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Johanna Folk

WAHRE LIEBE STIEHLT MAN NICHT

Roman

© 2019

édition el!es

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Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-283-1

Coverfoto:
iStock.com/La_Corivo

Für Frau Z., die mich aufgefangen hat.

1

Leise schlich sich Tabea im Garten von Baum zu Baum. Immer näher an das Haus heran. Von der Straße aus war sie nicht zu sehen. Es war das perfekte Grundstück für einen Einbruch. Vorn hell erleuchtet, aber rundherum durch Hecken vor fremden Blicken geschützt. Was als Schutz der Privatsphäre vor den Nachbarn gedacht war, wurde für sie zu einem ausgezeichneten Sichtschutz vor unerwünschten Blicken.

Kerstin wartete an dem kleinen Loch in der Tujahecke, durch das Tabea zuvor schon hindurchgeschlüpft war. Es sollte eigentlich keiner der Bewohner zu Hause sein. Sie hatten es die letzten Tage gründlich ausbaldowert.

Das war gar nicht so einfach gewesen. Schließlich fielen sie in dieser noblen Wohngegend auf wie bunte Hunde. Nicht nur, weil Kerstin einen roten Irokesenschnitt hatte, den sie beim Auskundschaften meistens unter einem Cappy versteckte. Allein schon an ihren Klamotten war zu sehen, dass sie nicht ganz hierhergehörten. Aber wenn man täglich um jeden Euro kämpfte, konnte man es sich eben nicht leisten, schicke Kleidung zu tragen. Auch wenn Tabea darauf achtete, dass sie wenigstens einigermaßen sauber war. Was gar nicht so einfach war, wenn man ihre Lebenssituation betrachtete.

Es lief offenbar wie geplant. Der Mann war zum Sport gegangen, und die Dame des Hauses hatte sich von einem Taxi abholen lassen. Außer den beiden wohnte anscheinend niemand im Haus. Einen Hund gab es auch nicht. Dennoch wollten sie auf Nummer sicher gehen. Sie wollten drinnen auf keine bösen Überraschungen stoßen.

Der Sommer neigte sich dem Ende, und vereinzelt fielen schon ein paar Blätter. Das bedeutete nicht nur, dass es abends noch angenehm warm war, sondern es war auch noch Tageslicht vorhanden. Ein Nachteil, wenn es darum ging, sich unbemerkt durch fremde Wohngegenden zu schleichen. Aber ein Vorteil, wenn es darum ging, von außen in die Häuser zu schauen. Außerdem erhöhte es die Wahrscheinlichkeit, dass die Bewohner ein Fenster im Haus zum Lüften offenließen.

Tabea befand sich mittlerweile direkt an der Hauswand. Jetzt kam der kritische Teil, denn an dieser Stelle konnte sie von den Nachbarn gesehen werden, falls die aus den oberen Stockwerken heraus aus den Fenstern schauten. Sie suchte deshalb Schutz hinter einer Wassertonne.

Bingo. Von hier aus sah sie ein Fenster direkt über sich, das lediglich gekippt war. Sie gab ein Schnalzen von sich, und wenige Sekunden später war Kerstin direkt neben ihr. Wie kein Zweiter konnte sich Kerstin lautlos fortbewegen. Sie hatte Tabea dadurch schon einige Male zu Tode erschreckt, wenn sie plötzlich wie aus dem Nichts hinter oder neben ihr erschienen war.

Kerstin zog einen Schraubenzieher aus ihrem Rucksack. Es war für sie eine Kleinigkeit, das Fenster aus den Angeln zu heben. Und auch wenn es nicht ihr erster gemeinsamer Einbruch war, klopfte Tabeas Herz bis zum Hals, als sie das knirschende Geräusch hörte, während Kerstin das Fenster aufhebelte.

Jetzt musste alles ganz schnell gehen. Kerstin sprang ins Haus, gefolgt von Tabea. Wie erwartet setzte der schrillende Ton der Alarmanlage ein. Davon ließen sich die zwei aber nicht beirren. Da sie schon oft genug von außen in das Gebäude geschaut hatten, wussten sie genau, wer wo hingehen würde.

Mit ein paar geübten Griffen öffneten sie gezielt Schubladen, Kaffeedosen, unauffällige Kästen oder das Gefrierfach im Kühlschrank. Keine dreißig Sekunden dauerte es, bis sie wieder den Rückzug antraten.

Kerstin öffnete die Terrassentür, und sie stürmten hinaus in den Garten. Aus dem Nachbarhaus schrie ihnen noch jemand hinterher. Tabea konnte nur schwer dem Drang widerstehen, ihren Kopf in dessen Richtung zu drehen. Gleichzeitig war sie froh, ihren Kapuzenpulli zu tragen. Die Kapuze hatte sie vor Betreten des Gartens übergestülpt und tief ins Gesicht gezogen.

Jetzt rannten sie auf das Loch zu, durch das sie zuvor schon hereingeschlüpft waren. Kerstin preschte zuerst hindurch und blieb fast mit dem Rucksack an einem störrischen Ast hängen. Mit Wucht riss sie sich los und rannte weiter.

Der Ast schnellte jedoch zurück und traf Tabea im Gesicht. Ihre rechte Wange brannte, doch es blieb keine Zeit, sich darum zu kümmern.

Kerstin lief einfach weiter. Sie hatte anscheinend gar nicht bemerkt, was hinter ihr passiert war. Tabea folgte ihr, während sie spürte, dass es ihr warm an der Wange herunterlief.

Sie durchquerten einen angrenzenden Garten, sprangen über einen Zaun und schlugen sich durch eine weitere Hecke. Das Glück war ihnen hold. Genau in diesem Moment hielt ein Bus an der Haltestelle. Sie stiegen wortlos ein und setzten sich weit auseinander. Tabea zog ein zerfleddertes Tempo aus ihrer Hosentasche und drückte es sich gegen die blutende Wange.

Beim nächsten Halt stiegen sie wortlos aus und verschwanden in verschiedene Richtungen, ohne sich anzusehen.

Etwa eine Stunde lief Tabea kreuz und quer durch die Stadt. Immer mal wieder schaute sie sich um oder versuchte in spiegelnden Schaufensterscheiben zu erkennen, ob sie jemand verfolgte. Sie hasste dieses Gefühl, auf der Flucht zu sein. Die panische Angst davor, doch noch erkannt und von der Polizei geschnappt zu werden.

Wie so oft schwor sie sich, dass dies der letzte Einbruch war. Sie war nicht stolz darauf, dass sie andere Leute beklaute. Selbst wenn es den reichen Schnöseln nicht schaden konnte, ein wenig von ihrem Wohlstand mit der Gesellschaft zu teilen, wie Kerstin es immer formulierte. Tabea musste aber auch zugeben, dass es einen gewissen Reiz hatte, auf Beutezug zu gehen. Natürlich ging es letztendlich nur darum, dass sie sich am Ende des Tages nicht hungrig schlafenlegen musste. Dennoch konnte es ihr nicht das schlechte Gewissen nehmen, das sie nach jedem Diebstahl überkam.

Ihr Puls hatte sich mittlerweile wieder beruhigt. Niemand schien hinter ihr her zu sein oder Verdacht zu schöpfen, dass sie gerade eine Straftat begangen hatte. Dennoch war sie nervös und griff mit der linken Hand immer wieder in die Hosentasche, um sich zu vergewissern, dass das Geld noch da war. Noch hatte sie keine Ahnung, wie viel es tatsächlich war. Sie hatte einfach nur zugelangt, als sie die Scheine in der Keksdose gefunden hatte.

Endlich hatte sie den kleinen Park erreicht und lief schnurstracks auf ihren Lieblingsbaum zu. Problemlos schwang sie sich hoch in dessen Äste und lehnte sich an seinen Stamm. Sie zog die Beine an und suchte mit den Füßen Halt in einer Astgabel. Jetzt saß sie bequem und hatte einen Überblick nach allen Seiten. Sie würde es sofort bemerken, sollte jemand was von ihr wollen.

Für einen Moment schloss sie die Augen. Sie hörte die Vögel um sich herum zwitschern und das freudige Geschrei der Kinder, die im Park Fußball spielten.

Ihre Wange tat immer noch weh. Aber wenigstens blutete sie nicht mehr.

Jetzt erst traute sie sich, das Geld aus der Tasche zu holen. Ihr Herz hüpfte vor Freude, als sie vier Fünfzig-Euro-Scheine, drei Zwanziger und vier Zehner zählte.

Sie waren selten mit leeren Händen aus einem Haus herausgekommen, aber manchmal war es nur sehr wenig Beute. Und je weniger sie an Geld, Schmuck oder sonstigen Wertgegenständen fanden, desto mieser war danach Kerstins Laune. An ganz schlechten Tagen konnte sie dann regelrecht ausrasten. Wenn Tabea ehrlich war, machten ihr diese Momente richtig Angst. Aber das kam wirklich nur sehr selten vor. Und das eine Mal, als sie Tabea dabei die Lippe aufgeschlagen hatte, war auch nur ein Versehen gewesen.

Kerstin kümmerte sich sonst immer gut um sie. Sie war nicht nur ihre Partnerin, sondern quasi auch ihre Familie. Außer Kerstin hatte sie niemanden, dem sie wichtig war. Deshalb wollte sie Kerstin stolz machen. Und mit dem heutigen Ergebnis würde Kerstin sicherlich zufrieden sein.

Nach einer Weile traute sich Tabea vom Baum wieder herunter und machte sich auf den Heimweg.

Sie schob das Brett am Zaun beiseite und betrat das verwilderte Grundstück. Es war damals wie ein Sechser im Lotto gewesen, als sie zusammen mit Kerstin dieses Haus gefunden hatte. Eigentlich hatten sie dort einbrechen wollen, mussten dann aber feststellen, dass es unbewohnt war.

Es war fast schon ein wenig unheimlich, denn es standen noch so ziemlich alle Möbel darin. Die waren zwar nicht sonderlich hübsch, aber voll funktionsfähig. Sogar ein paar Klamotten lagen in dem einen oder anderen Kleiderschrank. Den Besitzer, wer auch immer das war, schien es nicht zu interessieren, dass das Haus von Fremden bewohnt wurde und diese Bewohner sogar auf seine Kosten lebten. Was ihm eigentlich auffallen müsste, denn Strom und Wasser waren bis jetzt nicht abgestellt worden. Einziges Manko: Die Heizung funktionierte nicht. Somit gab es auch kein warmes Wasser. Aber Tabea wollte sich nicht beklagen. Immerhin hatte sie ein Dach über dem Kopf und einen sicheren Ort, an dem sie sich in Ruhe schlafenlegen konnte.

Sie stieg die Stufen zur Kellertür hinab und betrat das Haus.

Kaum war sie im Flur, fiel ihr Kerstin um den Hals. »Na, wie viel haben wir?« Sie streckte Tabea fordernd die Hände entgegen.

»Dreihundert Euro.« Tabea lächelte und zog das Geld aus der Tasche.

Kerstin riss es ihr sofort gierig aus der Hand und tanzte damit ins Wohnzimmer. So nannten sie jedenfalls das Zimmer, wo ein altes, durchgesessenes Sofa stand und ein kleiner Fernseher, den sie irgendwo mal geklaut hatten. Zusammen mit einer DVB-T-Antenne konnten sie also sogar Fernsehen schauen. Die Antenne war natürlich – was auch sonst – geklaut.

»Was ist dir denn passiert?« Paul kam aus der Küche und zeigte auf Tabeas Wange. »Hat dich jemand geschlagen? Das sieht ja übel aus.«

Sie ging zu einem Spiegel, der gegenüber der Garderobe hing und schaute hinein. Es sah auf den ersten Blick wirklich erschreckend aus. Ihre Wange war nicht nur blutverschmiert, sondern hatte mittlerweile auch einen dicken blauen Fleck und war leicht angeschwollen.

»Nein«, beruhigte sie Paul. »Ich bin versehentlich gegen einen Ast gerannt.«

»Aha, musste es also wieder mal schnellgehen.« Er schaute zu Kerstin, die freudig das Geld um sich warf.

»Sozusagen.« Tabea lächelte schief und kniete sich dann hin, um Gregor zu begrüßen, der schon aufgeregt mit dem Schwanz wedelte, um endlich von ihr gestreichelt zu werden. Sie war froh, sich dem Vierbeiner zuwenden zu können, denn sie schämte sich ein wenig vor Paul.

»Irgendwann erwischen sie euch, oder es geht mal richtig was schief«, mahnte er wie so oft. »Hier und da im Laden mal was mitgehen lassen ist das eine. Aber in fremde Häuser einsteigen, das ist eine ganz andere Nummer.«

»Du hast ja recht«, gab sie geknickt zu. Sie hatten diese Diskussion schon oft geführt. Sie hatte ihm auch immer wieder gesagt, dass sie damit aufhören wollte. Aber spätestens, wenn kein Geld mehr da war und sie nach einem Tag Betteln auf der Straße kaum zehn Euro zusammen hatte, ließ sie sich nur allzu leicht von Kerstin zu einem neuen Diebeszug verführen.

»Du kannst dir Gregor gern mal einen Tag ausleihen. Glaub mir, mit einem Hund an deiner Seite fühlst du dich nicht nur wohler, die Leute geben dir auch mehr.«

Tabea mochte Paul. Ein paar Wochen, nachdem sie das Haus für sich entdeckt hatten, waren Paul und Basti zu ihnen gestoßen. Kerstin hatte vor Basti mit ihrem tollen Winterunterschlupf geprahlt, daraufhin wollte er natürlich auch wissen, wo der ist. Basti brachte Paul mit, und der hatte seinen Hund Gregor im Schlepptau.

Weitere Gäste kamen zu Tabeas Erleichterung nicht dazu. Gegen Mitbewohner wie Paul hatte sie nichts, und Gregor hatte sich schnell in ihr Herz geschlichen. Der etwa hüfthohe Mischlingshund war zwar ein großer Brummer, aber eine herzensgute und treue Seele. Sie liebte es, einfach nur bei ihm zu liegen, und er genoss es, von ihr stundenlang gekrault zu werden.

Doch mit Basti hatte sie ein Problem. Er verkörperte den klassischen Punker. Trug einen langen Iro, dessen Farbe immer mal wieder variierte, und lief meist in schwarzen Lederklamotten herum. Überall im Gesicht trug er Piercings, und Bier schien seine Hauptnahrungsquelle zu sein.

Sie hatte grundsätzlich nichts gegen Punker. Immerhin zählte ihre Freundin schließlich auch irgendwie dazu. Aber dieser Typ war ihr nur noch zuwider. Er benahm sich wie der Rotz am Ärmel.

»Und wie viel hast du?«, wollte Tabea nun von Kerstin wissen, während sie sich auf das Sofa fallenließ.

»Ich habe nur knapp hundert.« Kerstin machte ein trauriges Gesicht. Dann grinste sie bis über beide Ohren. »Und die hier!« Sie holte eine goldene Armbanduhr hinter ihrem Rücken hervor und hielt sie Tabea triumphierend vor die Nase. »Die wird einiges an Kohle bringen.«

»Sicher ein paar hundert Euro, oder?«, fragte Tabea. Sie kannte sich mit Schmuck nicht so gut aus. Kerstin kümmerte sich immer darum, wenn es etwas zu verkaufen gab. Aber Gold war immer gut. So viel wusste sie inzwischen.

»Denke ich auch«, stimmte ihr Kerstin zu.

»Darf ich dieses Mal mitgehen?«, bat Tabea.

»Wohin?«

»Zum Verkaufen.« Tabea versuchte, Gregors Hundeblick zu imitieren.

Doch Kerstin schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Bitte, Kerstin«, flehte Tabea.

»Nein.« Kerstin blieb hart.

Tabea verschränkte die Arme und lehnte sich auf dem Sofa zurück. »Warum denn nicht?«

»Du weißt genau warum, und damit Ende.«

Kerstin hatte Tabea bis jetzt noch nicht verraten, wo und an wen sie den Schmuck vertickte. Einmal hatte sie Tabea erzählt, dass sie es ihr nicht sagen wollte, weil der Käufer sonst verschreckt werden könnte, wenn zu viele davon wüssten. Ein anderes Mal erzählte sie ihr, dass es immer unterschiedliche Käufer seien, je nachdem, ob sie Uhren, Schmuck oder Münzen anzubieten hätte.

Paul, der die Diskussion mitangehört hatte, schüttelte nur den Kopf. »Ich geh mal ’ne Runde mit Gregor.«

Er stieg mit dem Hund die Kellertreppe hinunter. Da sie keinen Haustürschlüssel hatten und die Tür nicht aufbrechen wollten, nutzten sie die Kellertür als Ein- und Ausgang. Dort hatte der Originalschlüssel neben der Tür gehangen. Jeder von ihnen hatte inzwischen einen Nachschlüssel, und so konnten sie alle kommen und gehen, wann sie wollten.

»Dann würde ich sagen, spendiert ihr heute Abend mal wieder eine Runde Pizza.« Basti stand plötzlich im Raum. Natürlich mit einer Bierflasche in der Hand. »Euer Erfolg muss ja schließlich gefeiert werden.«

Tabeas Laune sank augenblicklich auf den Nullpunkt. Sie hatte eigentlich gehofft, endlich mal wieder Zeit mit Kerstin allein verbringen zu können. So wie früher.

Als sie sich auf der Straße kennengelernt und beschlossen hatten, die Nächte fortan zu zweit zu verbringen, um ein wenig mehr Sicherheit zu haben, war aus dem Zweckbündnis schnell mehr geworden. Tabea hatte sich Hals über Kopf in Kerstin verliebt. Sie gab ihr genau das, was sie zu Hause nicht bekommen hatte: das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Egal wie kalt es draußen auch war, wenn sie mit Kerstin zusammen war, fühlte sie eine innere Wärme. Zudem schien Kerstin gar nicht genug von Tabea zu kriegen. Jede Nacht waren sie engumschlungen eingeschlafen.

Das alles hatte zwar nachgelassen, als sie in das Haus eingezogen waren, aber Tabea hatte sich nichts weiter dabei gedacht. Schließlich mussten sie hier nicht mehr auf der Straße schlafen, sondern hatten richtige Betten. Außerdem war es doch bei allen Paaren so, dass nach der ersten Verliebtheit alles ein wenig einschlief. Auch wenn sie zugeben musste, dass ihr Kerstin schon lange nicht mehr die Aufmerksamkeit wie früher schenkte. Sie war auch nicht mehr so zärtlich wie am Anfang. Alles schien selbstverständlich geworden zu sein.

Doch Tabea wollte sich nicht beschweren. Es ging ihr immer noch sehr gut bei Kerstin.

»In Ordnung«, lachte Kerstin und klatschte in die Hände. »Ich bestelle die Pizza, und du holst sie.«

»Och Mann, warum schon wieder ich?«, maulte Tabea.

»Ganz einfach«, sagte Kerstin. »Bis Basti in seinem Schneckentempo wieder hier ist, sind sie kalt. Und ich will mich schon mal um den Verkauf der Uhr kümmern.« Demonstrativ tippte sie auf ihrem Handy herum.

Hätte Tabea nicht so einen Hunger gehabt, hätte sie sich dieses Mal geweigert. Aber da es eh keinen Sinn hatte, weiter zu diskutieren, gab sie sich geschlagen. Gegen die beiden anderen kam sie nicht an. Also fügte sie sich widerwillig. »Bestell noch eine Schinkenpizza für Paul mit dazu«, murrte sie.

Auf dem Weg zum Dönerladen kamen ihr Paul und Gregor entgegen. »Ich hole Pizza«, erklärte sie ihm, da er offenbar überrascht war, sie draußen anzutreffen. »Auch eine für dich.«

»Danke.« Er lächelte. »Mit Schinken?«

»Aber klar.« Sie lächelte jetzt auch und kraulte Gregors Kopf.

Paul blickte auf seinen Hund hinunter. »Er wird dir ewig dankbar sein.«

»Dann bis gleich.«

Sie wollte weitergehen, doch Paul hielt sie am Arm. »Lass dich von den beiden nicht so ausnutzen.«

»Wie meinst du das?«, fragte sie erstaunt.

»Nur so.« Paul blickte zu Boden, dann wieder zu ihr. »Du bist einfach viel zu lieb.«

»Danke. Aber ich passe schon auf mich auf.« Ihr gelang bei diesem Satz jedoch nur ein schiefes Lächeln.

»Ich hoffe es«, brummte Paul. Gemeinsam mit Gregor setzte er seinen Weg fort.

Als Tabea mit den vier Pizzen zurückkam, saßen die anderen schon vor dem Fernseher. Es lief irgendeine Krimiserie. »Fortbilden«, nannte Kerstin das immer.

Gierig rissen sie und Basti die Pizzaschachteln an sich.

Als sie gegessen hatten, wollte Tabea einfach nur noch ein wenig gemütlich auf der Couch rumgammeln.

Aber Kerstin wollte noch weg. Party machen. »Jetzt komm schon, sei nicht so langweilig«, forderte sie Tabea auf, mitzukommen. »Wie alt bist du? Fünfzig?«

»Ich habe heute eben keine Lust.« Das hatte sie tatsächlich nicht. Denn wie so oft würde es damit enden, dass Kerstin sich in irgendeinem Tanzschuppen die Kante geben würde. Und aus anfänglichem erotischen miteinander Tanzen würde eine peinliche Szene werden, weil Kerstin irgendwann zu keifen anfing und Streit suchte.

»Dann gehe ich eben mit«, schaltete sich Basti ein. »Musst eben diesmal in einen Schuppen gehen, in dem nicht nur Tussis erwünscht sind.«

Tabea schluckte. Fast überlegte sie es sich, denn der Gedanke daran, dass die beiden miteinander saufen gehen würden, gefiel ihr gar nicht. Aber mitgehen wollte sie auch nicht. »Gibst du mir bitte dreihundertfünfzig Euro?«, forderte sie Kerstin schließlich auf.

»Was? Wieso?«, fragte die erstaunt. »Gut vierhundert Euro haben wir heute gemacht. Fünfundzwanzig Euro gingen für die Pizza drauf. Zum Weggehen sollten dir doch dann der Rest, der von den dreihundertfünfzig Euro übrigbleibt, reichen, oder?«

»Was soll das denn jetzt auf einmal? Kriegst du deine Tage, oder was?« Kerstin wurde sauer.

Tabea war selbst überrascht von dem, was sie da sagte. Aber sie blieb dabei. »Ich habe keine Lust, dass du das ganze Geld, das wir auf riskante Weise rangeschafft haben, gleich wieder versäufst.«

Kerstin rutschte die Hand aus. Sie traf Tabea genau auf der bereits verletzten Wange. Sofort riss die leichte Kruste auf, und Blut floss. Erschrocken sahen sich alle an. Sogar Basti war für einen Moment sprachlos.

Paul reagierte als Erster. Er holte eine Rolle Klopapier und drückte Tabea ein paar Blätter davon in die Hand. Doch statt das tropfende Blut damit abzufangen, starrte sie nur fassungslos Kerstin an.

»Es tut mir leid, aber was laberst du auch so eine Scheiße.« Kerstin fand ihre Sprache wieder. »Mensch Süße, hör doch auf, hier rumzustreiten.« Sie nahm ihr das Klopapier aus der Hand und drückte es vorsichtig auf die Wunde. Tabea ließ es geschehen. Kerstin zog sie an sich und küsste sie. »Alles wieder gut?«, fragte sie, und Tabea nickte mechanisch. »Na also, dann können wir ja jetzt los. Sei kein Frosch und komm mit.«

»Ich will wirklich nicht, ich habe Kopfweh.« Tabea hielt sich nun selbst das Klopapier an die Wange.

»Na gut, dann eben nicht.« Kerstin ging ohne ein weiteres Wort ins Bad, sprühte sich noch ein wenig mit Deo ein und rief nach Basti. »Komm, lass uns losziehen.«

»Was ist mit dem Geld?« Tabea stellte sich ihr in den Weg.

»Verdammt noch mal, hier hast du die blöde Kohle!« Kerstin schleuderte ein paar Geldscheine zu Boden und stieß Tabea zur Seite. Dann verließ sie mit Basti das Haus.

Als sie weg war, sammelte Tabea das Geld ein. Wie erwartet waren es natürlich nicht einmal dreihundert Euro, die Kerstin zurückgelassen hatte. Aber immerhin würde sie nicht alles verjubeln können.

»Warum lässt du dir das gefallen?«, fragte Paul.

»Ich habe doch nur sie.«

Tabea war dankbar, dass Paul nicht mehr nachhakte.

Sie gingen zurück ins Wohnzimmer und schauten noch ein wenig fern. Gregor legte sich neben sie auf die Couch, und sie kuschelte sich an den großen Hund.

2

»Wir sollten in Zukunft anders vorgehen.« Kerstin war gegen Mittag aufgestanden und saß nun bei ihr und Paul im Wohnzimmer.

Tabea hielt einen gewissen Abstand zu ihr. Auch wenn Kerstin die Ohrfeige vom Vorabend wohl schon vergessen hatte, Tabea hatte das noch lange nicht. Darüber mussten sie noch reden. Aber jetzt hatte das keinen Sinn. Zum einen war Kerstin noch leicht verkatert, zum anderen schien sie wieder eine neue Idee zu haben. Und die musste sie jetzt kundtun.

»Es ist einfach zu gefährlich, weiterhin tagsüber in die Häuser zu gehen. Davon abgesehen, dass uns doch mal jemand erkennen könnte oder den Helden spielen will, haben immer mehr Häuser auch Kameraüberwachung«, erklärte sie. »Ich habe keinen Bock, dass sie uns dann im Nachhinein noch andere Brüche anhängen können, falls sie doch mal einen von uns erwischen. Tagsüber würden die Bilder dafür sicher ausreichen, aber die Bilder, die eine Kamera nachts aufnimmt, sind meist noch zu schlecht.«

»Ihr solltet halt noch Masken tragen«, warf Basti ein. »Das ist immer noch die sicherste Methode, um nicht erkannt zu werden.«

»Und was willst du stattdessen machen?« Tabea beachtete Basti gar nicht. »Etwa nachts in die Häuser?«

»Ja. Warum nicht?« Kerstin sah sie an. »Das ist die einzig logische Folgerung.«

»Bist du bescheuert?«, mischte sich nun auch Paul ein. »Das ist viel zu gefährlich.«

Kerstin warf ihm einen bösen Blick zu. »Wieso? Im Dunkeln wird man nicht so schnell gesehen.«

»Aber du selbst siehst auch nichts«, argumentierte Paul. »Du bist in einem fremden Haus und hast keine Ahnung, wer oder was da drin auf dich wartet. Wenn es dann mal schnellgehen muss, sitzt du ruckzuck in der Scheiße.«

»Alles eine Frage der Vorplanung.« Kerstin wischte alle Bedenken weg. »Die Vorteile überwiegen eindeutig. Und ich hätte da auch schon ein interessantes Objekt im Auge.« Ihre Augen blitzten. »Das Haus von einer alten Schachtel. Die spendet wohl immer recht viel. Sie wohnt allein im Haus und schläft bestimmt wie ein Stein. Außerdem hören alte Leute nicht mehr so gut. Sie wird also selig schlummern, während wir sie um ein paar Besitztümer erleichtern. Wahrscheinlich wird es ihr nicht einmal auffallen, wenn etwas Kohle fehlt.«

»Du willst da reingehen, während sie im Haus ist?«, fragte Tabea ungläubig.

»Nein, natürlich nicht.« Kerstin nahm einen Schluck Cola. »Ich bin doch nicht verrückt. Das war nur ein Witz. Wir werden wie immer abwarten, bis sie mal nicht da ist.«

Wenige Tage später nahm Kerstin sie mit zu dem Haus, das sie sich für den Einbruch ausgesucht hatte. Es war natürlich wieder mal eine noble Wohngegend. Sie schlenderten wortlos die Straße entlang. Kerstin blickte sich unauffällig um, ob ihnen irgendjemand hinterherschaute. Tabea starrte fast nur auf den Boden.

»Sag mal, hast du eigentlich irgendein Problem, oder warum bist du so muffelig?« Kerstin war nicht entgangen, dass Tabea stiller war als sonst.

»Alles gut«, sagte sie jedoch nur.

»Wenn du meinst.« Kerstin rümpfte die Nase.

Tabea hatte versucht, mit ihr über den Abend nach ihrem letzten Einbruch zu reden. Doch sie hatte sie gnadenlos abgewürgt. Sie blieb bei ihrer Meinung, dass es Tabeas eigene Schuld war, von ihr eine gefangen zu bekommen. Gleichzeitig hatte sie klargemacht, dass sie über das Thema nicht mehr reden wollte. Für sie war es erledigt. An Tabea nagte es dagegen noch immer.

»Hier, das ist es.« Kerstin blieb stehen und deutete mit dem Kopf in die Richtung einer alten Villa, die noch etwa zwanzig Meter von ihnen entfernt war.

Langsam gingen sie am Grundstück vorbei. Das gab Tabea die Möglichkeit, sich die Umgebung des Hauses genau einzuprägen.

Zu den Nachbarhäusern war es jeweils nur durch einen niedrigen Jägerzaun abgetrennt. Am Gehweg entlang zog sich eine kleine, weiße Mauer. Sie reichte etwa bis zum Bauchnabel. Man hatte so freien Blick auf das Haus und den Garten.

Es sah wunderschön aus. In der Mitte der Mauer war ein kleines Gartentörchen. Von dort aus führte ein gepflasterter Weg zur Haustür. Kleine Beete mit Blumen durchbrachen gepflegten Rasen. Auch zwei Zierbäumchen standen linkerhand des Weges.

Doch der Blickfang war ein großer Kastanienbaum. Unwillkürlich blieb Tabea stehen. Der Baum zog sie in seinen Bann. Er stand so perfekt in diesem Garten, als wäre alles um ihn herum extra nur dafür gebaut worden, damit diese mächtige Kastanie zur Geltung kam.

Tabea genoss den Anblick. Gleichzeitig wanderten ihre Gedanken zu ihrer Kindheit zurück. Als kleines Mädchen hatte sie immer davon geträumt, einen eigenen Kastanienbaum zu haben. Sie liebte es, im Herbst Kastanien zu sammeln. Jede einzelne, die sie fand, war für sie ein Schatz.

»Jetzt komm schon, geh weiter.« Kerstin stupste sie unsanft an und riss sie aus ihren Gedanken. »Wir fallen sonst noch auf.«

Doch Tabea konnte nicht anders. Sie wechselte die Straßenseite und ging auf das Gartentor zu.

»Was tust du, verdammt?«, zischte es von hinten.

Tabea ließ sich nicht abhalten. Direkt vor dem Grundstück blieb sie stehen und beugte sich nach vorn. Sie griff nach einer Kastanie, die über den leicht abschüssigen Weg bis zur Straße gerollt war. Sie steckte noch in der grünen, stacheligen Hülle. Tabea hatte das immer besonders geliebt. Es war jedes Mal aufs Neue spannend gewesen, die Hülle von Hand zu öffnen. Und als hätte sie nie damit aufgehört, drückte sie den Daumennagel in die dünne Ritze der grünen Hülle und schälte den Inhalt heraus. Es kam eine wunderschöne dunkelbraune Kastanie zum Vorschein. Tabea lächelte zufrieden.

Als sie wieder aufblickte, stellte sie fest, dass sie beobachtet wurde, und zwar aus den brillenbesetzten Augen einer älteren Frau, die durchs Fenster schaute. Als sich ihre Blicke trafen, hätte Tabea vor Schreck fast die Kastanie fallenlassen. Sie senkte schnell ihren Kopf, zog die Schultern hoch und eilte davon. Gefolgt von einer fluchenden Kerstin.

»Musste das sein?«, schimpfte Kerstin, als sie ein paar Straßen weiter wieder im normalen Tempo nebeneinanderhergingen. »Jetzt hat sie dich gesehen.«

»Sie hat nur jemanden im Kapuzenpulli gesehen. Also beruhig dich wieder.«

»Trotzdem war es unnötig«, schnaubte Kerstin.

In dieser Nacht lag Tabea lange wach. Die alte Frau ging ihr einfach nicht mehr aus dem Kopf. Sie hatte bis jetzt zwar so gut wie immer die Bewohner des Hauses gesehen, in das sie wenig später eingestiegen waren, jedoch hatte sie es bisher stets vermieden, sich weitere Gedanken über diese Menschen zu machen. Es waren für sie nur reiche Leute, die es verkraften würden, ein wenig Geld zu verlieren.

Aber heute war es irgendwie anders gewesen. Sie konnte nicht sagen, warum. Der Gedanke daran, in das Haus dieser alten Frau einzubrechen, bereitete ihr Unbehagen. Sie wollte sie nicht bestehlen.

Unruhig wälzte sie sich hin und her. Erst kurz bevor die Sonne aufging, schlief sie dann doch noch ein.

Als sie aufwachte, war es schon später Vormittag. Kerstin hatte sie schlafen lassen und saß mit den anderen in der Küche. Es regnete in Strömen. Bei dem Wetter setzte nicht einmal Gregor eine Pfote vor die Tür.

»Warum gerade dieses Haus?«, fragte Tabea, nachdem sie sich etwas zu trinken geholt hatte.

»Die Frau ist reich, es ist gut gelegen, und das Beste: Sie hat keine Alarmanlage. Jedenfalls im Moment nicht«, schob Kerstin hinterher.

»Woher weißt du das?«, wollte Tabea wissen.

»Das hat mir ein Vögelchen gezwitschert«, hauchte Kerstin geheimnisvoll.

Tabea fand das jedoch gar nicht lustig. »Jetzt sag schon, woher weißt du das?«

»Über den Bekannten eines Freundes.« Kerstin stand auf und betrachtete ihren Iro im Spiegel.

Tabea stellte sich hinter sie und sah ihr im Spiegel wieder in die Augen. »Aha. Jetzt weiß ich genauso viel wie vorher.«

»Du musst auch nicht alles wissen.« Kerstin drehte sich zu ihr um. »Wichtig ist nur, dass ihre alte Alarmanlage in letzter Zeit öfter Fehlalarme verursacht hat und sie sich nächste Woche eine neue einbauen lässt. Das bedeutet, es muss möglichst bald über die Bühne gehen. Vielleicht schon heute Nacht. Aber das muss ich noch rauskriegen.«

»Ich halte es für keine gute Idee.« Tabea hatte wirklich Bauchschmerzen bei dem Gedanken daran. Ob das nun an dem Blickkontakt mit der alten Frau lag oder an dem Umstand, dass Kerstin nachts ins Haus wollte, konnte sie nicht sagen.

»Was ist denn jetzt schon wieder?« Kerstin war genervt.

»Ich weiß auch nicht, ich habe einfach kein gutes Gefühl bei der Sache.« Tabea zuckte die Schultern.

Kerstins Stimme wurde lauter. »Willst du die nächste Zeit lieber wieder hungern? Oder lieber deinen Arsch auf die kalte Straße setzen, um dir deine paar Kröten zu erbetteln?«

»Nein.« Tabea blickte zu Boden.

»Na also, dann zick jetzt nicht rum. Die Kohle ist nämlich schon wieder knapp.«

Ja, weil du schon wieder alles ausgegeben hast, kam Tabea sofort in den Sinn. »Und was ist mit der Uhr? Dachte, die bringt ein paar hundert Euro.«

»So schnell geht das nicht mit dem Verticken«, erklärte Kerstin und rollte die Augen. »Da werde ich noch ein paar Tage für brauchen.«

Tabea wusste, dass eine weitere Diskussion keinen Sinn mehr hatte. Sie zog sich mit ihrem MP3-Player auf einen Sessel zurück und schloss die Augen. Den fehlenden Schlaf der vergangenen Nacht musste sie nachholen.

Gregor folgte ihr, legte sich zu ihren Füßen und brummte zufrieden.

Dass Kerstin das Haus verließ, bekam sie gar nicht mehr mit.

Sie bemerkte ihr Fehlen erst, als sie sich irgendwann wunderte, warum es so ruhig im Haus war. Vielleicht würde sie die Uhr endlich verkaufen. Aber es war ihr eigentlich egal, wo Kerstin steckte. Sie hatte gerade kein großes Bedürfnis nach ihr.

Nach einer Weile gesellte sich Paul zu ihr. Sie kannten sich noch nicht lange, aber sie merkte, dass er etwas auf dem Herzen hatte. Sie konnte es förmlich fühlen, dass er mit sich rang.

Also stellte sie die Musik ab und fragte ihn ganz direkt: »Was ist los, Paul?«

»Was meinst du?« Er gab sich zunächst unwissend.

»Du hast doch irgendwas«, bohrte Tabea nach.

»Ich, also, ähm«, begann er zu stottern. »Ich weiß es nicht.«

»Was weißt du nicht?« Sie nahm die Ohrstöpsel heraus und drehte sich zu ihm.

»Ob ich mich da überhaupt einmischen soll«, erklärte er.

Tabea hatte keine Ahnung, wovon er sprach. »Worin einmischen?«

Paul senkte seinen Blick. »Bei euch«, sagte er nur knapp.

»Bei uns?« Tabea war mit einem Mal hellwach.

»Ja, bei dir und Kerstin.« Paul sah sie nun direkt an.

In Tabea zog sich alles zusammen. Dass Paul nicht viel von Kerstins Einstellung zu einer Partnerschaft hielt, wusste sie bereits. Aber sein Gesichtsausdruck verriet, dass er über etwas anderes reden wollte. Hatte Kerstin etwa doch wieder was mit Basti? Und hatte Paul was mitbekommen? Egal wie sauer sie gerade auf Kerstin war, es änderte nichts daran, dass Eifersucht in ihr hochkam.

»Was ist los, Paul?«, drängte sie ihn. »Sag es bitte, wenn du irgendwas weißt, das ich wissen sollte.«

Paul biss sich noch ein wenig auf den Lippen herum. »Sie bescheißt dich«, brachte er endlich leicht zittrig heraus.

»Mit wem, mit Basti?« Tabea blickte in Richtung Küche, wo Basti völlig vertieft mit seinem Handy saß und am Zocken war.

»Nein, nicht das, was du denkst.« Paul hob sofort die Hände, um abzuwinken.

»Was denn sonst?« Tabea hätte ihn am liebsten gepackt. »Jetzt sag schon.«

»Sie bescheißt dich beim Geld.« Er schien erleichtert, dass der Satz nun endlich draußen war.

Bei Tabea hingegen spiegelte sich Ratlosigkeit im Gesicht. »Wie – beim Geld?«

»Wenn ihr von euren Touren zurückkommt und dann die Beute aufteilt. Sie behält meistens heimlich einen Teil für sich. Und ich wette, wenn sie die Uhr vertickt hat, speist sie dich wieder mit einem lächerlich kleinen Teil ab.«

Tabea fiel die Kinnlade herunter. »Wie kommst du auf sowas?«

»Was meinst du wohl, warum du nie dabei sein sollst, wenn sie das ganze Zeug verkauft?« Paul sah sie fragend an.

»Weil die Hehler das nicht wollen.« Tabea merkte in diesem Moment selbst, wie unglaubwürdig diese Antwort klang.

»Siehst du?« Paul war es nicht entgangen, dass Tabea selbst an ihrer Antwort zweifelte. »Außerdem habe ich es selbst schon gesehen, dass sie Geld in ihren Schuh gesteckt hat, bevor sie dir gezeigt hat, wie viel sie erbeutet hat.«

Tabea wollte es nicht glauben und schlug auf ein Sofakissen ein. Sie wusste, dass Paul die Wahrheit sagte. Sie hatte selbst hin und wieder den Verdacht gehabt, aber hatte diese Gedanken bisher immer ganz schnell wieder beiseitegeschoben. Warum sollte Kerstin sie bescheißen?

»Ich fand einfach, dass du das wissen solltest. Was du daraus machst, ist deine Sache. Aber von mir weißt du es nicht. Ich habe keinen Bock auf einen Kleinkrieg mit ihr.« Paul stand auf.

»Danke.« Tabea presste sich das dicke Sofakissen, das sie eben noch geschlagen hatte, vor die Brust und zog die Beine an. Sie legte ihren Kopf auf die Knie und schloss die Augen. Sie wollte nicht vor Paul weinen, auch wenn ihr dazu gerade zumute war.

»Komm Gregor, der Regen hat aufgehört. Lass uns eine Runde gehen.« Die beiden trotteten aus dem Raum und ließen Tabea allein auf dem Sofa zurück.

So fühlte sich Tabea auch. Allein. Dazu kam dieses schreckliche Gefühl zu fallen. Es war fast wie damals, als sie von zu Hause abgehauen war und die ersten Nächte allein auf der Straße verbracht hatte. Die Zweifel, ob es die richtige Entscheidung gewesen war. Ob die tägliche Angst davor, in der Nacht überfallen zu werden oder überhaupt einen Schlafplatz zu finden, es wert gewesen war. Aber auch wenn vor allem die ersten Monate auf der Straße richtig hart gewesen waren, hatte sie immer vor Augen gehabt, dass es besser war als das, was sie zu Hause weiterhin erwartet hätte. Ein Schauer lief ihr bei diesem Gedanken über den Rücken.

Doch jetzt ging es nicht mehr nur um sie allein. Es ging um sie und Kerstin als Paar. Sie wollte sich der Gewissheit nicht stellen, dass es mit Kerstin und ihr eigentlich vorbei war. Das, was sie damals an Kerstin geliebt hatte, gab es nicht mehr. Sie fühlte sich bei ihr nicht mehr sicher und geborgen. Das war ihr in den letzten Tagen immer bewusster geworden.

Wenn sie ehrlich war, hatte sie sich sogar eher unwohl in ihrer Nähe gefühlt. Aber was sollte sie machen? Ihr sagen, dass Schluss war? Sie wusste nicht, wie Kerstin darauf reagieren würde. Sie hatte Angst davor, dass Kerstin sie nur auslachen würde. Oder dass es ihr vielleicht sogar egal war.

Der Gedanke daran schmerzte. Immerhin hatten sie sehr viel miteinander erlebt. Auch sehr viel Schönes. Vielleicht würde Kerstin sie aber auch nicht gehen lassen wollen. Vielleicht würde sie um sie kämpfen, und es würde endlich wieder mehr wie früher sein. Ein kleiner Hoffnungsschimmer keimte in ihr auf.

Aber wollte sie das überhaupt? Vertraute sie Kerstin noch genug, um weiterhin eine ehrliche und gleichberechtigte Beziehung mit ihr führen zu können?

Kerstin hatte sich verändert, seit sie sich kennengelernt hatten. Tabea wusste nicht, ob es nur daran lag, dass die erste Verliebtheit verflogen war und sie Kerstin nun so sah, wie sie wirklich war. Vielleicht hatte es aber auch etwas mit Kerstins Drogenkonsum zu tun. Früher hatte sie ab und zu mal einen Joint geraucht. Tabea hatte das immer abgelehnt, aber sie sah darüber hinweg, weil es wirklich nur selten vorkam. In den letzten Monaten war es jedoch immer häufiger geworden. Kerstin versuchte es zwar, vor ihr zu verheimlichen, aber zum einen roch man das furchtbare Kraut, und zum anderen war es nicht zu übersehen, wenn sie high war.

Einmal hatten sie auch einen heftigen Streit, weil sich Tabea geweigert hatte, mit ihr einbrechen zu gehen, nachdem Kerstin direkt davor mit Basti gekifft hatte. Im Nachhinein hatte ihr Kerstin zwar zugestimmt, dass es zu gefährlich gewesen wäre, während des Streits jedoch war sie sehr aggressiv gewesen.

Basti versorgte sie immer mit Nachschub. Natürlich gegen Bares. Er baute das Zeug teilweise selbst hier im Haus an. Unterm Dach war es dafür perfekt. Dank eines großen Fensters, das nach Süden rausging, hatte er gute Bedingungen. Tabea hatte sich die Plantage nur einmal angeschaut. Von dem Gestank bekam sie Kopfweh, weswegen sie sich davon fernhielt.

Aber was war die Alternative? Wenn sie sich von Kerstin trennen würde, könnte sie dann weiter hier im Haus wohnen? Und wie sollte sie ihren Lebensunterhalt finanzieren? Würde sie am Ende doch wieder dazu übergehen müssen zu betteln und sich mit Ladendiebstählen über Wasser zu halten? Vielleicht sollte sie Pauls Angebot doch annehmen und sich mit Gregor zusammen auf die Straße setzen.

Sie steckte sich die Kopfhörer wieder in die Ohren und ließ weiter Musik auf sich einrieseln. Sie wollte jetzt nicht mehr darüber nachdenken. Doch diese Taktik funktionierte nicht wirklich. Ihre Gedanken kreisten weiterhin um das gleiche Thema wie ein Karussell. Immer wieder im Kreis, immer wieder von vorn und auch immer ohne ein Ergebnis.

Es hörte erst auf, als Kerstin urplötzlich vor ihr stand und aufgeregt mit den Armen fuchtelte.

»Was ist denn los?«, fragte Tabea, nachdem sie den MP3-Player ausgeschaltet hatte.

Kerstin schien fast außer Atem. »Wir müssen heute noch zuschlagen.«

»Hä? Was?« Tabea verstand nur Bahnhof.

»Das Haus von der alten Schachtel. Sie hat sich gerade von einem Taxi abholen lassen und hatte zwei Koffer dabei. Sie ist also auf jeden Fall über Nacht aus dem Haus.«

»Okay.« Tabea war ein wenig überrumpelt. »Wann willst du los?«

»Gegen Mitternacht. Da werden die Nachbarn auch meist schon schlafen.« Dass von Tabea keine Widerworte kamen, schien Kerstin ruhiger werden zu lassen.

»In Ordnung.« Tabea nickte, auch wenn ihr gleichzeitig durch den Kopf ging, dass es ein Fehler war.

Kerstin ging zurück in den Flur und kam mit einer Plastiktüte zurück. »Und damit wir eine gute Grundlage für heute Nacht haben, habe ich uns noch etwas mitgebracht.«

In der Tüte befanden sich ein paar Sandwiches von Tabeas Lieblingsbäcker. Leckere Brötchen belegt mit Schinken oder dünnem Putenfleisch. Dazu Tomaten, Salat, Käse und einer köstlichen Marinade.

»Außerdem will ich dich mal wieder lächeln sehen.« Kerstin drückte Tabea die Tüte in die Hand und küsste sie.

Tabeas Augen leuchteten. Mit dieser Überraschung und der plötzlichen Zuneigung Kerstins hatte sie nicht gerechnet. Alle Zweifel von vorhin waren mit einem Mal über Bord geworfen. Sie schämte sich fast dafür, vor wenigen Minuten noch ernsthaft darüber nachgedacht zu haben, sich von Kerstin trennen zu wollen. Denn jetzt saßen sie gemütlich aneinandergekuschelt auf dem Sofa, aßen vergnügt die leckeren Brötchen und schauten noch ein wenig fern, bis es draußen richtig dunkel wurde.

5

Es fühlte sich komisch an, wieder in den Klamotten zu stecken, die Tabea in der Nacht des Einbruchs anhatte. Mit der Visitenkarte der Kommissarin und der Kastanie in der Hosentasche.

Zwei Justizbeamte begleiteten sie nach draußen.

»Sind die wirklich nötig?«, fragte Tabea etwas geknickt, als ihr Handschellen angelegt wurden, bevor sie in das zivile Auto stieg.

»Tut mir leid, das ist nun mal Vorschrift, wenn wir Gefangene transportieren.« Der Justizbeamte ließ da nicht mit sich reden.

»Aber ich bin doch keine Gefangene mehr«, protestierte Tabea.

»In dem Moment, wenn wir Sie an der Adresse übergeben haben, sind Sie keine mehr«, entgegnete er trocken. »Bis dorthin tragen wir die Verantwortung für Sie. Danach liegt es nicht mehr in unseren Händen.«

Es war deutlich, dass auch dieser Wärter nichts von der Maßnahme hielt, Tabea bei der alten Frau unter Hausarrest zu stellen, anstatt sie weiter im Gefängnis zu behalten.

»Seien Sie doch froh, dass Sie mich los sind. Eine weniger, auf die Sie aufpassen müssen«, rutschte es ihr heraus. Gleich darauf biss sie sich auf die Zunge. An deiner Gelassenheit bei diesem Thema solltest du unbedingt noch arbeiten, notierte sie sich in Gedanken.

Die Fahrt zum Haus verlief schweigend. Zum Glück gab es ein Radio in dem Auto, so war es halbwegs erträglich.

Als sie vor dem Haus hielten, streckte Tabea der Justizbeamtin, die die ganze Zeit über neben ihr gesessen hatte, die Handgelenke hin. »Bitte«, flehte sie, »jetzt können Sie die Dinger doch abmachen. Es muss mich nicht gleich die ganze Nachbarschaft so sehen.«

Die Frau überlegte kurz, dann nickte sie und schloss ohne ein weiteres Wort die Handschellen auf. Dennoch fühlten sich die letzten Meter vom Auto bis zur Haustür wie ein Spießrutenlauf an.

Auf das Klingeln öffnete zu ihrer Überraschung Claudia die Tür. »Oma, sie sind da!«, rief sie ins Haus. Frau Werner kam kurz darauf aus dem Wohnzimmer zu ihnen.

»Unterschreiben Sie uns bitte, dass wir die Gefangene . . .«, der Justizbeamte blickte auf sein Formular, ». . . Frau Ranke ordnungsgemäß an Sie übergeben haben.« Er hielt ihr das Papier und einen Kugelschreiber hin.

Frau Werner nahm den Stift und unterschrieb.

»Jetzt gehört sie Ihnen.« Mit diesen knappen Worten verabschiedeten sich die beiden Justizbeamten und stiegen wieder ins Auto.

Tabea stand vor der Haustür wie bestellt und nicht abgeholt. Mit einem Mal war sie sich nicht mehr so sicher, ob das alles hier eine gute Idee war. Frau Werner empfing sie zwar freundlich und mit einem Lächeln, dafür war Claudias Stimmung umso eisiger. Es war deutlich, dass sie Tabea nicht im Haus haben wollte.

»Jetzt komm schon rein, ich beiße nicht«, forderte die alte Frau sie auf.

Tabea blickte von ihr zu Claudia. Die musste sich offenbar sehr überwinden, einen Schritt zur Seite zu gehen, damit Tabea das Haus betreten konnte.

»Am besten, Claudia zeigt dir jetzt erst einmal dein Zimmer, und danach kommt ihr wieder runter und wir essen eine Kleinigkeit.«

Claudia stapfte die Treppe hoch. Nach der Hälfte blieb sie stehen und drehte sich zu Tabea um. »Kommst du jetzt endlich, oder was?«

Tabea gab sich einen Ruck und folgte ihr. Wenn sie ehrlich war, hatte sie kein großes Bedürfnis danach, mit dieser Frau allein in einem Raum zu sein.

»Das wird schon noch«, ermutigte Frau Werner sie mit einem Blick auf Claudia. Sie hatte Tabeas Zögern offenbar bemerkt.

Oben angekommen schaute sich Tabea suchend um. Sie hatte nicht mitbekommen, in welches Zimmer Claudia abgebogen war.

»Die zweite Tür links«, half ihr Frau Werner von unten.

Tabea nickte ihr dankend zu und ging mit klopfendem Herz den Flur entlang. Als sie in das Zimmer eintreten wollte, erschrak sie kurz, weil die Katze an ihren Beinen vorbeiflitzte.

Sie sah sich um. Es war ein schönes, helles Zimmer. Ein Schrank, ein gemütliches Bett und ein Schreibtisch standen darin. Purer Luxus im Vergleich zu ihrer letzten Unterkunft, die nur ein kleines Fenster mit Gittern davor hatte.

Auf dem Bett lagen ein paar T-Shirts, zwei Pullis und zwei Hosen. Dazu neu verpackte Unterhosen und Socken.

»Die Sachen sollten dir passen. In den Schrank wirst du sie ja selbst räumen können.« Hätte Claudia ein Glas Wasser in der Hand, würde das Wasser darin sofort gefrieren, so eisig war ihre Ausstrahlung.

Tabea überlegte, ob sie ihr sagen sollte, dass es nicht ihre Idee gewesen war, hier einzuziehen, aber sie entschied sich dagegen. Es würde nichts bringen. Außerdem konnte sie es nachvollziehen. An Claudias Stelle wäre sie auch wenig begeistert darüber, dass hier ins Haus eine junge Frau einzieht, die nur wenige Tage zuvor noch darin eingebrochen war.

Sie entschied sich deshalb für ein einfaches »Danke« und trat wieder aus dem Zimmer heraus.

Claudia ging wortlos an ihr vorbei Richtung Treppe, und sie folgte ihr.

Frau Werner saß bereits am Esstisch, als sie herunterkamen.

Claudia ging in die Küche, während Tabea etwas hilflos im Zimmer stehenblieb. Sie kam sich momentan ziemlich fehl am Platz vor.

»Geh Claudia einfach zur Hand. Dann kann sie dir in der Küche gleich mal zeigen, wo was steht«, forderte Frau Werner sie auf.

Nach der eisigen Stimmung im Obergeschoss wollte Tabea eigentlich nicht schon wieder mit Claudia allein in einem Raum sein. Im Gegenteil, ihr kam der Gedanke, ob sie nicht einfach zur Haustür rennen und abhauen sollte.

Die Oma würde ihr nicht folgen können, und Claudia wäre bestimmt froh, wenn sie weg war. Es wäre bestimmt besser so für sie alle. Claudia müsste dann keine Angst mehr um ihre Oma haben, die Oma hätte nicht dauernd die Verantwortung dafür, eine Straftäterin beherbergen zu müssen, und Tabea hätte wieder ihre Freiheit. Nur mit dem kleinen Haken, dass sie die Stadt verlassen oder sogar auswandern müsste. Vielleicht zu ihrem Vater nach Australien. Der wäre sicher begeistert darüber.

Ob Frau Werner dann Ärger bekommen würde, wenn sie weg wäre? Sie hatte doch irgendetwas unterschreiben müssen dafür, dass Tabea jetzt hier sein durfte.

Eine Vielzahl solcher Gedanken schwirrten ihr binnen Sekunden gleichzeitig durch den Kopf, während sie in der Küche schon das Geschirr klappern hörte.

Sie gab sich einen Ruck und ging zu Claudia. Die drückte ihr auch gleich drei Teller und Besteck in die Hand und schickte sie wieder raus. So lief das auch bei den anderen Sachen, die Tabea zum Tisch bringen sollte. Claudia ließ sie deutlich spüren, was sie von all dem hielt.

»Gib ihr ein paar Tage«, versuchte Frau Werner sie zu beruhigen. Ihr war die Spannung zwischen den beiden jungen Frauen nicht entgangen. »Sie wird sich schon einkriegen.«

Als schließlich auch Claudia am Tisch saß, forderte Frau Werner alle auf, zuzugreifen. Sie selbst ging mit gutem Beispiel voran und biss herzhaft in eine Bauernbratwurst, die sie zuvor in Senf getaucht hatte. Dabei schmunzelte sie ihre beiden Gäste an, als gäbe es nichts Schöneres.

Immerhin eine von uns hat Spaß an der Sache, dachte Tabea, während sie selbst eher lustlos an einem Wienerle herumnagte. Claudia schien es auch nicht viel besser zu gehen, denn ihr Appetit hielt sich ebenfalls in Grenzen.

Frau Werner