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Haidee Sirtakis

ZEIT ZU LIEBEN

Roman

© 2017

édition el!es

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Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-218-3

Coverfoto:
© Alberto Masnovo – Fotolia.com

1

»Das ist doch jetzt nicht Dein Ernst, oder?« Thea schaute Michi mit weit aufgerissenen Augen an und schüttelte ungläubig den Kopf. »Wie kann das denn sein, dass alle Welt sich schon auf das ›Frohe Fest‹ freut und du trotzdem nur ans Arbeiten denkst?«

Thea schien wirklich verstimmt zu sein, das konnte Michi ihr schon von weitem ansehen. Aber was sollte sie machen? Sie hatte vor einigen Wochen ein fantastisches Praktikum gemacht, das ihre Karriere endlich vorantreiben würde, und sie waren bei der Arbeit eh immer chronisch unterbesetzt. Das musste Thea doch irgendwo verstehen, oder vielleicht doch nicht? Sie hatte längst gemerkt, dass Thea Weihnachten viel wichtiger war als ihr selbst. Thea hatte ihr schon öfter von ihrer Kindheit und den schönen Weihnachtsfesten bei ihren Großeltern vorgeschwärmt, in letzter Zeit hatte sie häufig mit ihr auf den Weihnachtsmarkt gewollt, und auch die Wohnung hatte sie festlich dekoriert.

Michi selbst lag nicht viel an Weihnachten, das hatte sie sich seit ihrer Jugend abgewöhnt, für solchen gefühlsduseligen Kram hatte man in ihrer Familie wenig Zeit gehabt. Gute Noten in der Schule und gleichzeitig in allen anderen Bereichen glänzen, das war ihren Eltern und auch Großeltern immer besonders wichtig gewesen. Und seit dem Studium bzw. dem Einstieg als Staatsanwältin hatte sie sich selbst die Messlatte auch immer entsprechend hoch gesetzt.

Sie schüttelte nochmals betrübt den Kopf. Michi liebte Thea über alles, aber manchmal wurde es doch ziemlich offensichtlich, dass ihre Arbeitsmoral bzw. ihre Einstellung zum Leben im Allgemeinen ziemlich weit auseinanderklafften. Dennoch – oder vielleicht gerade deshalb? – hatte sie sich in Thea verliebt. Auch wenn sie erst seit wenigen Monaten zusammen waren, konnte sie sich ein Leben ohne sie gar nicht mehr vorstellen.

Sie war so in Gedanken versunken, dass sie den letzten Satz gar nicht recht mitbekommen hatte. »Wie bitte, was hast du gesagt, mein Schatz?«

Thea stöhnte auf und wiederholte ungeduldig ihre Frage. »Es kann doch nicht dein Ernst sein, dass du wirklich an Weihnachten arbeiten willst und sicherlich auch noch Überstunden machen wirst?«, fragte sie traurig. »Ich hatte gedacht, dass wir es uns zu zweit gemütlich machen, ein paar leckere Häppchen vorbereiten, vielleicht sogar zur Messe gehen . . .«

Michi wusste, dass Thea normalerweise nicht sonderlich kritisch war und ihr viel Freiraum gewährte, selbst wenn ihre Arbeit der trauten Zweisamkeit immer wieder in die Quere kam. Sie müsste sich etwas einfallen lassen und ihre Liebste zumindest mit einem besonders schönen Geschenk überraschen. Aber mit was? Sie war schon wieder ganz tief in Gedanken versunken, riss sich jetzt aber mit aller Macht zusammen. Morgen Vormittag würde sie sich einfach ein paar Minuten freimachen und noch auf die Schnelle etwas besorgen. Ihr würde sicherlich das Passende einfallen, wenn es nämlich eng wurde, lief ihre Kreativität normalerweise zu Hochtouren auf – Not machte ja bekannterweise erfinderisch.

Jetzt konzentrierte sie sich wieder ganz auf Thea und schaute sie mit einem ziemlich bedrückten Gesichtsausdruck an. »Ach Schatz . . . Ich möchte doch auch mehr Zeit mit dir verbringen«, seufzte sie und strich sich müde durchs Haar. »Aber die Arbeit ruft. Du weißt doch, die Sachen erledigen sich leider nicht von selbst, und wir sind chronisch unterbesetzt.« Zärtlich legte sie die Arme um Theas Nacken und zog sie sanft an sich. »Es tut mir echt leid, aber wegen meines Praktikums ist so viel liegengeblieben. Ich muss leider an Weihnachten arbeiten, sonst schaffe ich das alles nicht«, erklärte sie und schaute Thea mit einem um Verständnis bittenden Blick an, während ihre Lippen die ihrer Liebsten suchten. »Ich liebe dich«, wisperte sie. »Ich liebe dich so sehr!«

Und es tut mir im Herzen weh, dass ich im Moment fast keine Zeit für dich . . . für uns habe, seufzte sie innerlich. Am liebsten wäre ich Tag und Nacht mit dir zusammen . . . nur mit dir, du wundervolle Frau. Aber die Arbeit erledigt sich nun einmal nicht von selbst.

Thea stöhnte leise auf und verdrehte genervt die Augen. »Ich liebe dich doch auch, das steht hier ja gar nicht zur Debatte«, flüsterte sie und versank wie so oft in Michis wunderschönen graugrünen Augen. »Aber du mutest dir einfach zu viel zu, mein Schatz. Du arbeitest fast rund um die Uhr, gönnst dir zu wenig Ruhe, und mit einem Mal fechten gehen in der Woche ist es einfach nicht getan. In deinem Leben fehlt das nötige Gleichgewicht. Irgendwann wird sich das rächen. Glaub mir, ich weiß doch, wovon ich spreche«, sagte sie mit besorgter Stimme und schaute Michi mitfühlend an.

»Ach Schatz . . . Du übertreibst. Von einem Burnout bin ich nun wirklich meilenweit entfernt«, protestierte Michi mit zusammengepressten Lippen und wischte Theas Argumente lächelnd vom Tisch. »Aber ich werde mir deine Worte zu Herzen nehmen. Ich verspreche es«, flüsterte sie versöhnlich. »Bitte, sei mir nicht böse«, flehte sie.

Und jetzt möchte ich dieses leidige Burnout-Thema beenden. Ich weiß doch selbst, dass es so auf Dauer nicht weitergehen kann. Mist aber auch. Ich will ja auch einiges ändern. Nicht zuletzt deshalb, damit Thea und ich uns endlich einmal richtig kennenlernen können. Aber wann? Und wie? Zum jetzigen Zeitpunkt geht das einfach nicht. Die Arbeit . . . der Job. Es geht einfach nicht. Nicht jetzt, stöhnte sie innerlich und verzog die Mundwinkel.

Thea atmete tief durch. »Ich bin dir doch nicht böse. Jedenfalls nicht so richtig. Aber etwas enttäuscht bin ich schon. Schließlich steht Weihnachten vor der Tür, die schönste Jahreszeit überhaupt. Das Fest der Liebe, und das möchte ich nun einmal mit der Frau, die ich liebe, verbringen«, meinte sie niedergeschlagen und strich sich eine blonde Haarsträhne hinters Ohr. »Seit ein paar Monaten sind wir nun ein Paar. Aber wegen deinem überdurchschnittlichen, kaum zu überbietenden Ehrgeiz und Pflichtbewusstsein haben wir bis jetzt kaum Zeit gehabt, uns richtig kennenzulernen. Und Weihnachten wäre nun wirklich die perfekte Zeit dafür«, seufzte sie.

Michi hob betroffen die Augenbrauen. »Du hast ja recht. Da muss sich etwas ändern. Ich werde in Zukunft mehr Zeit für uns einplanen. Versprochen! Und ein bisschen Zeit füreinander werden wir ja auch über Weihnachten haben, ist schließlich nicht so, dass ich die ganze Zeit arbeiten werde.« Zärtlich küssten sie sich und versanken schon bald in einem leidenschaftlichen Kuss.

Nach einer Weile löste sich Thea zögernd von Michi. »Ehrlich gesagt bezweifle ich, ob du die nötigen Veränderungen ohne Hilfe schaffen kannst. Es ist nämlich verdammt schwer, einfach so kürzer zu treten und dabei auf Verständnis in seiner Umwelt zu stoßen«, meinte sie resigniert. »Aber wenigstens scheint der Wille da zu sein«, fügte sie in mattem Ton hinzu. »Das ist ja bekanntlich der erste Schritt zur Besserung«, sagte sie mit einem gequälten Lächeln, ihre Hoffnung schien sich diesbezüglich jedoch in Grenzen zu halten. »Und vielleicht kannst du dich an Heiligabend doch etwas früher loseisen, dann könnten wir wenigstens den Abend gemütlich miteinander verbringen«, fügte sie in bittendem Ton hinzu.

Um Michis Mundwinkel zuckte es vor Anspannung. »Äh, ich weiß nicht, ob ich dir das versprechen kann, aber ich werde auf jeden Fall mein Bestes geben. Bitte . . . hab noch etwas Geduld mit mir«, flehte sie. »Bevor wir uns kennenlernten, da musste ich nur mir selbst Rede und Antwort stehen. Jetzt, wo du in mein Leben getreten bist, ist alles schöner, aber eben auch anders geworden. Ich gebe mir wirklich alle Mühe, aber meine alten Gewohnheiten kann ich nicht von heute auf morgen über Bord werfen«, stöhnte sie und strich sich durch ihr kurzes braunes Haar.

Thea winkte ab und war schon dabei, das Wohnzimmer zu verlassen. »Ja, ja . . . ich weiß«, seufzte sie und drehte sich zu Michi um. »Und du, Frau Staatsanwältin, bist ohnehin eine harte Nuss, dein Pflichtbewusstsein und Ehrgeiz toppen wirklich alles«, sagte sie enttäuscht und ging weiter.

Verdattert schaute Michi ihrer Thea hinterher. Dann eilte sie ihr nach, umarmte sie von hinten und begann, zärtlich ihren Nacken zu liebkosen. »Ich werde es auch wieder gut machen«, raunte sie ihr liebevoll ins Ohr. »Ich will mir doch mehr Zeit für dich nehmen und dich endlich richtig kennenlernen.« Sie räusperte sich mehrmals. »Ich meine so richtig kennenlernen und dich tage- und nächtelang einfach nur verwöhnen, dich lieben, mit dir eins werden . . .«, wisperte sie, während sie geschickt ihre Hände unter Theas Pullover gleiten ließ, sich zu Theas Brüsten vortastete und begann, Theas Knospen zärtlich zu streicheln. Ein wenig schlecht fühlte sie sich wohl dabei, schließlich war dies ein eindeutiges Ablenkungsmanöver, aber sie hatte wirklich keine Lust mehr, über das leidige Thema »Arbeit und Überstunden« zu reden.

Thea holte tief Luft. »Ach, ich kann dir einfach nicht widerstehen, du Charmeurin«, fing sie auch gleich Feuer und genoss ganz offensichtlich die sanften Berührungen auf ihrer Haut und die weichen Küsse.

Michis Zungenspitze spielte weiterhin mit Theas Ohrläppchen. Was als Ablenkungsmanöver begonnen hatte, brachte nun auch sie allmählich in Fahrt, und ihre Zärtlichkeiten wurden schnell fordernder. »Ich werde es wieder gut machen. Bald schon werde ich mehr Zeit für dich haben . . . mir Zeit nur für dich nehmen, mein Schatz«, flüsterte sie verlockend, drehte Thea zu sich um und schaute erregt in ihre wunderschönen Augen. Quälend langsam öffnete sie ihr die Gürtelschnalle und zwinkerte ihr dabei verführerisch zu. »Und gerade jetzt möchte ich dir ganz besonders viel Zeit schenken«, raunte sie leidenschaftlich. »Die ganze Nacht soll nur uns gehören«, murmelte sie, griff nach Theas Hand und verschwand mit ihr im Schlafzimmer . . .

5

»Bitte zieh dich heute warm an. Wir machen einen Ausflug«, sagte Michi nach dem Frühstück liebevoll zu Thea und streichelte ihr über den Handrücken. Ich wünsche mir so sehr, dass dir meine Überraschung gefällt, dachte sie und war innerlich schon ganz schön aufgeregt.

»Warm anziehen? Was hast du denn vor?«, fragte Thea ihren Schatz ziemlich überrascht und stellte behutsam ihren Orangensaft auf den Tisch.

Michi stand auf und ging direkt vor Thea in die Hocke. Zärtlich legte sie Theas Hand in ihre und versank, wie so häufig, in den wunderschönen Augen ihrer Liebsten. »Es tut mir wirklich leid, dass ich mich gestern so heimlich aus dem Zimmer geschlichen habe.« Beschämt blickte sie zu Boden. »Du weißt schon . . . um zu telefonieren«, murmelte sie leise und streichelte sanft über Theas Knie. Dann schaute sie ihren Liebling eindringlich an. »Nie, aber auch wirklich nie, möchte ich dich hintergehen und belügen«, flüsterte sie und musste dabei schwer schlucken.

»Das . . . das möchte ich auch nie«, stotterte Thea verlegen und blickte dabei irgendwie nachdenklich zum Fenster hinüber, während an ihrer Schläfe eine Ader zu pochen begann. »Ich möchte dich auch nie belügen«, gab sie kleinlaut zurück.

»Warum sagst du das denn so komisch? Bedrückt dich irgendetwas?« Michi legte den Kopf leicht schief und schaute Thea mit gerunzelter Stirn an.

Thea zupfte an ihrer Serviette herum. »Es . . . es ist nichts«, stotterte sie ausweichend und trank ganz schnell den letzten Schluck Kaffee. Dann lächelte sie. »Wolltest du mir nicht gerade etwas sagen?«, fragte sie und bedachte Michi mit einem eindringlichen Blick.

»Ja. Ich möchte dich nie hintergehen.« Michi nickte und hielt einen kurzen Moment inne. »Aber abschalten und die Arbeit für einen Moment ganz vergessen zu können . . .«, sie stieß einen tiefen Seufzer aus, »ist für mich einfach so wahnsinnig schwierig«, stöhnte sie herzerweichend und schaute erneut beschämt zu Boden. »Das ist echt eine Wahnsinnsherausforderung für mich . . . wohl die größte Herausforderung meines Lebens«, meinte sie mit mehr als nur ein bisschen Selbstironie.

Thea beugte sich zu Michi vor und streichelte ihr liebevoll übers Haar. »Ach . . . Vergiss doch, was gestern war. Heute ist ein neuer Tag«, meinte sie mit weicher Stimme und verweilte in Michis wunderschönen grünen Augen.

»Danke für dein Verständnis«, flüsterte Michi und schaute Thea schon viel ruhiger an.

»Was machen wir denn jetzt eigentlich für einen Ausflug? Was hast du vor?«, fragte Thea aufgeregt wie ein Kind.

Michi hauchte Thea einen Kuss auf die Lippen. »Komm mit und sieh selbst«, antwortete sie freudig erregt, nahm Thea an der Hand und ging mit ihr zum Fenster hinüber. »Da unten«, sagte sie und machte dazu eine begleitende Handbewegung.

Im Hof des Hotels standen zwei frisch gestriegelte Pferde, die vor eine wunderschön geschmückte Kutsche gespannt waren und leicht ungeduldig mit den Hufen scharten.

»Du meinst . . .« Thea starrte Michi ungläubig an. »Ist das dein Ernst? Ist die wirklich für uns?« Ein überglückliches Strahlen schlich sich in ihr Gesicht. »Machen wir zwei etwa eine Kutschfahrt?«

Michi nickte und lächelte. »Ja. Du hast mir doch mal erzählt, dass du winterliche Kutschfahrten im Schnee magst, dass du das so unglaublich romantisch findest.« Leicht verunsichert presste sie die Lippen zusammen und strich sich hastig über die Stirn. »Ich hoffe, dass ich damit meinen Fehltritt von gestern wieder einigermaßen gutmachen kann«, flüsterte sie und schaute Thea um Verzeihung bittend an.

»Ach . . . Du bist so süß«, sagte Thea mit bewegter Stimme und hauchte Michi einen Kuss auf die Lippen. »Ich freue mich so sehr auf unseren Ausflug«, entgegnete sie. Dann schaute sie Michi mitfühlend an. »Und es gibt nichts gutzumachen. Das Einzige, was ich mir wirklich wünsche, ist, dass du dich besser um dich selbst kümmerst und wir ein bisschen mehr Zeit miteinander verbringen können.« Ihr Blick wurde etwas ernster. »Und zwar auch, wenn wir wieder zu Hause sind und der Alltag mit all seinem Stress uns wiederhat.«

Michi stieß einen Seufzer aus. »Ja, mein Schatz, das wünsche ich mir auch. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich mir das wünsche.« Sie reichte Thea die Hand. »Lass uns runtergehen. Der Kutscher und die Pferde warten schon auf uns.«

Eng aneinandergeschmiegt saßen die beiden schließlich in der Kutsche und igelten sich in warme Decken ein. Sie ließen die wildromantische Winterlandschaft auf sich wirken und fühlten sich wie in eine magische Zauberwelt entführt. Immer wieder schenkten sie sich liebevolle Blicke, während sie sich unter den Wolldecken und fern von fremden Blicken zärtlich streichelten. Es war der perfekte Wintertag mit strahlend blauem Himmel und Sonnenschein pur, wie die beiden es sonst eigentlich nur von Postkarten her kannten.

Eine ganze Weile später schaute Thea ihrer Michi tief in die Augen.

»Was ist denn?«, wollte Michi leicht verunsichert wissen.

Um Theas Mundwinkel begann es nervös zu zucken. »Ich möchte ja nicht die schöne Stimmung verderben, aber ich frage mich schon die ganze Zeit, warum du eigentlich dermaßen von deinem Ehrgeiz getrieben . . . ja regelrecht geplagt wirst?« Zärtlich legte sie einen Arm um Michis Schultern. »Bitte verzeih mir die indiskrete Frage, aber ein Blinder mit Krückstock kann doch sehen, dass du dich permanent wie verrückt im Hamsterrad drehst und einfach den Ausgang nicht findest . . . außer vielleicht manchmal im Urlaub.« Sie hielt kurz inne. Ihr Blick schweifte über die vom Schnee bedeckten Wiesen. Sie räusperte sich. »Aber selbst hier, in dieser wunderschönen Umgebung, bist du immer noch nicht ganz zur Ruhe gekommen«, meinte sie und hauchte Michi einen Kuss auf die Wange.

Michi schluckte und schaute in die weite Ferne, ihre romantische Spazierfahrt wurde vom gleichmäßigen Rhythmus des Pferdegespanns akustisch untermalt. Nach einer gefühlten Ewigkeit wandte sie sich schließlich mit Tränen in den Augen Thea zu. »Ich . . . Ich wurde eben von klein auf immer nur auf Leistung getrimmt. Hatte ich in der Schule eine gute Note, kam von meinen Eltern gleich die Frage, wer denn eine bessere geschrieben hätte.« Sie strich sich durchs Haar und atmete hörbar ein und aus.

»Und dann musste ich auch noch zum Ballettunterricht.« Sie stöhnte und zupfte an einem der Tannenzweige, die die Kutsche ringsum schmückten. »Ich habe Ballett gehasst.« Hastig wischte sie sich über die Augenlider. »Ich hätte meine Freizeit viel lieber im Pferdestall unseres Nachbars verbracht oder Eishockey gespielt.« Sie spürte, wie die altbekannte Wut wieder an die Oberfläche trat und versuchte krampfhaft, sich wieder zu beruhigen, was ihr aber nicht wirklich gelang. »Aber nein. Meine Eltern dachten, dass mir Pferdemist oder ein richtiger Sport für die Zukunft nichts bringen würde. Und . . . Und meine Ballettlehrerin konnte ich nicht ausstehen. Das ewige Herumschreien von dieser Tante hat mich nun wirklich nicht gefördert, und ich bin jedes Mal nur widerwillig – eben meinen Eltern zuliebe – dorthin gegangen«, knurrte sie verstimmt und kam dabei nur noch mehr in Rage. »Weil ich musste . . . weil ich so vieles immer einfach nur musste. Sie haben mich nie gefragt, ob mir das alles auch gefällt. Nein, ich musste einfach funktionieren, da gab es keine Widerrede.«

Thea fühlte, wie heikel dieses Thema für Michi war und drückte sie deshalb ganz zart an sich. »Bitte beruhige dich doch. Reg dich nicht dermaßen über diese Sache auf! Warum bringt dich meine Frage denn so sehr aus der Fassung, habe ich da einen wunden Punkt getroffen? Normalerweise bist du doch immer die Ruhe selbst«, meinte sie mit zärtlicher Stimme und wollte so die aufgeladene Stimmung wieder entschärfen.

Doch leider kam ihr Versuch zu spät. Michi riss sich wutentbrannt von Thea los, verschränkte energisch die Arme vor der Brust und starrte in die weite Ferne, über die Felder und zu den Bergen hinauf. Die Landschaft glitzerte zwar in einem wunderschönen Weiß, und die Natur zeigte sich von ihrer schönsten Seite. Doch das alles bekam Michi in diesem Moment überhaupt nicht mit, sie kochte innerlich, und eine Ader an ihrer Schläfe pochte unkontrolliert.

Thea entging nicht, wie sehr es in ihrer Liebsten gerade arbeitete, deshalb sagte sie eine Weile lieber gar nichts mehr, in der Hoffnung, dass Michis Anspannung langsam wieder von selbst abklingen würde.

Einige Minuten später hatte sich Michi tatsächlich wieder ein wenig beruhigt und wandte sich erneut Thea zu. »Entschuldige bitte, dass ich gerade so ausgeflippt bin. Weißt du, es ist nur . . .« Sie zuckte niedergeschlagen die Schultern. »Ich kann mich ganz genau daran erinnern, dass ich immer ans Limit gehen und mein Bestes geben musste . . . dass es nie genügt hat, wenn ich mal nur Mittelmaß war. Immer musste ich die Beste sein, alles andere war nicht gut genug.« Mit schmerzverzerrtem Gesicht zerdrückte sie ein paar Tannennadeln. »Das war schon in meiner Kindheit so. Wenn ich etwas nicht gleich konnte oder begriff, so musste ich stundenlang über dem Mist brüten, bis ich endlich alles in meinen Schädel hineingehämmert hatte . . . selbst wenn es bis Mitternacht oder noch länger gedauert hat«, erklärte sie in immer noch ziemlich gereiztem Ton. »Ich habe von meinen Eltern schon früh gelernt, dass man es im Leben nur zu etwas bringt, wenn man immer zweihundert Prozent gibt«, sagte sie entschieden und stieß einen schweren Seufzer aus. »Wobei zweihundert Prozent wahrscheinlich immer noch zu wenig sind«, murmelte sie kaum hörbar.

Thea schmiegte sich an Michi und suchte angestrengt nach den richtigen Worten. »Ja, das mag wohl damals so gewesen sein. Aber die Vergangenheit kann man nicht mehr ändern . . . leider«, sagte sie mit mitfühlender Stimme. »Aber diese Zeit ist nun vorbei. Sei doch jetzt einfach du selbst. Sei so, wie du sein möchtest . . . so, wie du schon immer sein wolltest. Du musst niemandem mehr imponieren oder gefallen. Schon gar nicht, indem du etwas tust, was dir nicht liegt oder jemand bist, der du gar nicht sein möchtest«, meinte sie und hauchte ihrem Schatz einen liebevollen Kuss auf die Wange.

Michi lächelte kurz, aber binnen Sekunden versteinerte sich ihr Blick gleich wieder. »Das meinst . . . sagst du«, zischte sie und winkte abfällig ab. »Meine Erfahrungen sind in der Hinsicht ganz anders.« Sie atmete tief durch, und das Weitersprechen fiel ihr sichtlich schwer.

»Denkst du etwa, dass meine Eltern mir jetzt keinen Druck mehr machen? Fast jedes Mal, wenn wir miteinander telefonieren, lassen sie mich durch die Blume wissen, dass es jetzt doch eigentlich wirklich an der Zeit wäre, dass ich mich auf der Karriereleiter nach oben arbeite. Einfach nur Staatsanwältin, noch dazu in einer relativ kleinen Abteilung, das wird ihnen niemals ausreichen«, stieß sie durch zusammengebissene Zähne hervor, »mindestens zur leitenden Staatsanwältin müsste ich es, ihrer Meinung nach zumindest, schon bringen«, schloss sie aufgewühlt und mit immer leiser werdender Stimme.

Nach einer kleinen Pause brachte es Michi fertig, doch noch weiterzuerzählen, man merkte ihr an, wie schwer ihr diese ganze Sache fiel. »Das letzte Mal, als ich übrigens nicht zweihundert Prozent geleistet habe. . .«, um ihre Mundwinkel zuckte es nun heftig, »wurde ich von meiner Freundin betrogen. Einfach eiskalt betrogen . . . und kurz darauf auch noch verlassen«, sagte sie mit zitternder Stimme. Durchdringend schaute sie Thea an. »Und du willst mir sagen, dass das Leben anders funktioniert? Funktionieren sollte? Das ist doch jetzt ein Witz, oder?« Ungläubig schüttelte sie den Kopf.

»Ach Michi, du bist echt eine harte Nuss«, sagte Thea bestimmt, aber mit einem Hauch Verständnis. »Du musst für dich herausfinden . . . für dich ganz allein, was dir im Leben wichtig ist. Wirklich wichtig ist, meine ich«, entgegnete sie in ruhigem Ton und fing Michis Blick ein. »Und ich sage es dir gern noch einmal. Ich wünsche mir eine liebe und verständnisvolle Frau an meiner Seite. Und zwar dich! Denn du bist alles, was ich mir je gewünscht habe.« Sie schenkte Michi ein verliebtes Lächeln. »Aber du brauchst mir nichts zu beweisen«, sagte sie nun ganz sanft. »Das kann ich dir wahrscheinlich noch tausendmal sagen, und du wirst es mir trotzdem nicht glauben«, murmelte sie traurig und wischte sich hastig mit ihrem Jackenärmel über die Augen. Aus dem Augenwinkel heraus sah sie, dass Michi mächtig am Schlucken war und wohl ebenfalls gegen die aufsteigenden Tränen anzukämpfen hatte.

Völlig unerwartet fiel Michi plötzlich Thea um den Hals und begann, sie leidenschaftlich zu küssen. »Mein Schatz . . . wirst du mir helfen, aus diesem verflixten Hamsterrad auszusteigen?« Sie stieß einen Seufzer aus. »Ich schaffe das allein einfach nicht. Ich fühle mich im Alltag und in meinem Job wie in einem Gefängnis, wie angekettet. So gern möchte ich diese Ketten sprengen . . . mich freistrampeln und nur ein einziges Mal das Gefühl von Freiheit und Leichtigkeit in mir spüren«, stöhnte sie niedergeschlagen und tauchte mit tränenverhangenen Augen in Theas Blick ein.

Thea presste ihre Lippen sanft auf Michis Mund und schaute ihre Liebste dabei zärtlich an. »Sehr, sehr gern werde ich versuchen, dir zu helfen.« Verschwörerisch zwinkerte sie Michi zu. »Kopf hoch«, meinte sie und boxte Michi liebevoll in den Oberarm. »Das schaffen wir schon. Gemeinsam sind wir einfach unschlagbar«, flüsterte sie ihr ins Ohr, während sie nun zärtlich über Michis Hände streichelte.

Michi lächelte und genoss ganz offensichtlich Theas Zärtlichkeiten. Sie kuschelte sich enger an sie und fing die wärmenden Sonnenstrahlen mit ihrem Gesicht auf. Mit geschlossenen Augen fühlte sie Theas Herzschlag und lauschte den Glöckchen und dem gleichmäßigen Hufschlag der Pferde. Für sie hätte jetzt einfach die Zeit stehenbleiben können, denn in diesem Moment gab es nur sie beide und diese traumhafte Landschaft. In dieser weißen Märchenlandschaft schienen ihre Probleme und Sorgen auf einmal wie weggeblasen und existierten nur noch in ihrer vagen Erinnerung. Entspannt legte sie den Kopf in den Nacken und ließ ihren Gedanken freien Lauf. Ich habe die wunderbarste Frau der Welt an meiner Seite. Das Leben könnte so schön sein. Mit Thea genieße ich wirklich jede Sekunde. Sie zeigt so viel Verständnis für mich, meine Ecken und Kanten. Ich liebe sie aus tiefstem Herzen und möchte für immer mit ihr zusammen sein, dachte sie glücklich und ließ in Theas Armen ihrer Fantasie und ihren Träumen auf eine sorglose Zukunft freien Lauf.

7

»Weiß Thea eigentlich, dass dir dieser Wettkampf so wichtig ist?«, fragte Ursula, Michis beste Freundin und jahrelange Fechtkollegin. Durchdringend schaute sie Michi an.

Michi nickte und öffnete den Reißverschluss ihrer Trainingstasche. Oje! Dieser Ton gefällt mir gar nicht. . . was will sie mir mit ihrer Frage bloß sagen?

Ursula fixierte weiterhin Michis Blick. »Hm . . . und weiß Thea auch, dass dir der Wettkampf vor allem wegen Jasmin so wichtig ist?«

Mit verzogenen Lippen und verdrehten Augen erwiderte Michi genervt ihren Blick. Diese Frage ging ihr ziemlich gegen den Strich. »Ich werde es Thea nach dem Training sagen. Eigentlich hätte ich das schon längst tun sollen«, seufzte sie und schüttelte bedrückt den Kopf. »Thea wird darüber bestimmt nicht erfreut sein«, murmelte sie leise und nahm ein Körperkabel und ihre Sicherheitsweste aus der Trainingstasche.

Voller Sorge schaute Ursula Michi an. »Beziehungsprobleme? Läuft wohl gerade nicht so gut zwischen euch«, stellte sie treffsicher fest.

»Das ist es nicht. Es ist nur so . . .« Michi schüttelte vehement den Kopf und winkte ab. »Ach . . . auch egal. Vergiss es einfach«, seufzte sie und griff nach ihren Handschuhen.

Die Hände in die Hüften gestemmt bedachte Ursula sie mit einem strengen Blick. »Oh, der Frau Staatsanwältin fällt es wohl schwer, über ihre Probleme zu reden. Stimmt doch, oder?«, fragte sie leicht provozierend. »Und wie immer spielt die Frau Staatsanwältin alles herunter.«

Michi winkte ab. »Ach, lass mich doch in Ruhe«, knurrte sie verstimmt. »Warum musst du eigentlich immer Hobbypsychologin spielen?«, fragte Michi niedergeschlagen. »Das Ganze ist gar nicht so einfach«, seufzte sie. Nach einer Weile setzte sie sich auf die Bank und vergrub ihr Gesicht in den Händen. »Ich möchte so gern mehr Zeit mit Thea verbringen. Ich liebe sie wirklich über alles«, sagte sie, schluckte und schaute mit Tränen in den Augen zu Ursula hoch. »Aber mein Job hat mich dermaßen fest im Griff, es ist ein richtiger Teufelskreis. Manchmal ist alles zusammen der reinste Alptraum.« Nun drehte sie ihren Helm nervös in den Händen herum. »Erst vor kurzem habe ich wieder Drohungen erhalten«, sagte sie traurig, stand auf und zog ihre Sicherheitsweste an.

Ursula riss entsetzt die Augen auf. »Drohungen? Was für Drohungen denn?« Fassungslos schaute sie Michi mit großen Augen an.

Um das Ganze herunterzuspielen, winkte Michi erneut gespielt gelassen ab. »Ach, vergiss es einfach. Ist echt nicht so wichtig«, nuschelte sie leise und zog sich die Schuhe an.

»Aha . . . nicht so wichtig.« Ursula schüttelte ungläubig den Kopf. »Und so, wie ich dich kenne, weiß Thea von diesen Drohungen natürlich auch nichts. Richtig?« Zutiefst besorgt verzog sie das Gesicht. »Die Frau Staatsanwältin macht wieder mal alles mit sich selbst aus«, seufzte sie. »Darin bist du wirklich Weltmeisterin. Einfach unschlagbar«, knurrte sie.

Michi amtete tief aus. »Thea muss das nicht wissen«, meinte sie und rieb sich müde die Schläfen. »Sie würde sich nur unnötig Sorgen um mich machen, und das will ich nicht«, sagte sie entschieden.

»Hm . . .« Ursula war nicht so recht von der Sache überzeugt, schwieg aber und presste die Lippen zusammen. »Du musst wissen, was dir wichtiger ist – dein Job oder Thea.« Sie legte den Kopf leicht schief und musterte Michi, während sie schnell auf der Stelle joggte. »Du übertreibst es einfach. Zum Glück stecke ich nicht in Theas Schuhen. Die Arme!«, sagte sie voller Mitgefühl und warf Michi einen düsteren Blick zu. »Ich, an Theas Stelle, hätte dich längst verlassen. Was hat man denn schon von einer Frau, die einem ständig nur die Türklinke in die Hand drückt?«, sagte sie etwas bissig und vollführte nebenher gekonnt einen Sturzangriff, eine sogenannte Flèche.

Michi raufte sich aufgewühlt die Haare. »Nein! Bitte sag so etwas nicht. Ich will Thea nicht verlieren. Ein Leben ohne Thea wäre so armselig und traurig. Das wäre für mich das Allerschlimmste!«, sagte sie ganz aufgeregt und raufte sich erneut die Haare, die schon in alle Richtungen abstanden.

»Na, dann solltest du ja jetzt wissen, was zu tun ist, oder? Pass auf, dass dir Thea nicht davonläuft – vor lauter Pflichtgefühl und Engagement deinem Arbeitgeber gegenüber. Der wird sich nämlich nicht bei dir bedanken, wenn du ein Burnout bekommst, sondern wird versuchen, dich auf elegante und kostengünstige Art und Weise rasch zu entsorgen«, bemerkte Ursula trocken und schaute Michi eindringlich in die Augen. »Thea weg. Burnout. Job weg«, sagte sie herausfordernd, wohl in der Absicht, Michi endlich wachzurütteln und ihr die Augen zu öffnen. »Das wäre dann echt die Krönung, das Tüpfelchen auf dem I«, flüsterte sie und legte die Hände auf Michis Schultern, um sie leicht zu schütteln. »Mensch, Michi, wach doch endlich auf. Wenn du so weitermachst, steuerst du wirklich auf die absolute Katastrophe zu, und da kann niemand wissen, wo das Ganze noch enden wird.«

»Wahrscheinlich hast du recht«, stöhnte Michi niedergeschlagen und rieb sich dabei nachdenklich die Nase.

»Weißt du eigentlich, von wem die Drohungen kommen?«, fragte Ursula, wie um das Thema zu wechseln.

Um sich zu beruhigen, atmete Michi ein paar Mal tief ein und aus. »Zum Teil Ja. Eine Drohung zum Beispiel kommt von einer Frau, die mich dafür verantwortlich macht, dass sie ihre Strafe im Gefängnis absitzen muss. Ich soll schuld an ihrer Misere sein. Dabei habe ich ihr immer und immer wieder eine Chance gegeben«, seufzte sie und winkte ab. »Ach, was soll’s. In meinem Job hat man eben nicht so viele Freunde. Da gibt es schon ab und zu mal eine Drohung. Gehört quasi zur Tagesordnung und zum guten Ton«, sagte sie salopp. »Das darf ich mir einfach nicht so zu Herzen nehmen.« Sie schaute Ursula entschlossen an. »Das muss eben an mir abprallen«, meinte sie entschieden und straffte energisch die Schultern. »Verstehst du? Einfach abprallen.«

»Tut es denn aber ganz offensichtlich doch nicht, Frau Staatsanwältin. Ich kenn dich doch, in deinem Innern sieht es ganz anders aus, auch wenn du das nach außen hin nicht zugibst. Irgendwo tief in dir drin steckt eine sehr verletzliche und zerbrechliche Michi«, sagte Ursula mit weicher Stimme. Sie schien von Michis Ausführungen wenig überzeugt. »Ist es nicht so, Michi?«

Michi wischte sich mit dem Ärmel schnell über die Augen. »Ach, tu mir bitte einen Gefallen«, knurrte sie aufgebracht, »und lass mich mit deinem Psychokram in Ruhe!« Wutentbrannt griff sie nach ihrem Degen und verließ eilig die Garderobe.

Lasst mich doch einfach alle in Ruhe!

Völlig fassungslos konnte Ursula Michi nur noch kopfschüttelnd hinterherschauen. »Ich meine es doch nur gut mit dir. Wann geht das endlich mal in deinen Dickschädel rein?«, murmelte sie geknickt, griff nach ihrem Schutzhelm und Degen und stürzte sich ins schweißtreibende Training.

Nach einem reichlich anstrengenden Tag kehrte Michi schließlich am späten Abend zu Thea in die Wohnung zurück.

Thea saß mit einer Tasse Tee am Tisch, studierte ein Mandantendossier und tippte sich dazu ein paar Notizen in den Laptop.

Michi ging zu Thea hin, umarmte sie zärtlich von hinten und hauchte ihr einen liebevollen Kuss aufs Haar. »Wie geht’s dir, mein Schatz? Wie war dein Tag?«, fragte sie und streichelte Thea über den Arm.

Die Umarmung erntete Michi ein warmes Lächeln von Thea. »Alles bestens. Und wie sieht es bei dir aus?«, fragte sie gutgelaunt, schloss das Dossier und schob es entschieden zur Seite.

»Ich bin so kaputt und müde, ich könnte auf der Stelle einschlafen«, seufzte Michi und holte sich in der Küche ein Glas Wasser. Damit schlenderte sie zum Fenster hinüber und schaute gedankenverloren nach draußen.

»Ehrlich gesagt verwundert mich das überhaupt nicht«, meinte Thea leise, stand auf und stellte sich hinter Michi ans Fenster. Gemeinsam schauten sie einen langen Moment dem regen Verkehr auf der Straße zu.

»Bist du eigentlich mit deinen Wettkampfvorbereitungen zufrieden?«, fragte Thea nach einer Weile.

Sofort fühlte sich Michi wie auf frischer Tat ertappt. Oje, am liebsten würde ich jetzt gleich das Thema wechseln. Aber . . . Aber ich muss Thea heute endlich reinen Wein einschenken. Sie strich sich aufgewühlt durchs Haar und knabberte an ihrer Unterlippe. Dann drehte sie sich langsam zu Thea um und blickte ihr tief in die Augen. »Schatz . . . es gibt da etwas, was ich dir noch nicht erzählt habe«, sagte sie, räusperte sich nervös und begann, auf den Füßen vor und zurück zu wippen.

Thea schaute Michi skeptisch an. »Ach ja? Was denn?«, fragte sie mit hochgezogenen Augenbrauen.

»In diesem Wettkampf geht es mir darum, dass ich gegen Jasmin gewinnen will. Ich will ihr endlich mal beweisen, dass ich sie besiegen kann«, sagte Michi fest entschlossen und mit versteinerter Miene.

Thea starrte Michi mit großen Augen an. »Jasmin? Meinst du etwa die Jasmin?«, fragte sie mit zusammengekniffenen Augen.

»Ja, die Jasmin, meine Exfreundin«, antwortete Michi mit zusammengepressten Lippen und trank erst einmal einen großen Schluck Wasser. »Einmal wenigstens will ich sie besiegen. Ein einziges Mal in meinem Leben. Und jetzt ist die Zeit dafür reif«, sagte sie kämpferisch und mit eiskalter Stimme.

Thea wirkte völlig überrumpelt und strich sich verdattert durchs Haar. An den Fenstersims gelehnt seufzte sie: »Puh, das sind ja tolle Neuigkeiten, und das zu so später Stunde«, seufzte sie. Mit hängenden Schultern schlenderte sie zur Hausbar hinüber. »Ich brauche jetzt erst einmal einen Schnaps«, sagte sie und goss sich ein großzügiges Glas Edelkirsch ein, das sie in einem Riesenschluck in sich hineinkippte.

Michi blieb am Fenster stehen und beobachtete Thea mit einem unguten Gefühl. Alles in ihr zog sich schmerzhaft zusammen. Verdammt, ist doch klar, dass Thea jetzt keine Freudensprünge macht. Ich an ihrer Stelle wäre über so eine Mitteilung auch nicht gerade erfreut, dachte sie bei sich und fühlte sich mit einem Mal hundsmiserabel.

Mit Tränen in den Augen kehrte Thea zu Michi zurück. »Es tut so weh, dass dir deine Ex offenbar immer noch so wichtig ist«, sagte sie mit zittriger Stimme. »Muss das denn sein? Musst du unbedingt gegen Jasmin kämpfen? Was willst du dir denn damit beweisen? Ich dachte, du hättest mit dem Thema längst abgeschlossen«, fragte sie unsicher und schluckte schwer. »Hast du das wirklich nötig?«

An Michis Schläfe begann eine Ader heftig zu pochen. Auch wenn es ihr fast das Herz brach, Thea so traurig vor sich zu sehen, sagte sie: »Jasmin hat mich damals betrogen und mich immer wieder als Versagerin bezeichnet. Als Versagerin! Und mir obendrauf noch ins Gesicht gesagt, dass ich niemals gegen sie gewinnen würde. Verstehst du? Niemals!«, erklärte sie aufgebracht und versuchte so, sich irgendwie zu rechtfertigen. Sie schluckte schwer und drehte sich von Thea weg. Vor ihrem inneren Auge flackerten wieder die grauenvollen Bilder von damals auf, die ihr immer noch jedes Mal einen Stich mitten ins Herz verpassten.

Dieses Mal tat es aber noch doppelt und dreifach weh. Nicht nur hatte sie es soeben fertiggebracht, Thea wieder einmal zu enttäuschen, sondern gleichzeitig auch noch die Erinnerungen an Jasmins Betrug erneut heraufzubeschwören. Was mache ich hier eigentlich gerade? Meine Thea ist ganz offensichtlich todunglücklich. Und warum nur kann ich das alles mit Jasmin immer noch nicht vergessen?

Nach einer Weile umarmte Thea Michi ganz sanft von hinten. »Ach Schatz, die Zeiten sind doch längst vorbei. Das alles war nicht schön von Jasmin. Das stimmt. Aber Jasmin gehört ein für alle Mal der Vergangenheit an«, sagte sie mit weicher Stimme. »Bitte vergiss Jasmin! Bitte lass nicht zu, dass sie zwischen uns steht und in unserer Beziehung eine so wichtige Rolle spielt«, flüsterte sie flehend. »Nur das Hier und Jetzt ist doch wirklich wichtig, kannst du das nicht verstehen?«, fragte Thea müde.

Michi drehte sich zu Thea um und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Bitte verzeih, aber ich kann da einfach nicht aus meiner Haut. Ich will Jasmin endgültig beweisen, dass ich es doch draufhabe. Ich will sie besiegen. Ich werde ihr alles heimzahlen. Das ewige Niedermachen. All die Verletzungen und diesen scheußlichen Betrug«, erklärte sie, während sie sich ungebetene Tränen aus dem Gesicht wischte. »Ich will und muss gegen sie gewinnen. Erst dann werde ich meinen Seelenfrieden endlich finden können«, sagte sie fest entschlossen.

Auch Thea traten jetzt Tränen in die Augen. »Ist das wirklich dein letztes Wort zu diesem Thema? Du ziehst das durch, komme, was da wolle?«, fragte sie mit zittriger Stimme. »Ist dir eigentlich völlig egal, wie ich mich dabei fühle, wie es mir dabei geht?«, fuhr sie Michi aufgebracht an.

Michi verzog betroffen das Gesicht. Erneut verpasste ihr die Sache einen Stich mitten ins Herz, aber sie hatte sich regelrecht in die Sache verrannt, und ihre Gedanken trieben sie unaufhaltsam zu dem bevorstehenden Kampf.

»Ja, es muss sein«, antwortete sie scharf und schaute Thea mit einem Blick an, der einem das Blut in den Adern gefrieren ließ. »Ich habe mit Jasmin noch eine Rechnung offen«, knurrte sie und verschränkte kämpferisch die Arme vor der Brust. »Und die wird dieses Mal endgültig beglichen«, meinte sie mit unterkühlter Stimme und einem eisigen Blick. »Davon lasse ich mich von nichts und niemandem abbringen, auch nicht von dir.«

Thea schaute Michi fassungslos an, mit so einem heftigen Gefühlsausbruch hatte sie sicherlich nicht gerechnet. »Wenn das dein letztes Wort ist, so ist es wohl besser, wenn ich heute Nacht auf dem Sofa schlafe«, sagte sie enttäuscht, marschierte ins Schlafzimmer und holte ihr Bettzeug.

Regungslos und mit leerem Blick blieb Michi am Fenster stehen und starrte niedergeschlagen auf die Straße hinunter. Was ist bloß los mit mir? Was geht hier vor sich? Ich erkenne mich ja selbst nicht wieder!

Nach einer Weile drehte Michi sich um. Thea hatte inzwischen ihr Bett auf der Couch gemacht und saß erwartungsvoll da. Ihre Blicke trafen sich, und mit Tränen in den Augen schauten sie sich gegenseitig lange an. Doch jede schien Gefangene ihrer eigenen Gefühle zu sein und konnte und wollte bei dieser Grundsatzdiskussion nicht klein beigeben.

Michi ging schließlich doch noch schweren Schrittes auf Thea zu. »Bitte versteh doch . . . Ich kann einfach nicht anders, ich muss das machen«, sagte sie flehend.

Doch Thea schüttelte nur verständnislos den Kopf und wandte sich von Michi ab. »Das stimmt nicht. Man hat immer eine Wahl, sich für oder gegen eine Sache zu entscheiden. Und dass Jasmin in deinem . . . in unserem Leben immer noch so eine wichtige Rolle spielt, verletzt mich zutiefst. Das ist einfach nur grausam«, flüsterte sie aufgewühlt, legte sich aufs Sofa und zog sich die Decke über den Kopf. »Lass mich bitte in Ruhe. Ich will dich heute nicht mehr sehen«, fauchte sie wütend.

Michi schaute verzweifelt und hilflos auf Thea hinunter und brachte keine Silbe mehr über die Lippen. Niedergeschlagen schlich sie nach nebenan ins Schlafzimmer und zog die Tür leise hinter sich zu. Nun ließ sie ihren Gefühlen und Gedanken freien Lauf. Sie legte sich aufs Bett und begann hemmungslos zu schluchzen. Was habe ich bloß getan? Thea, ich liebe dich über alles. Du bist mir so wichtig. Ich will dir doch nicht wehtun. Sie schlug ein paarmal wütend auf ihr Kissen ein. Verdammt, wie ich diesen Ehrgeiz, diesen Perfektionismus, diese Leistungsgesellschaft, dieses ständige Funktionieren und diese innere Zerrissenheit hasse! Ich kann bald echt nicht mehr. Ich weiß nicht, wo mir der Kopf noch steht. Was ist richtig? Was ist falsch? Ich verstehe mich und mein Handeln so überhaupt nicht mehr. Wo soll das alles noch hinführen?

In dieser Nacht fanden weder Thea noch Michi viel Schlaf, keine wusste so recht, wo ihre gemeinsame Reise hinführen würde und ob sie das Thema Jasmin je aus ihrer Beziehung würden verbannen können.

3

In den kommenden Wochen hatten sowohl Michi als auch Thea vor allem beruflich viel um die Ohren. Michi hatte nach wie vor viel aufzuarbeiten, da ihre Fälle während der Zeit, als sie ihr dreimonatiges Praktikum beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag absolviert hatte, mehrheitlich liegengeblieben waren. Nur für das Allernötigste hatte sie während dieser Zeit eine Vertretung gehabt. Mit Ausnahme ihrer Fechtabende saß Michi eigentlich jeden Abend bis spät in die Nacht im Büro und schleppte anschließend sogar noch Akten mit nach Hause. Oft fielen ihr dann irgendwann vor Erschöpfung einfach die Augen zu, und sie schlief über ihren Dossiers am Wohnzimmertisch ein. Thea gefiel diese Entwicklung ganz und gar nicht. Sie machte sich große Sorgen um ihren Schatz, so ein Übermaß an Arbeit musste selbst der Stärksten irgendwann an die Substanz gehen, und sie wusste nicht, wie lange Michi das wohl noch durchstehen würde.

Thea hatte als Rechtsanwältin in letzter Zeit ein paar neue Mandanten dazugewinnen können. Nach ihrem Burnout vor ein paar Jahren hatte sie zwar ihr Arbeitspensum drastisch reduziert, aber auch sie war dieser Tage arbeitsmäßig gut ausgelastet.

Michi und Thea hatten sich im vorherigen Sommer bei einem gemeinsamen Tierschutzfall, den Regina von Siebenthal damals ins Rollen gebracht hatte, in Basel kennengelernt und sich auf der Stelle ineinander verliebt. Es war wirklich Liebe auf den ersten Blick gewesen, und sie hatten gleich bei der ersten Verabredung gewusst, dass sie ab sofort gemeinsam durchs Leben gehen wollten.

Doch leider waren die ersten Wochen des neugefundenen Liebesglücks jäh unterbrochen worden, da Michi bereits kurz darauf für ein spannendes Praktikum nach Den Haag gereist war. Ab dem Moment hatten die beiden sich nur noch ab und zu an den Wochenenden gesehen, was ihren Gefühlen zwar keinen Abbruch getan hatte, aber ihrem gegenseitigen Kennenlernen ziemlich in die Quere gekommen war. Selbst als Michi dann endlich aus Den Haag zurückgekehrt war, hatte sie es schwierig gefunden, beruflich auch einmal zurückzustecken und sich mehr auf Thea zu konzentrieren, was schon das ein oder andere Mal zu unangenehmen Auseinandersetzungen geführt hatte.

Heute war es also endlich so weit. Der langersehnte Winterurlaub stand vor der Tür, und beide konnten es kaum erwarten, endlich einmal richtig Zeit füreinander zu haben. Die Vorfreude auf den gemeinsamen Urlaub war es gewesen, die sie in den vorangegangen schwierigen Wochen bei der Stange gehalten hatte, sonst wäre Thea vielleicht doch noch irgendwann der Kragen geplatzt ob Michis offensichtlichem Arbeitswahn.

Michi wollte die Ferien so schön und harmonisch wie nur möglich beginnen, und so schaffte sie es doch tatsächlich, sich einmal rechtzeitig vom Bürostuhl loszureißen und sogar früher als abgemacht zu Hause einzutreffen.

Ich freue mich so sehr auf die Zeit mit dir, Thea, dachte sie, als sie ihre Liebste beim Kofferpacken beobachtete und ihren Blick kaum von ihr lassen konnte. Habe ich ein Glück, so eine tolle Frau an meiner Seite zu haben . . .

Kurze Zeit später war dann sämtliches Gepäck sicher in Michis Auto verstaut, und die beiden waren auf der Autobahn in Richtung Berner Oberland unterwegs.

»Ich kann es noch gar nicht glauben, dass wir zusammen für drei Wochen in den Urlaub fahren«, sagte Thea und schenkte Michi einen verliebten Blick. »Es kommt mir immer noch wie ein Traum vor«, meinte sie.

Michi lächelte zufrieden. »Ehrlich gesagt kann ich es auch noch nicht richtig glauben«, flüsterte sie und streichelte Thea zärtlich über den Oberschenkel. »In den letzten zehn Jahren habe ich bestimmt kein einziges Mal drei Wochen am Stück Urlaub gemacht«, meinte sie und konzentrierte sich wieder auf den Straßenverkehr. »Um der Wahrheit die Ehre zu geben, kann ich mich nicht einmal daran erinnern, wann ich das letzte Mal richtig Ferien gemacht hätte.« Sie zuckte die Schultern. »Eigentlich habe ich immer gearbeitet. An was anderes kann ich mich so gut wie nicht erinnern«, sagte sie müde.

Thea hob überrascht die Augenbrauen. »Oh . . .«, kam es ihr über die Lippen, während sie Michi neugierig von der Seite anschaute. »Kannst du das dann überhaupt?« Sie räusperte sich. »Ich meine . . . so lange Urlaub machen?«, fragte sie etwas neckisch, schaute ihre Michi aber voller Mitgefühl an. »Oder gibt das womöglich eine Katastrophe?«, murmelte sie leise.

»Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ich mir nichts sehnlicher wünsche, als harmonische Tage mit dir zu verbringen«, sagte Michi mit warmer Stimme. »Ich freue mich auf einen wundervollen Urlaub mit dir, mein Schatz«, wisperte sie und warf Thea einen kurzen verheißungsvollen Blick zu. Sie räusperte sich. »Tag und Nacht mit dir zusammen . . . ich kann’s kaum erwarten«, flüsterte sie und errötete dabei leicht.

Thea beugte sich zu Michi hinüber und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. »Ich freue mich auch auf wundervolle Tage – und Nächte – zusammen mit dir«, raunte sie und zwinkerte ihrer Liebsten einladend zu.

Für einen kurzen Moment begegneten sich ihre Blicke voller Wärme und Liebe; die Vorfreude stand beiden ins Gesicht geschrieben. Schweren Herzens musste sich Michi wieder auf den Straßenverkehr konzentrieren, schließlich wollten sie ja heil an ihrem Urlaubsort in den Bergen ankommen. Zwei Stunden später parkte Michi dann auch ihren Wagen im Parkhaus des wunderschönen, im Chalet-Stil erbauten Hotels. Draußen herrschten wie zu erwarten eisige Temperaturen. Doch ein strahlend blauer Himmel und Sonnenschein pur gaben schon einen reizvollen Vorgeschmack auf wundervolle Urlaubstage.

»Herzlich willkommen in unserem Berghotel Alpenblick«, sagte die Rezeptionistin in freundlichem Ton und reichte erst Michi, dann Thea lächelnd die Hand. »Bitte fühlen Sie sich bei uns wie zu Hause.«

Die beiden stellten ihr Gepäck ab, begrüßten die Frau und blickten sich bewundernd in der luxuriösen Empfangshalle des Hotels um.

»Du brauchst dich um gar nichts zu kümmern, überlass das nur mir«, flüsterte Michi ihrer Thea zu.

Thea lächelte und streichelte zärtlich über Michis Rücken. »Wenn du meinst«, wisperte sie dankbar zurück.