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Inhaltsverzeichnis

Titelei
Impressum
Prolog
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Epilog
Historischer Hintergrund des Romans
Danksagung
Über die Autorin

Danksagung

Herzlich danken möchte ich Herrn Stefan Wendel für seine feinfühlige Kritik und seine konstruktiven Anregungen sowie Herrn Markus Michalek und Herrn Roman Hocke von der Literaturagentur AVA international für ihre Unterstützung.

 

 

Ein Riesendankeschön geht an meine Freunde Hubert, Pé, Lilly, Leon, Margot, Thomas und alle anderen, die mich während des Schreibens ertragen und manchmal sogar bekocht haben. Ich liebe Euch alle!

Annabelle Tilly

Über die Autorin

Annabelle Tilly war schon als Kind vom Zauber und der Magie der Vergangenheit fasziniert. Nach dem Studium der Pharmazie und der Geschichte entschied sie sich – gegen alle Vernunft – dafür, historische Romane zu schreiben. Exakt recherchierte Fakten und spannende, fantasievolle Fiktionen miteinander zu verbinden, ist ihre große Leidenschaft.

Epilog

Paris, Jardin du Luxembourg, Mai 1780

Der gut aussehende, adrett gekleidete Marquis Louis Fabien beobachtete fasziniert die junge Frau, die gerade vom Hauptweg des Jardin du Luxembourg in das zauberhafte Rosenrondell einbog und sich auf einer Parkbank schräg gegenüber niederließ.

Sie nickte kurz freundlich in seine Richtung und holte dann eine gefaltete Gazette de France aus ihrer Tasche.

Wie ungewöhnlich, dachte er sich. Eine Frau ganz ohne Begleitung am helllichten Tag im Park, die noch dazu Zeitung liest!

Er versuchte sich wieder auf seine Lektüre zu konzentrieren, aber immer wieder wurde sein Blick magnetisch von der schönen Mademoiselle angezogen. Hinter seinem Buch versteckt, nahm er sie genauer in den Blick.

Das elegante gelb-schwarze Kleid, welches sie trug, hatte schon bessere Tage gesehen. Es war nicht nur etwas aus der Mode gekommen, sondern auch an manchen Stellen ausgebleicht. Am Mittelfinger ihrer rechten Hand sah er einen befremdend scheußlichen Silberring, der so gar nicht zu ihrer Gesamterscheinung passen wollte. Ihre schwarzen Locken hatte sie zu einem strengen Knoten hochgesteckt, so wie die Gouvernanten ihr Haar oft trugen.

Der Marquis ließ seinen Blick wohlwollend über ihre mädchenhafte Figur wandern. Auch ihr Gesicht war außergewöhnlich hübsch. Hohe Wangenknochen, große braune Augen, ein sinnlicher Mund. Plötzlich lachte die Unbekannte freudig auf. Dann vertiefte sie sich wieder in ihren Lesestoff.

Louis Fabien überlegte sich gerade, ob er aufstehen sollte, um sich der jungen Dame vorzustellen, als sie ihren Blick plötzlich hob und ihn übers ganze Gesicht lächelnd anstrahlte. Sein Herz machte einen Sprung. Noch nie hatte ihn jemand so voller Freude angesehen.

Er schlug sein Buch zu und wollte sich erheben, als er enttäuscht bemerkte, dass das glückliche Lächeln gar nicht ihm gegolten hatte.

Ein großer, schlanker Mann war plötzlich, wie aus dem Nichts, hinter ihm aufgetaucht und schritt jetzt auf die attraktive Frau zu. Er war auffallend schlicht und ganz in Schwarz gekleidet. Die schöne Dame klemmte sich die Zeitung hastig unter ihren rechten Arm und rannte dem Mann entgegen.

„Gianfranco, Gianfranco! Du wirst nicht glauben, was ich gerade in der Zeitung gelesen habe!“

Der Marquis Fabien hörte erstaunt, dass die Fremde Italienisch sprach. Er verstand jedes Wort. Er beobachtete, wie sie die Zeitung aufklappte und mit lauter Stimme in fließendem Französisch vorlas:

Der Pariser Operndirektor gibt voller Stolz bekannt, dass es ihm gelungen ist, für die kommende Saison den berühmten Tenor Marcello Magnifico aus Mailand zu engagieren. Unsere Stadt darf sich glücklich schätzen, den Sänger und seine bezaubernde Gattin Tiziana bald in Paris willkommen heißen zu dürfen.

Hastig schlug sie die Zeitung wieder zu. Dann rief sie mit sich überschlagender Stimme: „Ich kann es nicht glauben: Marcello und Tiziana haben geheiratet! Und sie kommen nach Paris!“

Mit Bedauern sah der Marquis, wie sich das Paar langsam von ihm entfernte. Er konnte nicht mehr hören, wie das Gespräch weiterging.

„Mon dieu, was für eine hinreißende Frau. Ein Jammer, dass sie schon vergeben ist!“

Historischer Hintergrund des Romans

Die Schlangenmaske spielt während des Baus der Mailänder Scala (1776 – 1778).

Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts ist eine außergewöhnlich spannende Epoche. Das Aufeinandertreffen von traditionellen Gedankenwelten mit der beginnenden Aufklärung fasziniert. Der Absolutismus befindet sich in Auflösung, das Bürgertum gewinnt an Selbstbewusstsein. Das Loslassen von Altem und die Angst vor dem Mut zu Neuem spiegeln sich sowohl in den bildenden Künsten als auch in den inneren Konflikten der historischen und fiktiven Personen.

Daten und Fakten

Im Februar des Jahres 1776 brannte in Mailand das Teatro Regio Ducale unter bis heute ungeklärten Umständen ab. Daraufhin entschied Kaiserin Maria Theresia von Österreich, ein neues Opernhaus bauen zu lassen. Sie hoffte dadurch den lombardischen Widerstandsgeist gegen ihre Herrschaft im Keim zu ersticken.

Die baufällige Kirche Santa Maria alla Scala wurde abgerissen, um Platz für den Opernneubau zu schaffen. Zum Architekten der Oper ernannte die Kaiserin Giuseppe Piermarini. Maria Theresia war von den modernen Bauplänen so begeistert, dass sie im Verlauf der Bauarbeiten die Kosten für die Außenfassade und das Dach übernahm. In der – selbst für heutige Verhältnisse – rekordverdächtigen Zeit von nur dreiundzwanzig Monaten wurde die Mailänder Scala errichtet.

Erzherzog Ferdinand, ein Sohn Maria Theresias, war zu dieser Zeit Statthalter der Lombardei und hatte seine Residenz in Mailand. In einem Seitenflügel seiner Residenz befand sich das Teatro Regio Ducale, das bis auf seine Grundmauern abbrannte.

Während sich Maria Theresia auf den modernen Architekten Piermarini festlegte, blieb sie bei ihrer musikalischen Wahl mit Antonio Salieri als Komponist der Eröffnungsoper eher konservativ.

Am 3. August 1778 fand die feierliche Eröffnung der Scala mit Salieris Oper L’Europa riconosciuta statt. Die Oper wurde fulminant gefeiert und gilt bis heute als eine der am schwierigsten zu singenden Kompositionen überhaupt (erst im Jahr 2004 wagte sich Ricardo Muti bei der feierlichen Wiedereröffnung der umgebauten Scala an eine erneute Aufnahme der Oper).

Anmerkung: der ursprüngliche Name des neuen Opernhauses war Nuovo Regio Ducal Teatro alla Scala. Der Einfachheit halber habe ich den Namen in Teatro alla Scala geändert, so wie die Scala heute genannt wird.

Historische Personen im Roman

Kaiserin Maria Theresia von Österreich (1717 – 1780), Mutter von sechzehn Kindern, davon haben zehn das Erwachsenenalter erreicht. Letzte absolutistische Herrscherin.

 

Wenzel Anton Fürst von Kaunitz (1711-1794), war ein österreichischer Staatsmann des aufgeklärten Absolutismus

 

Giuseppe Piermarini (1734 – 1808), Architekt des aufkommenden Klassizismus. Ihm ist mit dem Bau der Mailänder Scala ein bis heute unerreichtes Wunderwerk der Akustik geglückt. Mit seiner Architektur war er der damaligen Zeit an Kreativität und Originalität um Meilen voraus. Er musste sich gegen die Widerstände, die sein Entwurf provozierte, behaupten. Piermarini wurde zudem auf Geheiß Maria Theresias Professor für Architektur an der von der Kaiserin gegründeten Akademie der schönen Künste in Mailand und zum Hofarchitekten ernannt.

 

Erzherzog Ferdinand (1754 – 1806), drittjüngster Sohn Maria Theresias, seit 1771 in Mailand mit Maria Beatrice d’Este (1750 – 1829) verheiratet. Wie detailliert sich die Kaiserin in Ferdinands Leben und Amtsführung einmischte, zeigt der im Roman im 15. Kapitel auszugsweise zitierte Brief, dessen Original sich im Wiener Staatsarchiv befindet.

 

Maria Gaetana Agnesi (1718 – 1799), Mathematikerin, Philanthropin und Nonne. Als mathematisches Wunderkind gefeiert, reiste sie mit ihrem Vater durch Europa. Nach dem Tod des Vaters widmete sie sich ausschließlich karitativen Aufgaben. Sie war bis ins hohe Alter Leiterin eines Waisenhauses, Hospizes und Altenheims in Mailand.

 

Antonio Salieri (1750 – 1825), Komponist der Eröffnungsoper der Mailänder Scala. Die unerwartete Unterstützung der Kaiserin Maria Theresia beflügelte seine Schaffenskraft, und es gelang ihm, während eines längeren Italienaufenthalts eine fulminant gefeierte Eröffnungsoper für die Scala zu komponieren.

 

Franziska Lebrun-Danzi (1756-1791), überaus erfolgreiche deutsche Sopranistin, die in ganz Europa begeisterte.

 

Gaspare Pacchierotti (1740-1821) umjubelter Mezzosoprankastrat, der als einer der berühmtesten Sänger seiner Zeit galt.

 

 

Cesare Beccaria (1738-1794), italienischer Rechtsphilosoph und Staatsreformer, der sich für die Abschaffung der Folter einsetzte.

 

Graf von Firmian (1716-1782), Politiker und österreichischer Generalgouverneur der Lombardei

1

Mailand, Krypta San Fedele, April 1776

Der Eingang zur Krypta befand sich, hinter einem Mauervorsprung verborgen, gleich neben dem Portal der Kirche San Fedele. Ein großer, alter Holunderbusch streckte seine Zweige so tief herab, dass einem Ortsunkundigen die Treppenstufen, die zum Grabgewölbe hinunterführten, gar nicht aufgefallen wären. Ohne das schwache Licht des Mondes hätte man nicht gesehen, wie die schmale Tür ein ums andere Mal geöffnet wurde. Es war eine Stunde vor Mitternacht. Immer noch tauchten plötzlich, wie aus dem Nichts, die Silhouetten von dunklen Gestalten auf, die sich verstohlen umblickten, bevor sie die ausgetretenen Stufen hinunterstiegen, zweimal kurz, dreimal lang an die Tür klopften und dahinter verschwanden.

Jedes Mal, wenn die Pforte geöffnet wurde, fiel ein schwacher Lichtstrahl auf den Platz vor der Kirche.

Jäh wurde die Stille der Nacht von den Geräuschen einer heranrollenden Kutsche unterbrochen. Eine Equipage hielt direkt vor dem Portal. Die große, korpulente Gestalt, die der Kutsche entstieg, war in einen bodenlangen dunklen Umhang gehüllt und stützte sich auf einen Stock. Man konnte das laute Schnalzen des Kutschers hören, der die zwei Pferde wieder antrieb und mit dem Wagen in der Dunkelheit der Nacht verschwand.

Auf dem Kirchenvorplatz blieb der Mann allein zurück. Der späte Besucher trug einen ausladenden Hut mit einer breiten Krempe und eine goldene Maske, die sein Gesicht verbarg. Auf seinen Stock gestützt schritt er zielsicher zum verborgenen Eingang des Grabgewölbes. Noch ehe der Maskierte die alte eisenbeschlagene Holztür erreicht hatte, wurde sie geöffnet. Ohne Gruß raunte er dem Wächter der Pforte zu: „Können wir beginnen?“

„Bis auf drei oder vier Brüder sind alle versammelt und erwarten Euch.“

„Gut. Verschließe die Tür. Niemandem wird mehr Einlass gewährt.“

Das Kellergewölbe, in dem gleich eine geheime Zeremonie stattfinden sollte, war mit wenigen Fackeln, deren Licht unruhig flackerte, nur schwach beleuchtet. Die Anwesenden standen zu zweit oder zu dritt beisammen und sprachen leise, fast flüsternd miteinander. Alle hatten ihre Gesichter hinter Masken verborgen.

Im hinteren Teil des Gewölbes stand ein Tisch, der mit sieben Kerzen und einem Kreuz geschmückt war. Man hätte ihn für einen Altar halten können, wenn nicht auf der Tischplatte ein Drahtkäfig gestanden hätte, in dem eine weiße Ratte an einem Stück Speck nagte. Außerdem befand sich auf dem Tisch noch ein Sack aus schwarzem Samt, der mit einer roten Kordel zugebunden war.

Es roch modrig in der Krypta. Einige Fledermäuse, die in der Finsternis des Gewölbes sonst eine ruhige und sichere Wohnstatt fanden, wurden durch die Fackeln und den Kerzenschein aufgeschreckt und flogen immer wieder aufgeregt durch den Raum.

„Es ist Zeit, lasst uns beginnen“, rief eine tiefe Stimme. Ein kleiner, asketischer Jesuitenpater entzündete fein duftenden Weihrauch und schwenkte ihn in einem silbernen Gefäß, das an zwei dünnen, feingliedrigen Ketten befestigt war. Schnell war der Modergeruch, den das Gemäuer verströmte, verflogen. Die Gespräche verstummten allmählich. Nur die Ratte im Käfig begann durch den ungewohnten Rauch unruhig hin und her zu rennen und ängstlich zu quieken. Der Pater hielt ein kurzes Gebet in lateinischer Sprache. Dann löschte er die wenigen Fackeln, sodass nur noch die Kerzen auf dem Tisch für etwas Licht sorgten. Eine feierliche Stimmung breitete sich aus.

Im Kerzenschein sah man plötzlich den Mann mit der goldenen Maske hinter den Tisch treten. „Danke, Padre Rossi, danke für Euer Gebet. Möge Gottes Segen auf unserem Vorhaben liegen. Brüder, wir leben in harten Zeiten“, sagte er mit tiefer Stimme, legte seine behandschuhte Hand sanft auf den Rattenkäfig und fuhr fort: „Jeder von uns kann an seinem Platz dafür sorgen, dass wir uns vom Joch der Unterdrückung befreien. Mehr als ein halbes Jahrhundert schon sind wir der Willkür der Habsburger in Wien ausgeliefert. Wir wollen endlich unsere Freiheit!“

Jubel brach unter den Mitgliedern des Zirkels aus. Erst ein Räuspern ließ die Anwesenden wieder verstummen.

„Seht diese Ratte, sie wird immer fetter.“ Unvermittelt schlug der Maskierte mit seinem Stock auf den Käfig. „Noch wiegt sie sich in Sicherheit, die Ratte. Sie glaubt, ihr könnte nichts passieren. Ihr wisst alle, wer die Ratte ist?“ Mit Genugtuung sah er durch die Augenschlitze seiner Maske, wie die versammelten Logenbrüder die rechte Hand zur Faust ballten und riefen: „Maria Theresia, die Kaiserin!“ Das Echo hallte von den Wänden zurück.

Der Anführer nickte bestätigend. „Ja, keine andere als die fette Kaiserin aus Wien. Ihre Söhne und Töchter haben auf ihr Geheiß an jedem Hof in Europa den Speck entdeckt und lassen ihn sich schmecken. Ganz Europa hat sich Maria Theresia bald einverleibt. Wenn ihr keiner Einhalt gebietet, wird der unmäßige Hunger der Kaiserin nie gestillt werden.“ Wütend schlug er erneut mit seinem Stock auf den Käfig. Verschreckt richtete sich die eingesperrte Ratte auf, ihre Barthaare zitterten. „Doch die Zeiten werden sich ändern. Auch wir wollen ein Stück vom Kuchen!“

Die Mitglieder des geheimen Bundes waren plötzlich wie entfesselt. Laut applaudierend traten sie näher und näher an den maskierten Redner heran, während die aufgeschreckte Ratte vergeblich versuchte, Schutz in der hintersten Ecke ihres Gefängnisses zu finden.

„Ja. Wir lassen uns nicht länger mit Brosamen abspeisen.“

„Nieder mit Maria Theresia, nieder mit der Kaiserin“, hallte es durch das feuchte Gemäuer der Krypta.

„Seid still und seht, was ich euch zeigen werde.“ Der Mann mit der goldenen Maske hatte seinen Stock abgelegt und die rote Kordel gelöst, mit der der Sack aus schwarzem Samt verschlossen war. Er öffnete den Riegel des Drahtkäfigs und zog die weiße Ratte, die sich heftig wehrte, an ihrem Schwanz heraus. „Seht ihr, wie die Ratte in meinen Händen zappelt?“

Lachen war zu hören, während das verstörte Tier sich zu befreien versuchte, aber es hing hilflos mit seinem Kopfüber dem geöffneten Samtsack.

Plötzlich ließ der Maskierte die Ratte fallen und diese verschwand im Schlund des Beutels. Blitzschnell verschloss er die Öffnung mit der roten Kordel.

Die Augen aller Anwesenden waren auf den Sack gerichtet, der im Kerzenlicht in der Mitte des Tisches lag. Der samtene Beutel begann sich kaum merklich zu bewegen. Vielleicht suchte die Ratte nach einem Ausgang aus ihrem Gefängnis? Plötzlich hörte man ein lautes, gellendes Quieken. Den Zuschauern stockte der Atem. Die Ratte stieß einen nicht enden wollenden Pfiff voller Todesangst aus. Dann war es still. Man konnte nur noch das Knacken kleiner, dünner Knöchelchen hören. Der Inhalt des samtenen Beutels bewegte sich noch immer.

Nach einer Pause begann der Mann mit der goldenen Maske wieder zu sprechen. „Das ist es, was ich euch zeigen wollte!“ Triumphierend öffnete der Redner geschickt die rote Kordel und schüttelte den Inhalt behutsam auf den Tisch. Ungläubiges Staunen ergriff die Runde, denn statt der Ratte wand sich nun eine große goldgrüne Viper gemächlich im Kerzenschein.

„Die Schlange hat die Ratte gefressen!“, schrie einer der Anwesenden mit sich überschlagender Stimme in die Stille hinein. Majestätisch hob die Viper ihren schmalen, schlanken Schädel. Die Zuschauer sahen ihre gespaltene Zunge. Die gelben Augen der Schlange, die den Sichtschlitzen des Maskierten verblüffend ähnelten, fixierten hypnotisch das Publikum.

„So ist es, Brüder der Schlange, so ist es. Die Viper verschlingt ihre Opfer! Unsere Feinde sollten sich besser in Acht nehmen!“

Das Tier, dessen Schuppen im flackernden Licht der Kerzen schimmerten, rollte sich träge ein. Fast sah es aus, als hätte es keinen Anfang und kein Ende.

„Der Schlangenring, den jeder von uns trägt, verleiht uns die nötige Kraft für den Kampf. Fasst euren Ring an und lasst uns unseren Bund erneuern.“

Alle im Raum berührten den Ring, das Symbol ihrer Gemeinschaft.

„Wir geloben, mit Gottes Hilfe, unter Einsatz unseres Lebens, alle Feinde einer freien Lombardei zu vernichten. Es lebe das freie Mailand!“

„Haltet euch bereit! Und vergesst nicht: Wer unseren Bund verrät, ist des Todes.“

So heimlich wie die Mitglieder des Schlangenbundes zusammengekommen waren, so unauffällig verließen sie nun nach und nach den Versammlungsort. Nur der Maskierte und ein junger Mann blieben zurück.

Gianfranco Colarie war immer noch wie gebannt von der Vorführung des kaltblütigen Rattentodes. Er stand regungslos da. Die Haut an seinen Armen und seinem Hals war ganz und gar mit Gänsehaut überzogen. Er hatte mit jeder einzelnen Faser seines Körpers den Todeskampf der weißen Ratte miterlebt. Das Nagetier hatte keine Chance gehabt. Ihn grauste! Er zwang sich, wieder langsam und ruhig zu atmen, und trat an den Tisch, auf dem die goldgrüne Schlange eingerollt lag. Er spürte, wie ihn die zwei dunklen Augen hinter der goldenen Maske prüfend fixierten. Angstschweiß perlte auf seiner hohen Stirn.

„Gianfranco, die Schlange muss zurück in ihren Sack.“

„Ja, Meister.“

„Wo ist deine Schwester Carla? Sie hat gefehlt!“

„Meister, wenn Carla hätte kommen können, wäre sie da gewesen“, antwortete Gianfranco mit leiser Stimme. Vorsichtig ergriff er die Schlange hinter dem Kopf und hielt das sich windende Tier fest. Gleichzeitig öffnete er den schwarzen Samtbeutel und dirigierte die wütend zischende Viper in ihre Behausung. Gianfranco schauderte erneut, als der Schlangenkörper durch seine Hände glitt und er die Stelle spürte, wo die soeben verschlungene Ratte noch zuckte.

2

Mailand, Vicolo Giovanni, August 1776

Bernsteinfarbenes Licht drang durch das kleine Fenster in die winzige Kammer.

Marcello rekelte sich auf der harten Pritsche, doch er konnte nicht länger liegen bleiben. Heute würde er sich beeilen müssen. Durch die dünne Holzwand hörte er voller Neid seine Nachbarn noch laut und gleichmäßig schnarchen. Marcello stand auf und wusch flüchtig seinen sonnengebräunten, muskulösen Oberkörper mit dem kalten Wasser in einer zerbeulten Schüssel. Danach goss er pfeifend den Inhalt der Schüssel aus dem Fenster. Kurz lauschte er dem Wasserschwall nach, als auch schon ein lauter Fluch aus der engen Gasse heraufschallte.

„Bastardo, verfluchter Hurenbock“, schrie die alte Vettel von unten. Wie jeden Morgen. Hastig zog Marcello seinen Kopf zurück. „Treffer“, murmelte er, dann rief er laut: „Scusi!“

Er hatte wenig Sorge, dass man ihn zur Rechenschaft ziehen würde. Jeder der Männer, die unter dem Dach eine Schlafstätte für ein paar Münzen gemietet hatten, hätte der Übeltäter sein können.

Lange würde er sich dieses Nachtlager ohnehin nicht mehr leisten können, wenn nicht bald ein Wunder geschah. Er war schon seit zwei Monaten den Mietzins schuldig. Seine ganze Hoffnung galt dem heutigen Tag.

Schnell schlüpfte Marcello in seine ausgefranste Hose und sein bestes Hemd. Der blaue Leinenstoff war zwar auch schon an mehreren Stellen so abgeschabt, dass man seine Haut durchschimmern sah, aber es war immer noch in einem besseren Zustand als die beiden anderen Hemden. Mehr Kleidungsstücke besaß er nicht.

Marcellos Magen knurrte. Mit großem Hunger war er gestern eingeschlafen. Er hatte von gesüßter Eiermilch und Polentabrei geträumt, aber der Traum hatte ihn nicht satt gemacht. Er schaute sich nach etwas Essbarem um. Nichts war da, alle Vorräte waren aufgebraucht. Marcellos Blick fiel auf ein paar Brotkrumen, doch die hätten nicht einmal eine Maus satt machen können. Gedankenverloren schob er die Brosamen zusammen und steckte sie sich in den Mund. Was war das nur für ein erbärmliches Dasein!

 

Aufgewachsen im Waisenhaus hatte er von klein auf gelernt, dass man im Leben nichts geschenkt bekam. Manchmal fragte er sich, wofür es sich überhaupt zu leben lohnte. Die einzigen Lichtblicke in dieser Trostlosigkeit waren die Musik und seine Freunde.

Bisher war er nicht gerade vom Glück begünstigt gewesen. Seinen Vater hatte er nie kennengelernt und seine Mutter früh verloren. Sie war auf tragische Weise bei einem Feuerwerksspektakel, das zu Ehren des damaligen Mailänder Regenten veranstaltet worden war, ums Leben gekommen. Mehr als dreißig Zuschauer büßten in jener Nacht ihr Leben ein. Eine Witwe aus der Nachbarschaft hatte sich des Waisenkindes angenommen. Sie hieß Nonna Ines und war Magd bei Maria Gaetana Agnesi, der Leiterin eines Hospizes. In diesem Heim hatte Marcello seine Kindheit verbracht. Damals war das Schönste für ihn das Singen bei der morgendlichen Frühmesse gewesen. Nur wenn er sang, war er glücklich und mit sich und der Welt im Reinen.

 

Marcello verließ den Bretterverschlag unterm Dach und verschloss die Tür notdürftig mit einem Holzriegel. Eilig ging er die ausgetretenen Stufen der Treppe hinab, vorbei an den Türen, hinter denen er das gedämpfte Klappern von Töpfen und den Duft einer frühen Morgensuppe wahrnahm. Neben dem Eingang lauerte ihm seine Vermieterin auf.

„Marcello, wann bekomm ich mein Geld? Wenn du nicht bald zahlst, setz ich dich auf die Straße!“ Ihr rüder Tonfall veränderte sich und wurde plötzlich schmeichlerisch. „Ich hab mit dir sowieso schon mehr Nachsehen als mit den anderen Taugenichtsen. Das verdankst du einzig und allein deinem schönen Gesicht und deinen dunklen Augen.“ Die Alte rückte näher an ihn heran. „Du kannst deine Schulden auch bei mir abarbeiten. Du weißt schon, wie ich’s meine!“ Sie fuhr Marcello anzüglich mit der Hand über den Arm und blickte ihm herausfordernd in die Augen.

Entsetzt wich Marcello zurück und schüttelte die Hand ab. Was glaubte dieses Weib eigentlich? „Na, so schlimm steht’s noch nicht um mich! Du kriegst schon noch dein Geld, keine Sorge.“ Mit diesen Worten trat er schnell aus der Tür ins Freie, während die Vermieterin hinter ihm her schrie: „Komm mir bloß nicht frech, sonst kannst du gleich heut noch dein Bündel schnüren, du Lump!“

Man konnte in dem engen Hinterhof die Sonne nur um die Mittagsstunden sehen, doch das Blau des Himmels versprach, dass es wieder ein strahlender, sonniger Tag werden würde. Marcello atmete die frische Morgenluft tief ein. Im Torbogen sah er seinen Freund Armando, der lässig an der Wand lehnte und die Hände in den Taschen vergraben hatte. Armando überragte Marcello noch an Größe und man sah ihm an, dass er vor Kraft strotzte.

Er bemerkte Marcello nicht gleich, da er das langsam beginnende Leben in der Gasse beobachtete.

Seit Tagen gab es zwischen den beiden jungen Männern nur ein einziges Thema. Immer und immer wieder unterhielten sie sich über den Neubau der Oper und darüber, ob es ihnen gelingen würde, dort Arbeit zu finden.

Es waren erst wenige Monate vergangen, seit das Teatro Regio Ducale abgebrannt war, und wenn man an der Ruine vorbeiging, lag der Geruch des Brandes nach wie vor über dem Platz. Nur zu gut konnten sich die meisten Einwohner Mailands an das schreckliche Flammeninferno in der Karnevalsnacht erinnern. Viele hatten um ihr Hab und Gut gebangt. Auch der Statthalter von Mailand, Erzherzog Ferdinand von Habsburg, hatte um seinen Palazzo gefürchtet. Wie durch ein Wunder war das Feuer nicht vom Theater auf die direkt angrenzende Residenz übergesprungen.

„Armando, du bist ja schon da! Bin ich zu spät oder bist du zu früh dran?“, rief Marcello fröhlich.

„Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen, ich war viel zu aufgeregt. Und ob ich auf meinem Bett liege und nicht schlafen kann oder an dieser Hauswand lehne und auf dich warte, ist egal.“

Marcello stieß seinem Freund den Ellbogen in die Rippen. „Lass uns gehen. Du weißt wohin?“

„Ja, das Zelt ist gleich hinterm Dom. Ich hab gestern gesehen, wie sie es aufgestellt haben.“

Sie traten durch den Torbogen des Hinterhofs hinaus auf die Via della Valverde.

Ohne ein Wort darüber zu verlieren, nahm Armando ein frisches Brot aus seiner Tasche, brach ein großes Stück ab und gab es ihm.

Was für ein Freund, dachte Marcello. Er wusste, dass Armando selbst stets große Mühe hatte, satt zu werden. Immerzu hatte Armando Hunger. Und nun teilte er auch noch mit ihm!

Als sie auf die Via Duomo einbogen, veränderte sich der Pulsschlag der Stadt augenblicklich. Hier war Mailand schon erwacht.

Marcello und Armando schlängelten sich an den zahlreichen Bauern mit ihren Fuhrwerken vorbei, die in den frühen Morgenstunden schwer beladen von den umliegenden Dörfern aufgebrochen waren, um ihre frischen Waren in der großen Stadt zu verkaufen. Argwöhnisch wachten die Händler darüber, dass nichts verloren ging. Gänse und Enten streckten ihre Hälse schnatternd aus den engen, kunstvoll geflochtenen Weidenkörben, nicht ahnend, dass sie vielleicht schon am Abend kross gebräunt in den vornehmen Palazzi verspeist werden würden. Die Fuhrwerke kamen nur langsam vorwärts, so überfüllt waren die Gassen.

In Sichtweite des Domes boten Handwerker wie seit ewigen Zeiten ihre Dienste an. Schuster in schweren Lederschürzen breiteten Leisten, Nägel und Zangen vor sich aus. Sie hatten Draht- und Rosshaarborsten eingefädelt bereitgelegt, um das Schuhwerk der Kunden zu flicken. Schmiede waren noch damit beschäftigt, ihre Feuer zu entfachen, und Metzger zerteilten auf ihren Holztischen frisch geschlachtete Ziegen und Schweine.

Heute hatten Marcello und Armando für das Markttreiben keinen Blick. Zum wiederholten Mal fiel ihnen auf, wie mühsam es sein konnte, zügig durch das Wirrwarr von Menschen, Ständen und Karren zu gelangen, wenn man es eilig hatte.

Plötzlich ging es weder vor noch zurück. Mitten auf einem kleinen Platz stand ein Feuerspucker. Auf seiner Schulter saß ein Affe, der eine brennende Fackel in seinen Händen hielt. Ohne jede Vorwarnung spuckte der Gaukler einen großen Feuerschwall in Richtung seines Publikums, sodass viele Zuschauer erschrocken zurückwichen.

Marcello und Armando ließen sich nicht aufhalten.

„Der Gaukler scheint keine Angst vor Feuer zu haben, und sein Affe auch nicht“, meinte Armando, der sich gerade geschickt an einem Mann vorbeischob, auf dessen Rücken fünf tote Ferkel an einem Seil zusammengebunden baumelten. „Seit dem großen Brand ist mir der Anblick von Feuer verhasst!“ Die beiden Freunde hatten zu den zahlreichen freiwilligen Helfern gehört, die zusammen mit den Brendatores vergeblich das Feuer zu löschen versucht hatten, dem das Teatro Regio Ducale zum Opfer gefallen war.

„Sieh es doch mal von der Seite, Armando: Wenn das Theater nicht abgebrannt wäre, könnten wir jetzt nicht zum Dom gehen und auf Arbeit hoffen.“

„Weißt du noch, wie heiß die Löscheimer geworden sind? Es hätte nicht viel gefehlt und das Wasser hätte darin gekocht. Kein Wunder, dass wir den Brand nicht löschen konnten. Die Lage war aussichtslos. Ich wache immer noch manchmal nachts auf und höre die Schreie der Helfer, wie sie wild durcheinanderrufen. Wenigstens haben wir es geschafft, die meisten der umliegenden Häuser zu retten. Wenn nicht so viele aus unserem Viertel geholfen hätten, wäre vielleicht ganz Mailand abgebrannt!“

„Mir wollen diese schrecklichen Bilder auch nicht mehr aus dem Kopf gehen. Das ohrenbetäubende Knacken und Prasseln vom Feuer und das Knallen der zerspringenden Glasscheiben waren fürchterlich. Und wie die Holzbalken runtergedonnert sind! Ich fand Feuer immer faszinierend, aber jetzt nicht mehr.“

„Du warst doch bei der letzten Vorstellung im alten Opernhaus. Hast du damals gar nichts Verdächtiges mitbekommen?“

„Armando, das war der erste und bisher einzige Opernbesuch meines Lebens! Alles war für mich vollkommen neu und absolut fremd. Ich war von der Musik völlig begeistert. Du kannst dir die Stimmung, die in dem Theater geherrscht hat, nicht vorstellen. Es roch gleichzeitig nach Parfüm, Puder und Tabakrauch. Die Fußböden waren blank wie Spiegel. Überall brannten Kerzen und spiegelten ihr Licht im geschliffenen Glas der Kronleuchter. Von meinem Stehplatz ganz oben unterm Dach konnte ich alles genau sehen. Ich habe so viele feine und noble Menschen wie unten im Parkett noch nie auf einmal gesehen! Und als sich dann der samtrote Vorhang hob und das Orchester angefangen hat zu spielen, habe ich alles um mich herum vergessen. Die Sänger standen auf der Bühne in einer richtigen Landschaft, mit Bergen, einem Himmel und einem echten Baum. Da war’s um mich geschehen. Da konnte ich nur noch staunen und zuhören! Ich habe den Stimmen der Sänger gelauscht, die glasklar und deutlich bis ganz zu mir hinauf klangen. Jeden einzelnen Ton hab ich in mich aufgenommen. Ich hatte nur Augen für die Bühne! Für sonst nichts!“

„Du hast die Oper bestimmt nicht angezündet, Marcello!“, spottete Armando.

„Hätte ich das Billet nicht von Madre Maria Gaetana Agnesi geschenkt bekommen, wüsste ich gar nicht, dass es so etwas Wundervolles überhaupt gibt.“

Sie bogen um eine Ecke und sahen plötzlich ein großes Zelt, vor dem ein Tisch stand.

Vor lauter Reden hatten sie gar nicht bemerkt, dass sie ihr Ziel bereits erreicht hatten. Hier wurde entschieden, wer an Mailands neuem Opernhaus mitbauen würde und in den nächsten Monaten auf ein sicheres Einkommen zählen durfte.

Viele Männer waren erschienen, um eine der begehrten Anstellungen als Bauarbeiter zu ergattern. Es bedurfte schon einiger Mühen, um sich in dem Gedränge nicht zu verlieren. Die Freunde mussten sich neben Steinmetzen, Malern, Maurern und dem Heer von Tagelöhnern behaupten. Um sie herum kam es immer wieder zu kleineren Rempeleien, es wurde geschrien und geschimpft, aber nach einer guten Stunde hatten sie es geschafft: Vor ihnen saß auf einem Hocker, umringt von einer Schar seiner Helfer, ein Mann, der hier offensichtlich das Sagen hatte. Er wurde mit außergewöhnlichem Respekt behandelt und hieß Filippo Moro.

Sie beobachteten, wie zwei schmächtige ältere Männer vor ihnen schroff von ihm als zu schwach für die harte Arbeit abgewiesen wurden.

Als nun die Reihe an ihnen war, fragte sie der Einsteller ruppig: „So, und ihr wollt also Santa Maria alla Scala abreißen? Groß und stark seht ihr zwar aus, aber bevor wir euch einstellen: Habt ihr die Erlaubnis eures Beichtvaters mitgebracht?“

Während die Umstehenden lachten, sahen sich Marcello und Armando verwirrt an.

„Verehrter Herr, davon haben wir nichts gewusst!“ Armando bekreuzigte sich und stotterte: „Mein Freund und ich wollten die neue Oper bauen und nicht eine Kirche abreißen. Vielleicht sind wir hier falsch?“ Unsicher blickte Armando sich um.

Erneut erklang schallendes Gelächter.

Die Freunde begriffen, dass man einen Scherz mit ihnen trieb. Ehe einer der beiden noch etwas erwidern konnte, war Filippo Moro aufgestanden, drehte sich um und verschwand im Bauzelt.

Zu ihrer grenzenlosen Freude trug ein Helfer ihre Namen in eine Liste ein und bestellte sie für den nächsten Morgen.

Marcellos und Armandos Jubel kannte keine Grenzen. Es war ihnen gelungen, eine der begehrten Anstellungen auf der Baustelle der neuen Oper zu bekommen!

Als sie von dem Zelt weggingen, fiel Marcello auf, dass sie gar nicht gefragt hatten, was sie zu tun haben würden. Egal – Hauptsache, sie hatten endlich Arbeit. Das musste gebührend gefeiert werden!

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Mailand, Palazzo Scuosi, August 1776

„Nein, nein und nochmals nein!“ Außer sich vor Zorn stampfte Tiziana Piermarini mit ihrem Fuß auf das gediegene Fischgrätenparkett ihres Zimmers im Palazzo Scuosi. Die lange mahagonifarbene Lockenmähne über die Schulter zurückwerfend, starrte sie ihren Vater aus großen dunkelgrünen, vor Wut blitzenden Augen an. „Nein“, schrie sie noch einmal und ihre Stimme drohte sich zu überschlagen.

„Ich befehle es dir und damit basta!“ Das Gesicht des Architekten Giuseppe Piermarini hatte sich fleckig rot verfärbt. Er atmete schwer und war sichtlich um Fassung bemüht. Er sah seine schöne tobende Tochter an und wusste, dass er sich augenblicklich zurückziehen musste, da er sonst womöglich doch noch nachgiebig werden würde.

Rasch ging er zur Tür hinaus und ließ sie geräuschvoll hinter sich ins Schloss fallen. Eine Sekunde später hörte er das Klirren von Glas. Was erlaubte sich dieses Kind? Er widerstand dem Impuls, in das Zimmer seiner Tochter zurückzugehen und sie mit einer schallenden Ohrfeige zur Räson zu bringen. Stattdessen stieg er die breite Treppe hinab in seine Bibliothek.

 

Tiziana schob mit dem Fuß die herumliegenden Scherben zu einem Haufen zusammen. Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Warum konnte sie ihr Vater nicht einfach in Ruhe lassen? Erst vor einem Monat waren sie von Padua nach Mailand gezogen. Ihrem Vater war von der Kaiserin Maria Theresia höchstpersönlich der Titel des Hofarchitekten verliehen worden. Die Herrscherin in Wien hatte ihn mit dem Bau des neuen Mailänder Opernhauses betraut! Tiziana hatte sich natürlich sehr für ihren Vater gefreut. Aber gleichzeitig wusste sie, welche Konsequenzen das für sie selbst haben würde.

Die junge Frau ließ sich vor ihrem weißen Frisiertisch nieder und begann, ihr glänzendes Haar mit einer schweren Bürste zu entwirren. Es war noch früh am Morgen. Während sie sich im Spiegel betrachtete, merkte sie, wie der Zorn in ihr erneut hochstieg. Ihrem Vater konnte es nicht schnell genug gehen, dass sie sich endlich einen geeigneten, am besten einen adligen Ehemann an Land ziehen würde. Sie hatte nicht die geringste Lust, ihren herrischen Vater gegen einen ebensolchen Ehemann einzutauschen.

Wütend pfefferte sie die silberne Bürste auf die Frisierkommode. Nachdenklich fuhr sie mit dem Zeigefinger über den Kratzer, den die Bürste auf der blanken Oberfläche hinterlassen hatte. Die Situation war eskaliert, weil ihr Vater gerade allen Ernstes von ihr verlangt hatte, sie solle sich mit seinem verwitweten Freund, den um fünfundzwanzig Jahre älteren Conte Nicola Pocci, treffen.

„Gib ihm wenigstens eine Chance“, hatte ihr Vater sie fast angefleht. Gott sei Dank war es ihr bisher immer wieder gelungen, Giuseppe Piermarini um den Finger zu wickeln und ihm seine unzumutbaren Heiratspläne auszureden.

Tiziana war sich durchaus bewusst, dass ihre Familie zum aufstrebenden Bürgertum gehörte. Eine Heirat mit einem so vornehmen, alten Adelsgeschlecht wie den Poccis würde einen lang gehegten Traum ihres Vaters erfüllen. Damit wären sie endlich auf Augenhöhe mit den allerfeinsten Kreisen und den Auftraggebern ihres Vaters. Tiziana wusste, dass der auserkorene Bräutigam in pekuniären Schwierigkeiten steckte und sein baufälliges Schloss würde aufgeben müssen, wenn er nicht eine gute Partie mit beträchtlicher Mitgift ehelichen konnte. Sie seufzte. Es war nicht das erste Mal, dass sie in so eine Situation geraten war. Aber dieses Mal war es ihrem Vater mehr als ernst. Das spürte sie genau!

Als Architekt hatte Giuseppe Piermarini alles erreicht, was man erreichen konnte. Nur der eigene gesellschaftliche Durchbruch war ihm noch verwehrt geblieben. Der letzte Ritterschlag, der ihm dazu noch fehlte, war die Vermählung seiner Tochter mit einem Aristokraten!

Dieses Mal würde sie all ihren weiblichen Charme aufbringen müssen, um ihren Vater noch einmal umzustimmen. Tiziana band sich eine weiße Schleife ins Haar, straffte die Schultern und begab sich auf die Suche nach Giuseppe Piermarini. Sie wusste, dass ihr verwitweter Vater sie über alles liebte. Sie war sein Ein und Alles. Trotzdem oder gerade deshalb barg der gemeinsame Haushalt von Vater und Tochter viele Konflikte.

Tiziana hatte es satt, mit ihren neunzehn Jahren immer noch wie ein Kind behandelt zu werden und zum Nichtstun verdammt zu sein. Ihr größter Wunsch war es, anderen Menschen, denen es nicht so gut ging wie ihr, helfen zu dürfen. Aber nicht einmal das erlaubte er.

Erhobenen Hauptes durchschritt sie die geräumige Empfangshalle des Palazzo Scuosi, in dem sie residierten, und ging zielstrebig zu der holzvertäfelten Bibliothek.

Ihr Vater hatte neben den in Schweinsleder gebundenen Werken von Dante Alighieri eine Flasche mit einem außergewöhnlich kostbaren Marsalawein deponiert. In Situationen wie dieser diente ihm der köstliche Tropfen zur Beruhigung seines strapazierten Nervenkostüms.

Kaum hatte sie die schwere Tür zur Bibliothek geöffnet, sah sie, dass sie recht hatte: Ihr Vater saß vor einem großzügig eingegossenen Glas und Tiziana vermutete, dass es bereits das zweite war. Sie beugte sich zu ihm hinunter und küsste ihn sanft auf die Wange. „Papa, entschuldigt mein ungehöriges Benehmen. Ihr müsst verstehen, dass mich Eure Heiratsvorschläge jedes Mal an den Rand der Verzweiflung bringen. Es liegt mir fern, mich mit Euch zu streiten! Lasst mir noch ein bisschen Zeit. Ihr selbst habt doch meine Mutter aus Liebe geheiratet. Auch ich möchte mit dem Mann, für den ich mich entscheide, glücklich werden. Ich spüre es, der Richtige wird bald kommen!“