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Victoria Holt

Der indische Fächer

Roman


Ins Deutsche übertragen von Margarete Längsfeld

Edel:eBooks

ENGLAND UND FRANKREICH

Das große Haus

Das große Haus Framling hatte schon immer eine starke Anziehungskraft auf mich ausgeübt. Vielleicht begann es damit, daß ich mit zwei Jahren von Fabian Framling entführt und zwei Wochen dort festgehalten worden war. Daß das Haus voller Schatten und Geheimnisse steckte, erfuhr ich später, als ich den Pfauenfederfächer entdeckte. In den langen Huren, auf der Galerie, in den stillen Räumen schien einen die Vergangenheit aus allen Winkeln anzugrinsen, als wolle sie sich heimtückisch der Gegenwart bemächtigen, um sie auszulöschen, was ihr allerdings niemals vollends gelang.

Solange ich zurückdenken kann, hatte Lady Harriet Framling über unser Dorf geherrscht. Die Landarbeiter, die respektvoll an den Straßenrand traten, wenn die Kutsche mit dem majestätischen Wappen der Familie vorüberrollte, berührten grüßend die Stirn, und die Frauen versanken in einen ehrerbietigen Knicks. Sie sprachen im Flüsterton von ihr, als fürchteten sie, ihren Namen zu beschmutzen. In meinem kindlichen Gemüt kam sie der Königin gleich und hatte nur Gott über sich. Kein Wunder, daß ich, als ihr Sohn Fabian mir befahl, seine Sklavin zu sein – ich war damals erst sechs Jahre alt –, nicht widersprach. Es schien nur natürlich, daß wir Leute von niederem Stande dem großen Haus auf jede Weise dienten.

Das große Haus – allgemein »das Haus« genannt, als seien die Behausungen, die wir übrigen bewohnten, etwas anderes – hieß Framling; nicht Framling Hall oder Framling Manor, sondern schlicht Framling. Es war seit hundert Jahren im Besitz dieser Familie. Lady Harriet hatte sich gnädig herabgelassen, in die Familie einzuheiraten, war sie doch die Tochter eines Grafen. Das durfte man niemals vergessen; sie hatte wahrhaftig unter ihrem Stande geheiratet, als sie die Gemahlin eines bloßen Barons wurde. Er war längst tot, der Ärmste, aber ich hörte erzählen, daß sie ihn stets an ihren höheren Rang erinnert hatte, und obwohl sie erst als Braut ins Dorf gekommen war, hielt sie es seitdem für ihre Pflicht, über uns zu herrschen.

Die Ehe war jahrelang unfruchtbar geblieben – sehr zum Leidwesen Lady Harriets. Ich nehme an, sie beklagte sich unentwegt bei Gott dem Allmächtigen bitterlich über ein solches Versehen; doch selbst der Himmel konnte Lady Harriet nicht ewig übergehen, und mit vierzig Jahren, fünfzehn Jahre nach ihrem Hochzeitstag, schenkte sie Fabian das Leben.

Ihre Freude war grenzenlos. Sie betete den Knaben an. Es war nur logisch, daß ihr Sohn vollkommen war. Allen seinen Launen mußten die Bediensteten stattgeben, und die Dienerschaft der Framlings verbreitete, daß Lady Harriet nachsichtig über jede kindliche Missetat lächelte.

Vier Jahre nach Fabian wurde Lavinia geboren. Obwohl sie als Mädchen ihrem Bruder im Range etwas nachstand, war sie als Lady Harriets Tochter dem Rest der Gemeinde weit überlegen. Es amüsierte mich stets, Lady Harriet die Kirche betreten und durch den Mittelgang schreiten zu sehen, gefolgt von Fabian, hinter dem wiederum Lavinia ging. Ehrfürchtig beobachtet, nahmen sie ihre Plätze ein und knieten auf den rotschwarzen, mit dem Buchstaben bestickten Polstern nieder; und die Leute hinter ihnen durften Zeugen des erstaunlichen Schauspiels sein, wie Lady Harriet vor einer höheren Macht kniete – ein Erlebnis, das alles wettmachte, woran es dem Gottesdienst ansonsten mangeln mochte.

Ich starrte die drei verwundert an und vergaß, daß ich in der Kirche kniete, bis ich mich, durch einen Stups von Polly Green ermahnt, auf die Andacht besann.

Das Haus Framling beherrschte das Dorf. Es war über den Häusern auf einem sanften Hang errichtet, so daß es einem das Gefühl gab, es stehe Wache und achte auf jegliche Sünde, die wir begehen mochten. Schon zu Zeiten Wilhelms des Eroberers hatte dort ein Gebäude gestanden, das allerdings im Laufe der Jahrhunderte immer wieder umgebaut wurde, so daß von dem Bau aus der Vor-Tudor-Zeit fast nichts mehr geblieben war. An einem Pförtnerhaus mit Zinnentürmen vorbei gelangte man in einen Innenhof, wo Pflanzen zwischen dem Mauerwerk wuchsen und Sträucher in künstlerischer Üppigkeit in reifengefaßten Kübeln wucherten. In diesem Hof standen Bänke, auf die bleigefaßte Fenster herabblickten – dunkel und geheimnisvoll. Ich bildete mir immer ein, daß hinter diesen Fenstern jemand lauerte und Lady Harriet alles berichtete.

Durch eine schwer beschlagene Tür trat man in einen Bankettsaal, an dessen Wänden die Porträts etlicher längst verblichener Framlings hingen – einige blickten grimmig drein, andere gütig. Die Decke war hoch und gewölbt; der lange, blankpolierte Tisch roch nach Bienenwachs und Terpentin. Über dem großen Kamin verzweigte sich der Familienstammbaum in alle Richtungen. Am einen Ende des Saales führte eine Treppe zur Kapelle, und am anderen Ende befand sich die Tür zum Altar.

Im zarten Kindesalter schien es mir, daß wir im Dorf wie Planeten um die strahlende Sonne namens Framling kreisten.

Unser Haus gleich neben der Kirche war weitläufig und zugig; ich hatte oft sagen hören, es zu heizen koste ein Vermögen. Verglichen mit Framling war es freilich winzig. Obwohl im Wohnzimmer ein großes Feuer brannte und es in der Küche schön warm war, glich im Winter der Gang zu den oberen Räumlichkeiten in meiner Vorstellung einer Expedition zum nördlichen Polarkreis. Mein Vater merkte nichts davon. Er merkte sehr wenig von praktischen Dingen. Sein Herz weilte im alten Griechenland, und Alexander der Große und Homer waren ihm vertrauter als seine Pfarrkinder.

Von meiner Mutter wußte ich wenig, denn sie war gestorben, als ich zwei Monate alt war. Polly Green war als Ersatz gekommen, aber das war erst, als ich meinen zweiten Geburtstag schon hinter mir und meine erste Bekanntschaft mit dem Gebaren der Framlings gemacht hatte.

Polly mußte ungefähr achtundzwanzig gewesen sein, als sie zu uns kam. Sie war Witwe und hatte sich immer ein Kind gewünscht, und als sie bei mir Mutterstelle vertrat, wurde ich für sie das Kind, das sie nie bekommen hatte. Wir verstanden uns bestens. Ich liebte Polly, und es gab nicht den geringsten Zweifel, daß Polly mich liebte. In die Geborgenheit ihrer Arme flüchtete ich in kritischen Momenten. Wenn der heiße Reispudding in meinen Schoß rann, wenn ich hinfiel und mir die Knie aufschürfte, wenn ich nachts aus Träumen von Kobolden und bösen Riesen erwachte, suchte ich bei Polly Trost. Ein Leben ohne Polly Green konnte ich mir nicht vorstellen.

Sie kam aus London – einer Stadt, die ihrer Meinung nach jeder anderen überlegen war. »Hab’ mich auf dem Land vergraben, alles deinetwegen«, pflegte sie zu sagen. Wenn ich sie darauf hinwies, daß man, um begraben zu sein, unter die Erde auf den Friedhof gehörte, zog sie ein Gesicht und sagte: »Das ist fast dasselbe.« Sie verachtete das Landleben. »Ein Haufen Felder und nichts los. War’ ich bloß in London!« Dann erzählte sie von den Straßen der Großstadt, wo immer »was los« war, von den Märkten, die abends von Petroleumlichtern erhellt waren, von den Ständen, wo sich Obst und Gemüse türmten, alte Kleider und »alles, was man sich denken kann«, und von den vielen Händlern, die auf ihre unnachahmliche Weise ihre Waren feilboten. »Eines schönen Tages nehm’ ich dich mit, dann kannst du’s selbst sehen.«

Polly war die einzige von uns, die wenig Respekt vor Lady Harriet hatte. »Was ist sie denn schon?« fragte sie. »Nichts anderes als wir alle. Bloß daß sie ’nen Titel hat.«

Polly war furchtlos. Sie machte keinen demütigen Knicks. Sie drückte sich nicht an die Hecke, wenn die Kutsche vorüberrollte. Sie faßte meine Hand ganz fest und marschierte entschlossen weiter, ohne nach rechts oder links zu blicken.

Polly hatte eine Schwester, die mit ihrem Mann in London lebte. »Arme Eff«, sagte Polly oft. »Er taugt nichts.« Ich hörte Polly ihn nie anders nennen als »er«, anscheinend war er eines Namens nicht würdig. »Er« war faul und ließ Eff alles machen. »Ich hab’ schon am Tag ihrer Verlobung zu ihr gesagt: ›Du wirst vor Kummer vergehen, wenn du den nimmst, Eff!‹ Aber hat sie auf mich gehört?«

Dann schüttelte ich ernst den Kopf, weil ich das schon öfter vernommen hatte und die Antwort kannte.

Polly war der Mittelpunkt meines jungen Lebens. Durch ihre städtischen Manieren hob sie sich von uns Landbewohnern ab. Pollys Art, die Arme zu verschränken und eine kriegerische Haltung anzunehmen, wenn irgend jemand Anstalten machte, sie anzugreifen, machte sie zu einer furchterregenden Gegnerin. Sie pflegte zu sagen, sie lasse sich »von niemand nichts gefallen«, und wenn ich sie, nachdem meine Gouvernante Miss York mich in die Feinheiten der Grammatik eingeführt hatte, darauf aufmerksam machte, daß eine doppelte Verneinung eine Bejahung ergebe, sagte sie nur: »Willst du vielleicht an mir rumnörgeln?«

Ich liebte Polly innig. Sie war meine Verbündete und gehörte ganz mir. Sie und ich hielten zusammen gegen Lady Harriet und die Welt.

Wir bewohnten die oberen Räume des Pfarrhauses. Mein Zimmer lag neben ihrem; so war es vom Tag ihres Kommens an gewesen, und wir wollten es nie ändern. Es gab mir ein wohliges Gefühl, sie so nahe bei mir zu haben. Das Dachgeschoß hatte noch einen weiteren Raum. Hier fachte Polly ein behagliches Feuer an, und im Winter machten wir Toast und rösteten Kastanien. Ich schaute in die Flammen, während Polly mir Geschichten vom Leben in London erzählte. Ich sah die Marktstände und Eff und »ihn« vor mir und das Häuschen, in dem Polly mit ihrem Mann Tom, einem Matrosen, gewohnt hatte. Ich sah Polly warten, daß er auf Urlaub nach Hause käme mit seiner ausgebeulten Hose und der kleinen weißen Mütze, auf der HMS TRIUMPHANT stand, und seinem weißen Bündel über der Schulter. Ihre Stimme zitterte ein wenig, wenn sie mir erzählte, wie er mit seinem Schiff untergegangen war.

»Nichts geblieben«, sagte sie. »Kein Baby, das mich an ihn erinnert.« Ich wies sie darauf hin, wenn sie ein Baby gehabt hätte, würde sie mich nicht gewollt haben, und darum sei ich froh, daß es so kommen mußte.

Sie hatte Tränen in den Augen, und sagte deshalb forsch: »Nicht doch! Willst du mich auf meine alten Tage weichmachen?« Aber sie umarmte mich trotzdem.

Von unseren Fenstern sahen wir auf den Friedhof hinunter: alte Grabsteine, einige halb verfallen, unter denen die vor langer Zeit Verstorbenen ruhten. Ich las die Inschriften und fragte mich, wie die Menschen, die dort lagen, gewesen sein mochten. Die Buchstaben auf einigen Steinen waren fast unleserlich, so alt waren sie.

Unsere Zimmer waren groß und geräumig und hatten auf zwei Seiten Fenster. Auf der dem Friedhof entgegengesetzten Seite sahen wir auf den Dorfanger mit seinem Teich und den Bänken, wo sich die alten Männer zu treffen pflegten. Manchmal unterhielten sie sich, manchmal starrten sie nur schweigend aufs Wasser, bevor sie zum Wirtshaus schlurften, um ein Glas Bier zu trinken. »Auf der einen Seite der Tod«, sagte ich zu Polly, »und auf der anderen das Leben.«

»Du bist mir ’n komischer Fratz«, erwiderte Polly oft. Jede unübliche Bemerkung von mir veranlaßte sie zu diesem Kommentar.

Unser Haushalt bestand aus meinem Vater, mir, meiner Gouvernante Miss York, Polly, Mrs. Janson, die Köchin und Haushälterin in einer Person war, sowie Daisy und Holly, zwei lebhaften Schwestern, die sich die Hausarbeit teilten. Später erfuhr ich, daß die Gouvernante da war, weil meine Mutter etwas Geld mit in die Ehe gebracht hatte, das für meine Erziehung beiseite gelegt worden war, und ich die bestmögliche Ausbildung bekommen sollte, einerlei, welche Härten deswegen zu erdulden waren.

Ich liebte meinen Vater, aber er war in meinem Leben nicht so wichtig wie Polly. Wenn ich ihn im weißen Chorrock von der Kirche über den Friedhof zum Pfarrhaus gehen sah, das Gebetbuch in der Hand, die feinen weißen Haare vom Wind zerzaust, erwachte in mir der dringende Wunsch, ihn zu beschützen. Er wirkte so verletzlich, so unfähig, für sich selbst zu sorgen. Deshalb war es seltsam, in ihm den Hüter einer frommen Herde zu sehen, zumal diese Lady Harriet mit einschloß. Man mußte ihn an die Mahlzeiten erinnern, ihm sagen, wann er saubere Kleider anziehen mußte, und er verlegte andauernd seine Brille, die sich an den unwahrscheinlichsten Stellen wiederfand. Er kam wegen irgendwas in ein Zimmer und vergaß, was er dort wollte. Auf der Kanzel war er redegewandt, doch ich war überzeugt, daß zumindest die Dorfbewohner seine Anspielungen auf die Klassiker und die alten Griechen nicht verstanden.

»Er würde noch seinen Kopf vergessen, wenn er nicht fest auf seinen Schultern säße«, bemerkte Polly in dem halb liebevollen, halb verächtlichen Ton, den ich so gut kannte. Aber sie hatte meinen Vater gern und hätte ihn notfalls mit ihrer ganzen drastischen Redekunst, die sich zuweilen sehr von unserer Sprache unterschied, verteidigt.

Mit zwei Jahren hatte ich jenes Erlebnis, von dem mir so wenig in Erinnerung geblieben ist. Ich kannte die Geschichte eher vom Hörensagen, doch sie gab mir das Gefühl, irgendwie mit dem großen Haus verbunden zu sein. Wäre Polly damals schon bei mir gewesen, wäre die Geschichte nie passiert, und ich glaube, meinem Vater war aufgrund dieses Vorfalls klargeworden, daß ich ein zuverlässiges Kindermädchen brauchte.

Was damals geschah, gibt Aufschluß über Fabian Framlings Charakter und darüber, wie sehr seine Mutter in ihn vernarrt war. Fabian war damals ungefähr sieben. Lavinia war vier Jahre jünger, und ich, wie gesagt, zwei Jahre alt. Einzelheiten über den Vorfall habe ich aufgrund der Freundschaft zwischen unseren Dienstboten und dem Personal der Framlings erfahren. Mrs. Janson, unsere Köchin und Haushälterin, die uns so treue Dienste leistete und im Haus für Ordnung sorgte, erzählte mir alles.

»Das war die seltsamste Sache, die ich je gehört habe«, sagte sie.

»Dieser junge Master Fabian, Seine Lordschaft, tanzt allen im Haus auf der Nase herum. Lady Harriet glaubt, daß Sonne, Mond und Sterne aus seinen Augen leuchten. Sie läßt nicht zu, daß ihm was in die Quere kommt. Ein kleiner Kaiser ist er, jawohl. Wenn er seinen Willen nicht kriegt, ist der Teufel los. Weiß der Himmel, was aus dem wird, wenn er ’n bißchen älter ist. Also, seine kleine Majestät hat die alten Spiele satt. Er will was Neues, und so bildet er sich ein, er ist ein Vater. Wenn er es sich in den Kopf setzt, dann muß es sein. Die von da oben haben mir erzählt, er verlangt, daß ihm alles gehört, was er haben will. Und das tut keinem gut, laß dir das von mir gesagt sein, Deborah!«

Ich machte ein entsprechend beeindrucktes Gesicht, denn ich wollte unbedingt, daß sie mit ihrer Geschichte fortfuhr.

»Du warst im Pfarrhausgarten und krochst zwischen den Büschen herum. Sie hätten besser auf dich aufpassen sollen. Aber da war diese May Higgs, das flatterhafte Stück. Nichts für ungut, sie hatte kleine Kinder gern, aber damals hatte sie ’ne Liebschaft mit diesem Jim Fellings, und der kam gerade vorbei. Und sie schäkert mit ihm und sieht nicht, was passiert. Master Fabian wollte unbedingt Vater sein, und ein Vater mußte ein Kind haben. Er sah dich und nahm dich mit nach Hause. Du warst sein Baby, und er wollte dein Vater sein.«

Mrs. Janson stemmte die Hände in die Hüften und sah mich an. Ich lachte. Ich fand das sehr lustig. »Weiter, Mrs. Janson! Und was dann?«

»Meine Güte, das war eine schöne Bescherung, als sie merkten, daß du verschwunden warst. Sie konnten sich nicht vorstellen, wo du warst. Dann schickte Lady Harriet nach deinem Vater. Der Ärmste, er war fassungslos. Er nahm May Higgs ins Gebet. Sie war in Tränen aufgelöst und machte sich Vorwürfe, und das mit Recht. Weißt du was, ich glaube, das war der Anfang vom Ende zwischen ihr und Jim Fellings. Sie gab ihm die Schuld. Und im Jahr darauf hat sie Charlie Clay geheiratet.«

»Erzählen Sie mir, wie mein Vater ins große Haus ging, um mich zu holen!«

»Also, da brach ein Sturm los! Ein regelrechter Orkan war das. Master Fabian hat gerast und getobt. Er wollte dich nicht hergeben. Du warst sein Baby. Er wollte dein Vater sein. Wir fielen aus allen Wolken, als der Pfarrer ohne dich zurückkam. Ich fragte ihn: ›Wo ist die Kleine?‹ und er sagte: ›Sie bleibt im großen Haus, bloß für ein, zwei Tage.‹ Ich sagte erschrocken: ›Sie ist doch noch ein Baby.‹ Da sagte er: ›Lady Harriet hat mir versichert, daß gut für sie gesorgt wird. Miss Lavinias Kindermädchen kümmert sich um sie. Es wird ihr an nichts fehlen.‹ Fabian bekam einen solchen Wutanfall, als er glaubte, dich hergeben zu müssen, daß Lady Harriet befürchtete, er würde sich etwas antun. Da sagte ich: ›Lassen Sie sich das von mir gesagt sein, mit diesem Jungen– auch wenn er Lady Harriets Sohn ist – nimmt’s ein schlimmes Ende.‹ Es war mir egal, ob es Lady Harriet hinterbracht wurde, ich mußte es einfach sagen.«

»Und ich bin zwei Wochen im großen Haus geblieben?«

»Allerdings. Es soll richtig komisch gewesen sein, wie Master Fabian dich umsorgte. Er hat dich im Garten in Miss Lavinias Kinderwagen herumgeschoben. Er hat dich gefüttert und angezogen. Sonst hatte er immer wüste Spiele geliebt ... und nun spielte er Familie. Er hätte dich überfüttert, wenn Nanny Cuffley, das Kindermädchen, nicht gewesen wäre. Sie sprach ein Machtwort und trat ausnahmsweise mal energisch auf, und siehe da: er gehorchte. Er muß dich wirklich gerngehabt haben. Weiß der Himmel, wie lange das noch gegangen wäre, wenn Lady Milbanke nicht mit ihrem kleinen Ralph gekommen wäre, der ein Jahr älter war als Master Fabian. Er lachte ihn aus und sagte, das wäre wie mit Puppen spielen; es mache überhaupt keinen Unterschied, daß diese lebendig sei. Das sei etwas für Mädchen. Nanny Cuffley erzählte, Master Fabian habe wirklich einen bedrückten Eindruck gemacht. Er wollte dich nicht hergeben. Aber ich vermute, er hielt es für unvereinbar mit seiner Männlichkeit, sich um ein Baby zu kümmern.«

Ich liebte diese Geschichte und bat Mrs. Janson viele Male, sie zu wiederholen.

Fast unmittelbar nach diesem Vorfall kam Polly zu uns.

Immer, wenn ich Fabian sah – meistens von weitem – betrachtete ich ihn verstohlen, und ich sah vor meinem geistigen Auge, wie er mich zärtlich umsorgte. Es war so komisch, daß ich jedesmal lachen mußte.

Ich bildete mir auch ein, daß er mich sehr merkwürdig ansah, obwohl er immer so tat, als sähe er mich nicht.

Aufgrund unserer Stellung im Dorf – der Pfarrer stand auf einer Stufe mit dem Arzt und dem Rechtsanwalt, wenngleich uns natürlich Abgründe von den Höhen trennten, auf welchen die Framlings residierten – lud man mich, als ich älter wurde, dann und wann ein, mit Miss Lavinia Tee zu trinken.

Obwohl mir die Teestunden selbst keinen rechten Spaß machten, fand ich es doch immer aufregend, in das Haus zu gehen, von dem ich bis dahin wenig gesehen hatte.

Lavinia war hochmütig, überheblich, aber sehr schön. Sie erinnerte mich an eine Tigerin. Sie hatte lohfarbene Haare und goldene Sprenkel in ihren grünen Augen; ihre Oberlippe war kurz, und ihre schönen weißen Zähne standen leicht vor; ihre Nase war klein, die Spitze ganz leicht nach oben gebogen, was ihrem Gesicht einen kecken Zug verlieh. Das Prächtigste war jedoch ihr herrlich üppiges, lockiges Haar. Sie war in der Tat sehr attraktiv.

Die erste Einladung zum Tee bleibt mir unvergeßlich. Miss York begleitete mich. Miss Etherton, Lavinias Gouvernante, begrüßte uns, und sie und Miss York verstanden sich auf Anhieb.

Wir wurden ins Schulzimmer geführt, einen großen Raum mit getäfelten Wänden und Gitterfenstern. In den geräumigen Schränken vermutete ich Schiefertafeln, Griffel und vielleicht Bücher. An dem langen Tisch hatten wohl Generationen von Framlings ihre Lektionen gelernt.

Lavinia und ich betrachteten einander mit einer gewissen Abneigung. Polly hatte mich instruiert, bevor ich ging: »Vergiß nicht, du bist so gut wie sie! Besser, schätz’ ich.« Mit Pollys Worten in den Ohren trat ich Lavinia eher als Feindin denn als Freundin gegenüber.

»Wir trinken im Schulzimmer Tee«, sagte Miss Etherton, »und dann könnt ihr zwei euch kennenlernen.« Sie lächelte Miss York beinahe verschwörerisch zu. Es war klar, daß die beiden sich eine kleine Erholung von ihren Schutzbefohlenen ersehnten. Lavinia führte mich zu einem Fensterplatz, und wir setzten uns.

»Du wohnst in diesem gräßlichen Pfarrhaus«, sagte sie.

»Igitt!«

»Es ist sehr hübsch«, erklärte ich.

»Aber nicht wie hier.«

»Muß es auch nicht, um hübsch zu sein.«

Lavinia machte ein betroffenes Gesicht, weil ich ihr widersprochen hatte, und ich spürte, daß unser Verhältnis zueinander nicht so einfach sein würde, wie das zwischen Miss York und Miss Etherton zu werden versprach.

»Was für Spiele magst du?« fragte sie.

»Oh – Ratespiele. Mit meinem Kindermädchen Polly und mit Miss York. Manchmal tun wir so, als machten wir eine Weltreise und nennen alle Städte, durch die wir kommen.«

»So ein langweiliges Spiel!«

»Gar nicht!«

»Doch«, beharrte sie, als sei dies das letzte Wort in dieser Angelegenheit.

Ein Mädchen mit gestärktem Häubchen und ebensolcher Schürze brachte den Tee. Lavinia flitzte an den Tisch.

»Vergiß deinen Gast nicht«, sagte Miss Etherton. »Deborah, möchtest du dich hierher setzen?«

Es gab Brot mit Butter und Erdbeermarmelade sowie kleine Küchlein mit bunter Glasur.

Miss York beobachtete mich. Ich nahm zuerst Brot und Butter. Es war unhöflich, zuerst nach dem Kuchen zu greifen. Aber Lavinia befolgte die Regeln nicht. Sie nahm sich ein Küchlein. Miss Etherton sah Miss York entschuldigend an, die so tat, als merkte sie nichts. Als ich meine Scheibe Brot mit Butter gegessen hatte, bekam ich Kuchen angeboten. Ich nahm mir ein Stück mit blauer Glasur.

»Das ist das letzte blaue«, verkündete Lavinia. »Das wollte ich haben!«

»Lavinia!« ermahnte sie Miss Etherton.

Lavinia achtete nicht auf sie. Sie sah mich an. Ich wußte, sie erwartete von mir, daß ich ihr das blaue Küchlein gab. Pollys Ermahnung im Ohr, tat ich es nicht. Bedachtsam nahm ich den Kuchen von meinem Teller und biß hinein.

Miss Etherton hob die Schultern und sah Miss York an. Es war eine unbehagliche Teestunde. Ich glaube, Miss York und Miss Etherton waren beide sehr erleichtert, als wir schließlich zum Spielen geschickt wurden.

Ich folgte Lavinia, die mir erklärte, wir würden jetzt Verstecken spielen. Sie zog eine Münze aus ihrer Tasche und sagte: »Wir werfen.« Ich hatte keine Ahnung, was sie meinte. »Du mußt Kopf oder Wappen wählen«, sagte sie.

Ich wählte Kopf.

Sie warf die Münze hoch, und sie landete in ihrer Hand. Sie hielt sie so, daß ich sie nicht sehen konnte, und sagte: »Ich hab’ gewonnen. Das heißt, ich darf wählen. Du versteckst dich, und ich such’ dich. Los, ich zähl’ bis zehn ...«

»Wo ...« begann ich.

»Überall ...«

»Aber das Haus ist so groß, ich kenn’ mich nicht aus.«

»Klar ist es groß. Es ist ja nicht euer dämliches Pfarrhaus.« Sie gab mir einen Schubs. »Los jetzt! Ich fang’ an zu zählen.«

Natürlich, sie war Miss Lavinia vom großen Haus. Sie war ein Jahr älter als ich und kam mir sehr erfahren und vornehm vor, außerdem war ich ein Gast. Miss York hatte mir erklärt, daß Gäste leider oft Dinge tun müßten, die sie lieber nicht tun würden. Dies gehöre zu den Pflichten, die man als Gast habe.

Ich lief aus dem Zimmer, während Lavinia drohend zählte: » ... drei, vier, fünf ...« Es hörte sich an wie das Läuten der Sterbeglocke.

Ich irrte herum. Das Haus schien mich auszulachen. Wo konnte ich mich in einem Gebäude verstecken, dessen Inneres mir unbekannt war?

Ich versuchte es blindlings, kam an eine Tür und öffnete sie. Ich befand mich in einem kleinen Raum. Einige Stühle standen darin, deren Rückenlehnen in blauer und gelber Petit-point-Stickerei gehalten waren. Doch es war die Decke, die meine Aufmerksamkeit fesselte; sie war mit kleinen feisten Amoretten bemalt, die auf Wolken saßen. Dieser Raum hatte eine zweite Tür. Ich ging hindurch und war in einem Flur.

Hier war kein Platz, um sich zu verstecken. Was sollte ich tun? Vielleicht ins Schulzimmer zurückgehen und Miss York sagen, ich wolle nach Hause. Ich wünschte, Polly wäre mit mir gekommen. Sie hätte mich niemals dieser Miss Lavinia auf Gnade und Barmherzigkeit ausgeliefert.

Ich mußte versuchen, den Weg zurück zu finden. Ich drehte mich um und ging, wie ich glaubte, wieder zurück. Ich kam an eine Tür und erwartete, die feisten Amoretten an der Decke zu sehen, aber nein, ich befand mich in einer langen Galerie, deren Wände voll Bilder hingen. An einem Ende war ein Podium, auf dem ein Cembalo und vergoldete Stühle standen.

Ich betrachtete ängstlich die Porträts. Sie wirkten wie lebendige Menschen, die mich streng ansahen, weil ich in ihre Privatsphäre eingedrungen war.

Mir kam es vor, als ob das Haus mich verhöhnte, und wieder wünschte ich, Polly wäre bei mir gewesen. Ich war der Panik nahe und hatte das unbehagliche Gefühl, gefangen zu sein und nie mehr hinauszukommen; ich würde für den Rest meines Lebens durch das Haus irren und den Weg nach draußen suchen.

Am einen Ende der Galerie war eine Tür. Ich öffnete sie und gelangte in einen anderen langen Hur. Vor mir war eine Treppe. Ich konnte nun weitergehen oder in die Galerie zurückkehren. Ich stieg die Treppe hinauf; wieder ein Hur und dann ... eine Tür.

Ich drückte mutig die Klinke und trat in ein kleines, dunkles Zimmer. Trotz meiner wachsenden Angst war ich fasziniert. Der Raum hatte etwas Fremdartiges. Die Vorhänge waren aus schwerem Brokat, und ich nahm einen eigenartigen Geruch wahr. Später erfuhr ich, daß es Sandelholz war. Die geschnitzten Holztische hatten Verzierungen aus Messing. Es war ein aufregender Raum, und für einen Augenblick vergaß ich meine Beklemmung. Auf dem Kaminsims lag ein Fächer. Er war sehr schön mit seinem herrlichen Blauton und den großen schwarzen, kreisrunden Hecken. Ich wußte, was es war, denn ich hatte Bilder von Pfauen gesehen: ein Fächer aus Pfauenfedern. Ich verspürte den Drang, ihn zu berühren. Wenn ich mich auf die Zehenspitzen stellte, konnte ich ihn gerade erreichen. Die Federn waren sehr weich.

Dann sah ich mich um. Da war eine Tür. Ich ging hin. Vielleicht konnte ich jemanden finden, der mir den Weg zum Schulzimmer und zu Miss York zeigte.

Ich öffnete die Tür und spähte vorsichtig in den nächsten Raum.

Eine Stimme sagte: »Wer ist da?«

Ich trat in das Zimmer und sagte: »Ich bin Deborah Delany. Ich bin zum Tee gekommen und hab’ mich verlaufen.«

Ich ging ein Stück weiter. In einem hochlehnigen Sessel saß eine alte Dame. Sie hatte eine Decke über den Knien, woraus ich schloß, daß sie krank war. Neben ihr stand ein Tisch, übersät mit Papieren, die wie Briefe aussahen.

Sie musterte mich, und ich erwiderte tapfer ihren Blick. Ich konnte nichts dafür, daß ich mich verlaufen hatte. Ich war nicht behandelt worden, wie es sich für einen Gast geziemte.

»Warum bist du zu mir gekommen, Kleine?« fragte sie mit hoher Stimme. Die Frau war sehr blaß, und ihre Hände zitterten. Einen Moment lang hielt ich sie für ein Gespenst.

»Ich wollte nicht zu Ihnen. Wir spielen Verstecken, und ich hab’ mich verlaufen.«

»Komm her, Kind!«

Ich ging zu ihr.

Sie sagte: »Dich habe ich noch nie gesehen.«

»Ich wohne im Pfarrhaus. Ich bin zu Lavinia zum Tee gekommen, und dies soll ein Versteckspiel sein.«

»Mich kommt nie jemand besuchen.«

»Das tut mir leid.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich lese seine Briefe«, sagte sie dann.

»Er war einfach wunderbar. Es war Schicksal. Ich habe ihn vernichtet. Es war meine Schuld. Ich hätte es wissen müssen. Ich war gewarnt ...«

Sie war die merkwürdigste Person, der ich je begegnet war. Ich hatte immer gespürt, daß sich in diesem Haus seltsame Dinge zutragen würden.

Ich sagte, ich müsse ins Schulzimmer zurück. »Sie werden sich fragen, wo ich geblieben bin. Und es ist nicht sehr höflich, wenn Gäste in Häusern herumspazieren, nicht wahr?«

Sie streckte eine Hand aus, die mir wie eine Klaue vorkam, und packte mein Handgelenk. Ich wollte schon um Hilfe rufen, als die Tür aufging und eine Frau hereintrat. Ihre Erscheinung erschreckte mich. Sie war keine Engländerin. Sie hatte sehr dunkle Haare und tiefliegende schwarze Augen; sie trug ein Gewand, das, wie ich später erfuhr, ein Sari war. Es war von einem ähnlichen Dunkelblau wie der Fächer, und ich fand es schön.

Sie bewegte sich sehr graziös und sagte in einem angenehmen Singsang: »Ach du liebe Zeit! Miss Lucille, was ist das? Und wer bist du, Kleine?«

Ich erklärte, wer ich war und wie ich hierhergekommen war.

»Oh, Miss Lavinia ... aber das ist sehr, sehr ungezogen von ihr, dich so zu behandeln. Verstecken spielen!« Sie hob die Hände.

»Und das in diesem Haus ... und du findest Miss Lucille. Hier kommen nie Leute her. Miss Lucille ist gern allein.«

»Es tut mir leid, es war keine Absicht.«

Sie klopfte mir auf die Schulter. »O nein, nein, es war die ungezogene Miss Lavinia. Eines Tages ...« Sie schürzte die Lippen, dann legte sie die Handflächen aneinander und blickte einen Moment zur Decke. »Aber du mußt zurück. Ich zeig’ dir den Weg. Komm mit!«

Sie nahm meine Hand und drückte sie begütigend.

Ich sah Miss Lucille an. Tränen liefen ihr langsam über die Wangen.

»Dieser Teil des Hauses ist für Miss Lucille«, wurde ich belehrt.

»Ich wohne hier bei ihr. Wir sind hier ... und nicht hier ... verstehst du?«

Ich verstand sie nicht, aber ich nickte.

Wir gingen durch die Galerie zurück und dann durch Räume, die ich vorher nicht gesehen hatte. Es dauerte nicht lange, bis wir beim Schulzimmer anlangten.

Die Frau öffnete die Tür. Miss York und Miss Etherton waren ins Gespräch vertieft. Von Lavinia war nichts zu sehen. Sie erschraken, als sie mich sahen.

»Was ist passiert?« fragte Miss Etherton.

»Sie spielen Verstecken. Die Kleine hier ... in einem Haus, das sie nicht kennt. Sie hat sich verlaufen und kam zu Miss Lucille.«

»Oh, das tut mir sehr leid«, sagte Miss Etherton. »Miss Lavinia hätte besser auf ihren Gast aufpassen sollen. Danke, Ayesha!«

Ich lächelte die Frau an. Ich mochte ihre sanfte Stimme und ihre gütigen, schwarzen Augen. Sie erwiderte mein Lächeln und entfernte sich anmutig.

»Ich hoffe, Deborah hat nicht ... hm ...« begann Miss York verlegen.

»O nein. Miss Lucille wohnt separat mit ihrem Personal ... alles Inder. Sie war dort, wissen Sie. Die Familie hat Verbindungen zur Ostindischen Kompanie. Miss Lucille ist ein bißchen ... seltsam geworden.«

Beide Gouvernanten sahen mich an, und ich vermutete, die Angelegenheit würde weiter besprochen, sobald sie allein waren.

Ich sagte zu Miss York: »Ich will nach Hause.«

Sie machte ein verdutztes Gesicht, aber Miss Etherton schenkte ihr ein verständnisvolles Lächeln.

»Nun«, meinte Miss York, »ich denke, es wird Zeit.«

»Wenn Sie müssen ...«, erwiderte Miss Etherton. »Ich möchte nur wissen, wo Miss Lavinia steckt. Sie sollte doch ihren Gast verabschieden.«

Lavinia fand sich ein, bevor wir aufbrachen.

Ich sagte kühl: »Danke.«

Sie antwortete: »Es war blöd von dir, dich zu verlaufen. Aber du bist ja auch Häuser wie dieses nicht gewöhnt, nicht?«

Miss Etherton sagte: »Ich bezweifle, daß es noch so ein Haus wie dieses gibt, Lavinia. Aber du, Deborah, mußt wiederkommen.«

Miss York und ich gingen, Miss Yorks Lippen waren geschürzt. Doch sie sagte zu mir: »Ich möchte nicht in Miss Ethertons Haut stecken, nach dem, was sie mir erzählt hat ... Und der Junge ist noch schlimmer.« Dann besann sie sich, mit wem sie sprach, und sagte, es sei wirklich ein sehr angenehmer Besuch gewesen.

Das konnte ich nicht finden. Aber ich hatte zumindest Aufregendes erlebt, das ich nicht so leicht vergessen sollte.

Obgleich ich auf keinen weiteren Besuch im großen Haus erpicht war, hielt die Faszination, die es auf mich ausübte, unvermindert an. Immer, wenn ich vorüberkam, machte ich mir Gedanken über die seltsame alte Dame und ihre Gefährtin. Die Neugier nagte an mir, denn ich war von Natur aus wißbegierig; diesen Charakterzug hatte ich mit Polly gemein.

An manchen Tagen, wenn mein Vater nicht beschäftigt war, ging ich in sein Studierzimmer. Das war immer gleich nach dem Tee. Ich hatte oft das Gefühl, eins von den Dingen wie seine Brille zu sein, die er von Zeit zu Zeit vergaß. Wenn er seine Brille brauchte, suchte er sie, und wenn ihn das väterliche Pflichtgefühl überkam, erinnerte er sich an mich.

Seine Vergeßlichkeit hatte etwas Liebenswertes. Er war immer zärtlich zu mir, und ich war überzeugt, wäre er nicht so sehr mit dem Trojanischen Krieg befaßt gewesen, hätte er sich öfter an mich erinnert.

Mit ihm zu reden war wie ein Spiel, weil es stets sein Ziel war, auf ein klassisches Thema zu sprechen zu kommen, meines jedoch, ihn davon abzulenken.

Er fragte immer nach meinen Fortschritten im Unterricht und ob ich mich gut mit Miss York verstünde. Ich fand, daß ich ganz gut vorankam und sagte ihm, Miss York scheine zufrieden.

Da nickte er lächelnd. »Sie findet dich ein wenig impulsiv«, sagte er dann. »Ansonsten hat sie eine gute Meinung von dir.«

»Vielleicht findet sie mich impulsiv, weil sie es nicht ist.«

»Möglicherweise. Aber du mußt lernen, nicht unbesonnen zu sein. Denke an Phaethon!«

Ich wußte nicht recht, wer Phaethon war, aber wenn ich fragte, würde er sich des Gesprächs bemächtigen, und Phaethon konnte zu einer anderen Persönlichkeit aus den alten Zeiten führen, wo die Menschen sich in Lorbeer und alle möglichen Pflanzen verwandelten und die Götter Schwäne und Stiere wurden, um Sterbliche zu umwerben. Mir kam dieses Verhalten sehr merkwürdig vor, und ich glaubte ohnehin nicht daran.

»Vater«, fragte ich, »weißt du etwas über Miss Lucille Framling?«

Seine Augen nahmen einen verschwommenen Ausdruck an. Er griff nach seiner Brille, als könne sie ihm dazu verhelfen, die Dame zu sehen.

»Ich hörte Lady Harriet einmal etwas sagen ... Jemand in Indien, glaube ich.«

»Sie hat eine indische Dienerin. Ich hab’ sie gesehen. Ich hab’ mich beim Versteckspielen verlaufen, und da fand ich sie. Die Inderin hat mich wieder zu Miss York gebracht. Es war ziemlich aufregend.«

»Ich wußte, daß die Framlings irgendwelche Verbindungen zu Indien haben, die Ostindische Kompanie, vermute ich.«

»Ich möchte wissen, warum sie so abgeschieden in einem Fügel des Hauses lebt.«

»Ich meine gehört zu haben, daß sie ihren Geliebten verloren hat. Das kann sehr traurig sein. Denke an Orpheus, der in die Unterwelt ging, um Eurydike zu suchen!«

Ich war so mit Miss Lucille Framlings Geheimnis beschäftigt, daß ich meinen Vater diese Runde gewinnen ließ. So verging die restliche Zeit mit Orpheus und seiner Reise in die Unterwelt, wo er seine Gemahlin wiederfinden wollte, die ihm am Hochzeitstag entrissen worden war.

Trotz des unglücklichen Beginns machte meine Bekanntschaft: mit Lavinia Fortschritte, und obwohl zwischen uns stets eine gewisse Distanz bestand, fühlte ich mich doch zu ihr und vielleicht vor allem zum großen Haus hingezogen, wo alles mögliche passieren konnte. Ich betrat es nie ohne das Gefühl, daß ich mich auf ein Abenteuer einließ.

Auch Polly hatte ich von dem Versteckspiel erzählt, und davon, wie ich die alte Dame getroffen hatte.

»Na, so was!« sagte sie. »Das ist mir ’ne nette kleine Madam! Hat keine Ahnung, wie man Gäste behandelt, das ist mal sicher. Und so was nennt sich ’ne Dame!«

»Sie hat gesagt, das Pfarrhaus ist klein.«

»Die würd’ ich gern mal Kohlen die Treppen raufschleppen lassen.«

Bei dieser Vorstellung mußte ich lachen.

Polly tat mir wohl. »Du hast mehr von ’ner kleinen Dame als sie«, sagte sie. »Das ist mal sicher. Biete ihr nur die Stirn. Sag ihr deine Meinung, und wenn’s ihr nicht paßt, schadet’s nicht, oder? Schätze, du könntest dich mit mir anderswo amüsieren ... besser als in dem alten Kasten. Höchste Zeit für den Abbruchunternehmer, wenn du mich fragst.«

»Aber Polly, es ist ein wunderbares Haus!«

»Nur schade, daß seine Bewohner nicht wissen, was sich gehört.«

Ich dachte stets an Polly, wenn ich in das Haus ging. Du bist ebenso gut wie die, ermahnte ich mich. Im Unterricht war ich sogar besser. Das war Mrs. Janson entschlüpft. Ich hatte sie sagen hören, daß Miss Lavinia Miss Etherton das Leben ganz schön schwer mache und sich weigere zu lernen, wenn sie keine Lust hatte, so daß die junge Dame etliche Jahre hinter manch anderer zurück sei. Ich wußte, wer mit »manch anderer« gemeint war, und das machte mich ziemlich stolz. Es tat gut, sich in Lavinias Gegenwart an dieses Wissen zu erinnern. Überdies wußte ich mich besser zu benehmen als sie. Aber vielleicht wußte sie es auch und weigerte sich nur, sich so zu verhalten, wie man es ihr beigebracht hatte. Ich war inzwischen lange genug mit Lavinia zusammen, um zu wissen, daß in ihr eine Rebellin steckte. Und mit Pollys Ermahnung, Lavinia alles mit gleicher Münze heimzuzahlen, fühlte ich mich nicht ganz so verwundbar wie am Anfang.

Mein Vater sagte ständig, jegliches Wissen sei gut, und man könne nie genug erfahren. Miss York pflichtete ihm bei. Doch etwas gab es, das ich lieber nicht erfahren hätte.

Lady Harriet hatte meine Freundschaft mit Lavinia lächelnd gutgeheißen, und deshalb mußte sie fortgesetzt werden. Lavinia lernte reiten, und Lady Harriet meinte, ich solle an ihren Reitstunden teilnehmen. Mein Vater war hocherfreut, und so ritt ich mit Lavinia. Unter dem wachsamen Auge des ersten Stallburschen Joe Cricks umrundeten wir endlos die Koppel.

Lavinia ritt gern und stellte sich daher recht geschickt an. Es machte ihr einen Riesenspaß zu demonstrieren, wieviel geschickter sie war als ich. Sie war verwegen und befolgte die Anweisungen nicht, wie ich es tat. Der arme Joe Cricks bekam es wirklich mit der Angst, wenn sie seine Instruktionen mißachtete, und bald schon verlangte sie von ihm, sie ohne Leitzügel reiten zu lassen.

»Wenn Sie sich auf Ihrem Tier wohl fühlen wollen«, sagte Joe Cricks, »dürfen Sie keine Angst vor ihm haben. Zeigen Sie ihm, wer die Herrin ist! Andererseits kann es gefährlich sein.«

Lavinia schüttelte ihre lohfarbenen Haare. Sie liebte diese Geste. Ihre Haare waren wirklich prachtvoll, und sie erregte Aufmerksamkeit mit ihnen.

»Ich weiß schon, was ich tue, Cricks«, sagte sie.

»Ich hab’ nicht behauptet, daß Sie das nicht wüßten, Miss Lavinia. Ich sag’ ja bloß, daß ... Sie müssen auch mit dem Pferd rechnen, nicht nur mit sich selbst. Sie mögen ja wissen, was Sie tun, aber Pferde, das sind nervöse Geschöpfe. Die setzen sich was in den Kopf, was Sie nicht erwarten.«

Lavinia tat weiterhin, was sie wollte, und ihre Kühnheit und die Zuversicht, es besser zu wissen als sonst jemand, führten sie ans Ziel.

»Sie wird mal eine gute Reiterin«, fand Joe Cricks. »Das heißt, wenn sie nicht zuviel wagt. Miss Deborah dagegen, die ist eher vorsichtig. Mit der Zeit wird’s schon werden ... und dann wird sie richtig gut.«

Ich liebte die Reitstunden, wenn ich um die Koppel trabte, und dann erst die Aufregung beim ersten Galopp.

Es geschah an einem Nachmittag. Unser Reitunterricht war zu Ende, und wir hatten die Pferde in den Stall gebracht. Lavinia stieg ab und warf dem Stallburschen die Zügel zu. Ich blieb immer gerne noch ein paar Minuten da, um das Pferd zu streicheln und ihm zuzureden, wie Joe es uns beigebracht hatte. »Vergessen Sie das nie!« sagte er. »Behandeln Sie Ihr Pferd gut, dann behandelt es Sie auch gut. Pferde sind wie Menschen. Daran müssen Sie immer denken!«

Ich kam aus dem Stall und ging über den Rasen zum Haus. Dort sollte ich mich im Schulzimmer zum Tee mit Lavinia einfinden. Miss York war schon da und genoß ihr Tête-à-tête mit Miss Etherton.

Im Haus waren Gäste. Das kam oft vor, aber wir hatten nichts mit ihnen zu tun. Wir bekamen Lady Harriet kaum zu sehen – und dafür war ich äußerst dankbar.

Ich mußte am Fenster des Salons vorüber, das offenstand, und ich erhaschte einen Blick auf ein Stubenmädchen, das mehreren Leuten Tee servierte. Ich ging eilends vorüber, den Blick abgewendet. Dann blieb ich stehen, um zu dem Flügel des Hauses hinaufzusehen, in dem sich Miss Lucilles Räume befinden mußten.

Da hörte ich eine Stimme aus dem Salon. »Was ist das für ein unansehnliches Kind, Harriet?«

»Oh ... du meinst die Pfarrerstochter. Sie ist ziemlich oft hier, um Lavinia Gesellschaft zu leisten.«

»So ein Gegensatz zu Lavinia! Aber Lavinia ist ja auch zu schön.«

»O ja ... Weißt du, es gibt hier so wenig Leute, und ich höre von der Gouvernante, daß sie ein sehr nettes Kind ist. Und es tut Lavinia gut, dann und wann Gesellschaft zu haben. Wie gesagt, es gibt nicht viele Leute hier. Wir müssen uns mit dem begnügen, was wir bekommen können.«

Ich starrte vor mich hin. Das unansehnliche Kind war ich, und ich war hier, weil sie nichts anderes bekommen konnten. Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Gewiß, meine Haare waren von einem undefinierbaren Braun, glatt und kaum zu bändigen, ganz im Gegensatz zu Lavinias lohfarbener Pracht, und meine Augen hatten überhaupt keine Farbe. Sie waren wie Wasser, und wenn ich Blau trug, waren sie bläulich, trug ich Grün, waren sie grünlich, trug ich aber Braun, waren sie gänzlich farblos. Ich hatte einen großen Mund und eine ganz gewöhnliche Nase. Das war also unansehnlich! Und Lavinia war natürlich schön.

Mein erster Gedanke war, ins Schulzimmer zu gehen und zu verlangen, sofort nach Hause gebracht zu werden. Ich war ganz durcheinander. Ich hatte einen dicken Klumpen in der Kehle. Aber ich weinte nicht. Weinen tat ich bei oberflächlicheren Emotionen. Nun jedoch war etwas in meinem Inneren zutiefst verletzt, und ich glaubte, die Wunde würde mir ewig bleiben.

»Du kommst zu spät«, begrüßte mich Lavinia.

Ich gab ihr keine Erklärung. Ich wußte, wie sie reagiert hätte. Ich betrachtete sie von neuem. Kein Wunder, daß sie sich schlecht benehmen konnte. Sie war so schön, daß es den Leuten nichts ausmachte.

Polly fiel am Abend meine Verstimmung natürlich auf. »Sag, willst du’s mir nicht lieber erzählen?«

»Was, Polly?«

»Warum du ein Gesicht machst wie sieben Tage Regenwetter.«

Gegen Polly war ich machtlos, deshalb erzählte ich ihr alles. »Ich bin unansehnlich, Polly. Und das heißt häßlich. Und ich bin bloß ins große Haus eingeladen, weil’s hier niemand besseren gibt.«

»So ’n Haufen Unsinn hab’ ich noch nie gehört. Du bist nicht unansehnlich. Du bist, was man interessant nennt, und das ist auf lange Sicht viel besser. Und wenn du nicht in das große Haus gehen willst, dann sorg’ ich dafür, daß du’s bleiben lassen kannst. Ich geh’ zum Pfarrer und sag’ ihm, daß Schluß sein muß. Nach dem, was ich so höre, bist du ohne die auch nicht schlechter dran.«

»Wie unansehnlich bin ich, Polly?«

»So unansehnlich wie ein Weihnachtspudding.«

Da mußte ich lächeln.

»Du hast ein Gesicht, daß die Leute stehenbleiben und genauer hingucken. Und diese Lavinia, oder wie die sich nennt, ich kann sie gar nicht hübsch finden, wenn sie ’n finsteres Gesicht macht, und du meine Güte, das macht sie oft. Ich will dir was sagen: Sie wird Krähenfüße um die Augen und tiefe Falten im ganzen Gesicht haben, wenn sie so weitermacht. Und ich sag’ dir noch was: Wenn du lächelst, strahlt dein ganzes Gesicht, dann bist du ’ne richtige Schönheit, jawohl!«

Polly gelang es, mich aufzuheitern, und nach einer Weile vergaß ich, daß ich unansehnlich war, und da das große Haus mich nach wie vor anzog, versuchte ich, nicht daran zu denken, daß man mich nur ausgesucht hatte, weil niemand besseres zu haben war.

Ab und an erhaschte ich einen Blick auf Fabian, allerdings nicht oft. Immer wenn ich ihn sah, dachte ich daran, wie er mich zu seinem Baby gemacht hatte. Er mußte sich gewiß daran erinnern, denn er war damals schon sieben gewesen.

Er war die meiste Zeit im Internat und kam oft auch in den Ferien nicht nach Hause, sondern verbrachte sie bei einem Schulfreund. Manchmal kamen seine Schulfreunde auch ins große Haus, aber sie beachteten uns kaum.

Einmal – ich glaube, es war Ostern – war Fabian in den Ferien daheim. Bald nachdem Miss York und ich zum Tee gekommen waren, begann es zu regnen. Lavinia und ich überließen die Gouvernanten bald ihrem üblichen Plausch und überlegten gerade, was wir tun sollten, als die Tür aufging und Fabian hereinkam.

Er sah Lavinia ziemlich ähnlich, war jedoch viel größer und wirkte sehr erwachsen. Er war vier Jahre älter als seine Schwester, und da ich noch nicht ganz sieben war, kam er mir mit seinen zwölf Jahren ungeheuer reif vor.

Lavinia trat zu ihm und hängte sich bei ihm ein, als wollte sie sagen: Das ist mein Bruder. Du kannst wieder zu Miss York gehen. Ich brauch’ dich jetzt nicht mehr.

Er sah mich seltsam an, und ich merkte, daß er sich erinnerte. Ich war das Kind, das er für sein eigenes gehalten hatte. Eine solche Episode mußte sich auch jemandem, der so weltgewandt war wie Fabian, eingeprägt haben.

»Bleibst du bei mir?« bat ihn Lavinia. »Sagst du mir, was wir anfangen können? Deborah hat so blöde Ideen. Sie mag nur so kluge Spiele. Miss Etherton sagt, sie weiß mehr als ich ... von Geschichte und so.«

»Sie muß nicht viel wissen, um mehr zu wissen als du«, sagte Fabian, eine Bemerkung, die, hätte sie jemand anders geäußert, bei Lavinia einen Wutanfall hervorgerufen hätte. Aber weil Fabian es gesagt hatte, kicherte sie vergnügt. Es war für mich eine regelrechte Offenbarung, daß es außer Lady Harriet einen Menschen gab, vor dem Lavinia Respekt hatte.

Er sagte: »Geschichte ... Ich liebe Geschichte, die Römer und alles. Sie hatten Sklaven. Wir machen ein Spiel.«

»O Fabian, wirklich?«

»Ja, ich bin ein Römer, sagen wir, der Cäsar.«

»Welcher?« fragte ich.

Er überlegte. »Julius ... oder vielleicht Tiberius.«

»Der war sehr grausam zu den Christen.«

»Du brauchst keine christliche Sklavin zu sein. Ich bin Julius Cäsar. Ihr seid meine Sklavinnen, und ich stell’ euch auf die Probe.«

»Ich bin deine Königin, oder was so ein Cäsar hat«, verkündete Lavinia. »Deborah kann unsere Sklavin sein.«

»Du bist auch eine Sklavin«, sagte Fabian zu Lavinias Verdruß und meiner Freude.

»Ich stell’ euch Aufgaben, die euch unmöglich erscheinen. Das ist, um euch zu prüfen und zu sehen, ob ihr es wert seid, meine Sklavinnen zu sein. Ich werde sagen, bringt mir die goldenen Äpfel der Hesperiden oder so was.«

»Wie können wir sie bekommen?« fragte ich. »Sie sind in den griechischen Legenden. Mein Vater spricht immer davon. Es gibt sie nicht wirklich.«

Lavinia wurde ungeduldig, weil ich, die unansehnliche Außenstehende, zu viel redete.

»Ich stelle euch die Aufgaben, und ihr müßt sie ausführen, oder ihr bekommt meinen Zorn zu spüren.«

»Aber keine, bei denen wir in die Unterwelt gehen und Menschen rausholen müssen, die tot sind oder so was«, sagte ich.

»So etwas werde ich euch nicht befehlen. Die Aufgaben werden schwierig sein ... aber lösbar.«

Er verschränkte die Arme vor der Brust und schloß die Augen, wie in Gedanken vertieft. Dann sprach er, als sei er das Orakel, von dem mein Vater hin und wieder erzählte. »Lavinia, du bringst mir den silbernen Kelch. Er hat eingravierte Akanthusblätter.«

»Das kann ich nicht«, sagte Lavinia. »Der ist in dem Zimmer, in dem es spukt.«

Nie hatte ich Lavinia so bestürzt gesehen, und es erstaunte mich, daß ihr Bruder in der Lage war, ihr das Aufsässige auszutreiben.

Er wandte sich zu mir. »Du bringst mir einen Fächer aus Pfauenfedern. Wenn meine Sklavinnen zu mir zurückkehren, wird der Kelch mit Wein gefüllt, und während ich trinke, wird meine Sklavin mir mit dem Pfauenfedernfächer Luft zufächeln.«

Meine Aufgabe kam mir nicht so schwer vor. Ich wußte, wo ein Pfauenfedernfächer zu finden war. Ich kannte mich unterdessen im Haus besser aus und würde den Weg zu Miss Lucilles Gemächern unschwer finden. Ich konnte in das Zimmer schleichen, in dem der Fächer lag, ihn nehmen und Fabian bringen. Ich wollte es so rasch tun, daß er mich für die prompte Erledigung lobte, während die arme Lavinia allen Mut zusammennehmen mußte, um das Spukzimmer zu betreten.