Cover

Epilog

Es war der zweiundzwanzigste Dezember… in den Straßen von Boston herrschte ein leichtes Schneetreiben. Robin, die zehn Minuten zu spät zu ihrer Sitzung bei Mollie eingetroffen war, schälte sich aus ihrer purpurroten Skijacke, legte Strickmütze und Handschuhe ab und machte es sich in dem Sessel gegenüber von Mollie bequem. Mollie streckte ihr einen Teller mit Weihnachtsplätzchen entgegen.

»Sind die selbst gebacken?« fragte Robin.

»Nein, aber selbst gekauft.«

»Wollen Sie hören, was eine Dorothy Cotton dazu sagen würde?«

»Okay, ich bin bereit… gib's mir.«

Doch zuerst stand Robin auf und nahm eine steife Dorothy-Pose ein: »Mein Schatz, abgepackte Nahrungsmittel sind nur was für unfähige und faule Menschen… für alle Nichtsnutze und Strolche dieser Welt.«

Lachend beugte sich Mollie vor: »Aber nein, hat sie das wirklich gesagt?«

»Nur den ersten Teil. Der zweite ist ein original Robin-Garr-Zitat.«

Zwanzig Minuten nach Beginn der Sitzung stellte Robin die Frage: »Wenn diese ganzen entsetzlichen Dinge auch Dorothy angetan worden sind, warum wollte sie sie dann Amelia antun? Und dann auch mir?«

»Wegen ihrer kranken Art zu denken, sie wollte dich auf diese Art und Weise beschützen. Denn falls es ihr gelänge, einen perfekten Menschen aus dir zu machen – zumindest so perfekt, wie sie es sich vorstellte –, dann würde keiner es wagen, dir zu schaden.«

»Aber sie hat mir geschadet. Sie muß doch gewußt haben, daß ich gelitten habe; sie muß doch selbst gelitten haben unter dem, was man ihr angetan hat.«

»Genau das ist der springende Punkt, Robin – ein anderes Verhalten hat sie ja nie kennengelernt. Viele mißhandelte Kinder wachsen heran und mißhandeln dann wiederum ihre eigenen Kinder, weil sie nichts anderes kennen. Und das von den Menschen, die sie am meisten liebten und denen sie am meisten vertrauten.«

»Ich begreife aber immer noch nicht, warum ich das alles vergessen habe – ich meine, ich kann mich wirklich an nichts mehr erinnern. Weder daran, Amelias Rücken gesehen, noch daran, in ihrem Tagebuch gelesen zu haben, an nichts.«

»Dieses Vergessen ist oft ein Weg, um vor etwas zu fliehen, das zu schmerzhaft wäre, um sich daran zu erinnern. Ich würde sagen, daß dieser Mechanismus des Verdrängens wahrscheinlich in der Nacht, in der Amelia ertrank, bei dir eingesetzt hat.«

»Warum ausgerechnet da?«

»Ich denke, ich weiß es, aber ich hätte es lieber, wenn du es mir sagst.«

Robin überlegte, und plötzlich, als wäre sie endlich auf ein letztes, noch fehlendes Stück Information gestoßen, schaute sie zu Mollie hoch. »Ich begreife das nicht, woher konnten Sie das wissen?«

»Weil so eine Reaktion ganz natürlich ist, Robin. Jetzt geht es nur noch darum, daß du sie dir selbst gegenüber akzeptierst.« Robin biß sich auf die Unterlippe, und ihre Augen wurden feucht.

»Weil ich ganz tief drin in mir dachte, daß Amelia vielleicht besser dran ist, wenn sie tot ist. Aber in dem Augenblick, als ich so etwas Entsetzliches dachte, fühlte ich mich so schuldig, daß ich nur noch sterben wollte.«

Am Ende ihrer Sitzung begleitete Mollie Robin noch zur Tür und sah ihr zu, wie sie sich warm einpackte.

»Alles schon bereit für Weihnachten?«

»Klar. Erst gestern habe ich Ihr Geschenk abgeholt, das mußte ich extra bestellen. Warten Sie nur, bis Sie es sehen, Sie werden platzen.«

Mollie lächelte. »Ich habe gehört, daß Eunice den Weihnachtstag bei dir und deinem Dad verbringen wird.«

Robin grinste. »Wer hat Ihnen das gesagt, Daddy?«

»Nein, es war Eunice. Sie ist nach eurem gemeinsamen Besuch vor kurzem mal bei mir vorbeigekommen.«

»Hat sie Ihnen auch von ihrem Trinken erzählt – oder sollte ich lieber sagen, daß sie nicht mehr trinkt? Bis auf ein Glas Wein am zwölften November hat sie seit dieser Nacht in Maine keinen Tropfen mehr angerührt. Daddy hat sie schon gefragt, ob sie zu den Anonymen Alkoholikern gegangen ist, aber sie gibt bloß zu, daß sie Yoga macht.«

»Sie ist eine außergewöhnliche Frau, deine Mutter. Man sieht sofort, woher du deinen Mut hast.«

»Meinen was?«

»Deinen Mut, deinen unabhängigen Geist, dein Rückgrat, deine Arroganz, deine Kühnheit. Jede Menge toller Eigenschaften.«

»Glauben Sie denn, Daddy wird wieder zu ihr zurückgehen?«

»Schau, ich weiß, daß du dir das wünschst, Robin, und mir würde das auch gefallen. Aber wer weiß, vielleicht sind wir zwei nur hoffnungslose Romantiker. Auf jeden Fall liegt es nicht an uns, sondern an Eunice und deinem Dad – Alkoholiker können oft mit dem Trinken aufhören, aber die meisten von ihnen schaffen es nicht, trocken zu bleiben –, zumindest nicht ohne Hilfe. Und wir wissen nicht, ob Eunice diese Hilfe bekommt.«

»Na ja, Neujahr steht vor der Tür, und es kann ja mal nicht schaden, wenn ich mir das wünsche.«

»Ich glaube, das hast du etwas falsch verstanden – man soll sich für das neue Jahr etwas vornehmen, nicht wünschen.«

»Wer hat sich denn das ausgedacht?«

»Keine bestimmte Person, so will es die Tradition.«

Robin schob ihre Finger in die Handschuhe und nickte dann, als habe sie soeben ein Problem gelöst.

»Dann pfeif ich auf die Tradition, Mollie. Dieses Jahr werde ich dann eben mit einem Wunsch beenden.« Sie schlang ihre Arme um Mollie, drückte sie ganz fest und lief dann mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht nach draußen.

Copyright dieser Ausgabe © 2014 by Edel eBooks,
einem Verlag der Edel Germany GmbH, Hamburg.

Copyright © b1991 by Gloria Murphy

Deutsche Erstausgabe  1992
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel "Down Will Come Baby"

Aus dem Amerikanischen von Gabriela Schönberger-Klar
edel.com
facebook.com/edel.ebooks

1

Auspacken … Robin haßte es. Es erinnerte sie an das Sommerlager, an den Tod und an Amelia. Außerdem hatte sie gar nicht wegziehen wollen, auch wenn sie im Augenblick Eunices Gegenwart kaum ertrug. Es war Daddy gewesen, der darauf bestanden hatte, Eunice und das gemeinsame große Haus in Andover zu verlassen und in diese Fünfzimmerwohnung nach Boston zu ziehen.

Daddy gab als Hauptgrund für diesen Umzug an, daß er näher bei seiner Rechtsanwaltskanzlei in der Stadt sei. Eunice dagegen meinte, der Grund sei lediglich der, sie davon abzuhalten, ihr Kind zu sehen, und obwohl Robin nur selten mit ihrer Mutter einer Meinung war, dachte sie, daß Eunice wahrscheinlich recht hatte.

Keiner erwähnte den anderen Grund: Die Alpträume und Schreikrämpfe, die in irgendeinem düsteren, kranken Teil von Robins Kopf heranwuchsen und immer wieder völlig überraschend auftauchten. Soweit sie begriffen hatte, was ihr Kinderarzt zu Daddy gesagt hatte, gab es in Boston die besten Psychotherapeuten.

Um ihr Gleichgewicht kämpfend, stellte Robin den schweren Karton mit Toilettenartikeln auf dem Waschbecken im Badezimmer ab und betrachtete das schmale Bad: ausgeblichene, rosafarbene Fliesen, eine hohe, geschwungene Decke, eine Badewanne mit vier Beinen und einem Duschvorhang aus Plastik, und hinter der Toilette ein hohes Fenster, das auf das Haus gegenüber hinausging. Es regnete seit dem frühen Morgen, als der Umzugswagen vor dem Haus vorgefahren war. Sie ging zum Fenster und schaute auf die dunkle, nasse Straße hinunter. Bis auf ein paar sonntägliche Ausflügler in langsam fahrenden Wagen und eine Frau, deren Gesicht von einem blauen Schirm verdeckt war und die rasch auf den Hintereingang des Hauses zuging, lag die Straße verlassen da. Robin spürte, wie ein Schauer sie durchlief. Boston wirkte im Regen düster, düsterer, als es draußen in den Vorstädten war, vermutete sie. Aber wer konnte das schon mit Sicherheit sagen, vielleicht entsprang die Düsternis in Wirklichkeit ihrem Kopf. Als sie wieder aufblickte, sah sie einen Jungen, der sie durch ein Fernglas aus einem Fenster des Apartmenthauses nebenan betrachtete. Sie zog die schmutzigen braunen Karovorhänge, die die Vormieter ihnen hinterlassen hatten, mit einem Ruck zu, ging zum Waschbecken zurück und öffnete den Medizinschrank. Der Geruch von Eunices Parfüm, das nach Jasmin duftete, hing immer noch an den Fläschchen, Döschen und Tuben, die sie aus dem Pappkarton holte. Es war derselbe Geruch, der Robin beruhigt und in den Schlaf gewiegt und ihr versichert hatte, daß Mommy in der Nähe war. Doch das war zu einer Zeit gewesen, als Robin noch an Eunice geglaubt hatte –jetzt war alles anders.

Als sie den Karton schließlich ganz ausgepackt hatte, schloß Robin die Tür des Schränkchens und starrte sich in dem mit Seifenspritzern verschmierten Spiegel an; sie konnte noch immer nichts mit diesem fremden, mageren zwölf Jahre alten Mädchen anfangen, das ihr entgegenstarrte. Die Ringe unter ihren dunklen Augen fielen stärker denn je auf, was in erster Linie an dem grotesken Haarschnitt lag … Als sie von heute auf morgen ihr schönes langes Haar radikal abgeschnitten hatte, war Daddy wahrscheinlich zu dem Schluß gekommen, daß sie nun endgültig durchgedreht sei.

Aber das war sie nicht – zumindest zu dem Zeitpunkt nicht, wie sie annahm. Es war nur eine Geste für Amelia gewesen. Und obwohl sich Robin nicht sicher sein konnte, daß Amelia überhaupt von dieser großartigen Geste wußte, so wußte sie doch, daß Amelia sie verstehen würde, falls es tatsächlich so wäre.

Robin spürte, wie ihr Rücken wieder zu kribbeln anfing – es fühlte sich an, als kröchen Dutzende winziger Käfer über ihre Haut. Sie drehte sich um, schob ihr Hemd hoch, spähte über ihre Schulter und betrachtete prüfend ihren Rücken im Spiegel. Wie oft hatte sie das in den vergangenen paar Monaten getan?

Aber es war noch immer nichts zu sehen.

Trotz der chaotischen Zustände an einem Umzugstag, brachte Marcus Garr es noch fertig, ein paar Tüten mit Lebensmitteln einzukaufen. Jetzt, da er endgültig mit Eunice gebrochen hatte, würde er als erstes ihre Eßgewohnheiten ändern: Keine Sandwiches und keine Pizza mehr, die vor dem Fernseher verschlungen wurden, keine Styroporbehälter und kein Plastikbesteck, auch keine Käsestangen mehr, die nur kurz in der Mikrowelle aufgewärmt wurden.

Er war zwar nicht so naiv, um anzunehmen, daß ein paar gutbürgerliche Mahlzeiten die emotionalen Probleme seiner Tochter lösen würden, aber ein stützendes Korsett aus festen Gewohnheiten, Normalität und ein positives Vorbild würden für den Anfang bestimmt nicht schaden. Natürlich mußte er darauf achten, daß er Robin in diesem Punkt nicht zu sehr überforderte – hoffentlich würde es ihm gelingen, den richtigen Mittelweg zu finden. In den vergangenen Wochen und Monaten hatte er sich fast ständig so gefühlt, als versuchte er, einen großen Buick in eine Parklücke zu bugsieren, die für einen kleinen Volkswagen gedacht war.

Er riß eine Schachtel mit Spaghetti auf, suchte in dem noch nicht ausgepackten Küchenkarton nach einem Topf, schüttete den Inhalt der Schachtel hinein, füllte mit Wasser auf und stellte den Topf auf den Gasherd.

»Daddy, was ist eigentlich mit der Schule?«

Er drehte sich um. Robin lehnte am Kühlschrank und beobachtete ihn. Seit August hatte sie beträchtlich an Gewicht verloren, so daß ihr einmal ziemlich kräftiger Körper schon fast zerbrechlich wirkte. Eigentlich hätte er erwartet, daß sie in der Zwischenzeit wieder die alte Robin sein würde – die Zeit heilte doch alle Wunden, oder etwa nicht? Aber die alte Robin schien so weit weg wie nie zu sein.

»Was ist mit der Schule, Baby?«

»Wann fange ich damit an?«

Er begann, die neuen Teller aus Steingut auszupacken, und stapelte sie neben den Gläsern im unteren Geschirrschrank. »Wir werden uns am Dienstag darum kümmern. Was ist übrigens mit den Kartons voller Wäsche? Ich habe im Gang einen Wandschrank entdeckt …«

»Das ist schon erledigt. Daddy, hast du die Badewanne schon gesehen? Sie hat Beine.«

»Diese alten Dinger sind Sammlerstücke, weißt du.«

»Mir ist eine Wanne ohne Beine aber lieber.«

»Das ist doch kein großes Problem … dann bauen wir sie eben aus.«

»Das klingt ganz nach Eunice.«

»Und sie würde es auch noch fertigbringen.«

Sie schwiegen ein paar Sekunden lang, dann fragte sie: »Fehlt sie dir, Daddy?«

Er antwortete nicht sofort, sondern stellte einen Stapel Schüsseln auf die Küchentheke. »Nun, wenn du damit meinst, ob ich es mir noch einmal anders überlege, dann lautet die Antwort nein.« Er deutete auf die übrigen Kartons auf dem Küchenfußboden. »He, wieso bin ich eigentlich der einzige, der sich hier abmüht?«

»Ich hasse Auspacken.«

Das Telefon läutete, und Marcus nahm ab.

»Hallo?«

»Na, na, mein Süßer, erst einen Tag in der neuen Wohnung, und schon ist das Telefon angeschlossen. Ich bin wirklich beeindruckt.«

Marcus seufzte. »Woher hast du die Nummer, Eunice?«

»Ich habe unter deiner alten Nummer angerufen und mir diese hier geben lassen. Warum, wolltest du sie mir nicht geben?«

»Irgendwann einmal. Also, was willst du?«

»Oh, nichts. Ich habe nur gerade eben vorn zum Fenster hinausgesehen und mir dabei gedacht, was für ein trübseliger Tag für einen Umzug. Also sagte ich mir, nur zu, Eunice, ruf Marcus und Birdie, dein kleines Vögelchen, an und muntere sie ein wenig auf.«

»Vielen Dank, aber das ist nicht nötig.«

»Weißt du, daß du deinen Schirm vergessen hast? Den ollen schwarzen, den du so magst und der schon ganz schäbig aussieht.«

»Hör mal, Eunice, ich habe viel zu tun. Ich habe momentan wirklich keine Nerven für so etwas.«

»Für was, mein Süßer?«

»Für dieses muntere Geplauder, diese sinnlosen Nettigkeiten.«

»Okay, dann sprechen wir eben über etwas anderes. Weißt du noch, wie ich immer im Bett neben dir lag und dir dabei zuhörte, wenn du dich auf deine eleganten Plädoyers vorbereitet hast? Gott, deine Stimme hat mich so angeheizt, daß ich die Hand ausstreckte und …«

»Hör auf, Eunice.«

»Oder kannst du dich noch an unsere Campingausflüge in den Wald erinnern? Wie wir uns liebten, bis wir uns nicht mehr rühren konnten, und uns dann unter …«

»Verdammt, es reicht!«

»Okay, drück auf den Knopf… jetzt bist du dran, ich höre auf und werde direkt auf den Punkt kommen. Ich will dich und Birdie wiederhaben.«

»Es war nett, mit dir zu plaudern, Eunice, aber wie ich bereits sagte, ich habe viel zu tun, und …«

»Warte!« rief sie. »Hör mich an, Marc, eine Zwölfjährige braucht ihre Mutter, denk darüber nach, tu das.«

»Das habe ich bereits. Nur schade, daß du für diese Rolle niemals viel Begeisterung gezeigt hast.«

»Und woher nimmst du plötzlich deinen Preis für den besten Vater des Jahres? Aber denk nur nicht, daß sich die Mutter geschlagen gibt, während du in deiner neuentdeckten Vaterschaft schwelgst.«

»Tu, was du nicht lassen kannst. Aber vergiß nicht, dem Richter zu erzählen, daß es dein Wodka war, den deine Tochter in ihrem Seesack versteckt hatte.«

»Ich pfeife auf dich und deine armseligen Richter. Wenn ich Birdie wiederhaben will, dann werde ich mir einen dramatischeren Weg einfallen lassen!«

Marcus legte auf. Er drehte sich zu Robin um, aber sie war nicht mehr in der Küche. Wieder läutete das Telefon, und er packte den Hörer.

»Oh, mir scheint, ich habe vergessen, den Hörer aufzulegen«, trällerte Eunice. Dann wurde der Hörer lautstark auf die Gabel geknallt.

Er holte tief Luft und ging in Robins Zimmer. Sie lag auf dem Bauch auf der Matratze.

»Alles in Ordnung, Baby?«

Schweigen.

»Ich habe mich wieder von ihr hereinlegen lassen. Tut mir leid.«

Robin zuckte die Achseln und wischte dann mit den Ärmel ihres Hemdes eine Träne fort. Die Tränen flössen ganz leicht zur Zeit, und das Schlimmste daran war, daß er nie wußte, warum sie weinte.

»Wolltest du mit ihr reden?« fragte Marcus. »Ich bin gar nicht auf die Idee gekommen, dich zu fragen, aber wenn du willst …«

»Nein. Heute abend nicht.«

»Nun, wenn du es dir noch anders überlegst …«

»Ganz sicher nicht.« Sie wandte sich ihrem Vater zu und holte tief Luft. »Manchmal hockt sie ganz tief in meinem Kopf, Daddy. Direkt in meinem Kopf, und dann will sie nicht mehr raus.«

»Eunice?«

»Nein, Amelia.«

Eine Pause, dann: »Manchmal ist das alles nur eine Frage der Willenskraft, Baby. Man darf solchen Gedanken einfach nicht nachgeben. Verstehst du, was ich dir damit sagen will?«

»Ich schätze, schon.«

»Hör mal, es gibt hier einen Arzt in Boston, der dir vielleicht helfen kann.«

»Einen Nervenarzt?«

»Eine Psychologin. Sie heißt Mollie Striker. Wir haben morgen einen Termin bei ihr.«

»Warum hast du bis jetzt gewartet, um mir von ihr zu erzählen?«

»Ich dachte mir, je weniger Zeit du hast, dir unnütze Gedanken zu machen, desto besser.«

Schweigen, dann: »Was wird sie mit mir machen?«

»Nichts, sich mit dir unterhalten.«

»Worüber denn?«

»Das kommt auf dich an, worüber du reden möchtest.«

»Einmal angenommen, sie will mich einsperren?«

»Jetzt komm aber, warum sollte sie so etwas wollen?«

»Ich weiß es nicht, aber nur einmal angenommen, sie will es?«

»Das würde ich nicht zulassen. Schau, Baby, so funktioniert das nicht. Sie versucht nur, mit dir gemeinsam herauszufinden, was dir solchen Kummer bereitet und warum diese schlimmen Gedanken nicht verschwinden. Das ist alles, ich verspreche es dir.« Er schwieg kurz und meinte dann: »He, hast du Hunger? Ich habe Spa…« Er stand auf, schnupperte und rannte dann in Richtung Küche davon, während Robin ihm nachblickte, wie er aus dem Zimmer verschwand.

Eine Frage der Willenskraft?

Tja, wie bei einer Diät. Laß das Essen, und du wirst nicht dick.

Laß das Denken, und du wirst nicht verrückt

Es ist schwer, schwer, schwer

Als Robin in die Küche kam, hatte Marcus den Topf bereits zusammen mit dem Haufen angebrannter Nudeln in den Abfalleimer geworfen. Er war gerade dabei, mit einem stumpfen Messer die eingebrannte Kruste abzukratzen, die die Herdplatte bedeckte.

»Interessant«, sagte sie. »Wie nennst du das?«

»Anfängerglück.«

»Du besorgst dir wohl besser ein Kochbuch.«

»Da habe ich eine andere Idee. Wie wär's, wenn du dich als Wahlfach in einen Kochkurs einschreibst?«

»Ich hasse Kochkurse. Da muß man dann alles essen, was man gekocht hat. Ich habe einmal gesehen, wie ein Mädchen aus dem Klassenzimmer gerannt ist und über ihre Schulhefte gekotzt hat.«

Marcus warf das Messer ins Spülbecken. »Nicht gerade eine Auszeichnung für den Lehrer. Na dann, wenn dir die Idee nicht gefällt, vergiß sie, okay?«

Wieder läutete das Telefon, und Robin drehte den Kopf in seine Richtung, aber Marcus streckte die Hand aus, um sie zurückzuhalten.

»Nicht. Laß es läuten.«

Robin starrte das Telefon an.

»Neunmal«, zählte Marcus. »Ich wette, sie läßt es neunmal läuten. Was meinst du?«

»Ich sage elfmal.«

Nachdem es zweiundzwanzigmal geläutet hatte, hörte es endlich auf. »Man sollte eigentlich annehmen, daß wir Eunice inzwischen kennen«, sagte Marcus. »Also, was meinst du, sollen wir an unserem ersten Abend in der neuen Wohnung auswärts essen gehen?«

»Es regnet immer noch.«

»Okay, entscheide du. Entweder wirst du naß, oder es gibt nur Eier.«

Marcus hatte eben seinen Trenchcoat angezogen, als es an der Tür klopfte.

Robin machte auf. Die Frau, die dort stand, hatte eine blasse Haut und dunkelblaue Augen mit schweren Lidern, die ihre übrigen Gesichtszüge dominierten. Hinter den Ponyfransen ihres kurzgeschnittenen, glatten braunen Haares verbarg sich ein kleines, etwas erhöhtes Muttermal. Sie war überdurchschnittlich groß, schlank und trug ein gestärktes Kleid mit rosa Paisley-Muster. In den Händen hielt sie eine Kasserolle, die mit Alufolie zugedeckt war und die sie Robin entgegenstreckte. »Nur eine Kleinigkeit zum Abendessen«, sagte sie. »Ich weiß doch, wie hektisch es an einem Umzugstag zugehen kann.« Robin wich einen Schritt zurück und starrte sie an, während sie mit einer Hand über ihre Schulter griff und sich automatisch am Rücken kratzte.

Die Frau schlug die Folie an einer Ecke zurück; dekorativ waren drei Petersilienzweige auf einem Nudelgericht verteilt. »Nur frische Zutaten, keine Konservierungsstoffe, es schmeckt wirklich ausgezeichnet«, sagte sie.

Wollte Robin wohl noch lange so stehen bleiben? Marcus kam zur Tür, nahm die Kasserolle in Empfang und gab sie Robin.

»Warum bringst du sie nicht in die Küche?« fragte er; dann, an die Frau gewandt: »Das ist sehr freundlich von Ihnen.«

»Das ist eine Lasagne. Ich hoffe, Sie essen gern italienisch.«

»Es gehört zu meinen Lieblingsessen.« Er streckte die Hand aus. »Marcus Garr«, stellte er sich vor und deutete dann mit dem Kopf auf Robin, die auf dem Weg in die Küche war. »Und das ist meine Tochter Robin. Ich nehme an, wir sind Nachbarn, richtig?«

Die Frau lächelte, und die Grübchen, die dabei in ihren Wangen sichtbar wurden, verliehen ihr eher das frische Aussehen einer College-Studentin als das einer Frau, die bestimmt schon die Dreißig überschritten hatte, wie Marcus vermutete. »Dorothy Cotton. Aus dem ersten Stock, Apartment zwölf. Mir ist Ihr Möbelwagen vor dem Haus aufgefallen. Ich hoffe, Sie halten mich deswegen nicht für neugierig.«

Marcus lächelte. »Im Gegenteil, Sie sind ein Geschenk des Himmels. Ich habe eben eine merkwürdig aussehende Masse in den Abfalleimer geworfen, aus der eigentlich Spaghetti hätten werden sollen. Wir wollten gerade aus dem Haus gehen.« Er deutete mit dem Arm Richtung Küche. »Ich habe den Eindruck, es reicht für uns alle, also, warum kommen Sie nicht herein und leisten uns Gesellschaft?«

»O nein, ich gehöre zu den Hausfrauen, die sich während des Kochens bereits vom Erfolg ihrer Arbeit überzeugen und ständig probieren. Ich versichere Ihnen, ich hatte meinen Anteil schon. Lassen Sie es sich einfach schmecken – und, willkommen in der Nachbarschaft.«

Sie drehte sich um und ging zum Fahrstuhl. Marcus schloß schmunzelnd die Tür und wandte sich dann an Robin, die wie hypnotisiert auf die geschlossene Tür starrte.

»Robin?«

Schweigen.

»Erde an Robin – bist du da?«

Robin schaute ihn mit leeren Augen an.

»Ist mir bei der Unterhaltung etwas Wichtiges entgangen?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Was dann?«

»Ich wundere mich nur – nennt man so etwas eine ›Grüß-

Gott-Tante‹?«

»Vermutlich.« Dann, mit einem Blick auf die Kasserolle: »Es riecht köstlich.«

»Wir nehmen uns besser in acht, vielleicht hat sie, zusammen mit dem geriebenen Käse, Arsen über das Essen gestreut.«

Marcus überzeugte sich mit einem Blick, ob sie es wohl ernst meinte – das konnte man zur Zeit nicht immer so genau sagen.

Er beschloß, daß es ein Witz gewesen war und sagte: »Weißt du, was, dann holst du inzwischen die Teller und das Besteck, und ich betätige mich als Vorkoster.«

Er hatte recht – die Lasagne schmeckte tatsächlich köstlich –, aber Robin aß nur wenig davon, da ihr nicht gut war, wie sie sagte. Vielleicht hätte er bis morgen warten und ihr erst dann von der Psychologin erzählen sollen.

Nach dem Abendessen läutete das Telefon viermal. Schließlich nahm Marcus den Hörer von der Gabel, legte ihn nebenhin und hoffte, daß ihn aus dem Büro niemand zu erreichen versuchen würde. Nachdem Robin gegen neun Uhr in ihr Zimmer gegangen war, machte er mit dem Auspacken weiter. Dabei stiegen allerhand Erinnerungen in ihm hoch.

Sie beide zu zweit in einem Schlafsack, ohne Zelt. »Kein albernes Zelt, das diesen wahnsinnigen Vollmond aussperrt«, hatte Eunice gesagt. Und wenn es regnete – oder schlimmer noch, wenn Tiere kamen? Himmel, es gab schließlich Bären und Wildkatzen in diesen Wäldern. »Aber, aber, mein Süßer, du bist doch groß und stark. Wenn sich ein Bär nähert, dann besänftige ihn doch einfach mit dem Käse und den Keksen. Aber nicht die Pistazien, Marc, die heb für uns auf.« Richtig, Marcus – die Lebensmittel müssen immer in der Nähe, in Reichweite sein.

In der Nacht war es still, bis auf den Wind, der in den Zweigen raschelte, und das Getrippel kleiner Tiere, die durchs Unterholz rannten … und bis auf ihren Atem neben ihm und ihre Brust, die sich im gleichmäßigen Rhythmus mit der seinen hob und senkte. Ihre dunklen Augen, die sich in die seinen bohrten, sein Inneres nach außen stülpten und alles mit ihm machen konnten, was sie wollten …

Richtig – wie Wachs in ihren Händen. Da war es besser, wenn er an die jüngste Vergangenheit dachte, als der Jasminduft den Gestank nach Whiskey nicht mehr überdecken konnte und ihre klugen Sprüche plötzlich nichts anderes mehr als das unzusammenhängende Gestammel einer Betrunkenen waren. Es läutete an der Tür; er beugte sich vor und drückte auf den Sprechknopf.

»Wer ist da?«

»Eine Sendung für Marcus Garr.«

Er drückte auf den Türöffner, ging zur Wohnungstür und wartete dort.

»Sind Sie Mr. Garr?« fragte der Junge, als er aus dem Aufzug trat.

»Richtig.« Er nahm dem Jungen eine längliche, schmale Schachtel ab. Blumen? Die Schachtel hatte genau das richtige Format für langstielige Rosen, war aber schwerer. Er schloß die Tür und machte die Schachtel auf: Sein schäbiger schwarzer Schirm … und ein Zettel. »Gib meiner Birdie einen Kuß.« Als er den Schirm und die Nachricht von Eunice auf die Kommode in seinem Schlafzimmer legte, ertönte aus dem Zimmer nebenan ein Geräusch wie von einer entfernten Sirene, und plötzlich war die Sirene ganz nah und ertönte im ganzen Zimmer. Aus den Schreien wurden gestotterte, unverständliche Worte, bis auf eines, das sich deutlich von den anderen abhob: Amelia! Marcus rannte in Robins Schlafzimmer, richtete sie im Bett auf und schüttelte sie.

»Ich bin es, Baby … Ich bin es, Daddy!«

Und genauso plötzlich, wie sie angefangen hatten, hörten die Schreie wieder auf, und Robins Körper sackte in sich zusammen. Marcus hielt sie an sich gedrückt und fuhr mit den Fingern durch ihr kurzes, unregelmäßig geschnittenes Haar, bis ihr fliegender Atem sich wieder beruhigt hatte. Er blickte auf sie hinunter: Sie war in ihren Jeans eingeschlafen, auf der blanken Matratze, ohne Laken oder Decke.

Er legte seine Tochter zärtlich auf das Kopfkissen zurück, holte ihre gestreifte Steppdecke aus einem Karton und breitete sie über ihr aus. Dann beugte er sich über sie und küßte sie auf die Stirn; sie zuckte zusammen, ihr Arm schoß nach oben und traf ihn seitlich am Kopf.

Lieber Gott, diese Psychologin verstand hoffentlich was von ihrem Geschäft.

2

Robin schluckte schwer und musterte prüfend die fremde Umgebung, in der sie aufgewacht war – außer den Augen, wagte sie es nicht, irgendeinen Körperteil zu bewegen. War Amelia in der Dunkelheit in ihren Kopf gekrochen und hatte alle ihre Gehirnzellen zerstört? Schließlich fiel ihr wieder ein, wo sie war, und sie stieß einen tiefen Seufzer aus.

Sie schwang die Beine aus dem Bett und ging zu dem hohen, vorhanglosen Fenster, das auf die Commonwealth Avenue hinausführte. Obwohl das Pflaster noch naß war, hatte es inzwischen zu regnen aufgehört, und eine dumpf-schwüle, graue Luft hing in der Straße. Sie beobachtete die vielen Leute, die auf den Gehwegen hin und her liefen. Keine Kinder, die waren wahrscheinlich in der Schule. Sie entdeckte eine Frau in einem khakifarbenen Trenchcoat und mit einer braunen Schultertasche, die forsch den Weg hinunterging: Die »Grüß-Gott-Tante«.

»Robin, Frühstück!« rief Marcus.

Heute war der Termin bei der Ärztin.

»Robin?«

Robin blickte der »Grüß-Gott-Tante« so lange nach, bis sie um die Ecke bog, ging dann kurz zum Spiegel, hob ihr Hemd und schaute auf ihren Rücken. Schließlich ließ sie das Hemd wieder fallen und ging in die Küche.

Barfuß, die Hände in die Taschen ihrer Jeans gesteckt, blieb sie unter der Tür stehen. Auf beiden Tellern lagen jeweils zwei Scheiben Toast, die quer durchgeschnitten und mit Butter bestrichen waren. Ihr Vater häufte gerade knusprig aussehende Rühreier in die Mitte jedes Tellers und goß anschließend etwas Orangensaft in zwei Gläser.

»Nicht übel für den ersten Versuch, hmm?« sagte er.

»Ich frühstücke nie, Daddy.«

»Ich weiß, aber es gibt immer ein erstes Mal. Versuch's wenigstens.«

Sie setzte sich, nahm das Glas mit Orangensaft und trank einen Schluck.

»Um wieviel Uhr ist der Termin bei der Ärztin?«

»Um elf. Es ist ja erst neun Uhr, also entspann dich.«

»Wann gehst du wieder zur Arbeit?«

»Morgen, sobald ich dich in der Schule angemeldet habe.«

»Weißt du, die Sache mit dem Frühstück wäre ja gar nicht so übel, wenn sie nicht gleich als erstes in der Früh erledigt werden müßte.« Sie wollte wieder aufstehen. »Ich glaube, ich gehe erst mal unter die Dusche.«

Er legte eine Hand auf ihre Schulter und drückte sie in den Stuhl zurück. »Iß zuerst etwas. Komm, dem Chef zuliebe.

Wenigstens einen Bissen.«

Komm, wenigstens einen Schluck.

O nein, Robin, das kann ich nicht.

Komm, Amelia, wenigstens einen kleinen Schluck. Einen kleinen Schluck … Einen kleinen.

Sie schaufelte ein wenig von dem Rührei auf die Gabel.

»Mir ist aufgefallen, daß du heute nacht in deinen Kleidern geschlafen hast.«

Sie zuckte nur die Achseln.

»Du hast doch einen Schlafanzug, ein Nachthemd – irgend etwas – oder?«

»Ja, irgendwo in meiner Kommode wahrscheinlich. Warum?«

»Warum ziehst du das nicht an? Und wenn wir dann von unserem Termin bei der Ärztin zurückkommen, dann hätte ich gern, daß du dein Bett endlich machst. Mir ist gestern abend auch aufgefallen, daß du auf der bloßen Matratze geschlafen hast.«

»Warum bist du denn plötzlich so mäkelig?«

»Ich will nicht an dir herummäkeln, Baby. Ich versuche nur, ein paar Annehmlichkeiten des Lebens in unserem Haushalt einzuführen. Das ist alles.«

»Was ist los, hältst du mich für unzivilisiert? Ich wasche mich, mußt du wissen. Und ab und zu putze ich mir sogar die Zähne.«

Er streckte die Hand aus und legte sie auf die ihre. »Sieh doch, ich will dich nicht kritisieren, ehrlich. Es ist nur so, daß Eunice dir solche Dinge nie beigebracht hat.«

»Du aber auch nicht.«

Er trank seinen Saft aus und setzte das Glas ab.

»Na ja, vielleicht vergessen wir besser, daß ich überhaupt etwas gesagt habe. Wenn das Bettenmachen eine so große Affäre ist, dann werde ich es selbst erledigen. Denn ich will auf keinen Fall, daß du dich wegen solcher Kleinigkeiten aufregst.«

»He, Daddy, glaubst du vielleicht, daß kein Mensch mich mehr für verrückt halten wird, wenn ich Pyjamas trage, mein Bett richtig mache und noch mehr Sachen lerne?«

Er holte tief Luft. »Hör mal, wenn das lustig sein sollte, dann muß ich dich enttäuschen.«

»Gut, denn so war es auch nicht gemeint. Du glaubst doch, daß ich verrückt bin. Du sagst es vielleicht nicht, aber du denkst es. Das merke ich daran, wie du mich anschaust und wie du mit mir sprichst. Als würdest du jeden Augenblick erwarten, daß mir der Schaum aus dem Mund quillt.«

»Robin, nicht. Da liegst du völlig falsch. Ich denke bloß, daß du im letzten Sommer eine schreckliche Zeit durchgemacht hast. Es ist nicht leicht, mit anzusehen, wie jemand stirbt, noch dazu eine Freundin. Aber, Baby, solche fürchterlichen Unfälle passieren nun mal im Leben, und wir müssen lernen, damit fertig zu werden und die Vergangenheit ruhenzulassen.«

Robin spürte, wie der Film in ihrem Kopf wieder ablief und an der Stelle anhielt, an der er immer stoppte: Die Stelle, wo Robin Amelia ins Gesicht schlug und wo Amelia zum letzten Mal unter Wasser tauchte. Oh, tut mir leid, Amelia, aber weißt du nicht, daß solche Unfälle nun mal passieren? Es wird Zeit, daß ich dich zusammen mit meinen Pyjamas in eine Schublade sperre und vergesse, daß du je existiert hast. Robin schaute auf die Gabel, und sie wußte, daß sie sich übergeben würde, wenn sie jetzt etwas aß.

Im Fahren zeigte Marcus Robin die nächste Bushaltestelle und erklärte ihr, daß die Praxis der Ärztin nur elf Haltestellen die Commonwealth Avenue hinunter lag.

»Geh ich denn allein zu ihr?«

»Sicher, wenn du nach der Schule einen Termin bei ihr hast. Ist doch in Ordnung, oder?«

Sie nickte.

»Hör mal, wenn dir die Frau nicht gefällt, dann suchen wir uns jemand anderen. Mir kommt es vor allem darauf an, daß du dich dabei wohl fühlst.«

Robin schaute auf den Rock hinunter, den sie auf seine Bitte hin angezogen hatte. Wahrscheinlich hätte sie sich in Jeans und Sweatshirt erheblich wohler gefühlt.

Die Praxis der Psychologin befand sich im Erdgeschoß eines zweistöckigen Reihenhauses aus rötlichbraunem Sandstein. Der glänzende Parkettfußboden in dem hohen Wartezimmer war teilweise von einem Teppich mit Madraskaro bedeckt, der blaue und grüne Fransen hatte. Drei Sessel, von denen keiner zum anderen paßte und die schon reichlich abgenutzt aussahen, bildeten die Einrichtung, dazu ein alter Schreibtisch aus Mahagoni, dessen Oberfläche übersät war mit Notizzetteln, Millimeterpapier und Tontöpfen voller Kugelschreiber, Kreide, Buntstifte und Scheren. In einer Holzkiste waren ein Tonbandgerät und Tonbänder untergebracht, und an einer Wand waren Zeitschriften und Taschenbücher aufgestapelt. Es gab keine Empfangsdame, nur eine Notiz in roten Buchstaben bat darum, doch ein klein wenig zu warten.

Dr. Mollie Striker war ebenso ungewöhnlich wie ihr Wartezimmer. Ihr dickes, langes rotblondes Haar war aus dem sommersprossigen Gesicht gekämmt und locker im Nacken zusammengefaßt. Sie trug Jeans, flache Schuhe und ein loses, blaugestreiftes Hemd mit Buttondown-Kragen. Sie führte sie in ihr Arbeitszimmer, das wie eine größere Ausgabe ihres Wartezimmers wirkte.

»Setzen Sie sich doch«, sagte sie und ließ sich ebenfalls in einem der Sessel nieder, statt sich an ihren überfüllten Schreibtisch zu setzen.

»Ich dachte mir, daß wir uns vielleicht erst einmal allein unterhalten sollten«, sagte Marcus und sah sich in dem Zimmer um.

»Entscheide du, Robin«, sagte die Ärztin. »Möchtest du, daß wir es so machen?«

Robin zuckte mit den Achseln. »Das ist mir egal.«

»Okay, dann sehen wir uns später, wenn ich mit deinem Vater gesprochen habe. Aber wenn dir die Ohren klingeln und du hören möchtest, was wir über dich reden, dann komm ruhig wieder herein.«

Als Robin draußen war, sagte Marcus: »Ich sehe hier keine Diplome an der Wand hängen, aber soviel man mir sagte, haben Sie erstklassige Referenzen. Wo waren Sie gleich noch … in Harvard?«

»Ich habe in Harvard mein Diplom gemacht und mit einer Arbeit über Studenten promoviert. Danach war ich drei Jahre lang am Massachusetts General und anschließend zwei Jahre als Kinderpsychiaterin am Boston-City-Krankenhaus tätig. Seit zwei Jahren habe ich jetzt meine eigene Praxis.«

»Sie scheinen mir kaum alt genug für all die Erfahrung zu sein.«

Sie lächelte, ein nettes Lächeln, das gleichmäßige weiße Zähne enthüllte. »Lassen Sie sich nicht von meinen Sommersprossen täuschen.« Dann, mit einer Handbewegung auf die Akte auf ihrem Schreibtisch. »Mr. Garr, ich habe mir bereits Robins Unterlagen angesehen, die ich von ihrem Kinderarzt bekommen habe, aber ich würde mir die Geschichte gern noch mal aus Ihrer Sicht anhören, unvoreingenommen und ohne medizinisches Fachchinesisch.«

»In Ordnung, Miss Stri… Ich meine, Frau Doktor …«

»Mollie reicht.«

Marcus redete ungefähr zwanzig Minuten ohne Unterbrechung.

»Rekapitulieren wir doch mal, ob ich auch alles richtig verstanden habe«, meinte Mollie, als er geendet hatte. »Sie haben davon erzählt, daß Robin sich die Haare abgeschnitten hat, haben von ihrer Appetitlosigkeit gesprochen, dem zwanghaften Verlangen, ihren Rücken zu betrachten oder sich dort zu kratzen, ihren Alpträumen, ihrer Melancholie, ihrer Introvertiertheit, ihrem Desinteresse an früheren Freunden, ihren trüben Gedanken und auch davon, daß sie darauf besteht, Amelia würde sich in ihrem Kopf befinden und in ihre Gedanken eindringen. Habe ich irgend etwas vergessen?«

»Ihre Wut. Auf ihre Mutter.«

»Ist sie auf Sie nicht wütend?«

»Wenn ja, dann hat sie das bis jetzt noch nicht gezeigt.« Dann ging Marcus auf Eunices Alkoholprobleme und auf die daraus resultierenden Folgen ein, die – zusammen mit dem Unfall im Sommercamp – in erster Linie für Robins momentane Schwierigkeiten verantwortlich waren, wie er glaubte. »Es ist kein Wunder, daß sie ganz durcheinander ist«, sagte er. »Ich zweifle ja nicht daran, daß Eunice Robin liebt, aber sie hat sich keine große Mühe gegeben, das zu beweisen. Ich glaube einfach, daß sie gar nicht in der Lage ist, ihr eine richtige Mutter zu sein.«

»Und Sie, Mr. Garr?«

»Wie ich bereits sagte, ich tue mein Bestes, um Robin wieder hinzubekommen. Ich versuche, ihr irgendwie einen Halt zu geben und ihr gute Vorbilder zu liefern.«

»Aber Sie erzählen doch, daß Eunice die ganzen Jahre über haltlos und unzuverlässig gewesen ist. Und daß Robin, laut Ihren Aussagen, sehr viel auf sich allein gestellt war.«

»Das ist richtig.«

»Und wo waren dann Sie die ganze Zeit über?«

Daddy sagte kein Wort über die Ärztin, erst als sie bereits wieder auf dem Heimweg waren.

»Okay, du hast mit ihr gesprochen«, meinte er schließlich.

»Was hältst du von ihr?«

»Ich weiß nicht, ich schätze, sie ist in Ordnung.«

»Ist das alles?«

»Nun, sie hat mich nicht zum Reden gezwungen, und das war gut so. Sie sagte, daß sie mich am Anfang gern zweimal die Woche sehen würde, und bat mich, mir die Tage selbst auszusuchen. Ich habe mich für Dienstag und Donnerstag entschieden. Und sie hat auch noch gesagt, daß ich das jederzeit ändern und später mal an anderen Tagen kommen könnte, falls ich nach der Schule etwas vorhaben sollte.«

»Weißt du, Robin, wenn du sie nicht magst, dann können wir jemand anderen suchen. Es gibt eine Menge guter Ärzte in Boston.«

Robin musterte ihn. »Du bist es doch, der sie nicht mag, richtig?«

Er zuckte mit den Schultern. »Hör mal, ich muß mich ja nicht mit ihr unterhalten. Das mußt du entscheiden.«

Als Daddy an ihrem Wohnblock vorbeifuhr, um von hinten in den Hof zu fahren, schaute Robin nach oben und erhaschte von der Straße aus gerade noch einen Blick auf ihr Schlafzimmerfenster. Doch bevor ihre Augen in den zweiten Stock hochklettern konnten, blieben sie einen Stock darunter hängen. An dem Fenster des Zimmers, das direkt unter dem von Robin lag, saß die »Grüß-Gott-Tante« und beobachtete sie.

Nach wem hält sie wohl Ausschau?

Rate mal - nach dem Briefträger, dem Müllmann, dem Eisverkäufer, Daddy, dir?

Sei nicht so albern, sie ist einfach eine olle Schnüfflerin.

Okay, dann sag du's mir - nach wem halten Schnüffler Ausschau?

Als sie in die Wohnung zurückkamen, ging Robin in ihr Zimmer, um ihr Bett zu machen. Ein paar Minuten später stand Dorothy Cotton vor der Tür.

»Ich will mich ja nicht aufdrängen«, sagte sie. »Aber ich dachte mir, vielleicht haben Sie die Lasagne bereits aufgegessen und benötigen die Kasserolle nicht mehr. Sie ist die einzige, die ich habe. Das mag in Ihren Ohren vielleicht nicht gerade nach einer Notlage klingen, aber …«

»Aber selbstverständlich«, sagte Marcus lächelnd. »Kommen Sie doch herein, während ich sie hole. Übrigens, die Lasagne war großartig. Haben Sie schon mal daran gedacht, das in größeren Mengen herzustellen und zu verkaufen?«

Sie lachte. »Nein, aber ich werde mal darüber nachdenken.«

Sie betrat die Wohnung und schaute sich in der nur spärlich möblierten Diele um; dann folgten ihre Augen Marcus in die Küche. Er holte die Kasserolle und einen Schwamm aus dem Spülbecken, das voll mit schmutzigem Geschirr war, und drehte das heiße Wasser auf. .

»Oh, machen Sie sich doch keine Mühe«, sagte sie. »Im Ernst, das kann ich schon selbst tun.«

»Sie waren bereits freundlich genug, uns die Lasagne heraufzubringen. Jetzt kann ich Ihnen wenigstens Ihr Geschirr abspülen.«

Robin rief vom Gang aus nach ihm. »Daddy, du hast das einzige Bettuch mit Gummizug genommen, das wir haben.«

»Dann nimm eines von denen ohne Gummizug.«

»Ich weiß nicht, wie man…«

»Du mußt es einschlagen.«

»Ich habe eben Ihre Unterhaltung mit angehört«, mischte Dorothy sich ein. »Ich würde ihr gern zeigen, wie man das macht.«

Er drehte sich am Spülbecken um, die tropfnasse Kasserolle in der Hand. »Macht Ihnen das wirklich nichts aus?«

»Überhaupt nicht. Was soll mir das schon ausmachen?« Sie ging zu Robin Und dem Wäscheschrank, holte zwei saubere Laken und einen Kopfkissenbezug heraus und ging anschließend ins Schlafzimmer; Robin folgte ihr langsam.

»Wie alt bist du denn?« fragte sie Robin.

»Zwölf. Warum?«

»Nun, dann würde ich meinen, daß du alt genug bist, um ein Bett ordentlich beziehen zu können.« Sie räumte die Matratze leer, ging ans Fußende des Bettes und schüttelte das Laken so heftig aus, daß es richtiggehend knatterte. »Das ist wirklich ganz einfach. Erst legst du das Bettuch so auf die Matratze, dann stellst du dich rechts vor das Bett und schlägst die Ecken ein.« Sie zeigte ihr, wie man das Laken faltete und es erst einmal und dann ein zweites Mal unter die Matratze schlug. »Ich habe immer diese alberne Angst, daß ich eines Nachts bestimmt aus dem Bett fallen werde, wenn ich diese Ecken nicht sauber und glatt und ohne Falten einschlage.«

»Ist Ihnen das schon mal passiert?«

»Zum Glück nicht. So ein Pech würde mich auf der Stelle aus diesem Haus jagen.«

Robin musterte sie lange. »Haben Sie Kinder?« fragte sie schließlich.

Dorothy drehte sich um und sah sie an. »Nein…ich wünschte, ich hätte welche, aber ich habe keine. Warum fragst du mich?« Robin zuckte mit den Achseln. »Nur so.«

»Aber als ich noch ein Kind war, da hatte ich eine Schwester, die fünf Jahre jünger war als ich. Ich kümmerte mich oft um sie. Sie hatte dunkles Haar, war sehr hübsch, aber ein ziemlicher Wildfang. Sie half nie gern im Haushalt … wie zum Beispiel, ihr Zimmer aufräumen oder ihr Bett machen.« Sie schaute sich in Robins unordentlichem Schlafzimmer um und meinte dann lächelnd: »Weshalb habe ich nur den Eindruck, daß du eine Menge mit ihr gemeinsam hast?«

Als Dorothy in die Küche zurückkam, hatte Marcus bereits das ganze schmutzige Geschirr abgewaschen und es zum Abtropfen aufgestellt. Er gab ihr die Kasserolle, die noch etwas feucht war, und deutete mit dem Kopf in Richtung Robins Zimmer.

»Was das betrifft, hat man ihr nicht sehr viel beigebracht.

Vielen Dank.«

»Es war mir ein Vergnügen«, erwiderte Dorothy. »Sie ist eine gelehrige Schülerin.«

»Was meinen Sie, hätten Sie vielleicht später Lust auf einen Drink? Hier bei uns?«

»Ich trinke nur selten Alkohol.«

»Ich habe noch eine Flasche Perrier im Haus. Aber verstehen Sie mich bitte nicht falsch, das ist kein Annäherungsversuch.

Sie waren nur so freundlich, daß ich mich revanchieren möchte.«

»Das ist doch nicht nötig.« Sie lächelte und sagte dann: »Gut, warum eigentlich nicht? Das wird bestimmt nett. Wann soll ich denn kommen? Und soll ich etwas mitbringen?«

»Kommen Sie so gegen neun Uhr. Und bringen Sie einfach sich selbst mit.«

Und das war wirklich kein Annäherungsversuch von seiner Seite. Obwohl sie nicht schlecht aussah, war sie überhaupt nicht sein Typ. Aber eigentlich wußte er gar nicht, wie sein Typ aussah. Auffallend und extravagant wie Eunice? Hoffentlich hatte er dieses Stadium jetzt hinter sich. Aber Dorothy hatte etwas Erfrischendes, Fröhliches und auch Beruhigendes an sich, und vielleicht – es konnte ja sein – würde etwas von ihren Qualitäten als Hausfrau auf Robin abfärben.

Robin durchwühlte die Schubladen ihrer Kommode nach den Pyjamas: als sie keine finden konnte, ging sie zu einer der Schachteln, die noch nicht ausgepackt worden waren und die immer noch mitten im Zimmer standen. Sie kniete sich daneben hin und zog ein paar Kleidungsstücke heraus – und in dem Moment fiel ihr der blau und purpurrot gestreifte Bikini in die Hände. Sie holte ihn heraus und starrte ihn an.

Kannst du dich noch erinnern?

Der Badeanzug, den Eunice in irgendeiner Boutique entdeckt hat.

Nicht einfach irgendein Badeanzug – nein, einer, um den sich fast jedes Mädchen im Sommerlager gerissen hatte. Weißt du noch, als du Amelia herausgefordert hast, ihn anzuziehen und so wagemutig zu sein, doch etwas Haut zu zeigen?

Nein, nein, ich kann mich nicht erinnern, und ich will auch nichts davon hören.

Aber natürlich ... Amelia wollte ihn nicht einmal anprobieren, sagte, sie sei viel zu mager dafür. Statt dessen nahm sie diesen gräßlichen alten Badeanzug, denjenigen, den sie immer trug – aus geraffter, dunkelgrüner Baumwolle, der hinten und vorn hochgeschlossen und an den Schultern zum Knöpfen war – und ging damit zu den Umkleidekabinen. Sie wollte sich nicht einmal –

Bist du taub? Ich sagte, ich will nichts mehr hören!

Wann dann?

Vielleicht nie!

Robin knüllte den Bikini zusammen, ging zum Schrank und stopfte ihn ganz nach hinten in ein Fach. Dann rannte sie schnell zu ihrem Bett, zerrte das Bettuch von der Matratze und legte es zurück in den Wäscheschrank.

Sie haßte Bettücher zum Zudecken. Sie haßte es auch, wenn man sie mit der kleinen, ungezogenen Schwester dieser »Grüß-Gott-Tante« verglich.

Dorothy erschien pünktlich um neun Uhr, kurz nachdem Robin in ihrem Schlafzimmer verschwunden war.

»Es gibt nur Käse und Crackers«, meinte Marcus, als er einen Teller auf den Tisch stellte und Dorothy aufforderte, auf dem Sofa Platz zu nehmen.

»Das genügt doch«, sagte sie.

Er goß sich ein Glas Burgunder und Dorothy etwas Perrier ein. »Wie lange wohnen Sie schon in dem Haus hier, Dorothy?«

»Ein paar Jahre. In bin kurz nach dem Tod meines Mannes hier eingezogen. Aber ich besitze immer noch ein kleines Haus auf dem Land, das ich aber nur selten benutze. Sosehr ich das Landleben auch liebe – die Arbeit im Garten, die frische Luft, die Stille –, es ist doch nicht mehr dasselbe, wenn man allein ist.«

Marcus nickte. »Manchmal kann es auch zu ruhig sein, vermute ich. Sind Sie berufstätig?«

»Nein, obwohl ich mir manchmal wünschte, einen Beruf zu haben. Ich fürchte, mit meiner Ausbildung wurde ich nur auf die Ehe vorbereitet – Hauswirtschaftslehre nennt man so etwas heutzutage wohl. Aber zwei Vormittage in der Woche arbeite ich als ehrenamtliche Helferin im Beth-Israel-Krankenhaus. Ich schiebe das Wägelchen mit den Leihbüchern oder mit den Mitbringseln für die Kranken durch die Gegend, solche Sachen eben.«

»Haben Sie Kinder?«

»Ihre Tochter hat mir bereits dieselbe Frage gestellt. Es tut mir leid, sie verneinen zu müssen.«

»Mir scheint, Sie hätten eine ideale Mutter abgegeben.«

»So?«

»Sie scheinen mir der Typ dafür zu sein … Das war übrigens ein Kompliment.«

»Dann werde ich es auch so verstehen. Ich habe es Robin bereits erzählt, daß ich eine kleine Schwester hatte … Ich vergötterte sie, spielte mit ihr, las ihr vor und brachte ihr schon das Lesen bei, ehe sie überhaupt in den Kindergarten ging. Man könnte vielleicht sogar sagen, daß ich die Mutterstelle bei ihr eingenommen habe. Aber sie ist gestorben, als sie erst acht Jahre alt war.«

»Das tut mir leid.«

»Nun, das ist jetzt viele Jahre her. Aber Robin erinnert mich etwas an sie, obwohl sie natürlich viel älter ist. Doch das ist jetzt genug über mich. Erzählen Sie mir etwas über Robins Mutter – wie ist sie, und werde ich sie einmal kennenlernen?«

»Ich hoffe nicht. Wir haben uns getrennt. Vor kurzem erst.«

»Das tut mir leid«, sagte Dorothy. »Ich bin wohl etwas zu weit gegangen.«