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Katja Freeh

LÜGEN HABEN SCHLANKE BEINE

Roman

© 2019

édition el!es

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ISBN 978-3-95609-292-3

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istock.com/MoustacheGirl

1

»Du kennst meine Regeln: Ich mache keine Pläne. Und ich mache auch niemals Frühstück.« Lässig hielt Elena Iris deren Uhr vor die Nase, die sie vor ein paar Stunden auf dem Nachttisch abgelegt hatte. Das war eine unmissverständliche Aufforderung zu gehen.

»Lass uns heiraten«, sagte Iris.

Elena lachte. »Geh frühstücken.«

Iris erhob sich aus Elenas Arm und schaute sie an. »Und wenn ich dir sage, dass ich dich liebe?«

Wenig beeindruckt hob Elena die Augenbrauen. »Dann weiß ich, dass du lügst.«

Irgendwie hatte Iris das Gefühl, dass sie in diesem Bett nichts mehr zu suchen hatte. Sie stand auf und suchte nach ihren Kleidern. »Ich bin in der Werbung. Ich lüge immer«, erwiderte sie, als sie ihre Bluse überstreifte.

»Eben«, sagte Elena. »Deshalb würde ich dir niemals das Geringste glauben.«

Iris betrachtete ihren nackten Körper, halb bedeckt von einem Teil des Plumeaus. Verführerisch blitzten Teile heraus, die sie vor wenigen Minuten noch liebkost hatte.

Elena hatte sich zu Iris gedreht und schaute sie mit lockenden dunklen Augen an.

Aber Iris wusste, dass diese Verlockung auf eine einzige Sache beschränkt war. Elena hatte gern Sex, und wann immer Iris vorbeikam, freute sie sich darüber, weil ihr der Sex mit Iris offenbar großen Spaß machte. Mehr aber auch nicht.

»Ich glaube, ich bin zum Mittagessen ausnahmsweise mal frei«, sagte Iris. »Wie wäre es, wenn wir uns treffen?« Sie schlüpfte in ihre Pumps.

Als wäre es eine sehr alte, scheppernde Saite, die Iris da angeschlagen hätte, verdrehte Elena die Augen.

»Okay, du machst keine Pläne.« Schon fast aus Gewohnheit unterdrückte Iris ein Seufzen. »Vielleicht kommst du einfach spontan vorbei?«

»Wenn du schon auf mich wartest, ist es nicht spontan.« Elena sah aus, als würde sie sich sehr über Iris amüsieren. »Warum kannst du es nicht auf sich beruhen lassen? Du bist heute Nacht auch spontan vorbeigekommen. Und das klappt doch wunderbar.«

»Ja, du hast recht, das klappt wunderbar.« Iris beugte sich über Elena und hauchte einen letzten Kuss auf ihre Lippen. »Ich hänge zu sehr an meinem Terminkalender.« Sie lächelte Elena an. »Dann bis . . . irgendwann.«

»Genau. Bis irgendwann.« Elena wirkte sehr zufrieden. Sie drehte sich schon um, als Iris zur Tür ging, und als sie die Tür öffnete und noch einmal einen Blick zum Bett zurückwarf, schien Elena bereits wieder eingeschlafen zu sein.

Leise zog Iris die Tür hinter sich zu und ging langsam die Treppe hinunter. Das Haus hatte auch einen Aufzug, aber den benutzte sie nie. Sie hatte lieber Bewegung, denn davon bekam sie die meiste Zeit viel zu wenig.

Es war ein Tagesbeginn wie viele. Nach einer Nacht, die durchaus sehr befriedigend gewesen war. Und trotzdem fühlte sie sich nach solchen Nächten immer weniger befriedigt.

Lag es daran, dass sie älter wurde? Jahrelang hatte ihr diese Art der Befriedigung gereicht. Sie hatte geglaubt, für mehr gar keine Zeit zu haben in ihrem anstrengenden Beruf. Eigentlich war sie damit, keine weiteren Verpflichtungen zu haben, sogar sehr zufrieden gewesen.

Aber ihr Zufriedometer – wie sie es manchmal ironisch nannte – fiel. Im Beruf hatte sie einiges erreicht, aber was war mit ihrem Privatleben? Zwar hatte sie sich nie Frau und Kinder gewünscht, aber manchmal wünschte sie sich schon, dass jemand auf sie warten würde, wenn sie nach Hause kam.

Frauen wie Elena warteten nicht auf sie. Sie wiesen sie nicht ab, wenn sie kam, aber sie sehnten sich nicht nach ihr, wenn sie nicht da war. Es war eine sehr bequeme Übereinkunft.

Als sie heute Nacht beschlossen hatte, zu Elena zu gehen, hatte sie nicht gewusst, ob sie da sein würde. Elena hätte es auch nicht gern gesehen, wenn Iris angerufen hätte, um sich anzukündigen. Das hätte sie in ihrer künstlerischen Freiheit beschränkt.

Elena war nämlich Künstlerin, Grafikerin. Sie entwarf Anzeigen für große Firmen, und Iris hatte sie kennengelernt, als sie mit ihr für einen Auftrag zusammenarbeitete.

Selbstverständlich nahm Elena solche Aufträge nur an, wenn sie nicht gerade an einem künstlerischen Opus arbeitete, Grafiken produzierte, die ihr keine große Firma für eine Werbekampagne abgekauft hätte.

Elenas Sprunghaftigkeit hatte Iris gefallen. Sie selbst war eher der zuverlässige Typ, und sie mochte künstlerisch begabte Menschen. Vielleicht weil sie selbst in keiner Weise künstlerisch begabt war. Was sie aber auch nicht störte.

Sie kam in die Firma und ging zuerst einmal in ihr Büro, um sich umzuziehen. Da sie außerhalb der Stadt wohnte, wäre der Weg nach Hause zu weit gewesen.

Als sie sich gerade an ihren Schreibtisch setzen wollte, kam ihr Chef herein.

»Gut, dass du endlich da bist.« Er atmete schwer.

Iris ließ sich in den Bürosessel sinken und hob fragend die Augenbrauen. »Es ist noch nicht einmal acht.«

»Ja. Ja, natürlich.« Schweißperlen standen auf seiner Stirn. »Ich weiß, es ist früh. Aber manche Kunden haben keinen Sinn für unsere Geschäftszeiten.«

»Ein neuer Kunde?«, fragte Iris. Sie hatte eben erst ihren Computer eingeschaltet und blickte kurz auf den Terminkalender. »Es ist nichts eingetragen.«

»Nein. Sie kommt wohl gern überraschend.«

»Sie?« Iris hätte beinah geschmunzelt. »Ach, deshalb kommst du zu mir.«

»Ja, du weißt doch . . .« Er zog ein Taschentuch aus der Hosentasche und wischte sich damit über die hohe Stirn, die jedoch trotzdem gleich wieder glänzte.

»Ich weiß«, bestätigte Iris. Sie stand auf. »Wo ist sie?«

»Noch in meinem Büro.« Er machte ein Gesicht wie ein Ochs, wenn’s donnert. »Ich wollte sie nicht allein in den Konferenzraum setzen. Svetlana hat ihr einen Kaffee gebracht.«

»Weißt du, Roland«, sagte Iris, als sie sich gemeinsam auf den Gang begaben, »du solltest dir vielleicht doch einmal überlegen, was du dagegen tun kannst, dass du mit weiblichen Kunden nicht klarkommst. Mit mir kommst du doch auch klar. Stell dir einfach vor, sie wären ich.«

Er schaute sie zweifelnd von der Seite an. »Du bist anders.«

Iris atmete tief durch. »So viel anders nun auch nicht. Aber gut . . .« Sie hatten sein Büro erreicht, und Roland ließ ihr gern den Vortritt, damit sie sich gleich in den Kampf stürzen konnte, ohne dass er weiter eingreifen musste.

Lächelnd ging Iris auf die Frau, die mit einer Kaffeetasse in Rolands Besucherecke saß, zu. »Iris Keilwerth«, sagte sie und streckte ihr die Hand hin. »Kreativdirektorin für besondere Aufgaben.« Sie fand es immer wieder belustigend, dass sie, die sich selbst nicht als kreativ empfand, diesen Titel innehatte.

»So? Bin ich das?« Die Frau stellte ihre Kaffeetasse auf den Tisch und schaute Iris eindringlich an, bevor sie ihr ebenfalls die Hand reichte. »Eine besondere Aufgabe?«

»Sie sind eine neue Kundin.« Iris nahm das Gesicht, die Augen, die Mimik der Frau schnell in sich auf. So konnte sie meistens gut abschätzen, was die Kunden – und speziell die Kundinnen – wollten. »Das ist immer eine besondere Aufgabe«, erwiderte sie zuvorkommend.

Die Hand der Frau fühlte sich gut an in ihrer, fest und gleichzeitig weich, und die Dame selbst war ein angenehmer Anblick. Mehr als das eigentlich. Sie war in Iris’ Alter, Ende dreißig, sehr gepflegt und trug eindeutig die Aura der erfolgreichen Geschäftsfrau um sich. Ihre Haare schimmerten leicht rötlich, kastanienbraun, aber Iris hätte wetten können, dass das nicht ihre Naturfarbe war. Dennoch hatte die Kundin eine sehr dezente Tönung gewählt, die ihr ausgesprochen gut stand.

Und alles andere, ihr Make-Up, ihre Kleidung, ihre Schuhe, war darauf abgestimmt. Sehr geschmackvoll.

»Herr Meissner hat Sie schon ins Bild gesetzt?«, fragte die Frau und hob leicht, nur ganz leicht, sodass es fast wie ein Versehen aussah, die Augenbrauen.

»Nein, noch nicht«, antwortete Iris wahrheitsgemäß. »Ich bin gerade erst gekommen.«

»Sie sind keine Frühaufsteherin?«

Innerlich verfluchte Iris Roland, weil er ihr den Namen der neuen Kundin vorenthalten hatte. Er machte die Dinge immer unnötig kompliziert. Zumindest hätte er sie beide vorstellen können.

Sie überlegte schnell, wie sie die Frage beantworten sollte. Ob es sie den Auftrag kosten konnte, wenn diese Frau sie, Iris, für eine Langschläferin hielt. Was sie vielleicht mit Faulheit gleichsetzte, wenn sie selbst eine Frühaufsteherin war.

Allerdings gab es keinen Grund anzunehmen, dass Menschen, die früher aufstanden, deshalb zum Schluss effizienter arbeiteten als Menschen, die vielleicht eher die Nacht zum Tage machten. Also sagte sie: »Wenn Sie acht Uhr für spät halten, bin ich keine Frühaufsteherin, das stimmt.«

Die Frau lachte. »Gut ausgedrückt. Man merkt, welchen Beruf Sie haben. Sie legen sich nicht fest, und trotzdem hat man das Gefühl, Sie hätten eine Aussage gemacht. So jemanden brauche ich.«

»Ich wollte nicht ausweichen.« Iris lächelte sie offen an. »In der Tat komme ich normalerweise später. Ich war nur . . . ohnehin schon in der Stadt.«

»Das heißt, Sie wohnen außerhalb?«, fragte das wenn auch nicht klassisch schöne, aber dennoch oder vielleicht gerade deshalb anziehende Gesicht.

Iris nickte. Sie wandte sich an Roland. »Kann ich dich kurz sprechen?« Mit einer kleinen Geste fügte sie an die Frau gewandt hinzu: »Entschuldigen Sie uns bitte einen Moment?« Sie zog Roland mit sich in die Ecke. »Kannst du mir bitte endlich mal mitteilen, wie sie heißt? Ich kann sie schließlich nicht selbst fragen.«

»Habe ich dir das nicht gesagt?«, fragte er so unschuldig zurück, als wüsste er es wirklich nicht.

Iris schaute ihn nur auffordernd an.

»Berles«, sagte er. »Esther Berles. Sie hat mit dieser Kaufhauskette zu tun . . .«

Iris hatte genug gehört. Sie ließ Roland einfach stehen und ging zu der neuen Kundin, die ihr gedämpft erwartungsvoll entgegenblickte, zurück. »Finden Sie es hier nicht auch ein bisschen ungemütlich, Frau Berles?«, fragte sie. »Wie wäre es mit einem Frühstück?« Ihr Magen erinnerte sie bereits schmerzhaft daran, dass Elena niemals Frühstück machte und Rolands vorzeitiges Auftauchen sie daran gehindert hatte, das Frühstück im Büro nachzuholen. Sie verzog die Mundwinkel. »Oder einem zweiten Frühstück, wenn das für Sie als Frühaufsteherin zutrifft?«

Esther Berles erhob sich. »Gute Idee«, sagte sie. Sie lächelte, und die Fältchen in ihren Augenwinkeln ergänzten das amüsierte Aufblitzen in den braunen, von leicht grünlichen Sprenkeln wie mit lebensfrohen Farbspritzern durchzogenen Augen zu einer Art versehentlichem Zwinkern. Für die Erbin einer Kaufhauskette war sie ziemlich sympathisch.

Dennoch hatte sie es vermieden, darüber Auskunft zu geben, ob es ihr erstes oder zweites Frühstück war, wie Iris bemerkte. Auch sie machte Aussagen, ohne wirklich eine Aussage zu machen. Als ob sie in der Werbebranche tätig wäre.

»Wenn Sie hier vielleicht mit Herrn Meissner warten würden?«, schlug Iris vor. »Ich hole nur schnell –«

»Ich komme mit«, fiel Esther ein, bevor Iris ihren Satz beenden konnte. »Ich würde gern Ihr Büro sehen. Die Einrichtung sagt viel über einen Menschen aus.«

Iris zögerte nur unmerklich. »Ich fürchte, ich bin nicht der Typ, der Familienfotos auf den Schreibtisch stellt«, erwiderte sie dann, während sie sich schon mit Esther zu ihrem Büro in Bewegung setzte. »Falls Sie das erwarten.«

»Ich erwarte niemals etwas«, sagte Esther. Ein leises Lächeln spielte um ihre Mundwinkel. »Erwartungen sind etwas für Leute mit festgefahrenen Gewohnheiten. Ich lasse mich lieber überraschen.«

Das hat sie mit Elena gemeinsam, dachte Iris. Auch wenn das für eine Geschäftsfrau eher ungewöhnlich ist.

In ihrem Büro angekommen griff sie nach ihrer Laptoptasche. »Ich denke, es wird ein Arbeitsfrühstück«, sagte sie und hob sie hoch.

»Kommt ganz darauf an.« Esther machte ihrer eigenen Aussage alle Ehre, indem sie sich nicht festlegte.

Iris überlegte, ob sie Worauf? fragen sollte, unterließ es dann aber. Sie lächelte nur leicht und wies zur Tür. »Bitte«, sagte sie. »Nach Ihnen.«

»Arbeiten Sie schon lange für die Agentur Meissner?«, fragte Esther, als sie sich dann in einem Café der gehobenen Klasse an einem anspruchsvoll gedeckten Tisch gegenübersaßen.

Aha, dachte Iris. Jetzt werde ich abgeklopft. Davon hängt es ab, ob sie uns den Auftrag gibt oder nicht. Sie hob leicht die Schultern und ließ sie wieder sinken. »Innerhalb der Werbebranche ist lange ein relativer Begriff. Ich bin jetzt gut zwei Jahre dort.«

»Ich nehme an, das würden Sie als lange bezeichnen, sonst hätten Sie es nicht so formuliert.« Esther betrachtete sie mit einem interessierten und dennoch undefinierbaren Blick. Es war nicht ganz klar, worauf ihr Interesse beruhte.

Iris schmunzelte. »In der Werbebranche ist es üblich, den Job mindestens alle zwei Jahre zu wechseln. Somit gehöre ich also quasi schon zum alten Eisen.«

Esthers Mundwinkel zuckten. »Unser Kaufhaus – das erste der Kette – wurde vor fast hundert Jahren gegründet. Innerhalb von zwei Jahren tut sich da nicht viel.«

»Deshalb passen wir nicht zusammen, denken Sie?«, fragte Iris direkt.

Diesmal sah Esther aus, als würde sie überlegen. »Das habe ich nicht gesagt«, bemerkte sie dann, wieder ohne richtig durchblicken zu lassen, was genau sie damit meinte. »Die fast hundert Jahre sind der Anlass, warum ich nach einer neuen Werbeagentur suche. Das Ereignis soll gebührend gefeiert werden. Gleichzeitig wird mein Großvater, der Sohn des Firmengründers, dieses Jahr neunzig Jahre alt, und mein Vater«, sie zögerte kurz, »will sich aus dem Geschäft zurückziehen. Da er es zu seinem und zum größten Bedauern meines Großvaters nicht zu einem Sohn gebracht hat, bedeutet das, dass ich dann endgültig die Geschäfte übernehmen werde.«

»Das ist allerdings ein ereignisreiches Jahr.« Iris betrachtete sie kurz, analysierte ihren Gesichtsausdruck und stellte fest, dass Esther Berles unzufrieden war. Vielleicht erkannte sie selbst es sofort, weil es so sehr ihrem eigenen Zustand ähnelte. Um nicht aufdringlich zu erscheinen, widmete sie sich wieder den teuren Kleinigkeiten auf ihrem Teller, die Frau Berles bezahlen würde, wenn sie den Auftrag erteilte. »Und das möchten Sie bei der Kampagne alles unter einen Hut bringen?« Sie schaute Esther fragend an.

Esther schüttelte den Kopf. »Nein, die bezieht sich nur auf das Hundertjährige. Alles andere sind Privatangelegenheiten. Der Stichtag für den Beginn der Kampagne ist allerdings der neunzigste Geburtstag meines Großvaters.«

»Hundert Jahre Kaufhaus Berles.« Iris kniff die Augen etwas zusammen, weil sie sich vorzustellen versuchte, wie ein Plakat mit dieser Aufschrift aussehen könnte. Aber in solchen Dingen war sie nicht gut. Sie würde Elena fragen.

»Ich hoffe nicht, das war der Slogan für die Kampagne«, sagte Esther. Sie hatte kaum etwas von dem, was auf ihrem Teller lag, angerührt.

Iris hörte jetzt nicht nur Unzufriedenheit, sondern sogar einen deutlichen Tadel aus der spröden Stimme heraus. »Das wäre etwas schwach, meinen Sie?« Sie lächelte. »Nennen wir es einfach einen Arbeitstitel. Einen Slogan müssen wir erst noch finden.«

»Den haben Sie nicht gleich parat?« Nun wirkte Esther nicht nur unzufrieden, sondern enttäuscht. »Ich dachte, Sie sind Kreativdirektorin?«

Mit festem Blick schaute Iris sie an. »Deshalb mache ich mir gern erst einmal ein Bild von den Anforderungen, bevor ich irgendwelche Slogans hervorsprudele«, entgegnete sie freundlich. »Ich halte das für seriöser.«

Esther wirkte perplex. Für einen Moment war sie sprachlos. Dann lachte sie leise. »Ein Feigling sind Sie nicht.« Ihre Augen bekamen wieder diesen amüsierten Ausdruck wie zu Beginn. »Ich könnte jetzt beleidigt sein und gehen.«

»Und?«, fragte Iris. »Tun Sie es?«

Eine ewig lange Minute zog sich wie Kaugummi, bevor Esther antwortete. »Nein«, sagte sie.

Ihr Blick glitt über Iris, als hätte sie auf einmal etwas entdeckt, was sie zuvor nicht in ihr vermutet hatte. Als wäre sie tatsächlich überrascht.

Das ist gut, dachte Iris. Sie lässt sich gern überraschen, und das habe ich getan. Und trotzdem hat sie es nicht von mir erwartet. Das verunsichert sie.

Sie lächelte zuvorkommend. »Das freut mich«, sagte sie. »Glauben Sie mir, Sie sind bei der Agentur Meissner in guten Händen. Wir werden Ihnen genau das liefern, was Sie sich vorstellen.« Sie lachte leicht. »Oder vielleicht jetzt noch nicht einmal vorstellen können.«

Esther legte den Kopf schief, nahm dann einen Schluck Kaffee und stellte die Tasse wieder ab. »Das sind nur Sprüche«, erwiderte sie. »Aber«, sie hob lediglich ihre Finger vom Tisch, während sie ihre Handballen darauf liegen ließ, »etwas anderes habe ich von jemandem aus der Werbebranche auch nicht erwartet. Reine Versprechungen nützen mir jedoch nichts. Ich will Ergebnisse sehen.«

»Selbstverständlich.« Iris nickte. »Die werden Sie auch bekommen.«

»Das hoffe ich«, entgegnete Esther, und es klang, als ob sie das nur zu höchstens fünfzig Prozent erwarten würde.

Iris beugte sich über den Tisch zu ihr vor und versuchte ihre Augen einzufangen. »Das können Sie auch hoffen«, bekräftigte sie. »Ich werde Sie nicht enttäuschen.«

Für einen Moment erhaschte sie ein Aufblitzen der grünen Farbsprenkel auf dem rehbraunen Hintergrund, als ob Esther ein Gedanke durch den Kopf geschossen wäre.

Dann jedoch lehnte sie sich leicht auflachend in ihrem Stuhl zurück, und Iris verlor den Kontakt zu diesen vielversprechenden Portalen in ihre Seele. Nein, sie verlor ihn nicht einfach. Esther verweigerte ihn ihr, zog sich in den Innenhof ihres Schlosses zurück.

»Das glaube ich erst, wenn ich es sehe«, sagte sie.

Sie ist schon oft enttäuscht worden, dachte Iris. Sie will sich auf nichts einlassen, was sie nicht schwarz auf weiß vor sich hat. Was nicht fast schon in Stein gemeißelt ist.

»Das werden Sie.« Auch Iris lehnte sich zurück und lächelte. »Sobald der Vertrag unterschrieben ist, fertige ich Ihnen einen Entwurf.«

»Dann sollte ich den Vertrag wohl möglichst schnell unterschreiben, nicht wahr?«

Iris merkte deutlich, dass Esthers Stimmung auf einmal in den Keller gesunken war. Fühlte sie sich durch Iris’ Bemerkung gedrängt, und das wollte sie nicht? Aber sie war schließlich als Kundin in die Agentur gekommen. Was erwartete sie denn?

Auf jeden Fall stimmte es nicht, was sie gesagt hatte, nämlich dass sie nie etwas erwartete. Sie erwartete sehr viel. Nur wollte sie das nicht zugeben. Oder nicht genauer definieren.

»Ich werde das mit Ihrem Chef besprechen«, fügte Esther in diesem Moment hinzu, legte die Stoffserviette aus feinstem Leinen auf den Tisch und stand auf. Wie beiläufig nickte sie Iris noch einmal zu und verließ das Café.

»Puh!« Iris atmete mit einem Stoßseufzer aus, der die Luft aus ihren Lungen entließ, die sie unwillkürlich angehalten hatte.

Sie lehnte sich zurück und starrte durch das Fenster hinaus. Da dieses Café oben in einem Wolkenkratzer lag, sah sie den Himmel und andere Wolkenkratzer, manche niedriger und manche höher als dieser, sonst nicht viel.

Sie fand Esther Berles durchaus attraktiv – in einem eher geschäftsmäßigen Sinn –, aber eine Auftraggeberin, die so schnell von einer Stimmung in die andere fallen konnte, würde nicht einfach sein.

Doch da war sie nicht die erste.

Ihr Blick wanderte auf den Teller vor sich zurück. Nur weil Esther gegangen war, musste sie jetzt nicht hetzen und ebenfalls sofort aufspringen. Zum Frühstücken war sie schließlich noch kaum gekommen, und das war eine Schande bei den Preisen, die sie hier für die Verköstigung verlangten. Sie lächelte und widmete sich dann mit Genuss all dem, was vor ihr auf dem Tisch stand.

Auch Esther Berles würde sie nicht dazu bringen, mit leerem Magen zu arbeiten.

»Gibt sie uns den Auftrag?« Roland empfing sie mit fieberhafter Ungeduld, als sie ins Büro zurückkehrte.

»Das will sie noch mit dir besprechen«, antwortete Iris und ging durch in ihr Büro.

Er zuckte sichtlich zusammen und folgte ihr. »Mit mir? Warum denn mit mir? Habt ihr euch nicht gut verstanden?« Seine Stimme klang panisch.

»Sie ist eine Kundin. Eine potenzielle Kundin, heißt das. Ich muss mich nicht mit ihr verstehen.« Iris setzte sich an den Computer und checkte die Nachrichten, die zwischenzeitlich gekommen waren.

Roland schnappte fast nach Luft. »Du willst die Kampagne nicht machen?«

»Roland.« Iris seufzte, blickte vom Bildschirm auf und sah ihn an. »Natürlich mache ich sie, wenn sie uns den Auftrag dazu erteilt. Ich bin auch ziemlich sicher, dass sie den Vertrag unterschreiben wird. Aber irgendetwas stört sie, und ich weiß nicht, was es ist.« Bevor Roland hysterisch werden konnte, wozu er schon ansetzte, hob sie beschwichtigend die Hand. »Nur weil du dich mit Frauen nicht verstehst, heißt das noch lange nicht, dass alle Frauen sich auf Anhieb verstehen, nur weil sie Frauen sind«, erklärte sie spöttisch. »Wir müssen abwarten.«

»Hat sie noch andere Eisen im Feuer?«, fragte er und legte beunruhigt eine Hand ans Kinn. »Vielleicht sollte ich mal ein bisschen herumhorchen. Wir sind bestimmt nicht die einzige Agentur, bei der sie war.«

»Ja, tu das.« Iris nickte. »Würde mich auch interessieren.«

Während Roland in seiner üblichen hektischen Art aus ihrem Büro hinausstürzte, dachte Iris noch einmal über das Gespräch mit Esther nach. Sie würde sich nicht mit ungelegten Eiern beschäftigen, das hieß, sie würde abwarten, ob Esther den Vertrag tatsächlich unterschrieb, bevor sie damit anfing, sich Gedanken über die Umsetzung zu machen. Aber es war nicht unbedingt der wahrscheinlich zu erwartende Auftrag, der ihre Gedanken beschäftigte. Es war mehr die Auftraggeberin.

Esther Berles war auf jeden Fall eine ungewöhnliche Frau. Auch eine verletzte Frau, das hatte Iris deutlich gespürt. Und sie fand Esther attraktiv. Sie war eine Frau, die durchaus ihre Reize hatte. Vielleicht ein bisschen zu großbürgerlich. Nicht eine der jungen Frauen mit künstlerischen Ambitionen, die Iris bevorzugte. Aber das war kein Hinderungsgrund.

Kein Hinderungsgrund für was? Sie schüttelte leicht über sich selbst lachend den Kopf. Noch nie hatte sie sich auf eine Affäre mit einem Auftraggeber eingelassen, auch wenn einige der Herren das gern gehabt hätten. Es war ihr Prinzip, Privates und Geschäftliches zu trennen, um sich unnötige Probleme zu ersparen. Und zudem interessierten Männer sie nicht. Da war es einfach gewesen, Angebote, mit denen männliche Kunden versucht hatten, Geschäft und Vergnügen zu verbinden, abzulehnen.

Männer waren das gewöhnt, und oftmals war es für sie noch ein größerer Reiz gewesen, die Agentur mit dem Auftrag zu betrauen – wahrscheinlich in der Hoffnung, dass Iris ihre Meinung ändern würde. Was sie natürlich nie getan hatte.

Aber diese Männer hatten eindeutig gezeigt, was sie von Iris erwarteten, über die Kampagne hinaus.

Esther Berles hatte behauptet, sie erwartete nichts, und dennoch hatte Iris in ihren Augen etwas gesehen, das eher auf das Gegenteil hindeutete.

Die Frage war nur: Was genau erwartete Esther? Konnte Iris dieser Erwartung gerecht werden? Wollte sie es überhaupt?

Ein bisschen hatte sie das Gefühl, Esther war nicht viel anders als diese Männer. Sie wollte mehr als nur eine Kampagne. Aber andererseits würde sie das niemals zugeben oder laut aussprechen. Sie würde wie die meisten Frauen erwarten, dass Iris ihre Gedanken las.

Und darin, Iris seufzte, war sie überhaupt nicht gut.

4

»Wunderbar, wunderbar.« Roland kam bester Laune in Iris’ Büro und rieb sich die Hände. »Wusste ich doch, dass ihr Frauen miteinander klarkommt.« Seine meistens etwas wässrig blickenden blauen Augen strahlten sie an wie ein Honigkuchenpferd, das noch mehr Honig bekommen hat.

Verständnislos hob Iris die Brauen. »Wie meinst du das?«

Roland grinste. »Ich weiß ja nicht, was du mit ihr gemacht hast, aber auf einmal läuft alles wie geschmiert. Sie hat uns sogar einen Bonus angeboten, wenn wir eher fertig sind als geplant.«

Das entlockte Iris ein anerkennendes Nicken. »Einen Bonus. Und dabei ist ihr Werbeetat ja nun sowieso schon nicht gerade klein.«

»Richtig, richtig.« Wieder rieb Roland sich die Hände, so begeistert war er. »Du sollst ihr die neuen Entwürfe heute noch vorbeibringen.« Er drehte sich um und war schon fast aus Iris’ Büro hinaus, bevor sie auf seine Bemerkung reagieren konnte.

»Warte!« Sie sprang auf und lief zur Tür. »Ich soll ihr die Entwürfe vorbeibringen? Sonst ist sie doch immer hergekommen für ein Briefing.«

»Anscheinend hat sie dafür keine Zeit«, erwiderte Roland wegwerfend, blieb gar nicht stehen, sondern entfernte sich auf dem Gang, sodass Iris ihm erneut hinterherlaufen musste. »Du sollst zu ihr kommen.«

Während Iris mit ihm Schritt hielt, schüttelte sie den Kopf. »Dafür habe ich wiederum keine Zeit. Aber ich kann Elena schicken.«

»Nein.« Auch er schüttelte den Kopf und blieb nun endlich stehen. »Sie hat ausdrücklich nach dir verlangt. Und sie hat ja auch recht, wenn sie das mit dir besprechen will. Du bist die Leiterin der Kampagne.«

»Ja, schon . . .« Schief verzog Iris einen Mundwinkel. »Aber ich habe noch so viel zu tun, wenn das alles rechtzeitig fertigwerden soll . . . oder sogar früher, damit wir den Bonus bekommen.« Sie rollte die Augen. »Zuerst verzögert sie alles, weil ihr kein Entwurf gefällt, und nun soll es auf einmal so schnell gehen.«

»Tja.« Ziemlich uninteressiert zuckte Roland die Schultern. »Kundenwünsche. Du weißt, wie das ist.« Und damit verschwand er in der Herrentoilette, wohin Iris ihm nicht folgen konnte. Das tat er immer, wenn er versuchte, sich vor einem weiteren Gespräch zu drücken.

Iris blieb auf dem Gang stehen und verschränkte die Arme vor der Brust. Was war nun wieder in Esther Berles gefahren? Wie Roland richtig gesagt hatte, war sie, Iris, die Leiterin der Kampagne, aber anscheinend hatte Esther Roland angerufen, um ihm ihre Wünsche mitzuteilen. Warum?

Es war sinnlos, hier vor der Toilette zu warten, bis Roland wieder herauskam. Vermutlich würde er sich eine Weile da drin verstecken. Also kehrte sie um und ging in ihr Büro zurück.

»Kann ich bitte Frau Berles sprechen?«, fragte sie eine Minute später Esthers Sekretärin, die sich am Telefon gemeldet hatte, als Iris beim Hauptsitz des Kaufhauskonzerns anrief.

»Nein«, beschied ihr die sehr erotische Stimme der jungen Frau. Manchmal fragte Iris sich, ob Esther sie deshalb eingestellt hatte und ob sie auch genauso aussah, wie sie am Telefon klang. »Sie ist nicht hier. Aber sie hat eine Nachricht für Sie hinterlassen. Sie sollen zu ihr nach Hause kommen.«

Iris stutzte. »Zu ihr nach Hause?«

»Ja«, bestätigte die erotische Stimme, die das Telefon vibrieren ließ. »Wissen Sie, wo das ist?«

»Nein«, erwiderte Iris irritiert. »Woher sollte ich das wissen?«

»Könnte ja sein«, ließ sich erneut die noch mehr irritierende Stimme vernehmen, und irgendwie hatte Iris das Gefühl, dass noch etwas anderes in dieser Antwort mitschwang. »Dann gebe ich Ihnen die Adresse.«

Wie zu erwarten lag diese Adresse im Nobelviertel der Stadt. »Und die Telefonnummer?«, fragte Iris.

Ein leichtes Rascheln im Hörer vermittelte den Eindruck, dass Esthers Sekretärin den Kopf schüttelte. »Das ist eine Geheimnummer. Die geben wir nicht heraus.«

Stirnrunzelnd nahm Iris das zur Kenntnis, bedankte sich für die Adresse, und mit einem letzten gehauchten »Gern geschehen« verließ die aufreizende Stimme sie endgültig.

Zögernd legte Iris das Telefon hin. Adresse ja, Telefonnummer nein? Das bedeutete, Esther wollte nicht, dass sie sie anrief und eventuell absagte oder einen anderen Termin vereinbarte, vorzugsweise in der Agentur. Sie wollte, dass Iris auf jeden Fall zu ihr nach Hause kam.

Wäre Esther ein männlicher Kunde gewesen, hätte Iris das höchstwahrscheinlich abgelehnt, wenn sie zuvor schon das Gefühl gehabt hätte, dass er mehr von ihr wollte, oder sie hätte Elena oder eine andere Mitarbeiterin mitgenommen.

Obwohl sie bei Esther nicht ganz sicher war, was sie wollte, kam ihr diese Vorgehensweise jedoch nicht in den Sinn. Sie seufzte. Kundenwünsche. Ja, so war das.

Es führte wohl kein Weg daran vorbei, dass sie zu Esther hinausfahren musste.

Das Haus war nicht nur ein einfaches Haus, es war eine Residenz, von einem großen Park umgeben und außen herum von einer Mauer, die unüberwindlich schien. Der einzige Weg hinein führte durch ein schmiedeeisernes Tor, das durchaus etwas von einer Zugbrücke hatte, auch wenn es aufschwang statt sich dem Besucher entgegenzusenken.

Aufschwingen tat es jedoch auch erst, nachdem Iris an einer silbernen Sprechanlage davor geklingelt hatte und ihr von einer etwas tonlos höflichen Stimme über einen Summer Einlass gewährt worden war.

Es war nicht Esthers Stimme gewesen, sondern die eines Mannes, was erneut Bedenken in Iris aufkommen ließ, wozu Esther sie herbestellt hatte. Eine solche Stimme konnte durchaus die eines Anwalts sein, durch den Esther ihr jetzt würde mitteilen lassen, dass sie ihr Werbebudget nun doch zurückzuziehen gedachte. Bei Esther war alles möglich.

Kopfschüttelnd fuhr Iris die lange Auffahrt entlang, bis sie endlich beim Haus angekommen war, und fragte sich, ob sie nicht besser durch Esthers erotisch klingende Sekretärin bei ihr hätte anrufen lassen sollen, um abzusagen. Irgendetwas stimmte hier nicht, das hatte sie im Gefühl.

Aber Gefühle brachten kein Geld ein, und es ging hier um sehr viel Geld. Auch wenn das Roland vielleicht mehr bedeutete als ihr selbst, aber ihre finanziellen Aussichten als Partnerin und speziell als prozentual an dieser und anderen, noch kommenden Kampagnen Beteiligte reizten sie schon. So konnte sie sich vielleicht in ein paar Jahren zur Ruhe setzen und endlich nur noch das tun, was ihr Spaß machte. Das war eine durchaus erfreuliche Zukunftsvision. Kein Herumgeärgere mehr mit anspruchsvollen Kundinnen wie Esther Berles.

Ein Teil der schweren Holztür, die in die Front des altertümlich anmutenden Hauses oder wohl eher Familiensitzes eingelassen war, schwang auf, als Iris aus ihrem Wagen stieg und darauf zuging.

War das ein Butler, der da stand? Wirklich? Ein Butler? Kurz stutzte Iris, aber sie ließ sich dennoch nicht in ihrem Vorwärtsdrang aufhalten. Sie wollte diese Begegnung mit Esther so schnell wie möglich hinter sich bringen.

Mit ihrer Laptoptasche in der Hand trat sie auf den Butler zu. »Guten Tag. Ich bin Iris Keilwerth. Frau Berles erwartet mich.«

Der Butler nickte, trat zurück und öffnete die Tür weit, damit Iris an ihm vorbeigehen konnte. »Darf ich Ihnen den Mantel abnehmen, gnädige Frau?«

Auch wenn Iris diese Art, bedient zu werden, schon fast zu viel war, ging sie auf seinen Vorschlag ein, stellte die Laptoptasche auf einem Tisch neben der Tür ab, zog ihren Mantel aus und überreichte ihn ihm, bevor sie ihre Tasche wieder aufnahm.

»Hier entlang bitte, gnädige Frau«, bemerkte er mit ihrem Mantel auf dem Arm, während er mit dem anderen Arm in Richtung der Halle zeigte, die sich hinter der Tür aufgetan hatte und von der einige weitere Türen abgingen.

Iris folgte ihm bis zu einer ebenfalls altertümlich aussehenden, aber nicht so schweren Holztür, die er vor ihr öffnete.

Er trat einen Schritt hinein, verkündete »Frau Keilwerth«, trat wieder zurück, bedeutete Iris einzutreten und schloss dann von außen die Tür hinter ihr, als sie im Raum war.

Das Ambiente in diesem Zimmer, das eher einem Saal glich, erschlug Iris geradezu, als sie es in den Blick nahm. Die Möbel waren mindestens hundert Jahre alt, die Teppiche wahrscheinlich noch viel älter und dazu wertvoll wie auch einige Bilder, die an der Wand hingen und echt aussahen. Vasen aus der Ming-Dynastie und etliche andere kostbare Dekorationsstücke deuteten darauf hin, dass hier kein Geldmangel herrschte. Obwohl Iris der Werbeetat für die Berles-Kampagne bisher sehr üppig erschienen war, konnte sie sich nun des Eindrucks nicht erwehren, dass so eine Summe für Esther nur Taschengeld darstellte.

»Schön, dass Sie kommen konnten«, ertönte plötzlich eine Stimme aus der Tiefe des Raumes, in der trotz der großen bodenlangen Fenster fast Dunkelheit herrschte. Beinah wäre Iris herumgefahren, denn die Stimme kam von der Seite, nicht von vorn.

»Ich hatte wohl kaum eine Wahl«, erwiderte sie. »Ihre Sekretärin wollte mir Ihre Telefonnummer nicht geben.«

Esther lachte leise. »Ja, da ist sie sehr streng.«

Verwirrt schaute Iris sie an. Mit streng hatte sie diese erotische Stimme nicht unbedingt in Verbindung gebracht. »Sie haben ihr nicht gesagt, dass sie das tun soll?«

»Doch, doch.« Langsam schälte Esther sich aus der schummrigen Dunkelheit der viktorianischen Möbel heraus, als sie auf Iris zukam. »Das ist übliche Praxis. Es gibt leider zu viele Verrückte, die jede Gelegenheit nutzen würden, in die Privatsphäre anderer einzudringen. Insbesondere wenn sie sie für reich halten.«

»Na ja, halten . . .« Iris drehte sich angedeutet um ihre Achse und ließ ihren Blick durch den Salon schweifen.

Erstaunlicherweise schmunzelte Esther bei dieser Bemerkung. »Nun ja, wie Sie sehen, ist hier schon lange nichts Neues mehr angeschafft worden.« Sie seufzte etwas resigniert. »Wenn ich könnte, würde ich den ganzen alten Krempel rausschmeißen. Ich bin eher der Typ für hell und modern. Aber«, sie zuckte die Schultern, »mein Großvater nicht. Und er hat hier das Sagen.«

»Ihr Großvater lebt hier?« Erneut schaute Iris sich um. Ein Neunzigjähriger konnte sich hier wahrscheinlich wohlfühlen.

»Oben«, bestätigte Esther. »Er kommt kaum noch herunter. Aber Gewers«, sie warf einen Blick auf die Tür, »würde ihm sofort mitteilen, wenn ich auch nur die kleinste Kleinigkeit hier verändern würde. Und dann«, sie verzog das Gesicht, »würde er herunterkommen.«

»Gewers ist der . . . Butler?« Nur zögernd sprach Iris das Wort aus.

»Der Kammerdiener meines Großvaters«, korrigierte Esther. »Aber er kümmert sich auch um den Rest des Hauses, denn mein Großvater schläft die meiste Zeit oder ruht zumindest. Manchmal fährt Gewers ihn im Rollstuhl durch den Park.«

»Kammerdiener«, wiederholte Iris, als ob sie sich auch an dieses Wort erst gewöhnen müsste. Was ja auch tatsächlich der Fall war. Sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals mit einem Kammerdiener zu tun gehabt zu haben.

»Das ist es, was ich meinte, als ich zu Ihnen in die Agentur kam und neue Ideen haben wollte. Hier«, Esther machte eine bezeichnende Armbewegung, die den Raum umfasste, aber vielleicht sogar noch mehr, »sind neue Ideen nicht erwünscht.« Entspannt schlenderte sie zu einem Servierwagen hinüber, auf dem Kristallkaraffen mit Getränken standen. »Möchten Sie etwas trinken?« Sie hob eine der Karaffen in Iris’ Richtung an.

»Keinen Alkohol«, lehnte Iris leicht kopfschüttelnd ab. »Nicht tagsüber während der Arbeitszeit.«

»Oh. Strenge Grundsätze.« Erneut schien Esther zu schmunzeln, während sie sich einen Cognacschwenker nahm und ihn mit etwa einem Fingerbreit der goldenen Flüssigkeit aus einer der Karaffen füllte.

»Es ist die Arbeitszeit, die Sie bezahlen«, erinnerte Iris sie an die bekannten Tatsachen. »Insofern können Sie natürlich darüber bestimmen. Aber es wäre mir doch angenehmer, jetzt keinen Alkohol zu trinken. Ich würde Ihnen lieber die Entwürfe zeigen. Deshalb haben Sie mich ja herbestellt.«

»Ja«, wiederholte Esther gedehnt, während sie an ihrem Cognac nippte und Iris über den Rand des bauchigen Glases hinweg ansah. »Deshalb habe ich Sie herbestellt.« Ihr Blick wanderte nun tiefer und mit einem undefinierbaren Ausdruck über Iris’ Gestalt, während sie das sagte.

Iris lief ein Schauer den Rücken herunter. Also doch. Sie hatte sich nicht geirrt. Die Entwürfe waren nicht der wirkliche Grund, zumindest waren sie nicht der einzige, warum Esther gewollt hatte, dass sie in dieses Haus kam, nicht zum Hauptsitz in der Stadt, und warum Esther nicht in die Agentur gekommen war.

»Es sind im Prinzip alles nur Abwandlungen des Entwurfs, von dem Sie sagten, dass er Ihnen am besten gefällt«, fuhr Iris fort und versuchte ihre Nervosität dadurch zu verbergen, dass sie den Reißverschluss ihrer Laptoptasche ein wenig aufzog. »Darf ich?«, fragte sie und deutete auf einen halbhohen Tisch, der ein paar Schritte von ihr entfernt in der Nähe eines grauenhaft plump aussehenden viktorianischen Sofas stand. Einen Schreibtisch oder etwas Ähnliches hatte sie in diesem Salon nicht entdecken können.

»Natürlich.« Esther nickte.

Schnell legte Iris die Tasche auf den Tisch und zog den Laptop heraus, stellte ihn dann daneben und startete ihn. Wenn es etwas gab, das in dieser Umgebung anachronistisch wirkte, dann war es ein Computer. Eine Schiefertafel hätte hier besser gepasst.

Sie klappte den Bildschirm weit nach hinten, sodass es nun aussah, als läge der Entwurf auf dem Tisch, und beugte sich darüber. »Sehen Sie hier?« Mit einem Finger wies sie auf eine abstrakte Figur am Rand. »Das hat Elena noch eingefügt. Ich glaube, es rundet das Gesamtbild ab.«

»Hmhm.« Esther trat neben sie und schaute halb über ihre Schulter auch auf den Bildschirm. »Ja, das stimmt. Sie ist wirklich sehr begabt.«

Das war eine außergewöhnlich freundliche Bemerkung von Esthers Seite aus, insbesondere bezüglich Elena, aber nicht deshalb wurde Iris heiß und kalt, sondern von Esthers unerwarteter Nähe. »Könnte man so sagen.« Sie räusperte sich.

Amüsiert lachte Esther auf. »Haben Sie den Entwurf gemeinsam gemacht, während Sie im Bett lagen?«

Beinah glühend fühlte Iris Esthers Atem an ihrer Schulter. Die Kälte war nun völlig verschwunden. Sie richtete sich schnell auf und trat einen Schritt zur Seite. »Nein«, erwiderte sie so unbeeindruckt, wie sie es unter den gegebenen Umständen zustandebrachte. »Elena und ich sind nicht . . . ich meine . . . liiert oder so etwas.«

»Willst du nicht oder will sie nicht?«

Der abrupte Wechsel ins Du irritierte Iris doch sehr, aber als sie nun zu Esther hinüberschaute, nippte die so gelassen an ihrem Cognac, als hätte sie überhaupt nichts gesagt.

»Wie ich schon sagte, ist Elena Künstlerin, ein Freigeist«, erwiderte sie kühl.

»Ah. Du würdest sie also sofort heiraten?«, fragte Esther, als wären sie schon jahrelang Freundinnen und würden sich regelmäßig über ihre aktuellen Liebesgeschichten unterhalten.

Nun musste Iris doch lachen. »Heiraten? Ich? Nein, eher nicht.«

»Du bist also auch ein Freigeist.« Esther verringerte die Distanz zwischen ihnen wieder, indem sie den Schritt, den Iris zur Seite gemacht hatte, nachvollzog. »Das habe ich mir schon gedacht.«

Die erneute Nähe, die Esther nun hergestellt hatte, brachte Iris aus dem Konzept, aber sie rief all ihre hilfreichen Geister aus langen Jahren in der Werbung auf, um es nicht zu zeigen. »Hat das irgendetwas mit den Entwürfen zu tun?«, fragte sie. »Wenn sonst nichts mehr zu besprechen ist, würde ich dann wieder gehen.«

»Es hat absolut nichts mit den Entwürfen zu tun, und das weißt du auch«, entgegnete Esther. Ihre Augen blitzten vergnügt, aber nun auch schon ein wenig erregt glänzend über ihrem Cognacglas. »Ich wollte mich nur noch einmal vergewissern, dass ich dir hier kein unmoralisches Angebot mache, weil du irgendwie gebunden bist. In Beziehungen mische ich mich nämlich nicht ein.«

»Wie überaus großzügig von dir«, entschlüpfte es Iris, bevor sie es verhindern konnte. »Entschuldigung.« Sie hob eine Hand. »Das wollte ich nicht sagen. Ich gehe wohl jetzt wirklich besser.« Sie beugte sich zu ihrem Laptop hinunter und klappte ihn zu.

Sofort ergriff Esther die Gelegenheit und strich ihr mit einer Hand fest über den Po, glitt schon fast zwischen ihre Beine.

Iris zuckte zusammen und erstarrte.

»Du willst nicht wirklich gehen«, behauptete Esther. »Du hast bestimmt mindestens zwei Stunden für diese Besprechung eingeplant. Oder irre ich mich da?«

Immer noch halb nach vorn gebeugt atmete Iris schwer. »Nein«, antwortete sie leise. »Du irrst dich nicht.«

Gemächlich stellte Esther ihren Cognacschwenker ab und trat hinter sie. Kurz darauf fühlte Iris, wie Esther ihren Schoß gegen sie presste, um ihre Taille herum nach vorn griff und ihre Hose zu öffnen begann, während sie sich über ihren Rücken beugte. »So mag ich es am liebsten«, flüsterte sie Iris heiß ins Ohr. »Allerdings nicht angezogen.« Ihre Hände fuhren an Iris’ Hüften entlang in Hose und Slip hinein und zogen sie ihr herunter.

Überrascht schnappte Iris nach Luft. Das ging ja schnell. Damit hatte sie jetzt nicht gerechnet. Sie konnte noch nicht einmal mehr eine Entscheidung treffen, ob sie das überhaupt wollte, denn Esther drängte bereits ihre Schenkel auseinander und fuhr mit den Fingern die nasse Spalte entlang, die ihr alles sagte, was sie wissen wollte.

»Du springst schnell an.« Wieder lachte Esther leise und diesmal wie es schien auch zufrieden. »Das gefällt mir.« Und schon stieß sie zwei Finger in Iris hinein, sodass Iris nichts anderes übrigblieb, als sich auf dem Tisch abzustützen und aufzustöhnen. »Und dir auch«, stellte Esther noch zufriedener fest.

Iris spürte, wie sich alles in ihr dagegen sträubte, so gar nicht gefragt zu werden, und doch sprach ihr pochender Schoß eine andere Sprache. »Ich –« Sie stöhnte erneut auf, als Esther schon wieder in sie stieß, diesmal härter.

»Sei still«, befahl Esther. »Sag nichts. Ich will mich nicht unterhalten, ich will dich ficken.«

So eine Behandlung war Iris nun wirklich nicht gewöhnt. Warum richtete sie sich dann nicht einfach auf, schnappte ihren Laptop und ging? Für eine Sekunde überlegte sie, das zu tun, aber da folgte der nächste Stoß, und diesmal warf er sie fast über den Tisch. Sie musste sich am Rand festhalten. Esther hatte mindestens noch einen Finger hinzugefügt, und zwischen Iris’ Beinen begann es zu brennen, weil sie so nass dann doch nicht gewesen war. Ein paar Minuten brauchte sie schon.

»Warte . . .«, hauchte sie. »Warte noch ein bisschen. Ich bin noch nicht soweit.«

»Das hast du nicht zu entscheiden«, antwortete Esther. »Vielleicht hilft das.« Und schon sauste ihre Handfläche auf Iris’ Po nieder.

Nun brannte es nicht nur zwischen ihren Beinen, sondern auch dort. Erneut schnappte Iris nach Luft, diesmal noch heftiger als beim ersten Mal. Dieser Schlag hatte einen Teil ihres Atems, des so dringend benötigten Sauerstoffs, aus ihren Lungen gepresst. »Das . . . Das ist nicht . . .«, stammelte sie. Das ist nicht das, was ich will, hatte sie sagen wollen, aber den Rest des Satzes war sie gezwungen zu verschlucken, weil Esther schon wieder in sie stieß, und diesmal fühlte es sich so an, als wollte sie mit ihrer ganzen Hand hinein.

»Esther . . .«, wisperte Iris schwach. »Was tust du?«

»Hast du das noch nie gemacht?«, fragte Esther, und ihre Stimme klang etwas überrascht. Für einen Moment hielt sie in ihren Bewegungen inne.

»Doch, natürlich.« Iris war dankbar dafür, dass sie nun endlich einmal durchatmen konnte. »Aber nicht so ganz ohne Vorbereitung.«

»Du bist vorbereitet.« Esther legte das einfach so fest, dann erfolgte ein weiterer Schlag auf Iris’ Pobacke, und gleichzeitig mit dem Schmerz, der Iris dadurch durchzuckte, stieß Esther mit ihrem anderen Arm zu und durchbrach die Barriere.

Iris schrie auf, ihre Finger krampften sich um die Seiten des Tisches, dass ihre Knöchel weiß hervortraten, und ein gequältes Stöhnen entrang sich ihren Lippen. »Bist du wahnsinnig?«

»Komm schon . . .« Wieder beugte Esther sich über ihren Rücken, bedeckte sie warm mit ihrem eigenen Körper. »Du wärst schon längst weggelaufen, wenn du das nicht wolltest.«

In gewisser Weise musste Iris dem zustimmen, aber da war trotzdem immer noch diese Sache mit dem Nicht-vorher-Fragen. »Du hast mir kaum eine Chance gelassen wegzulaufen«, erwiderte sie ungehalten.

Darauf antwortete Esther nicht, dafür machten ihre Finger sich nun in Iris selbstständig und streichelten sie von innen.

Nur mühsam hielt Iris sich noch auf den Beinen. Ohnehin fragte sie sich, warum sie nicht schon längst zusammengebrochen war. Sie stöhnte erneut, doch diesmal war es keinesfalls Schmerz oder Qual, es war die reine Lust. Eine Lust, die immer mehr anstieg und sie letztendlich zur Explosion brachte.

Keuchend brach sie nun doch zusammen, lag mit dem Oberkörper über dem Tisch und kniete davor, während sie versuchte, ihr heißes Gesicht der weit kühleren Temperatur der Tischplatte anzupassen, um wieder zu Atem zu kommen.

Als sie hinuntergesunken war, war Esthers Arm aus ihr herausgeglitten und hatte ein Gefühl der Leere in ihr hinterlassen, das ihr gar nicht gefiel. Als ob sie sich genau das, was gerade hier geschehen war, gewünscht hätte und nun nicht mehr darauf verzichten könnte. Nicht mehr darauf verzichten wollte.

Sie war ärgerlich über sich selbst, über diese Gefühle und dass sie das zugelassen hatte, und wusste doch nicht, wie sie es hätte verhindern können. Esther hatte offensichtlich den richtigen Augenblick abgepasst, einen Augenblick, in dem Iris’ Aufmerksamkeit auf etwas anderes gerichtet gewesen war als auf die Möglichkeit eines solchen Überfalls.

Wie hätte sie aber auch damit rechnen können? Andererseits: Bei Esther musste man mit allem rechnen, und das hatte sie gewusst.

Ihre Knie ließen es langsam wieder zu, dass sie stehen konnte, und gleichzeitig wurde ihr bewusst, wie sie mit ihrem nackten Po hier am Boden kniete, wie das aussehen musste. Rasch richtete sie sich auf, zog Hose und Slip hoch, schloss Reißverschluss und Knopf, griff nach ihrem Laptop, klappte ihn zu und stopfte ihn in die Tasche. Sollte Esther erwarten, dass sie sich jetzt auf gleiche Art bei ihr revanchierte, hatte sie sich geschnitten.

Mit einem sehr entschiedenen Geräusch schloss sie auch den zweiten Reißverschluss, den an der Laptoptasche, und hatte das Gefühl, als hätte sie nun ihre Rüstung wieder angelegt. Darauf hätte sie vielleicht früher achten sollen.

»Dann kann ich wohl gehen.« Sie bedachte Esther mit einem kühlen Blick. »Ich glaube, es ist nichts mehr zu besprechen.«

Esther lachte, griff nach ihrem Cognac und trank ihn aus. »Ich wusste, dass du mir ebenbürtig bist. So jemanden treffe ich selten.«

Für eine Sekunde starrte Iris sie nur an. »War es das, was das hier darstellen sollte: einen Test?«, fragte sie dann beißend. »Ob ich dir ebenbürtig bin?«

Der amüsierte Ausdruck auf Esthers Gesicht verschwand. Sie ging erneut zu dem altertümlichen Holz-Servierwagen hinüber und goss sich einen weiteren Cognac ein. »Nein«, erwiderte sie ohne jeden Ausdruck in der Stimme. »Ich hatte einfach nur Lust auf dich.«

»Und da fragst du mich noch nicht einmal?« Ungläubig schüttelte Iris den Kopf.

»Herr Meissner sagte, du ständest ganz zu meiner Verfügung.« Lässig legte Esther einen Unterarm vor ihren Körper und stellte dann den Ellbogen des anderen Arms darauf, in dessen Fingern sie ihr Cognacglas hielt.