.

»Deine Haut schimmert zartrosa, und du bist voller Energie und wie aufgezogen«, beendete sie die Zusammenfassung ihrer Beobachtungen. »Und im nächsten Moment sagst du mir, dass sie tabu ist.« Sie hob die Augenbrauen. »Warum ist das so ein schrecklicher Gedanke für dich?«

Thea legte das Brot, von dem sie gerade hatte abbeißen wollen, auf ihren Teller zurück. »Ich bin bisher immer gut gefahren mit meinen Prinzipien.«

»Mag ja sein«, stimmte Denise zu. »Aber mir scheint, dass Mel jetzt jemand ist, wo du vielleicht etwas ändern solltest, oder?« Sanft legte sie ihre Hand auf Theas Arm. »Immerhin habe ich das Gefühl, dass sie sich für dich interessiert. Warum sonst sollte sie mit dir mitten in der Nacht in ein Bistro gehen?«

»Ich sag’s noch mal, es ging um die Firma«, protestierte Thea. Doch sie ließ sich die Worte durch den Kopf gehen und fuhr sich über die Augen. »Sonst hätte sie ja wohl über was anderes reden wollen, oder?«

»Vielleicht ist sie genauso wie du. Traut sich nicht so richtig. Oder denkt, mit einer Untergebenen fängt man nichts an.« Auffordernd hob Denise die Augenbrauen, um Thea zu einer Antwort zu bewegen.

»Warum sollte sie so sein wie ich?«, fragte Thea widerstrebend. »Sie ist überhaupt nicht so wie ich. Das kann ich dir versichern.«

»Okay.« Denise hob die Hände in die Luft. »Aber du wärst absolut nicht abgeneigt, wenn es so wäre, oder? Wenn sie sich für dich interessieren würde?« Grinsend musterte sie Thea, und Thea spürte, wie sie rot anlief.

»Warum sollte sie sich für mich interessieren?«

Irritiert zog Denise ihre Augenbrauen erneut nach oben. »Na hör mal, du bist eine wundervolle Frau, ich kann mir nicht vorstellen, dass Mel nicht an dir interessiert sein könnte.«

Wenn sie schon nicht an dir interessiert war? dachte Thea. Was habe ich denn da zu bieten? Ich gehe noch nicht mal ins Fitnessstudio. Sie lachte leicht auf. »Was ist denn so wundervoll an mir?«, erwiderte sie seufzend. »Kannst du mir das mal erklären?«

»Ach, jetzt hör aber auf«, gab Denise leicht liebevoll schimpfend zurück. »Warum machst du dich immer schlechter, als du bist?«

»Vielleicht weil ich so bin, wie ich bin?« Thea zuckte die Achseln. »Wer hat immer wen aufgefordert auszugehen? Du mich oder ich dich? Oder ins Fitnessstudio?«

Denise’ Lippen zuckten eine Weile, bis sie sich nicht mehr zurückhalten konnte und anfing zu grinsen. »Da habe ich Babsi aber nicht kennengelernt. Sondern bei der Arbeit. Im Prinzip.« Sie zuckte die Schultern. »Berufsschule gehört zur Arbeit.«

Aber Mel hast du im Fitnessstudio kennengelernt, dachte Thea. »Du bist lieb, Denise«, sagte sie. »Aber du bist auch nicht objektiv. Immerhin bist du meine beste Freundin, da erwarte ich auch solche Töne von dir.«

»Das sage ich nicht nur, weil ich deine Freundin bin.« Denise legte einen Finger an ihre Nasenspitze. »Wir sollten uns eine Strategie ausdenken, wie du deine Mel für dich begeistern kannst.«

»Meine Mel ist sie schon mal gar nicht, und begeistern will ich sie auch nicht«, protestierte Thea leise.

»Wir werden sehen. Aber ich denke mir etwas aus.« Denise zögerte einen Moment, bevor sie das Thema wechselte. »Was hältst du davon, wenn wir am Freitag feiern gehen? Du, Babsi und ich. Ihr könntet euch noch besser kennenlernen, und ich könnte dann beruhigter nach Paris fahren.«

Als Thea nicht gleich antwortete, setzte Denise ihren Hundeblick auf. »Bitte, Thea, mir zuliebe.«

»Also gut«, gab Thea schließlich nach. »Bringt mich vielleicht auf andere Gedanken.«

9

»Kommt, auf ins Getümmel!« Denise zog sie mit sich auf die Tanzfläche und begann sich sogleich mit Babsi im Rhythmus der Musik zu bewegen.

Thea benötigte einen Moment länger, doch dann begann auch sie, den Rhythmus zu spüren, und schob alle Gedanken aus ihrem Kopf.

Etliche Lieder später beugte Denise sich zu ihr und sagte laut: »Wir brauchen eine Pause. Willst du was trinken?«

»Ich nehme ein Bier, danke.«

Denise nickte ihr zu und bahnte sich mit Babsi im Schlepptau einen Weg durch die wogende Menge zur Theke.

Thea sah sie zwischen den Frauen verschwinden, drehte sich um – und erstarrte.

Ein Paar dunkelbraune, beinahe schwarze Augen war auf sie gerichtet.

Sie schluckte hart. Damit hatte sie nicht gerechnet.

In ihr schrie alles nach Flucht, doch ihre Beine wollten sich nicht bewegen, und wenn, dann nur in eine Richtung: Mel entgegen.

Mels Grübchen zeigte sich wieder auf ihrer Wange. Sie beugte sich leicht zu Thea und raunte ihr ins Ohr: »Noch etwas, das ich nicht von Ihnen wusste. Sie tanzen.« Ihr Atem strich dabei über Theas Wange, brachte die feinen Härchen dazu, sich aufzurichten.

Theas Herz klopfte in ihrer Brust so laut, dass sie sicher war, dass Mel es hören musste.

»Was weiß ich noch nicht von Ihnen?« Erneut hatte Mel sich zu ihr gebeugt und ihre Lippen an Theas Ohr gelegt, damit sie nicht brüllen musste.

Die zarte Berührung löste Panik in Thea aus. Was geschieht hier? Sie flirtet mit mir, oder nicht? Himmel, ich bin zu sehr aus der Übung, wenn ich nicht einmal das mehr beantworten kann.

Aber warum flirtet sie auf einmal so offensichtlich mit mir?

Just in diesem Moment kam Denise mit der für Thea bestimmten Bierflasche zurück, während Babsi ihr wieder wie ein kleines Hündchen folgte. Sie ließ Denise nicht aus den Augen. Freundschaftlich legte die Thea einen Arm um die Schultern, reichte ihr die Flasche und blickte zwischen ihr und Mel hin und her. Ein amüsiertes Lächeln legte sich auf ihre Lippen.

Thea nahm die Flasche und hielt sich daran fest.

»Na, hast du jemanden getroffen, den du kennst?«, fragte Denise. Wieder schweifte ihr Blick interessiert über Mel.

Thea war verwirrt. »Ja . . . ähm . . .«, stotterte sie, kam aber nicht weiter. Vor lauter Verlegenheit nahm sie einen viel zu hastigen Schluck aus der Flasche und begann zu husten.

»Hoppla! Langsam!« Denise lachte und klopfte ihr auf den Rücken.

Mel war ebenfalls herangetreten und blickte besorgt.

Hätte sie mir jetzt auf den Rücken geklopft? fragte Thea sich. Und sie wünschte sich, Mel wäre näher als Denise gewesen. Sie fühlte die Tränen in ihren Augen. Vom Husten. Wahrscheinlich sah sie jetzt furchtbar aus. Sie konnte Mel gar nicht ansehen.

»Alles wieder gut?«, fragte Mel.

»Ja.« Theas Stimme krächzte, als sie das mühsam hervorbrachte. Außerdem war es viel zu leise, um es hier bei all dem Krach um sie herum zu verstehen.

»Übernimm dich nicht gleich am Anfang«, sagte Denise und grinste Thea an. »Der Abend ist ja noch jung.« Sie warf kurz einen Blick zu Mel hinüber.

Es schien, als ob Mel etwas dazu sagen wollte, aber dann trat sie einen Schritt zurück, und ihre Blicke glitten abschätzend über Denise, als wollte sie herausfinden, was Denise mit ihrer Bemerkung gemeint hatte.

Thea war nach ihrem Hustenanfall jetzt wie erstarrt. Sie konnte sich nicht rühren.

»Hey, können wir jetzt wieder tanzen?« Das war Babsi, die sich da einmischte und Denise fast schon mit sich zog.

»Ja, ich komme.« Denise hob leicht winkend einen Arm in Theas Richtung. »Du kommst doch klar, Thea, nicht?« Ihr grinsendes Gesicht verschwand in der wogenden Menge.

Na, du bist ja vielleicht gut. Lässt mich einfach hier so allein? Beinah verzweifelt blickte Thea ihr hinterher. In ihrem Kopf drehte sich alles. Mel und Denise hatten kein Wort miteinander gesprochen. War das nicht komisch? Oder hatten sie sich verkracht? Aber das hätte Denise Thea bestimmt erzählt. War Mel eifersüchtig auf Babsi? Dass sie jetzt mit Denise . . .?

Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Sie wollte etwas sagen, doch sie war dazu viel zu überfordert.

Auf einmal beugte Mel sich zu ihr, wieder ganz nah an ihr Ohr. »Geht es jetzt?«, fragte sie.

Der Hauch des heißen Atems an ihrem Ohr schien sich in heiße Ströme zu verwandeln, die durch Theas Körper zogen. Sie nickte stumm, denn sie hatte das Gefühl, sie war immer noch nicht in der Lage, auch nur ein Wort hervorzubringen.

In diesem Moment schob sich eine Gruppe wild tanzender Frauen an ihnen vorbei und riss Mel mit sich. Sie versuchte Widerstand zu leisten, aber es war wie ein Meeresstrudel, der sie ins Wasser hineinsog. Es schien, als würde sie hilfesuchend eine Hand nach Thea ausstrecken, sie anflehen mitzukommen, aber dann ergab sie sich in ihr Schicksal, zuckte die Schultern und lachte, begann sich mit den anderen Frauen auf der Tanzfläche zu bewegen.

Thea beobachtete sie fasziniert. Mels geschmeidige Bewegungen waren wie verheißungsvolle Versprechungen für sie. Sie spürte fast, wie Mel sich bewegte. Wie sie sich mit ihr mitbewegen wollte. Nicht nur hier in der Disco.

Ein Stück weiter sah sie Denise und Babsi, die manchmal wild tanzten, sich dann ansahen und plötzlich in die Arme nahmen, um sich zu küssen. Sie lächelte. Sie konnte Denise nur beneiden. Und sie wünschte ihr alles Glück, das sie sich selbst nur wünschen konnte.

Ihr Blick kehrte zu Mel zurück. Die Zusammenballung vergnügungssüchtiger Frauenmacht, die sie mitgerissen hatte, hatte sich mittlerweile ein wenig aufgelöst, auch wenn sie immer noch von einem Ring von Frauen umgeben war. Einige versuchten mit ihr zu tanzen, sie anzumachen. So entstand eine verführerische Atmosphäre um sie herum, aber Mel schien sich nicht entscheiden zu können. Oder zu wollen.

Sie hatte eine natürliche Sinnlichkeit, die sie von den anderen abhob. Jedenfalls empfand Thea es so. Es war fast, als wäre Mel ganz allein auf der Tanzfläche. Ihre zierlichen Hüften schoben sich vor und zurück, zu einer Seite, dann wieder zur anderen. Ihre Füße schienen sich ständig in Bewegung zu befinden, aber es war nicht hektisch wie bei einigen anderen, die herumsprangen wie ein ganzer Flohzirkus, es war mehr wie eine Art choreographiertes Ballett. Als ob Mel ganz genau wusste, was sie tat. Als ob sie jeden Schritt im Voraus überlegte.

Trotzdem schien sie das Tanzen zu genießen. Sie schien ganz in sich versunken, blickte meistens nur vor sich auf den Boden, ohne die Frauen zu beachten, die ihre Aufmerksamkeit zu erregen versuchten.

Plötzlich jedoch blickte sie auf und sah zu Thea herüber.

Es traf Thea wie ein Schock. Ihre Augen versanken über die Entfernung des Raumes ineinander, als wären sie durch ein unsichtbares Band verbunden.

Thea fühlte, wie sie die Bierflasche in ihrer Hand umklammerte, als wollte sie sie zerdrücken. Alles zog sie zu Mel hin. Da war doch etwas gewesen, oder nicht? Mel hatte sie angesprochen, mit ihr geflirtet. Das hatte sie sich nicht nur eingebildet.

Sie war sogar um Thea besorgt gewesen, als sie sich verschluckt hatte. Hätte sie sie da am liebsten in die Arme genommen? Wenn Denise nicht dagewesen wäre?

Wieder durchzog dieses Kribbeln Theas Körper, und sie kämpfte darum, sich einen Ruck zu geben und auf Mel zuzugehen, diesen Tanz mit ihr zu tanzen. Oder den nächsten. Und den nächsten . . .

Sie setzte sich in Bewegung, machte einen Schritt auf die wogende Masse zu und noch einen. Ihr Herz begann in ihrer Brust zu rasen.

Da auf einmal wechselte die Musik, und ein langsames Stück begann.

Das kann ich nicht, dachte Thea.

Warum nicht? Was bist du denn für eine Memme?

Ich bin doch keine – 

Selbst der Gedanke blieb ihr im Hals stecken, denn eine andere Frau hatte die Gelegenheit beim Schopf ergriffen und Mel in ihre Arme gezogen.

Zuerst wirkte Mel steif, und es schien sogar fast so, als würde sie noch einmal zu Thea herüberblicken. Aber so ganz genau konnte Thea das nicht sagen.

Da sie jedoch immer noch ein ganzes Stück von Mel entfernt war und stehengeblieben war, ging Mel wohl davon aus, dass sie nicht tanzen wollte. Also entspannte sie sich und passte sich den Bewegungen der anderen Frau an. Ihre Hüften berührten sich, ihre Schenkel pressten sich aneinander . . .

Thea konnte das nicht mehr länger mit ansehen.

Sie drehte sich um und raste zum Eingang hinaus.

5

Einige Tage später saß Thea am Abend in ihrem Zimmer und las ein Buch, als Denise an den Türrahmen klopfte. »Ich geh zum Sport, kommst du mit?«

Thea musste sich schwer zusammenreißen, dass sie nicht in lautes Lachen ausbrach, als Denise in ihrem Achtziger-Jahre-Revival-Outfit vor ihr stand. »Nein, geh du mal schön ohne mich. Danke aber.«

»Du verpasst was.« Denise schwang sich ihre Tasche über die Schulter. »In meiner Spinning-Gruppe radelt ein absolutes Sahneschnittchen mit.«

Prustend krümmte Thea sich leicht zusammen. »Ich wünsche dir viel Spaß mit deinem Schnittchen!« Sie winkte lachend ab.

»So wird das aber nichts mit der großen Liebe.« Denise blinzelte ihr zu. »Ich sage dir, die Frau ist wirklich Sahne. Und sie ist auch nicht die einzige, die –«

»Gehst du jetzt wohl?« Schmunzelnd zog Thea die Augenbrauen hoch. »Sonst verpasst du deine Kalorienbombe noch.«

Denise schüttelte den Kopf. »Du bist wirklich unverbesserlich.« Mit rollenden Augen drehte sie sich um und zog ab.

»Unverbesserlich.« Thea wiederholte es leise, als sie die Wohnungstür ins Schloss fallen hörte. »Unverbesserlich in was? In dem, dass ich mich immer in die falschen Frauen verliebe?«

Ist Mel denn die falsche Frau?

»Was für ein Blödsinn.« Irritiert zogen sich Theas Augenbrauen fast von selbst zusammen. »Mel steht doch überhaupt nicht zur Debatte. Ich bin noch nicht mal verliebt in sie.«

Ach wirklich?

Langsam ging Thea dieses Getue auf den Geist. Sie wusste, dass sie das mit sich selbst veranstaltete, aber trotzdem kam es ihr so vor, als müsste sie mit einer anderen Person kämpfen, sie überzeugen. »Wer hat mir da letztens etwas darüber erzählt, dass ich bloß nicht vergessen sollte, dass sie meine Chefin ist?«

Da sie mit sich selbst sprach, gab sie sich auf einmal keine Antwort mehr. Denn eigentlich wollte sie sich darauf keine Antwort geben. Die wäre nämlich vielleicht anders ausgefallen, als sie sich das wünschte.

Als sie Denise einige Stunden später nach Hause kommen hörte, war sie dem Kichern nach, das an Theas Ohren drang, nicht allein. Vielleicht hatte sie die Sahneschnitte mit ihrem Outfit tatsächlich überzeugen können.

Diskret wartete Thea, bis sich Denise’ Zimmertür hinter den beiden geschlossen hatte, und ging dann erst in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen.

»Du bist ja noch wach. Waren wir zu laut?« Denise trat neben sie an den Kühlschrank und nahm eine Flasche Weißwein heraus.

»Nein, keine Sorge. Ich habe noch nicht geschlafen.« Thea deutete mit dem Kopf in Richtung von Denise’ Schlafzimmer. »Deine Sahneschnitte?«

Grinsend hob Denise den Finger und wedelte damit vor Theas Nase herum. »Die Genießerin schweigt oder so ähnlich. Gute Nacht.«

Thea sah ihr lächelnd hinterher. Vielleicht sollte ich es auch mal mit einem anderen Outfit probieren.

Ein anderes Outfit kann aber nur überzeugen, wenn du es auch zur Schau trägst. Und sei mal ehrlich, du gehst doch nirgends hin. Außer zur Arbeit, oder? Außerdem: Mel willst du ja nicht überzeugen, sie ist ja tabu, nicht wahr?

Erneut genervt von ihren eigenen Gedanken stellte Thea das Glas in die Spüle und ging in ihr Zimmer zurück.

Am nächsten Morgen begann es in Strömen zu regnen, nachdem Thea das Haus schon verlassen hatte. Sie überlegte einen Moment, ob sie zurückgehen und sich einen Schirm holen sollte, entschied sich aber dagegen, denn so oder so würde sie nass werden. So schlimm wird es schon nicht werden. Die paar Tropfen halte ich aus. Wie ein Stier in der Arena zog sie den Kopf zwischen die Schultern und lief mit schnellen Schritten durch die paar Straßen zur Arbeit.

Vor dem Aufzug angekommen schüttelte sie sich wie ein nasser Pudel. Dabei spritzten die Wassertropfen nur so durch die Halle. Selbst im Aufzug tropfte sie noch. Glücklicherweise war sie allein in der Kabine.

Kaum dass sich die Aufzugtüren auf ihrer Etage öffneten, stürmte sie los und prallte gegen Mels schmale Gestalt, die vor dem Aufzug gestanden hatte. Mel taumelte wie eine getroffene Billardkugel nach hinten.

Ach du je! Wie das oft so in solchen Situationen ist, sah sie sich selbst fast wie in Zeitlupe, und gleichzeitig sah sie, dass Mel nicht nur taumelte, sondern in Gefahr war hinzufallen.

Reaktionsschnell griff sie mit beiden Armen zu und konnte so gerade noch verhindern, dass Mel auf den Boden prallte. Fest hielt sie sie umarmt und an sich gepresst. Dabei konnte sie Mels Herzschlag an ihrer eigenen Brust spüren. Ein Gefühl, das ihr die Knie weich werden ließ. Überhaupt, der schlanke Körper, die weichen Rundungen . . .

Sie spürte, wie ihr die Röte in die Wangen schoss. »Es tut mir leid, ich habe Sie nicht gesehen«, stammelte sie erschrocken.

»Schon gut, nichts passiert«, murmelte Mel, die noch immer in Theas Armen lag und sich nur langsam, eher zögernd, aus der Umklammerung löste.

»Sind Sie sicher?« Thea versuchte in den dunklen Augen zu lesen, die über ihren Körper strichen.

»Absolut sicher, es ist nichts passiert.« Mel warf ihr einen weiteren Blick aus ihren faszinierenden Augen zu und verschwand in den Aufzug. Die Türen schlossen sich hinter ihr.

Thea blieb wie in einem Traum gefangen vor dem Aufzug stehen. Nur langsam beruhigte sich ihr Puls. Noch immer konnte sie Mel in ihren Armen spüren.

Ach du meine Güte, hast du nicht etwas von deinen Prinzipien erzählt?

Kann man die nicht ändern? gab Thea sich selbst zur Antwort.

Sie hat es dir echt angetan, oder?

Nachdenklich fuhr sie sich über ihre strubbeligen Haare. Tabu, dachte sie. Tabu, tabu, tabu.

Dann atmete sie tief durch, ging erst einmal in den Waschraum, um sich zu trocknen, und begab sich dann an die Arbeit.

Sie hoffte, dass Mel nicht allzu viel von ihrer regentropfenden Außenseite abbekommen hatte.

Darauf hatte sie nämlich nicht geachtet.

In der Mittagspause kochte sie sich einen Tee in der Küche, als sich Dagmar zu ihr gesellte. »Und, was hältst du von unserer Gazelle?« Gehässig zog sie ihre Augenbrauen nach oben und sah Thea an.

Thea schüttelte missbilligend den Kopf. »Warum nennst du sie immer so? Zeig doch mal ein wenig Respekt. Sie ist schließlich deine Chefin«, gab sie genervt zurück.

»Immerhin hat sie Farbe in unser trübes Büro gebracht.« Dagmar brach in wieherndes Lachen aus und klammerte sich an Thea fest.

»Hast du sie noch alle?« Unwirsch streifte Thea Dagmars Hand, die ihr wie eine Schraubzwinge vorkam, von sich ab und schaute sie angewidert an. »Es gibt echt keinen Grund, hier ausfallend zu werden!«

»Ach.« Ein böses Grinsen umspielte Dagmars dicke Lippen. »Sag bloß, sie hat es dir angetan, die Kleine.« Sie trat Thea in den Weg, als sie sich an ihr vorbeidrücken wollte. »Ich wusste gar nicht, dass du auf solche Exoten stehst.«

Thea setzte zu einer boshaften Erwiderung an, doch sie wollte sich nicht auf Dagmars Niveau hinabbegeben. Und was auch immer sie jetzt sagen würde, Dagmar würde nur das hören, was sie hören wollte. Also versuchte sie sich an Dagmar vorbeizudrängen, doch die blockierte weiter den Weg.

»Mach dir nur keine allzu großen Hoffnungen auf deine Gazelle.« Mit dem üblichen hämischen Lächeln, das fast wie in ihr Gesicht eingraviert schien, deutete Dagmar mit dem Kopf in Richtung von Mels Büro. »Die scheint nämlich schon anderweitig vergeben zu sein.«

Obwohl sie das gar nicht wollte, wanderte Theas Blick automatisch in die Richtung, die Dagmars vorgestrecktes Kinn vorgab.

Mel stand in der Tür und unterhielt sich mit Ilona. Selbst aus der Ferne war nicht zu übersehen, dass die beiden sich gut verstanden. Ihre ganze Körpersprache und auch kleine wie zufällige Berührungen zeigten das sehr deutlich.

»Gazellen springen eben von einem Ort zum anderen«, flötete Dagmar fast. »Die bleiben nicht an einer Stelle stehen.«

Theas Augen wandten sich von Mel und Ilona ab und durchbohrten Dagmar fast. »Wenn ich dieses Wort noch einmal höre, dann werden wir mal herausfinden, was die Geschäftsleitung über deine Einstellung denkt«, zischte sie und schob sich so heftig an Dagmar vorbei, dass sie sie praktisch zur Seite stieß.

Dagmar warf ihr einen undefinierbaren Laut hinterher, dann verzog sie sich hinter ihren Schreibtisch.

Thea blieb an ihrem Platz stehen und beobachtete heimlich, wie Ilona und Mel sich weiter unterhielten. Sie wirkten durchaus vertraut miteinander.

Aber Ilona ist doch viel zu alt für sie, oder?

Seufzend fuhr sie sich durch die Haare. Was weißt du schon? Außerdem ist es nicht deine Angelegenheit.

Kurz vor Feierabend war Thea ganz in ihre Arbeit versunken, als sie plötzlich einen Duft wahrnahm, der normalerweise nicht da war. Sie blickte auf und sah Mel neben ihrem Schreibtisch stehen. Sie musste sich tatsächlich wie eine Gazelle bewegt haben, um so geräuschlos herangekommen zu sein.

Bin ich denn Dagmar? schalt Thea sich selbst. Aber auch wenn Dagmar das abschätzig meinte, Gazellen waren nun einmal sehr elegante und grazile Geschöpfe. Niemand konnte sagen, dass das nicht auf Mel zutraf.

»Ilona bat mich, Ihnen das hier zu geben.« Sie hielt Thea einen dünnen Aktenordner entgegen.

Ilona. Wie gut kennst du Ilona? Thea versuchte sich zusammenzureißen und nicht weiter darüber nachzudenken. Sie hob die Hand, um den Aktenordner in Empfang zu nehmen, wollte gerade »Danke« sagen und blieb mitten im Wort stecken, als ihre Fingerspitzen sich dabei zufällig berührten. Sie hatte das Gefühl, ein Stromschlag würde durch ihren Körper schießen, und erstarrte.

Auch Mel schien in der Bewegung zu verharren. Sie hätte den Ordner einfach fallenlassen können, aber das tat sie nicht. Ihr Blick schien den von Thea stumm zu erwidern, der wie gebannt auf ihr haftete.

Es war wie ein magischer Moment, der sie beide für einen Wimpernschlag verband.

Da räusperte Mel sich, ließ den Ordner los, und Thea musste fest zugreifen, damit er ihr nicht aus den Fingern rutschte.

»Schönen Abend noch.« Damit nickte Mel ihr zu, durchquerte mit schnellen Schritten das Büro und verschwand aus Theas Sichtfeld.

Habe ich mir das nur eingebildet, oder war da wirklich was?

Ach, Thea, das hättest du wohl gern, oder?

Seufzend legte sie die Akte auf den Tisch, wandte sich wieder ihrer Arbeit zu, in der Mel sie unterbrochen hatte, und versuchte nicht mehr daran zu denken, was eben vielleicht oder auch nicht geschehen war.

Das gelang ihr nur nicht so leicht.

Als sie einige Zeit später nach Hause kam, wurde sie von Stille begrüßt. »Denise?« Sie ging in die Küche und fand einen Zettel auf dem Tisch: Bin beim Sport.

Sie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Denise war wohl wieder bei ihrer Sahneschnitte. Warum auch nicht.

Dann gab es heute wohl kein Haute-Cuisine-Abendessen. Aber Brot und Käse reichten ja auch. Sie nahm sich eine Schnitte in ihr Zimmer mit und läutete den Feierabend mit einem guten Buch ein.

Als sie den Teller in die Küche zurückbringen wollte, hörte sie Denise nach Hause kommen. Kurz darauf erschien sie bei Thea, die noch an der Spüle stand, und begab sich schnurstracks zum Kühlschrank. »Hallo Thea. Alles klar?«

Thea schmunzelte. »Du warst beim Sport?«

»Hmhm.« Denise starrte in den Kühlschrank, als würde sie auf eine tiefe Erkenntnis warten.

Nun konnte Thea es sich nicht mehr verkneifen. »Bist du allein, oder hast du deine Sahneschnitte dabei?«

Denise drehte den Kopf und zwinkerte ihr verschwörerisch zu. »Sie ist echt etwas Besonderes.«

»Kann ich mir denken.« Thea lehnte sich gegen den Türrahmen. »Suchst du etwas Bestimmtes?«

Denise hing immer noch halb im Kühlschrank und wühlte sich durch die Fächer. »Hatten wir nicht noch eine Flasche Wein hier drin?«

»Keine Ahnung.« Thea zuckte die Schultern. »Hast du nicht gestern eine Flasche rausgenommen?«

»Mist.« Denise richtete sich auf und strich sich über die langen Haare. »Du hast recht, das habe ich schon wieder vergessen. Na ja, dann muss ich sie fragen, ob sie auch einen Tee trinken würde.«

»Soll ich euch eine Flasche holen?«, bot Thea an. »Die Tanke vorn hat sicher noch auf.«

»Das ist süß von dir, Thea.« Mit einem freundlichen Lächeln schüttelte Denise leicht den Kopf. »Aber vielen Dank. Wir finden auch was anderes hier im Haus.« Sie nickte Thea kurz zu und ging in ihr Zimmer zurück.

Lächelnd folgte Thea ihr mit ihrem Blick. Ganz automatisch lugte sie neugierig durch die Tür in Denise’ Zimmer hinein, als sie die Tür öffnete, und erstarrte. Ihre Knie wurden auf einmal ganz weich, und sie musste sich an der Spüle in ihrem Rücken festhalten.

Das kann doch nicht wahr sein. Fassungslos starrte sie auf die nun geschlossene Tür. Gedämpftes Kichern drang an ihr Ohr, doch für sie war es, als würde jemand höhnisch lachen, so laut dröhnte es in ihren Ohren.

Sie ging in ihr Zimmer und legte sich aufs Bett. Doch wann immer sie die Augen schloss, sah sie Mel vor sich, die auf Denise’ Bett gesessen hatte.

Sie war die Sahneschnitte, keine Frage.

Seufzend zog sich Thea die Decke über den Kopf. Sie konnte Denise ja keinen Vorwurf machen. Zum einen wusste sie bestimmt nicht, dass Mel Theas Chefin war, und zum anderen, selbst wenn sie es wissen sollte, es hatte keine Bedeutung. Thea selbst hatte ja klargestellt, dass Mel für sie tabu war. Also warum fühlte sie sich jetzt so elend?

Du magst sie, und es wurmt dich, dass Denise jetzt mit ihr zusammen ist.

Thea lauschte angestrengt, doch aus Denise’ Zimmer drang kein Laut mehr. Ob sie jetzt vielleicht . . .?

Oh mein Gott, nein, daran will ich beim besten Willen nicht denken!

Warum nicht? Weil du vielleicht eifersüchtig bist?

Mel kann schließlich tun und lassen, was sie will. Das hat mit mir nichts zu tun!

Thea warf sich herum und vergrub ihren Kopf unter dem Kissen. Irgendwann schaffte sie es tatsächlich, die Gedanken zu verdrängen und einzuschlafen.

Am nächsten Morgen stand sie früh auf, sprang unter die Dusche und verschwand ohne Frühstück aus der Wohnung. Sie wollte auf jeden Fall vermeiden, Mel in der Wohnung zu begegnen. Irgendwann würde sich das zwar nicht mehr umgehen lassen, aber jetzt war sie noch nicht bereit dafür.

Glücklicherweise traf sie Mel auch in der Firma nicht. Thea hätte einfach nicht gewusst, wie sie hätte reagieren sollen.

Dafür hatte Dagmar wieder zu ihrem üblichen Selbst gefunden und versuchte während der Frühstückspause bei den Kollegen miese Stimmung zu verbreiten.

»Es ist ein Unding, dass sie uns vor die Nase gesetzt wurde. Woher kommt sie überhaupt? Weiß das jemand? Abgesehen vom Busch, dem sie wohl entsprungen ist.« Sie stand in der Teeküche und warf ihre Worte in die Runde.

Eine ältere Kollegin hob die Augenbrauen. »Na, na, sowas will ich aber nicht hören«, sagte sie tadelnd. »Jetzt krieg dich doch mal langsam wieder ein.«

Seufzend stand Thea auf und spülte ihre Tasse ab. »Wieso jammerst du eigentlich immer nur uns die Ohren voll? Beschwer dich bei der Geschäftsleitung, die haben sich für Frau Franke entschieden.« Sie stellte die Tasse in den Schrank und wandte sich zum Gehen.

»Geschäftsleitung?«, spuckte Dagmar abschätzig aus. »Du meinst wohl eher Ilona, und dass die nicht unbedingt objektiv ist, das haben wir gestern ja wohl alle sehen können, oder nicht? So, wie die beiden geturtelt haben.« Sie verzog ihr Gesicht zu einem spöttischen Grinsen. »Tätscheln hier und Kraulen da, so war es doch, nicht wahr, Thea?« Während sie sprach, fixierten ihre feisten Augen die Kollegen, die sich inzwischen neugierig um sie gescharrt hatten.

Thea hob warnend die Hand. »Ich an deiner Stelle wäre ganz vorsichtig mit solchen Behauptungen. Das kann ganz leicht auch mal nach hinten losgehen.«

»Hm.« Dagmar drehte sich wieder zu Thea um und starrte sie böse an. »Egal, wessen Entscheidung es war. Du hast wohl schon vergessen, dass du den Posten doch auch wolltest. Stört es dich denn gar nicht, dass sie uns vor die Nase gesetzt wurde?« Doch sie wartete eine Antwort gar nicht ab. »Mich stört es gewaltig.« Sie trat noch näher an Thea heran und wedelte mit dem Finger vor ihrer Nase herum. »Mir ist es nicht egal, und ich werde schon noch herausfinden, wo sie auf einmal herkommt. Das stinkt doch bis zum Himmel. Außerdem«, wieder tanzten feine Schaumbläschen auf ihren dicken Lippen, »außerdem ist sie doch viel zu jung, um so einen Posten besetzen zu können. Nein, da läuft etwas gewaltig schief, und ich werde noch herausfinden, was es ist.«

»Ach, mach doch, was du willst, aber lass mich da raus.« Erhobenen Hauptes ging Thea an Dagmar vorbei.

Sie konnte noch das Zischen hören, mit dem Dagmar weitere Bosheiten von sich gab, doch ihr konnte das egal sein. Sie würde sich nicht in Dagmars Feldzug hineinziehen lassen. Und sie hoffte, dass auch die meisten der Kolleginnen so vernünftig sein würden.

Sie würde aber auf jeden Fall ein Auge auf Dagmar haben, so viel war sicher.

Und doch hat sie mit einem recht. Mel ist wirklich noch sehr jung für die Leitung.

Aber, fügte sie selbst sogleich hinzu, die Abteilung läuft, also scheint sie ihren Job zu beherrschen.

Am Abend ging Thea mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend nach Hause. Würde Mel bei Denise sein? Und wenn ja, wie würde sie damit umgehen?

Warum machst du dir darüber überhaupt einen Kopf? schalt sie sich selbst. Denise ist eine tolle Frau, und wenn Mel und sie . . .

Thea blieb auf der Brücke stehen und sah auf den Main hinunter. Der Gedanke an Mel bei Denise ließ sie einfach nicht in Ruhe. Auch wenn sie sich tausendmal vorsagte, dass es sie nichts anging. Es ließ sie nicht los.

Überhaupt, warum bandelt Denise mit ihr an, jetzt, wo sie doch nach Paris gehen will?

Mel ist eben eine faszinierende Frau. Und Denise ebenso.

Ja klar, das steht ja nicht zur Debatte, oder?

Während ihre inneren Stimmen ein Gefecht austrugen, starrte Thea auf den dunklen Fluss unter sich. Es begann leicht zu regnen, doch das bekam sie nicht mit, so versunken war sie in ihre Gedanken.

Nein, das steht nicht zur Debatte. Aber sie ist deine Chefin, und wenn ich dich erinnern darf, dann hast du da so deine Prinzipien, oder?

Wütend hob sie einen Stein auf und warf ihn ins Wasser. Vielleicht sollte ich meine Prinzipien einmal überdenken.

Super Idee. Nur schade, dass es für Mel jetzt zu spät ist.

Thea blieb weiter auf der Brücke stehen und starrte vor sich ins strömende Wasser. Sie bemerkte nicht, wie sie langsam vom steten Regen durchweicht wurde. Erst als sie zu zittern begann, ging sie zögernd, fast als müsste sie sich dazu zwingen, weiter nach Hause.

Sie schloss die Tür auf und lauschte, ob jemand daheim war. Leises Summen drang aus der Küche. Denise war also da. Thea konnte jedoch nicht ausmachen, ob auch Mel in der Küche war.

Sie wollte es eh nicht wissen. Ohne etwas zu sagen oder in die Küche zu gehen, schlich sie sich in ihr Zimmer und verschloss die Tür hinter sich. Vielleicht konnte sie so das Unvermeidliche noch ein wenig hinauszögern.

Nur Sekunden später klopfte es an der Tür. »Thea, bist du da?«

Einen Moment lang überlegte sie, ob sie einfach still sein sollte, doch dann siegte ihre Vernunft und sie öffnete die Tür.

Denise stand vor ihr und sah sie besorgt an. »Ist alles in Ordnung? Du hast gar nichts gesagt, als du gekommen bist. Fehlt dir etwas?«

»Es ist alles gut. Ich bin einfach nur müde. Tut mir leid, ich wollte gleich ins Bett.«

»Geht es dir wirklich gut?« Denise musterte sie eindringlich. »Du bist ja völlig durchnässt. Wo warst du nur?« Ohne auf eine Antwort zu warten zog sie Thea mit sich ins Badezimmer. »Komm, zieh die nassen Klamotten aus und stell dich unter die warme Dusche. Wenn du fertig bist, bring ich dir einen Tee.«

»Mach dir keine Umstände wegen mir. Du hast sicher Besseres zu tun.« Auch wenn ich es nicht wahrhaben will.

»Quatsch, was sollte ich schon vorhaben?« Denise sah sie strafend an. »Ab unter die Dusche, ich komm gleich wieder.«