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Ruth Gogoll

DER HIMMEL IN DEINEN AUGEN

Roman

© 2019

édition el!es

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Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-293-0

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iStock.com/neirfy

1

Fabiola betrat die Kunstgalerie und schaute sich wohlwollend um. Carlo hatte sich hier eines der geschmackvollsten Juwele geschaffen, die es in dieser Branche gab. Sie kam immer wieder gern hierher.

Diesmal kam sie jedoch offenbar zum falschen Zeitpunkt, denn es herrschte ein kreatives Durcheinander. Im Schaufenster hatte sie die Ankündigung für eine Vernissage gesehen, doch ganz offensichtlich waren die Vorbereitungen noch nicht abgeschlossen.

Sie schaute sich nach Carlo um, konnte ihn aber nicht entdecken. Sie würde vielleicht besser heute Abend wiederkommen. Hier störte sie nur. Als sie sich schon abwenden wollte, um zu gehen, wurde sie durch eine begeisterte Stimme in der Bewegung aufgehalten.

»Ich freue mich. Ich freue mich so!« Eine junge Frau sprang vor Freude fast in die Luft. »Endlich ein Wochenende zu zweit! Mit dir. Ganz allein.« Sie legte ihre Arme um den Hals einer großen, hageren Frau und sah sie zärtlich an.

»Ich freue mich auch.« Die große Frau lächelte etwas amüsiert auf die kleinere hinunter. Dann begann auf einmal ihr Handy zu klingeln.

»Oh nein!« Die kleinere Frau stöhnte auf.

Die Stirn der großen legte sich in Falten. »Tut mir leid«, sagte sie. Sie löste sich von der kleineren und griff in ihre Jackentasche. Als sie das Handy ans Ohr legte, drehte sie sich weg und ging ein paar Schritte zum Fenster hin, so dass man nicht hören konnte, was sie sagte.

Als sie jedoch mit einem bedauernden Gesichtsausdruck zurückkehrte, verschwand auf einmal alle Freude aus dem Gesicht der kleineren Frau. Sie nickte resigniert. »Schon okay, Vic«, sagte sie. »Du musst weg.«

»Sarah . . .« Vic trat auf sie zu. »Ich kann es nicht ändern. Es gibt Probleme mit den neuen Spezifikationen. Tut mir so leid . . .«

»Ich weiß«, sagte Sarah. »Geh schon. Dein Flug wartet.«

Vic beugte sich zu ihr. »Du bist wunderbar«, sagte sie. »Wir holen es nach, ich verspreche es.« Sie hauchte einen flüchtigen Kuss auf Sarahs Wange.

Sarah nickte erneut, und Vic drehte sich um und ging schnell zur Galerietür hinaus.

Fabiola bemerkte, mit was für einem sehnsüchtigen Ausdruck in den Augen Sarahs Blick der verschwindenden Gestalt folgte, die draußen auf der Straße schon wieder an ihrem Handy hing. Das war nicht das erste Mal, dachte Fabiola. So ist sie schon öfter versetzt worden.

Die junge Frau tat ihr leid. Sie war wie ein Häufchen Elend zurückgeblieben und schien sich gar nicht rühren zu können. Fabiola ließ ihren Blick über sie gleiten. Sie war wahrscheinlich irgendetwas zwischen Mitte und Ende zwanzig und sehr, sehr hübsch. Fabiola lächelte und trat auf sie zu.

»Wann ist die Vernissage heute Abend?«, fragte sie sanft.

Die junge Frau namens Sarah drehte sich schnell um die eigene Achse und blickte verwirrt in die Richtung, aus der die Frage gekommen war.

»Entschuldigung.« Fabiola lächelte. »Ich wollte Sie nicht erschrecken.«

»Nein. Nein, das tun Sie nicht.« Sarah versuchte sich ganz offensichtlich zusammenzureißen. »Die Vernissage. Ja, ja . . . natürlich, heute Abend . . . heute Abend um acht.« Sie lachte etwas verlegen. »Verzeihen Sie. Ich war ganz in Gedanken.«

Fabiola lächelte immer noch freundlich. »Sie waren etwas abgelenkt, das verstehe ich.«

Sarah lächelte zurück, jedoch leicht gezwungen und unsicher. »Abgelenkt, ja, so war es wohl.«

Was für ein Lächeln, dachte Fabiola. Selbst in diesem Augenblick, da Sarahs Lächeln nur einen geschäftsmäßigen Anstrich hatte, fühlte Fabiola ein leichtes Kribbeln in ihren Fingerspitzen, als ob sie Sarah berühren wollten. Das hätte ich jetzt nicht erwartet, dachte sie. So etwas hier zu finden.

Sie blickte für einen kurzen Moment nachdenklich auf dieses unerwartete Geschenk, dann lächelte sie wieder. »Also bis heute Abend dann. Bei der Vernissage. Werden Sie da sein?«

Sarah sah vom Boden hoch, auf den sie ihren Blick gesenkt hatte. Ihr Gesichtsausdruck hatte etwas Verwirrtes. »Ja. Ja, ich werde da sein. Natürlich. Es ist ja unsere Vernissage.« Ihre Worte klangen abwesend und unbeteiligt.

Oh-oh, dachte Fabiola. Sie würde jetzt am liebsten weglaufen, dieser Frau hinterher.

Sie sah, dass Sarah in diesem Moment schon wieder vergessen hatte, dass sie, Fabiola, da war. Verloren stand sie im Raum, als ob jemand sie mitten in der Galerie vergessen hätte.

»Ist alles in Ordnung?« Nur schwer konnte Fabiola sich von ihrem Anblick losreißen. Ein wenig erinnerte diese junge Frau sie mit ihren langen blonden Haaren an eine Märchenfee, die plötzlich in eine Welt geworfen worden war, die sie nicht verstand. Leider war ihr auf der Reise vom Märchenland hierher wohl ihr Zauberstab abhandengekommen.

Langsam erwachte die frischgetaufte Fee aus ihrer Geistesabwesenheit. »Ja, alles in Ordnung«, murmelte sie leise.

»Wollen Sie sich nicht setzen?«, fragte Fabiola. Sie hatte das Gefühl, dieses zarte Wesen könnte jeden Augenblick umfallen.

Erstaunt blickte Sarah sie an, aber in diesem Moment kam Carlo, der Besitzer der Galerie, aus dem hinteren Teil des Ladens auf sie zu. »Fabiola!« Er breitete lachend die Arme aus. »Ist es schon wieder soweit?«

Fabiola hob fragend die Augenbrauen.

»Ist schon wieder ein Jahr um?«, erläuterte Carlo lächelnd. Er war ein kleiner, dünner Mann, und als er Fabiola nun umarmte, verschwand er fast in ihr. Sie war größer als er.

»Scheint so«, erwiderte sie. Ihr Lächeln war voller Sympathie. Sie mochte Carlo ungeheuer gern. »Mir kommt es allerdings so vor, als hätten wir uns gestern erst gesehen.«

»Mir auch«, sagte er. Dann wandte er sich mit einem irritierten Blick an Sarah. »Wolltest du nicht schon längst weg sein?«

Die blonde Fee zögerte einen Moment. »Ja, wollte ich«, sagte sie dann. Sie zwang ein Lächeln in ihre Mundwinkel. »Aber das hat sich jetzt erledigt. Also kann ich dir doch bei den letzten Vorbereitungen für die Vernissage helfen, wie du es wolltest.«

»Ich wollte . . .«, erwiderte Carlo gedehnt, »dass du wegfährst. Die Vernissage hätte ich auch allein geschafft.«

Sarah lächelte weiter etwas gezwungen. »Aber ein bisschen Hilfe kann man doch immer gebrauchen, nicht wahr?«

»Natürlich«, stimmte er zu. »Aber mir wäre es lieber, wenn du glücklich wärst. Das wievielte Mal war das jetzt, dass sie dich im letzten Moment sitzengelassen hat?«

Erschrocken warf Sarah einen Blick auf Fabiola. »Ich – sie hat mich nicht . . .«, protestierte sie schwach. »Ich meine, sie musste beruflich weg, das war alles.«

»Das war alles«, wiederholte Carlo ohne besondere Betonung. »Wie immer.«

Sarah blickte ihn etwas trotzig an. »Und übrigens bin ich glücklich. Ich weiß gar nicht, was du meinst.«

Carlo betrachtete sie kurz nachdenklich, dann sagte er: »Na gut. Wenn du unbedingt arbeiten willst, habe ich nichts dagegen.« Er wies nach hinten. »Du könntest dir ein paar Gedanken zu den Aquarellen machen. Da weiß ich noch nicht genau, wie sie hängen sollen.«

Es schien, als ob Sarah erleichtert wäre, sich in den hinteren Teil der Galerie zurückziehen zu können.

Kurz darauf war sie aus Fabiolas Blickfeld verschwunden.

»Oha«, bemerkte Carlo mit wissender Miene, während er Fabiolas Gesicht musterte. »Du hast Interesse an ihr.«

Fabiola zuckte die Schultern. »Sie scheint nicht sehr glücklich zu sein, auch wenn sie das behauptet.«

»Sie will es einfach nicht wahrhaben.« Carlo seufzte. »Diese Vic ist nicht gut für sie. Überhaupt nicht gut. Aber sie hängt an ihr, als wäre sie alles, was sie hat. Das ist einfach nicht vernünftig.«

»Na, da kenne ich noch jemanden, der in diesen Dingen nicht besonders vernünftig ist«, erwiderte Fabiola leicht schmunzelnd.

»Ach, bei uns ist das doch etwas anderes.« Carlo winkte ab. »Wir Jungs sind nicht so kompliziert. Aber ihr Mädels . . .« Er schüttelte den Kopf.

»Wir müssen auch nicht kompliziert sein«, widersprach Fabiola. Sie warf einen Blick nach hinten, wo aber nichts mehr von Sarah zu sehen war. »Aber sie ist noch sehr jung.«

»Ach so? Und du bist alt und abgeklärt?« Carlo lachte.

»Älter als sie auf jeden Fall«, sagte Fabiola. »Aber ich sehe«, sie wechselte das Thema und schaute sich anerkennend um, »dass du einen neuen Künstler entdeckt hast.«

»Eine Künstlerin«, korrigierte Carlo. »Und nicht ich habe sie entdeckt, sondern Sarah. Sie ist Gold wert. Hat einen untrüglichen Blick für das Besondere.«

Fabiola lachte. »Bei Künstlern, aber nicht bei ihrer Freundin?«

»Tja.« Carlo zuckte die Schultern. »Wie es eben manchmal so ist . . . Aus der Nähe ist das Auge blind.«

»Scheint so«, sagte Fabiola.

»Ah . . .«, machte Carlo gedehnt. »Da ist wieder dieses Funkeln in deinen Augen.« Er nickte. »Vic ist das ganze Wochenende nicht da, wie es aussieht.«

Fabiola wiegte zweifelnd den Kopf hin und her. »Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist. Sie wirkt ziemlich . . .«, wieder wanderte ihr Blick nach hinten, »verletzlich.«

»Sie braucht nur die richtige Frau, die sie aufbaut«, behauptete Carlo. »Und nicht eine, die sie immer nur runterzieht.« Sein Gesicht verzog sich grimmig, was ganz untypisch für ihn war. Er war eher eine Frohnatur, der alles – bis auf sein Geschäft – leichtnahm. »Du würdest ihr einen Gefallen tun.«

Fabiolas Mundwinkel zuckten. »Ich bin nicht sicher, ob sie das genauso sieht. Aber ich kann sie ja mal zum Essen einladen.«

»Das kann auf jeden Fall nie schaden«, bestätigte Carlo und rieb sich zufrieden die Hände. »Aber jetzt musst du mich entschuldigen. Hinten ist noch einiges zu tun. Und du kommst ja sicher nachher zur Vernissage.« Er schaute sie fragend an.

»Natürlich.« Fabiola nickte lächelnd. »Das lasse ich mir bestimmt nicht entgehen.«

Carlo lachte leise. »Jetzt würde ich gern wissen, ob du dabei an die Bilder denkst oder an . . . etwas anderes.«

Neckend tippte Fabiola ihm mit einem Finger auf die Nase. »Sage ich dir nicht.«

»Weiß man bei dir nie so genau«, meinte Carlo. »Dann bis später«, verabschiedete er sich nun schon mit abwesend gerunzelter Stirn über dem Winken seiner sorgfältig manikürten Hand. »Wir sehen uns.« Und wie einer von diesen kleinen, agilen Hunden begab er sich geschäftig nach hinten.

Fabiola stand noch kurz da, dann drehte sie sich um und ging hinaus.

Als sie am Abend wieder in der Galerie ankam, waren die meisten Gäste schon eingetroffen. Stimmengewirr zwischen Champagnerschalen. Sie nickte Carlo nur kurz zu, der am anderen Ende der Galerie stand, als sie zur Eingangstür hereinkam. Carlo lächelte zurück und widmete sich erneut seinen Gesprächspartnern.

Gemächlich begab Fabiola sich zum Buffet und beobachtete von dort aus die Gesellschaft, um sich einen Überblick zu verschaffen. Sie wusste immer gern, wer von ihren Konkurrenten da war und wie das Publikum auf einen neuen Künstler reagierte. Und heute – sie schaute sich um – hatte sie auch noch ein anderes Interesse.

Die junge Frau, Sarah, war ebenso wie Carlo mit Kunden oder vielleicht auch Pressevertretern beschäftigt, die sie anscheinend über die neue Künstlerin ausfragten. Möglicherweise war eine der Frauen in der Gruppe sogar die Künstlerin selbst, auch wenn das von Fabiolas Position aus nicht festzustellen war. Aber sicherlich würde die Neuentdeckung im Laufe des Abends dem Publikum vorgestellt werden.

Fabiola überlegte, ob sie so lange warten und sich erst einmal die angeblich so besonderen Bilder ansehen sollte, aber sie merkte, dass das nicht unbedingt das war, was sie jetzt tun wollte. Ihr stand der Sinn nach etwas anderem, also schlenderte sie langsam, als würde sie tatsächlich die Bilder betrachten, zu der Gruppe um Sarah hinüber.

Als sie in Hörweite war, konnte sie feststellen, wie viel sicherer und selbstbewusster als bei ihrer ersten Begegnung Sarahs Stimme klang. Sie sprach über etwas, das sie wirklich interessierte und womit sie sich hervorragend auskannte, das merkte man.

Es wurde schnell klar, dass die junge Frau neben ihr wohl die Künstlerin sein musste. Sie war in eine weite persische Hose und einen ebensolchen Kaftan gekleidet, die in allen Regenbogenfarben leuchteten, wirkte ein wenig schüchtern und trug eine runde Nickelbrille, vermutlich aus irgendeinem Retroladen.

Fabiolas Blick verweilte jedoch nicht auf ihr. Ohne dass sie etwas dagegen tun konnte, wurde er von Sarah gefesselt. Schon lange hatte sie sich nicht mehr so von einer Frau fasziniert gefühlt.

Sarah wirkte verglichen mit der Künstlerin dezent gekleidet, für sie war das hier Arbeit, und dementsprechend hatte sie ein unauffälliges schulterfreies Kleid gewählt, das zwar dem Anlass angemessen war, aber keiner der anwesenden Damen Konkurrenz machte. So unauffällig das Kleid jedoch auch war, Sarah und insbesondere Sarahs nackte Schultern waren es für Fabiola nicht.

Der Unterschied zu heute Nachmittag war frappierend, denn da hatte Sarah noch fast freizeitmäßig ausgesehen in Jeans und ihrem weiten T-Shirt. Alles war von oben bis unten mit Sägespänen und Klebeband, Farbe und Kordelresten übersät gewesen von den Vorbereitungen für die Vernissage.

Nun sah sie irgendwie . . . gediegen aus. Während Carlo immer versuchte, sich selbst einen künstlerischen Touch zu verleihen, hatte Sarah offensichtlich darauf verzichtet. Ihre Aufmachung war eine klare Aussage zu Understatement. Sie wollte weder der Künstlerin noch sonst jemandem die Schau stehlen. Alle sollten sich nur auf die Bilder konzentrieren, nicht auf sie, das schien sie zu beabsichtigen.

Allerdings gelang es Sarah nicht, die Aufmerksamkeit ganz von sich abzuwenden. Fabiola war nicht die einzige, die sie mit ihren Blicken verfolgte, wie sie bald bemerkte. Sie lächelte leicht. Ja, Sarah hatte etwas, da konnte sie noch so sehr versuchen, sich unscheinbar zu machen, sie war es nicht.

Sie lauschte Sarahs Erklärungen für eine Weile, nur, um ihre Stimme zu hören, die sie geradezu in ihren Bann zog.

Dann endlich war der Moment gekommen, da Carlo zu ihnen trat und die offizielle Vorstellung der Künstlerin verkündete. Er hatte eine kleine Rede vorbereitet, mit geschickt eingestreuten Sentenzen, die das Publikum immer wieder zum Lachen brachten, es dann aber erneut ernst lauschen ließen, ganz wie er es wollte. Wie ein Puppenspieler ließ er alle wie Marionetten nach seiner Pfeife tanzen. Fabiola wusste, wie sehr er das genoss. Das waren seine großen Momente, die er sich niemals hätte nehmen lassen.

Endlich war der offizielle Teil vorbei, und Carlo forderte alle auf, sich den Bildern, aber auch dem Buffet zu widmen, bevor er sich lächelnd einem künstlerisch gekleideten jungen Mann am anderen Ende des Raumes zuwandte. Er trug ein Samtjackett, eine verwegen auf dem Ohr hängende Baskenmütze und einen locker, ganz Picasso Junior, um den Hals geschlungenen roten Schal.

Das ist sein neuer Favorit, dachte Fabiola schmunzelnd. Vielleicht hofft er ebenfalls auf eine Ausstellung.

Sie betrachtete noch eine Weile das Bild, vor dem eben noch die Gruppe mit der Künstlerin gestanden hatte, und musste zugeben, dass es wirklich etwas Besonderes war. Das Besondere lag aber nicht an der Oberfläche, man musste genauer hinschauen, um es zu entdecken. Das hatte Sarah offensichtlich getan.

Die Menschenmasse hatte sich zerstreut, nun standen kleine Grüppchen von zwei oder drei Personen vor den verschiedenen geschickt aufgehängten und beleuchteten Ausstellungsstücken und schauten sie sich genauer an. Vielleicht überlegte der eine oder andere schon, ob er eines der Werke kaufen sollte.

Am Buffet hatte sich zuerst eine richtige Traube gebildet, aber die löste sich ebenfalls schon wieder auf. Eine bekannte Gestalt, die sich nicht zu rühren schien, schälte sich heraus.

»Essen Sie gar nichts?«

Anscheinend traf die Frage Sarah überraschend. Sie war so konzentriert und mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass sie überhaupt nicht bemerkt hatte, dass Fabiola neben sie getreten war. Ruckartig blickte sie auf. »Ich habe – keinen Hunger«, erwiderte sie beinah etwas entschuldigend.

»Das ist aber schade.« Fabiola lächelte und ließ ihren Blick über das Buffet schweifen. »Sieht gut aus.«

Sie bemerkte, wie Sarah erneut ein geschäftsmäßiges Lächeln aufsetzte. Schließlich war Fabiola eine Kundin der Galerie, die eventuell Geld einbringen konnte. »Kann ich Ihnen irgendetwas zeigen?«, bot sie zuvorkommend an. »Interessieren Sie sich für eines der Gemälde der Künstlerin besonders?«

»Nichts Spezielles. Mehr so allgemein«, sagte Fabiola. »Eine bemerkenswerte Neuentdeckung Ihrer Galerie.« Sie ließ sich von dem weißbejackten Kellner hinter dem Buffet ein Glas Champagner einschenken und prostete Sarah damit zu.

»Ich habe sie in Amsterdam entdeckt«, erklärte Sarah. Sie lachte. »In einer Umgebung, die nicht gerade künstlerisch wirkte!«

»Ja, ich hörte schon, dass Sie sie entdeckt haben.« Fabiola nickte. »Respekt.«

Verhalten zuckte Sarah die Schultern. »Das wird sich noch zeigen. Bislang ist sie nur einem eingeweihten Publikum bekannt. Bis sie in der Kunstszene ein Begriff ist, kann es noch dauern.«

»Was denken Sie? Lohnt es sich jetzt schon, ihre Bilder zu kaufen?«, fragte Fabiola. »Als Kapitalanlage, meine ich. Werden sie im Wert steigen?«

Sarah überlegte eine Weile. »Das kann man natürlich nie sagen«, erwiderte sie dann zurückhaltend. »Ich denke, sie ist sehr vielversprechend, aber – nun ja, garantieren kann ich Ihnen da nichts.«

Fabiolas Mundwinkel hoben sich amüsiert. »Sie sind keine gute Verkäuferin«, sagte sie. »Ich finde das sehr sympathisch.«

»Ich bin –« Sarahs Gesicht verzog sich, als müsste sie sich für etwas rechtfertigen, das ihr peinlich war. »Ich habe Kunstgeschichte studiert, nicht Betriebswirtschaft. Obwohl das heute wahrscheinlich angebrachter wäre.«

»Ach, angebracht. Was ist schon angebracht?«, erwiderte Fabiola wegwerfend. »Sie lieben Kunst, das ist die Hauptsache. Und Sie haben einen guten Blick für Details, sonst hätten Sie diese Künstlerin nicht entdeckt. Das spricht alles sehr für Sie.«

Anscheinend überrascht von dem Kompliment entgegnete Sarah verlegen »Danke«, als hätte sie eigentlich kein wie immer geartetes Kompliment verdient.

Bekommt sie denn nie Komplimente? dachte Fabiola erstaunt. Bei ihrem Aussehen müsste sie doch damit überschüttet werden. »Nichts zu danken«, bemerkte sie lächelnd. »Carlo denkt dasselbe. Er hält sehr viel von Ihnen. Das hat er mir selbst gesagt.«

»Tatsächlich?« Auch das schien Sarah zu überraschen.

Fabiola lachte. »Ich werde ihm mitteilen, dass er das auch mal Ihnen sagen soll, nicht nur seinen Kunden und Geschäftspartnern. Das ist ja unmöglich.«

»Nein, nein.« Nun lächelte Sarah endlich auf eine nicht so geschäftsmäßig gezwungene Art. »Er hat es mir schon gesagt. Ich wusste nur nicht, dass er das auch anderen erzählt. Meistens«, sie schürzte die Lippen, »kassiert er die Lorbeeren ganz gern selbst.«

»Ich weiß.« Fabiola schmunzelte. »Aber wir sind sehr alte Freunde. Und er weiß, dass ich das, was er erzählt, durchaus nicht immer glaube. Ich durchschaue ihn.« Sie schenkte Sarah einen wohlwollenden Blick, das war zumindest ihre Absicht, aber sie merkte sofort, dass es ein zu eindeutiges Wohlwollen war. Sie räusperte sich. »Hat er Sie denn wenigstens mal zum Essen eingeladen für Ihre Entdeckung?«

Sarah lachte. »Vielleicht, wenn die Bilder verkauft sind. Aber auch dann –« Sie schüttelte skeptisch den Kopf. »Ich glaube nicht, dass er das tut.«

»Darf ich es dann tun?«, fragte Fabiola. »In Vertretung für ihn?«

»Ich . . . ähm . . .« Sarah wirkte vollkommen überfordert von der Einladung. Sie blieb stecken und sprach nicht mehr weiter.

»Oder haben Sie keine Zeit?«, ergänzte Fabiola ihre Frage.

»Zeit?« Sarah zögerte immer noch. »Doch, Zeit habe ich eigentlich genug . . . dieses Wochenende.« Sie versank wieder in Schweigen.

Das dachte ich mir, ging es Fabiola durch den Sinn. Das, was du vorhattest, ist ja ausgefallen. »Dann wäre doch alles in Ordnung«, sagte sie. »Es sei denn –« Sie sah Sarah fragend an. »Es sei denn, Sie hätten keine Lust.«

Es schien, als wöge Sarah die Vor- und Nachteile dieser Einladung innerlich gegeneinander ab. So dauerte es eine Weile, bis sie Fabiola vorsichtig musterte.

Fabiola bemerkte es und lächelte sie freundlich an. »Ich beiße nicht«, versicherte sie. »Ich will nur mit Ihnen essen gehen.«

Sarahs Mundwinkel schienen zu zucken. »Etwas anderes kommt auch gar nicht in Frage.«

»Dann ist ja alles klar«, sagte Fabiola. »Also? Gehen Sie mit mir essen? Oder haben Sie schon etwas anderes vor?«

Immer noch musterte Sarah sie, als ob sie keine Entscheidung treffen könnte, doch dann sagte sie plötzlich: »Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe nichts anderes vor. Also gehen wir essen.« Ein leichtes Lächeln ließ ihr Gesicht entspannter erscheinen. »Warum nicht?«

Die erste Schlacht wäre geschlagen. Fabiola spürte das Kribbeln wieder. Sarahs Lächeln machte ihr ein wenig Hoffnung und versprach die Aussicht auf einen netten Abend, auch wenn sie weiteres schon im Voraus abgelehnt hatte. Aber das konnte sich noch ändern. Sie hatte da so ihre Erfahrungen.

»Das freut mich.« Unwillkürlich versank sie für einen Moment im Anblick von Sarahs Gesicht. »Sie sehen wundervoll aus, wenn Sie lächeln«, sagte sie leise.

Es war nichts, das sie geplant hatte. Die Worte kamen einfach so heraus. Und auf einmal kam sie sich komisch vor. Das verunsicherte sie selbst, obwohl das normalerweise nicht zu ihren Charaktereigenschaften gehörte.

Sarahs Gesichtsausdruck hatte sich sofort verschlossen, als sie ihr das Kompliment gemacht hatte. Fabiola bedauerte, dass es ihr herausgerutscht war. Sie machte gern Komplimente, und meistens hörten die Frauen sie auch gern, aber Sarah war im Moment in Gedanken wahrscheinlich bei Vic und wünschte sich nichts mehr als bei ihr zu sein. Fabiola störte da nur.

»Dann bis morgen«, sagte sie schnell. »Wir sehen uns.« Sie stellte ihr Champagnerglas ab, drehte sich um und begab sich zum Ausgang.

»Aber –« Sarah blickte ihr verwirrt hinterher. »Ich weiß ja nicht einmal, wie Sie heißen.«

Fabiola wandte sich noch einmal zu ihr zurück. »Fragen Sie ihn«, schlug sie mit einem spöttischen Emporziehen ihrer Augenbrauen in Carlos Richtung vor. »Ich treffe Sie um acht im Fra Diavolo.« Damit ging sie endgültig.

Eigentlich hatte Fabiola vorgehabt, viel länger zu bleiben, sich noch ein wenig mit Carlo zu unterhalten, ein paar der anderen bekannten Gesichter anzusprechen und die Vernissage erst sehr viel später ausklingen zu lassen wie sonst immer. Manchmal zogen sie in den frühen Morgenstunden sogar noch in eine Bar um.

Aber heute hatte sie fast die Flucht ergriffen. Warum nur?

Sie lachte leise über sich selbst. Sie wusste, warum. Der Grund hieß Sarah. Sarah . . . Auf einmal erschien ihr der Name wie reine Musik.

Sie blieb stehen und hob ihr Gesicht an. Die frische Nachtluft strich darüber und kühlte es. Sie hatte gar nicht gewusst, wie heiß es gewesen war.

Das war ihr schon lange nicht mehr passiert, dass eine Frau sie auf Anhieb so gefangennahm. Ungewöhnlich.

Vielleicht war es diese Szene mit Vic gewesen, die so einen tiefen Eindruck in ihr hinterlassen hatte. Es schien, als ob Vic Sarah sehr unglücklich machte – das hatte ja auch Carlo bestätigt –, Sarah aber trotzdem zu ihr hielt, obwohl von außen betrachtet alles nach Trennung schrie.

Manche Frauen waren furchtbar loyal, auch wenn der Gegenstand ihrer Loyalität das vielleicht gar nicht verdient hatte.

Aber was wusste sie schon über die beiden? Sie hob die Augenbrauen. Sie sollte sich nicht in Dinge einmischen, die sie nichts angingen.

Vic interessierte sie nicht, nur Sarah.

Und Sarah war am Wochenende allein.

7

»Ist doch immer wieder schön, nicht wahr?« Eine Frau stand auf den Stufen der Salamander-Fontäne im Park Güell und betrachtete die feinen Keramikarbeiten, die nun schon mehr als einhundert Jahre überdauert hatten, dennoch aber frisch und modern wirkten. »Ich kann mich einfach nicht daran sattsehen, obwohl ich hier wohne.«

Fabiola blickte etwas abwesend auf. Sie war nicht sicher, ob die Frau mit ihr gesprochen hatte oder mit sich selbst. Aber als ihre Augen die der anderen trafen, sah sie freundliche Lachfältchen in den Augenwinkeln, die ihr geradezu zuwinkten. »Ja, ich komme auch immer wieder gern hierher«, antwortete sie, während sie ihren Blick schon wieder abwandte.

»Ach, Sie sind Katalanin?« Die Frau wandte ihren Blick nicht von Fabiola ab. »Verzeihen Sie. Ich hatte Sie für eine Touristin gehalten.«

Fast verlegen verzog Fabiola das Gesicht. »Das ist wohl kein Kompliment. Aber zumindest ist mein Katalanisch noch original, wie es scheint.«

»Nun ja, man merkt, dass Sie nicht immer hier gelebt haben«, sagte die Frau. »Es ist ziemlich abgeschliffen. Aber ich bin da furchtbar hellhörig. Sprache ist mein Metier, ich bin Linguistin.« Sie lächelte. »Das muss Ihnen nichts sagen. Die meisten Leute wissen gar nicht, was das ist.«

Nun lächelte Fabiola beinah etwas spöttisch. »Oh, ich weiß durchaus, was das ist«, antwortete sie. »Und in einer Stadt wie Barcelona, mit der Universität und den vielen auch ausländischen Studenten hier, sollte das wohl jeder wissen.«

»So wichtig ist es auch wieder nicht.« Anscheinend nannte die Frau eine äußerst friedfertige Persönlichkeit ihr eigen. »Erlauben Sie?« Sie kam auf Fabiola zu, die auf der Treppe im Schatten des Salamanders saß, und setzte sich neben sie. »Ich komme fast jeden Tag in meiner Mittagspause hierher, und trotzdem kann ich mich nie an den Farben sattsehen, an den Formen, die so perfekt an die hügelige Landschaft angepasst sind. Ich bin immer wieder begeistert davon, wie Gaudí das gemacht hat.«

»Ja, er war ein genialer Architekt«, bestätigte Fabiola und ließ ihren Blick über die bunten Gebilde schweifen, die sich im ganzen Park unter ihr in die Landschaft ergossen, so sehr, dass sie praktisch die Landschaft waren. »Sehr künstlerisch und modern, seiner Zeit weit voraus.«

»Kunst und Architektur gehen leider nicht immer so Hand in Hand«, bemerkte die andere, während sie ebenfalls über die farbenfrohe Gestaltung schaute. »Insbesondere heutzutage. Da heißt es nur immer größer, höher, mehr Leute auf immer weniger Platz.«

Fabiola zuckte die Schultern. »Barcelona ist eine Millionenstadt. Und insbesondere die jungen Leute brauchen einen Platz, wo sie wohnen können.«

»Sie sind einmal wieder zu Besuch hier?«, fragte die Frau. »Denn offenbar leben Sie sonst woanders.«

»Besuch.« Fabiola blickte nachdenklich in den sonnenüberfluteten blauen Himmel hinauf. »Ja, vielleicht könnte man es so sagen. Ich besitze ein Haus hier, das ich viel zu selten besuche.« Da sie das Interesse der Frau bemerkte, lächelte sie sie bedauernd an. »Aber ich suche keinen Anschluss. Nur falls ich den Eindruck erwecke.«

Die andere lachte leicht. »Den machen Sie nicht. Eher im Gegenteil. Ich bin wahrscheinlich einfach wieder einmal aufdringlich.« Sie streckte Fabiola die Hand hin. »Montserrat Fàbregas. Ich plappere und plappere und habe mich noch nicht einmal vorgestellt.«

Da sie keine andere Wahl hatte, obwohl sie eigentlich hatte alleinbleiben wollen, nahm Fabiola die Hand und drückte sie kurz. »Fabiola de Arrighi.«

»De Arrighi . . .« Montserrat schürzte die Lippen. »Dann weiß ich, welches Haus Ihnen gehört. Und Ihr Name ist natürlich auch nicht ganz unbekannt.« Wieder lächelte sie auf diese angenehme, sympathische Art, die die Lachfältchen in ihren Augenwinkeln verursacht hatte. »Sie sind Kunsthändlerin.«

Irritiert hob Fabiola die Augenbrauen. »Langsam kommt es mir so vor, als wäre unsere Begegnung hier kein Zufall. Haben Sie einen Privatdetektiv auf mich angesetzt, dass Sie so viel über mich wissen?«

»Nein, nein.« Montserrat hob lachend die Hände. »Das hier war wirklich Zufall. Nur ist der Name Ihrer Familie ja generell nicht ganz unbekannt, und für Kunst interessiere ich mich auch, also . . .« Sie drehte die Handflächen zu Fabiola. »Bitte verzeihen Sie mir. Ich wusste nicht, wer Sie sind. Sie sahen nur etwas . . . verloren aus, und manchmal bin ich wie ein Schäferhund. Verlorene Schafe setzen mich auf die Spur.«

Das brachte Fabiola zum Lachen. »Wie ein Schäferhund sehen Sie nicht gerade aus. Und nur zu Ihrer Beruhigung: Ich fühle mich auch nicht wie ein verlorenes Schaf. Ich wollte nur . . . nachdenken. Hier im Park Gaudí habe ich das immer gut gekonnt.« Sie drehte ihren Kopf von links nach rechts und zurück, fast wie ein Radar, um so viel wie möglich von diesen teilweise geradezu berauschenden Eindrücken in sich aufzunehmen. »Ehrlich gesagt hat er wohl zuerst mein Interesse für Kunst geweckt.« Sie lächelte leicht. »Die Formen, die Farben, das Ungewöhnliche der Zusammenstellung . . . Das alles hat mich fasziniert.«

»Sehr verständlich.« Montserrat nickte. »Auch wenn ich mich beruflich eher mit Sprache beschäftige, beeindruckt mich Kunst, die ohne Sprache auskommt und dennoch so laut spricht, auch.« Sie lachte leicht. »Allerdings möchte ich sie lieber genießen als sie mit einem Preisschild zu versehen.«

»Um das Preisschild geht es nicht«, widersprach Fabiola sofort und recht heftig. »Mir geht es immer um den Inhalt dessen, was dargestellt wird. Sonst kaufe und verkaufe ich es nicht, egal, wie groß der Gewinn wäre.«

»Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.« Montserrat lächelte sie erneut entschuldigend an. »Leider habe ich die Tendenz, hie und da mal ins Fettnäpfchen zu tappen, tut mir leid.«

»Sie haben ja recht.« Fabiola seufzte. »Ich bin schon so lange auf dem Kunstmarkt unterwegs, dass ich das wohl besser als viele andere weiß. Wenn Leute zu viel Geld haben, aber keinen Geschmack, kaufen sie heutzutage ja teure Bilder am Meter. Je nachdem, wie lang die Wand ist, an der sie sie aufhängen wollen. Und natürlich muss der Name des Malers oder der Malerin so berühmt sein, dass ihn selbst jemand, der sich nicht für Kunst interessiert, kennt.«

»Ist mit Büchern, zumindest raren Büchern, manchmal auch so«, bestätigte Montserrat nickend. »Rare Erstausgaben am Meter – wenn man das Geld hat, alles kein Problem. Lesen tut diese Bücher wohl nie jemand. Und richtig schätzen auch nicht. Eben . . .« Sie hob wieder die Handflächen nach oben. »Es zählt nur das Preisschild und dass man damit vor den noch weniger kunstsinnigen Leuten seiner Bekanntschaft renommieren kann. Deshalb«, sie schaute Fabiola an, »wäre ich ehrlich gesagt nicht gern Kunsthändlerin.«

»Vielleicht suche ich mir demnächst auch einen anderen Beruf«, murmelte Fabiola vor sich hin.

»Ich weiß, ich mische mich schon wieder in Dinge ein, die mich nichts angehen«, sagte Montserrat. »Aber das klingt nicht gut. Soweit ich weiß, sind Sie doch sehr erfolgreich in Ihrem Beruf.«

»Erfolg ist relativ.« Fabiola verzog das Gesicht. »Ich brauche das Geld ja eigentlich nicht. Es ist nur eine . . . Beschäftigung.«

»Die Sie sich aber ganz frei aussuchen konnten«, schloss Montserrat logisch. »Sie mussten sich nicht irgendwelchen Zwängen unterwerfen, weil Sie Geld verdienen mussten. Das sind doch perfekte Voraussetzungen.«

»Sind Sie aus Zwang Linguistin geworden?«, fragte Fabiola etwas genervt.

»Nein, weil ich mich für Sprache interessiere«, erwiderte Montserrat locker. »Aber Geld verdienen muss ich schon. Ich stamme nicht aus einer so reichen Familie wie Sie.« Sie lachte selbstironisch auf. »Fettnäpfchen. Das sollte natürlich kein Vorwurf sein. Jeder ist da hineingeboren, wo er eben hineingeboren ist. Aber was man dann aus seinem Leben macht, darauf kommt es an.«

»Sie hätten Philosophie studieren sollen«, brummelte Fabiola. »Oder Psychologie.«

»Beides nicht das, was mich interessiert.« Montserrat wirkte völlig unbeeindruckt. Sie nahm Fabiolas schlechte Laune einfach so hin, als ob es ein Regenschauer wäre, der schon wieder vorbeigehen würde.

»Entschuldigung«, sagte Fabiola. »Ich vergesse meine Manieren. So kenne ich mich eigentlich gar nicht.«

»Dann muss etwas passiert sein«, folgerte Montserrat erneut logisch. »Niemand ändert seine Verhaltensweisen einfach so.«

Fabiola hob die Hand und tippte in der Luft kurz mit dem Zeigefinger auf Montserrat. »Psychologie. Sag ich doch.« Sie zog ihre Hand zurück.

»Küchenpsychologie höchstens«, behauptete Montserrat. Sie legte leicht den Kopf schief. »Kann ich Sie zu einem Kaffee auf den Ramblas einladen? Dort sind so viele Menschen, das hebt vielleicht die Stimmung. Bei mir jedenfalls immer.«

»Ich sagte doch«, Fabiola atmete tief durch, »ich suche keinen Anschluss. Es tut mir leid, aber dafür müssen Sie jemand anderen finden.«

»Das habe ich schon verstanden.« Montserrats salamanderfarbene Augen unter den dunkelblonden Haaren, die allerdings wahrscheinlich nicht von Natur aus diese interessante, mit einem geheimnisvollen Schatten versehene Farbe hatten, lächelten sie weiterhin freundlich an. »Aber der Schäferhund in mir kann einfach kein Schaf verlorengehen lassen, ohne darum zu kämpfen.«

»Ich bin nicht verloren, sagte ich doch schon.« Etwas unschlüssig verschränkte Fabiola ihre Hände ineinander. »Ich fühle mich nur so, wie ich mich . . . noch nie gefühlt habe. Und daran muss ich mich erst einmal gewöhnen.«

»Reden hilft manchmal dabei«, sagte Montserrat. »Wenn Sie wollen, können Sie mich aber auch anschweigen. Nur sollten Sie nicht allein dabei sein.«

»Sie sind nicht zufällig Sozialarbeiterin?« Fabiola schmunzelte zuerst in sich hinein, dann wandte sie sich Montserrat zu. »Ich kann Ihnen versichern, ich bin nicht selbstmordgefährdet. Dazu neige ich überhaupt nicht. Ich bin nur mit etwas konfrontiert worden, das . . . neu für mich ist. Und das braucht eben einige Zeit, bis ich das in mein System eingebaut habe.«

»Darf ich raten?«, fragte Montserrat. »Eine Frau?«

Fabiola lachte trocken auf. »Sieht man das so deutlich?«

»Nun . . .« Montserrat hob die Hände. »Geldsorgen können es nicht sein oder Sorgen um den Job, also kann es nur etwas Persönliches sein. Und da ich keinen Ehering an Ihrem Finger sehe, nehme ich einmal an, dass Sie eher zu der . . .«, sie zögerte, während ihre Mundwinkel zuckten, »freigeistigen Fraktion gehören. Abgesehen davon, dass Sie eine sehr attraktive Frau sind und auch eine . . . wie soll ich sagen . . . erotische Ausstrahlung haben, die das nahelegt.«

Jetzt war Fabiola endgültig baff. »Das sehen Sie alles hier so im Vorbeilaufen?«

»Ich bin ja nicht vorbeigelaufen«, erklärte Montserrat selbstbewusst. »Ich habe Sie schon einige Zeit beobachtet, wie Sie hier gesessen haben. Und ehrlich gesagt, das hat mein Interesse an Ihnen geweckt.«

»Sie sind also auch nicht verheiratet oder gebunden?«, fragte Fabiola. »Dann sollte meine nächste Frage wohl lauten: zu Ihnen oder zu mir?«

Montserrat lachte. »Dagegen hätte ich nichts, aber ich glaube, das ist jetzt doch nicht das, was ich will, jedenfalls nicht primär. Denn wenn da noch eine andere Frau in Ihrem Kopf ist, komme ich mir nicht so gut dabei vor.«

Fabiola hob die Augenbrauen. »Sie sind anspruchsvoll. Sie wollen die einzige sein.«

»Nicht die einzige generell«, korrigierte Montserrat. »Aber für den Moment ja.« Wieder legte sie den Kopf schief. »Ist das das Problem? Ist sie jetzt bei einer anderen?«

Langsam schüttelte Fabiola den Kopf. »Ich weiß es nicht. Aber ich glaube es eigentlich nicht. Sie ist einfach so verschwunden. Noch vor dem Frühstück.«

»Aha«, schloss Montserrat daraus. »Also nach einer Nacht, die Sie gemeinsam verbracht haben. Ich könnte jetzt etwas dazu sagen, aber tue ich nicht. Ich kenne das. Es gibt Frauen, die bleiben nicht bis zum Frühstück. Vor allem, wenn sie verheiratet sind.«

Fabiola zuckte zusammen.

»Hm.« Montserrat schürzte die Lippen. »Ist sie das? Verheiratet?«

»Nein.« Wieder schüttelte Fabiola den Kopf. »Aber sie hat eine feste Freundin, die sie . . .«, sie schluckte, »an der sie sehr hängt. Obwohl sie sie nicht gut behandelt«, fügte sie schnell hinzu. »Die Freundin Sarah meine ich, nicht Sarah die Freundin. Sie tut so etwas normalerweise nicht. Ihre Freundin ist . . . nun ja . . . auch von der freigeistigen Fraktion, um einmal Ihren Ausdruck zu benutzen. Sarah aber nicht.«

»Dann ist sie gegangen, weil sie nicht damit klargekommen ist, dass sie es einmal getan hat?« Fragend beugte Montserrat sich zu ihr und versuchte ihr ins Gesicht zu schauen, obwohl Fabiola den Kopf gesenkt hielt.

»Könnte sein«, entgegnete Fabiola. »Aber ich weiß es nicht. Sie ist gegangen, bevor wir darüber reden konnten.«

Eine Weile war es still, und die von Gaudí mit bunten Keramikplättchen belegten Vogelfiguren schienen ihnen zuzuschauen und aufmerksam auf die Fortsetzung zu warten.

»Würden Sie es sehr unverschämt finden, wenn ich jetzt einfach beschließe, dass Sie den Kaffee bekommen, zu dem ich Sie eingeladen habe?«, fragte Montserrat lächelnd. »Über das alles, was Sie da angedeutet haben, möchte ich mehr erfahren. Verzeihen Sie bitte meine Neugierde. Zwar ist die Situation nicht so ungewöhnlich, aber für Sie scheint sie es zu sein, und das kann ich mir einfach nicht entgehen lassen.« In ihren Augen sprühten kleine orangefarbene Pünktchen wie bei einem Salamander, der damit seine Gefährlichkeit betonen will, aber bei ihr betonte es eher das Gegenteil. Sie war wie ein junger Hund, der ständig auf dem Sprung ist, die Welt zu erforschen, ohne Wenn und Aber, jedoch im Hintergrund schimmerte eine Intelligenz, die allein schon anziehend für Fabiola war.

Als könnte sie sich gar nicht dagegen wehren, ließ sie sich von dem Blick aus Montserrats Augen hochziehen und folgte ihr aus dem Park hinaus.

3

Der Flug war wie im Rausch vergangen. Fabiola hatte fast nichts davon mitbekommen. Sie hatte immer nur Sarah angesehen.

Irgendwie war es ihr unerklärlich, dass sie sich so von einer Frau angezogen fühlte, die sie praktisch überhaupt nicht kannte. Oder vielleicht war es gar nicht das Sich-angezogen-Fühlen, sondern die Art des Sich-angezogen-Fühlens. Sie hatte sich schon oft von Frauen angezogen gefühlt, einfach weil sie mit ihnen schlafen wollte, das war ihr nicht unbekannt. Und sie wollte mit Sarah schlafen, auch das stritt sie zumindest sich selbst gegenüber nicht ab. Aber da war noch etwas anderes, und das war ihr ziemlich unbekannt.

Es war eine Anziehungskraft, die nichts mit Sex zu tun hatte. Oder vielleicht ja, aber nicht nur. In ihrem ganzen Leben war sie sich selten so hilflos vorgekommen. In ihrer Erziehung hatte das Beherrschen von Gefühlen eine große Rolle gespielt, die spanische Etikette bestand fast nur daraus. Die temperamentvolle Spanierin, die Sarah in ihr sah, war sie nicht wirklich. Äußerlich hatte sie sich eine ganz andere Fassade zugelegt.

Sie konnte lachen und sich über etwas freuen, so schlimm war es nicht, dass man ihr das ganz abgewöhnt hatte – denn als Kind hatte sie es gern getan, war aber stets dafür getadelt worden –, doch oftmals hielt sie sich zurück und zeigte keine oder nur sehr wenige Gefühle. Sarah jedoch holte Gefühle aus ihr heraus, die sie schon lange nicht mehr nach außen getragen hatte, und das verwirrte sie.

Verwirrung war kein Gefühl, das sie schätzte. Verwirrung machte das Leben unbehaglich und schwierig. Es war wesentlich besser, wenn man zu jeder Zeit wusste, was man tun konnte und wollte. Deshalb wäre ihre erste Reaktion gewesen, sich von Sarah zurückzuziehen. Aber das konnte sie nicht. Sarah war wie ein Licht am Ende des Tunnels, auf das man einfach zugehen musste, wenn man nicht in der Dunkelheit bleiben wollte.

»Oh mein Gott, schau dir dieses Lichtermeer an!« Sarah sprang auf und beugte sich über sie, um besser durch das Fenster hinaussehen zu können, das auf der Seite lag, in die das Flugzeug sich jetzt für den Landeanflug neigte. Es war die Seite, auf der Fabiola saß.

»Ja.« Fabiola hielt die Luft an. »Paris trägt nicht umsonst den Beinamen Stadt des Lichts.« Sarahs Duft stieg ihr in die Nase, und sie hätte am liebsten gar nicht mehr angefangen zu atmen, aber das musste sie.

Ganz unschuldig legte Sarah eine Hand auf ihr Knie, um sich besser abstützen und noch weiter vorbeugen zu können. Das kleine Fenster erlaubte keinen großen Ausblick.

»Du kannst hier sitzen, wenn du möchtest«, bot Fabiola mit unterdrückter Stimme an. Sie spürte, wie ihre Beherrschung nachließ.

»Nein, nein, geht schon.« Sarah stützte sich noch mehr ab und schien gar nicht zu bemerken, was sie damit in Fabiola auslöste.

Nur noch ein paar Minuten, dachte Fabiola. Dann sind wir unten.

»Ist das nicht herrlich?« Sarahs begeistert glänzende Augen wandten sich ihr zu. »Ich glaube, das war eine gute Idee, hierherzukommen.«

Da bin ich nicht so sicher, dachte Fabiola. »Der Anflug auf Paris ist immer so«, antwortete sie mühsam. »Zumindest bei Nacht.«

»Ich bin noch nie bei Nacht irgendwo mit dem Flugzeug angekommen, immer nur tags.« Sarahs Atem ging schnell, und ihre Brust hob und senkte sich direkt vor Fabiolas Nase.

Sie brauchte sich nur vorzubeugen, diese Brust zu küssen, die Brustwarze in den Mund zu nehmen – Schnell sprang Fabiola auf. »Bitte«, bot sie noch einmal schweratmend an. »Nimm meinen Platz. Wenn ich da nicht sitze, kannst du doch viel besser sehen.«

»Es macht mir wirklich nichts aus«, sagte Sarah, ließ sich aber auf Fabiolas Platz fallen und rutschte ganz nah an den Rand, presste ihre Nase ans Fenster.

Fabiola trat ein paar Schritte zurück. Sie musste sich erst einmal beruhigen. Tolle Abendvorstellung, Fabiola, dachte sie. Essen gehen, tanzen gehen und jetzt das. Vielleicht hättest du deine Routine einmal ändern sollen. Eigentlich ist das doch die Vorbereitung fürs Bett. Aber das sollte es nicht sein.

Was sein sollte, war aber nicht, das spürte sie mehr als deutlich. Was in ihrem Kopf vorging, hatte nichts mit dem zu tun, was in ihrem Unterleib vor sich ging. Absolut gar nichts. Als ob es dazwischen überhaupt keine Verbindung gäbe.

»Hinsetzen und anschnallen!«, kam es da etwas barsch aus dem vorderen Teil der Maschine. Die Pilotin fand es nicht sehr lustig, dass Fabiola so mitten im Gang stand. Weil Fabiola das Flugzeug so kurzfristig angefordert hatte und auch weil die Strecke nach Paris so kurz war, gab es keine Stewardess. Die hätte diesen Wunsch wahrscheinlich etwas freundlicher formuliert.

»Ja, natürlich.« Ausatmend ließ Fabiola sich auf dem Platz nieder, auf dem zuvor Sarah gesessen hatte, und schloss den Gurt.

Auch Sarah hatte die Aufforderung gehört, zog sich entsagungsvoll seufzend vom Fenster zurück und schnallte sich an. »Ich kann es kaum erwarten«, sagte sie und lächelte Fabiola an, ließ ihren Blick zurück zum Fenster schweifen und lächelte auf dem Rückweg zu Fabiolas Gesicht dann wieder. »Das sieht alles so verheißungsvoll aus.«

»Ist das das erste Mal für dich in Paris?«, fragte Fabiola und hätte sich fast auf die Zunge gebissen. Das klang anzüglich.