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Gloria Murphy 

Nur der Tod soll uns scheiden

Psychothriller


Aus dem Amerikanischen von Gabriela Schönberger-Klar

Edel eBooks

Copyright dieser Ausgabe © 2014 by Edel eBooks,
einem Verlag der Edel Germany GmbH, Hamburg.

Copyright © 1996 by Gloria Murphy

Deutsche Erstausgabe  1998

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel "Till Death Do Us Part"

Aus dem Amerikanischen von Gabriela Schönberger-Klar
edel.com
facebook.com/edel.ebooks

PROLOG

Es war acht Uhr abends. Dexter King, der von seinem Producer Rudy eben grünes Licht zum Senden bekommen hatte, beugte sich über das Mikrofon. »Räumt die Fahrradwege und Joggingpfade, Freunde«, rief er hinein. »In Boston sind die Kojoten unterwegs! Yeah, ihr habt mich schon richtig verstanden, Kojoten treiben sich bei hellem Tageslicht bei uns herum ... laut meiner verläßlichen Quellen wurde bereits ein halbes Dutzend dabei gesichtet, wie sie nichtsahnenden Passanten einen Heidenschrecken einjagten, einige gar mitten im Zentrum, in Boston Common.

Laut Aussage von Experten«, fuhr Dexter fort, und seine warme, tiefe Stimme betonte ironisch das letzte Wort. »Ja, ja, Freunde, wir sind wieder einmal soweit... Plötzlich tauchen Experten – von denen wir bisher nicht einmal wußten, daß es sie gibt – wie eine Erscheinung aus dem Nichts auf und müssen unbedingt ihren Senf dazugeben. Da muß ich mir doch wirklich die Frage stellen, was macht denn einen solchen Kojotenexperten nun aus? Kenntnisse in Psychologie, doppelter Buchführung ... Haushaltswissenschaften?

Auf jeden Fall behaupten die selbsternannten Seher, diese Kreaturen seien nichts weiter als harmlose Aasfresser von der Sorte: ›Tust du mir nichts, tu ich dir auch nichts‹. Aber als alter Bedenkenträger mache ich mir einfach so meine Gedanken. Müssen wir denn nun befürchten, daß eines Tages, wenn der Vorrat an Müll und sonstigem Fraß zur Neige geht, einer dieser räudigen Teufel vor lauter Hunger hergeht und sich ein menschliches Bein direkt vom Erzeuger schnappt?«

Nach einer effektvollen Pause fuhr Dexter fort: »Also, Freunde, was sagt ihr nun, steigt heute abend das große Kojotenfressen, oder schlucken wir den Köder unserer aufrechten Aktivisten für den Tierschutz und beteiligen uns an ihrem Programm ›Hol dir einen verwaisten Kojoten ins Haus‹? Ruft mich an und sagt mir, was ihr dazu denkt... oder was immer ihr sonst auf dem Herzen habt. Hier spricht Dexter King, unter 555-3073 auf WBZY, dem Talk-Sender von Boston.«

Es folgte ein Werbespot für Orville Redenbachers fettfreies Mikrowellenpopcorn, dann wurde eine Anruferin angekündigt, die sich mit kieksiger, nervöser Stimme meldete. »Ach Gott... Spreche ich wirklich mit Dexter King?«

Während die Anruferin sich weiterhin vor Begeisterung überschlug, verließ Angela King in ihrer Wohnung in der Beacon Street gerade die Küche und kehrte in ihr Schlafzimmer zurück, die Milchflasche für das Baby in der Hand. Sie wechselte das Programm und schaltete das Radio auf dem Nachttisch auf Unterhaltungsmusik um. Sie wußte immer noch nicht, was sie von Dexters bizarrer Kojotengeschichte zu halten hatte, ob sie nicht nur eine weitere seiner symbolischen Falschmeldungen war. Gab es im Nordosten des Landes überhaupt Kojoten?

Die Wohnung im ersten Stock des Reihenhauses aus braunem Sandstein hatte nur drei Zimmer, aber das einzige Schlafzimmer mit der hohen Decke war von beachtlichen Ausmaßen und bot nicht nur Platz für das große Doppelbett, sondern auch für Sams Kinderbettchen, eine Kommode, einen Wickeltisch und einen Laufstall, in den der Kleine sich zur Zeit jedoch nur widerwillig setzen ließ.

Zwischen dem Doppelbett und dem mit dichten Gardinen verhängten Panoramafenster befand sich ein großer, runder Tisch mit einem Computer, Schreibpapier und Lehrbüchern. Seit Dexters Auszug, seit sie sich den Luxus gestatten konnte, endlich mehr nach ihrem Rhythmus zu leben, sah es hier viel unordentlicher aus, wie sie zugeben mußte.

»Denk dir nichts, mein Schatz, das ist nur eine von Daddys hirnlosen Verehrerinnen«, kommentierte Angela die Anruferin, während sie das Kind aus dem Laufstall hob. Doch noch während sie das sagte, verspürte sie bereits Schuldgefühle; sie sollte Dexter dem Kind gegenüber nicht schlechtmachen. Sam war mit seinen zwanzig Monaten noch zu klein, um ihre negative Haltung zu verstehen, aber eines Tages würde sich das ändern. Sie sollte die Probleme, die sie mit Dexter hatte, besser für sich behalten. Wer weiß, vielleicht wünschte sich Dexter eines Tages, eine Beziehung zu seinem Sohn aufzubauen.

Außerdem sah die Wahrheit anders aus. Dexter besaß in ganz Massachusetts eine immer größer werdende Fangemeinde, und seine Fans waren mit Sicherheit nicht alle hirnlos. Es waren alle Altersstufen darunter, angefangen bei Teenagern bis hin zu älteren Damen, und es waren vornehmlich Frauen, die ihn anbeteten, die ihn bewunderten für seine vermeintliche Sensibilität, seine Intelligenz, seine Phantasie und seinen Witz ... ganz zu schweigen von seinem rassigen Aussehen mit den dunklen Haaren. War sie schließlich nicht auch einmal eine von seinen Verehrerinnen gewesen?

Sam wollte abends vor dem Schlafengehen immer noch nicht auf seine Flasche verzichten, und so zog ihm Angela seinen Flanellpyjama an, nachdem sie noch eine Weile mit ihm gespielt hatte, und legte ihn mit seinem Fläschchen ins Bett. Die nächsten fünf Stunden verbrachte sie über ihre Lehrbücher gebeugt in der Vorbereitung auf ihre Semesterprüfungen. Da hörte sie plötzlich den Holzboden knarzen, und kurz danach ging die Schlafzimmertür zu. Angela wirbelte herum und bekam aus dem Augenwinkel heraus gerade noch mit, wie Dexter einen langen, metallisch glänzenden Dietrich im Schloß umdrehte und anschließend den Schlüssel in seine Tasche gleiten ließ. Er hatte sie alle zusammen eingeschlossen.

Sie holte tief Luft. Sie würde ihm nicht den Gefallen tun und ihm zeigen, welche Angst sie hatte. »Sperr die Tür wieder auf, Dexter. Sofort«, sagte sie und stand dabei vom Stuhl auf.

Er führte die Finger an seine Lippen und deutete mit einem Kopfnicken auf seinen Sohn, der friedlich in seinem Bettchen schlummerte.

Langsam ging sie auf ihn zu; er war unrasiert, hatte dunkle Ringe unter den Augen und stank nach Alkohol und Tabak. Sie hatte es als gutes Zeichen angesehen, daß er sich die letzten paar Wochen von ihnen ferngehalten hatte, und daraus geschlossen, daß er ihre Trennung zu akzeptieren begann. Doch jetzt war sie sich nicht mehr sicher, ob er diese Tatsache einfach nur total verdrängt hatte.

»Gib mir den Schlüssel. Bitte.«

Er machte einen Schritt auf sie zu, streckte den Arm aus und zog sie an sich. Sie versuchte verzweifelt, sich gegen ihn zur Wehr zu setzen, seine Hände abzuschütteln, aber seine Arme waren wie aus Stahl. »Bitte nicht... hör auf damit«, flehte sie, wütend über das Zittern in ihrer Stimme.

»Nun mal langsam, Angela, mein Engelchen, entspann dich und hör mir zu. Du brauchst keine Angst zu haben, ich werde mich gut um dich kümmern – wie ich es immer getan habe«, sagte er mit drängender Stimme, während er mit seiner freien Hand über ihr Gesicht und Haar strich. »Auf jedes Töpfchen gehört sein Deckelchen, und für mich bist du das. Und umgekehrt. Kapiert? Wir werden jetzt nicht groß zu diskutieren anfangen, hier geht es nicht um eine Geld-zurück-Garantie für irgendwelche nachgemachten Designerjeans ... Du bist schön und sehr verletzlich, eine Frau, die sich die Arschlöcher, die bei mir anrufen, gerne zur Brust nehmen würden ... Aber sie werden dich nicht in die Finger bekommen, nicht wenn ich es verhindern kann. Ich werde immer dazwischenfunken und ihre Schädel zusammenkrachen lassen –« Es war ihm kein Ärger anzumerken, während er das sagte, weder in der Stimme noch im Ausdruck ... Deswegen kam der erste Schlag, der sie im Magen traf, auch so überraschend für sie.

Und während er weiter seine krankhaften Behauptungen aufzählte, folgte ein Schlag auf den anderen. Seine harten Knöchel trafen sie an Brust und Armen und im Gesicht, bis er jeden Widerstand aus ihr herausgeprügelt hatte. Dann legte er sie sanft auf das Bett, riß ihre Bluse auf, zerrte ihre Jeans über die Hüften, zerriß ihren Slip und ihre Strumpfhose und drang in sie ein.

Es war nicht ein normales Weinen, das Angela hörte, es war ein jämmerliches Schluchzen, und es kam nicht von ihr. Sie war sich nicht sicher, wie lange sie mit angezogenen Beinen dagelegen hatte, die Arme fest um ihre Brust geschlungen, aber jetzt zwang sie sich, die Augen aufzuschlagen. Dexter stand am Fuß des Bettes und hatte sich das Kind, das nackt war bis auf die Windel und sein Unterhemdchen, merkwürdig quer unter den Arm geklemmt. Sams Gesicht war rot und wutverzerrt, und er ruderte heftig mit Armen und Beinen, als versuchte er, festen Boden unter die Füße zu bekommen.

Angela konnte nicht viel anfangen mit dem absurden Bild, das sich ihr bot, sie hatte keine Ahnung, was Dexter vorhatte. Doch panisch vor Angst, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, rappelte sie sich mühevoll in eine sitzende Position auf. Als Dexter bemerkte, daß er ihre Aufmerksamkeit erregt hatte, nahm er mit seiner freien Hand langsam etwas von ihrem Arbeitstisch. Der durchsichtige Plastikumschlag zeigte ihr, daß es sich um eine ihrer Semesterarbeiten handelte, die Dexter nun an seiner Brust zusammenrollte. Dann holte er ein Feuerzeug aus seiner Brusttasche, entzündete es und hielt die Flamme an das Ende der Rolle. Zentimeter für Zentimeter rückte er mit der Fackel näher an Sam heran.

Angela warf sich mit ausgestreckten Armen nach vorn, in dem verzweifelten Versuch, ihren Sohn an sich zu reißen. Ob ihre Kraft noch ausreichen würde, wußte sie nicht. Sie erwischte ihren Sohn zwar noch, aber nicht mehr rechtzeitig genug: Die Flamme hatte Sam bereits erfaßt und sein Hemdchen in Brand gesetzt. Dexter war von ihrem Sprung völlig überrumpelt worden; er hatte das Gleichgewicht verloren, war nach hinten getaumelt, hingefallen und hart mit dem Kopf gegen die Kante der Kommode geschlagen.

KAPITEL EINS

Das chaotische Ende dieses Schultages an der Woodland Junior High war in Angela Kings Augen wieder einmal typisch. Immer wieder kamen Schüler auf einen Sprung bei ihr vorbei, um den Unterricht mit ihr zu besprechen oder um über den Lookout, die Schülerzeitung, zu reden. Andere wollten sich einfach nur mit ihr über Dinge unterhalten, die nicht das geringste mit der Schule zu tun hatten, oder fragten sie indirekt gar um Rat. Angela hatte keine Ahnung, wie sie es zur Beichtmutter eines Haufens zwölf- bis vierzehnjähriger Schüler gebracht hatte, aber sie hatte eben für alle Nöte ein offenes Ohr, da sie sich noch gut genug daran erinnern konnte, wie schwer es war, erwachsen zu werden.

Gegen halb drei war nur noch eine einzige Schülerin in ihrem Klassenzimmer – Germaine Eldridge, zierlich, dunkelhaarig und ausgesprochen lebhaft. Sie war die Vorsitzende des Herbstfestes, eines alljährlich am letzten Samstag im Oktober stattfindenden Ereignisses, das der Schule jede Menge Dollar für ihre Clubaktivitäten einbringen sollte. Im vergangenen Jahr, als Angela noch neu in der Stadt und an der Schule gewesen war, hatte sie mit dem sieben Jahre alten Sam daran teilgenommen und sich prächtig amüsiert.

Während Angela ihre Runde durch das Klassenzimmer drehte, die Lichter ausschaltete, ihre Sachen zusammensuchte und die Fenster schloß, tappte Germaine unverdrossen hinter ihr her und versuchte ihr die Zustimmung zu entlocken, als Aufsicht über den Schülerball zu fungieren, der im Anschluß an die Veranstaltung stattfinden sollte. Angela blieb kurz stehen, um nach dem Krokus auf dem Fensterbrett zu sehen, den ihre Mutter ihr in der ersten Schulwoche geschenkt hatte. Sie hatte die Pflanze zwar jeden Tag brav gegossen, aber bereits jetzt wurden die ersten Blätter gelb. Es stimmte, es gab so etwas wie einen grünen Daumen, aber den hatte sie im Gegensatz zu ihrer Mutter ganz bestimmt nicht.

»Wird Mrs. Geary denn nicht beleidigt sein?« fragte Angela und blickte hoch. Soweit Angela wußte, war es Lynn Gearys Aufgabe seit fast einem Jahrzehnt, die Aufsicht über die Tanzveranstaltung zu führen. Darüber hinaus sollten laut Germaine in diesem Jahr zusätzlich noch Sally Andrews, die psychologische Betreuerin, und Peter Winkler, der Direktor der Schule, anwesend sein.

»Sie machen wohl Witze, wie?« erwiderte Germaine und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Sie wird überglücklich sein, uns endlich loszuwerden. Fragen Sie sie doch, wenn Sie es mir nicht glauben.« Angela glaubte ihr zwar, war aber noch nicht restlos überzeugt.

Während Germaine weiterredete, schlüpfte Angela in ihre etwas zu groß geratene Jeansjacke, griff sich mit einer Hand in den Nacken, um ihre langen, dicken, honigblonden Locken über den Kragen zu heben, und nahm mit der anderen Hand ihre hellbraune Aktenmappe aus Leder. Sie stopfte einen Stapel Prüfungsbögen hinein, ließ das Schloß zuschnappen, steckte den Kopf durch den langen Tragriemen der Tasche und hängte sie sich quer über den Oberkörper. »Ich muß los, Sam wird schon auf mich warten. Ich werde darüber nachdenken. Okay?«

»Wir wissen, daß Sie uns damit einen Riesengefallen tun, und wenn, dann werden wir Ihnen auch ewig dankbar sein – ehrlich. Die anderen Schüler sind eben der Meinung, daß Sie schwer in Ordnung sind ... Sie wissen schon, was ich meine, Sie machen sich nie über unsere Musik oder unsere Klamotten lustig oder halten uns für ausgeflippt. Sie sind nicht so versteinert, wahrscheinlich weil Sie jung genug sind, um noch zu wissen, wie das ist in unserem Alter.«

Angela schmunzelte. Daß sie in den Augen ihrer Schüler nicht so versteinert sein sollte, gefiel ihr besonders, sie wünschte nur, es würde stimmen ... Sie streckte die Hand aus und strich Germaine eine Locke ihres widerspenstigen Haares hinter ein Ohr. »Du hast das Zeug zur Politikerin, Mädchen.«

Gemeinsam gingen sie zum Parkplatz, und Angela versprach, Germaine am nächsten Tag eine Antwort zu geben. Sie stieg in ihren fünf Jahre alten Toyota Tercel und dachte während der zwei Meilen langen Fahrt von der Woodland Junior High-School zu Sams Schule, der Pinegrove Elementary School, gründlich über Germaines Bitte nach. Dabei kam sie zu dem Schluß, daß es vielleicht sogar recht lustig werden könnte ... Der Schulball sollte schließlich erst in einigen Wochen stattfinden, also hatte sie noch Zeit genug, Sophie Price zu benachrichtigen, eine Schülerin an ihrer High School, die Sam recht gerne mochte und die ab und zu auf ihn aufpaßte.

Sie könnte Victor bitten, sie zu begleiten, überlegte sie ... ganz allein wollte sie lieber doch nicht gehen. Victor Brant, der gut gebaute Sportlehrer, war in den Augen aller Frauen an der Schule der attraktivste Junggeselle auf dem Markt, doch leider schwul. Als Angela zu dem Lehrerkollegium an der Woodland High gestoßen war, hatte er sich zwar rasch mit ihr angefreundet, hätte sie aber bestimmt nicht so schnell über seinen Lebenswandel ins Vertrauen gezogen, wäre sie ihm nicht ein paar Monate später in Boston über den Weg gelaufen, als er gerade aus einer Schwulenbar kam. Doch sobald sein Geheimnis gelüftet war, war ihr Verhältnis viel lockerer: Angela wünschte sich keine neue Beziehung in ihrem Leben, und er – unnötig, es noch extra zu betonen – hatte kein Interesse an ihr als Frau. So konnten sie völlig entspannt aufeinander zugehen und ab und zu als gute Freunde miteinander den Abend verbringen.

Sam war ein großer, kräftiger, gesunder Junge mit rosigen Wangen und seelenvollen braunen Augen, in denen hin und wieder der Goldton seiner Haare aufblitzte; er grinste, als er auf den Wagen zugerannt kam und dabei die Lücken entblößte, die anstelle seiner unteren Schneidezähne prangten.

Er warf seinen Rucksack auf den Rücksitz des Toyotas, und Angela schloß ihn in ihre Arme, auch wenn sie bemerkte, daß er rasch den Kopf in Richtung einer Gruppe Kinder drehte, um sich zu überzeugen, ob jemand hersah. Aber er war zu diplomatisch, um sich gegen ihre Umarmung zu wehren. Sie ließ ihn trotzdem schnell wieder los und meinte, während sie darauf wartete, daß er seinen Sicherheitsgurt befestigte: »Brauchst dir keine Gedanken zu machen, es haben nur ein halbes Dutzend Kinder zugesehen.«

Er grinste und zuckte die Achseln, als ob es ihm egal wäre. »Ich habe heute die Antwort auf die naturwissenschaftliche Frage gewußt.«

Anerkennend reckte sie den Daumen in die Höhe. Donna Lucas, die Lehrerin seiner zweiten Jahrgangsstufe, war das erste Jahr in Pinegrove und hatte die Angewohnheit, ihren Schülern täglich eine neue Frage zu stellen. Der erste Schüler, der sie richtig beantwortete, bekam einen Punkt. Der mit den meisten Punkten am Ende des Schuljahres sollte einen Preis bekommen.

»Wie lautete denn die Frage?«

»Was haben eine Ziegelmauer und eine Glasscheibe gemeinsam?«

Sie überlegte ein paar Sekunden und meinte dann achselzuckend: »Okay, ich gebe auf ...«

»Sie sind beide aus Sand.«

Sie nickte anerkennend. »Wieso bin ich nicht darauf gekommen?«

»Denk dir nichts dabei, ich hätte es auch nicht gewußt, wenn ich mir nicht dauernd diesen Typen anschauen würde«, erwiderte er in Anspielung auf seine Lieblingssendung über Natur und Technik vom Samstag morgen. Dann kam er auf ein anderes Thema zu sprechen. »Weißt du was? Heute war ein Fremder an der Schule.«

Verwirrt warf sie ihm einen Seitenblick zu. »Könntest du dich vielleicht etwas klarer ausdrücken?« Wie jede andere Mutter auch hatte sie ihr Kind vor Fremden gewarnt, keine leichte Aufgabe, wenn man nicht genau das Gegenteil damit erreichen wollte. Sam war früher im Umgang mit anderen Menschen ein sehr schüchterner und befangener Junge gewesen, erst seit ihre zeitraubende Ausbildung vorüber war, hatte sich das gebessert. Deshalb wollte sie sein neu erworbenes Selbstvertrauen jetzt ganz bestimmt nicht gefährden.

»Ach, da war so ein Mann in der Pause. Gregory und Andy und Russ und Matt und Ariel und ich haben gerade Kickball gespielt.«

»Was hat er denn getan?«

»Er ist ganz langsam in seinem Auto vorbeigefahren.«

»Ist er ausgestiegen?«

Er schüttelte den Kopf.

»Habt ihr das der Pausenaufsicht erzählt?«

»Wir Jungs haben nicht gedacht, daß er wie ein Fremder aussieht, nur Ariel.«

»Ein Fremder ist jemand, den man nicht kennt, so einfach ist das.«

»Er hat aber gar nicht furchterregend ausgesehen.«

»Schatz, er oder sie müssen auch gar nicht furchterregend aussehen. So ein Mensch kann sogar recht nett sein. Aber der Haken an der Sache ist, daß man das nie genau weiß. Also, solange ich oder ein anderer Erwachsener, den du kennst und dem du vertraust, dich nicht mit dieser Person bekannt macht, so lange solltest du dich mit einem Urteil zurückhalten. Mit anderen Worten, du sollst nicht mit Fremden reden.«

»Ja, genau das hat Ariel auch gesagt.« Gratulation an Ariels Mutter, die dem Mädchen das hatte klarmachen können, dachte Angela, während Sam weiterredete. »Sie ist also weggerannt und hat Miß Hanks davon erzählt. Bis die zwei es dann auf unsere Seite vom Spielplatz geschafft haben, war der Mann aber schon wieder fort.«

Sie mußte unwillkürlich lächeln über seine Version der Geschichte; ihre anfängliche Besorgnis hatte sich in Luft aufgelöst. Medford in Massachusetts war eine anständige Kleinstadt, und sie wohnten in einem ziemlich guten Viertel; der Schulhof, auf dem die Kinder während der Pause spielten, war eingezäunt, und aus Sams Erzählung hatte sie geschlossen, daß der Mann weder den Wagen angehalten noch sonstige Anstalten gemacht hatte, die Kinder in eine Unterhaltung zu verwickeln.

»Klingt so, als sei er langsamer gefahren, weil er euch beim Ballspielen zuschauen wollte.«

»Ja, ich glaube, er hat vor allem mir zugesehen.«

»Tatsächlich, wieso?«

»Weil ich der Werfer war.«

»Sam, hattest du zufälligerweise die Fernbedienung in der Hand?« rief Angela. Nach ihrem Abendessen aus selbstgemachter Gemüsesuppe mit dicken Scheiben Pumpernickel war Sam in seinem Zimmer verschwunden, um dort seine Hausaufgaben zu machen.

»Du hast doch gesagt, ich dürfte fernsehen, wenn ich Sozialkunde gelernt habe«, rief er zurück.

»Soll das heißen, nein?«

»Ja. Oh, warte mal. Vielleicht hat Ollie sie genommen. Soll ich ihn fragen?«

»Wenn er seine Pfoten im Spiel hatte, dann laß es mich wissen«, antwortete Angela. Ollie war Sams buntscheckiger Kater, vier Kilo schwer und unglaublich verfressen, aber mit Sicherheit nicht der Täter. Sam zog sie nur auf, ein Spiel, an dem beide jedesmal wieder großen Spaß hatten. Angela, die mittlerweile ein Paar alte Jeans und ein Sweatshirt trug, durchsuchte bonbonlutschend – Butterkaramel, ihre Lieblingssorte – alle Ecken ihrer im ersten Stock gelegenen Wohnung nach der Fernbedienung. Dabei entdeckte sie hinter der Kommode im Eßzimmer ihre schwarze Strumpfhose und neben dem Bücherregal eine lose Bodendiele und eine Steckdose, die ihr zuvor noch nie aufgefallen war.

Es war jetzt vierzehn Monate her, da hatte sie nach Beendigung ihrer Ausbildung am Boston College sofort reagiert und sich die einzige offene Stelle für Lehrer an der Woodland High School in dieser kleinen Stadt, fünfzehn Meilen nördlich von Boston, geschnappt. Sie hatte Glück gehabt und eine große Anzahl an Mitbewerbern aus dem Feld geschlagen, zum einen auch eine Frau, die im Jahr zuvor oft als Vertretung eingesprungen war. Als Angela sich daraufhin auf die Suche nach einem passenden Ort zum Wohnen machte, boten ihre Eltern ihr an, eine Anzahlung auf ein Haus für sie zu leisten, aber sie lehnte ab und entschied sich statt dessen für eine Wohnung; sie hatte schon viel zuviel von ihnen angenommen. So kauften ihr die beiden, ohne sie lange zu fragen, wenigstens eine nagelneue, dreitausend Dollar teure Fernsehausstattung samt Videoanlage.

Barbara und Malcolm Carpenter, die sowohl emotional als auch finanziell immer für ihre Tochter dagewesen waren, lebten in Framingham, nur eine Dreiviertelstunde mit dem Auto von ihr entfernt, immer noch in demselben großen, alten Haus im Kolonialstil, in dem Angela aufgewachsen war. Angela stellte sich oft die Frage, wie sie es ohne ihre Hilfe wohl geschafft hätte ... vor allem, als Sam noch kleiner war und all diese schlimmen Dinge durchmachen mußte ... Es fiel ihr vor allem deswegen nicht leicht, das zuzugeben, da sie mit achtzehn, kurz nach dem Abschluß der High School, ihre Siebensachen gepackt hatte und nach Boston verschwunden war, um dort unter lauter Ausgeflippten zu leben und die Nase zu rümpfen über das College und ihre Familie ...

Angela entdeckte die Fernbedienung schließlich auf der Toilettenspülung im Badezimmer, ohne die leiseste Ahnung zu haben, wieso sie sie dort gelassen haben könnte ... Sie war noch keine dreißig, aber hatte sie nicht irgendwo gelesen, daß bereits im Alter von fünfundzwanzig Jahren die Gehirnzellen zu altern begännen? Sie schob den beunruhigenden Gedanken rasch beiseite, kehrte ins Wohnzimmer zurück und schaltete den Fernseher an, um nebenbei Jeopardy! laufen zu lassen, eine Quiz-Show, die sie sich regelmäßig ansah. Dann breitete sie die Prüfungspapiere ihrer Schüler auf dem niedrigen, runden Eichentisch vor der verblichenen Couchgarnitur aus, schlüpfte aus ihren Schuhen, machte es sich im Schneidersitz auf dem Teppich bequem und fing an, die Arbeiten zu korrigieren.

Nachdem sie Sam ins Bett gebracht hatte, dieser eingeschlafen war und sie Sophie angerufen hatte, um den Termin für den Schülerball auszumachen, fühlte sie kribbelnde Unruhe in sich aufsteigen. Das passierte hin und wieder, kein sehr angenehmes Gefühl, aber etwas, an das sie sich im Lauf der Zeit gewöhnt hatte – soweit das möglich war. Sie holte sich zum Trost noch ein paar Bonbons aus dem Hängeschrank in der Küche und ging wieder ins Wohnzimmer zurück, wo sie ziellos mit der Fernbedienung durch alle Kanäle zappte.

Schließlich drehte sie noch eine Runde durch die Wohnung, rüttelte an allen Türen, zog sogar die Vorhänge vor dem großen Vorderfenster zur Seite und sah auf die Straße hinunter: Direkt vor dem Haus stand eine Straßenlaterne, was ihr sofort positiv aufgefallen war, als sie das Haus in der Darian Street das erstemal besichtigt hatte. Die zweigeschossigen Häuser – von allen Seiten gut erleuchtet – standen ziemlich eng beieinander, und im Augenblick war alles ruhig und friedlich in der Nachbarschaft, eigentlich wie immer. Trotzdem wollte heute abend ihre Unruhe einfach nicht vergehen, und so war sie mehr als erleichtert, als das Telefon läutete und sich herausstellte, daß es ihre Mutter war.

»Du mußt Gedanken lesen können«, sagte sie zu ihr, während sie das Telefon ins Wohnzimmer trug und sich dort auf die Couch setzte.

»Wieso, was ist passiert?«

»Eigentlich nichts. Ich fühle mich im Moment nur etwas allein.«

»Du mußt immer dafür sorgen, daß du was zu tun hast.«

»Vielen Dank, Mutter, von selbst wäre ich nie auf diese Idee gekommen.«

»Jetzt mal im Ernst, ich weiß, was es heißt, einsam zu sein. Ich erinnere mich noch genau daran, wie ich mich fühlte, wenn Daddy so oft unterwegs war.« Malcolm Carpenter, der mittlerweile längst in Pension war, hatte sein Fuhrunternehmen mit einem einzigen Achtachser gestartet, den er auch noch selbst fuhr. Erst viel später hatte er es sich leisten können, Fahrer einzustellen, die die Aufträge außerhalb ihres Bundesstaates erledigten. »Aber Onkel Dennis war doch immer in der Nähe«, warf Angela ein. Sie meinte damit Dads einzigen, vergötterten älteren Bruder, der ihm während seiner schweren Kindheit eine große Stütze gewesen war. Besorgt und fürsorglich, hatte Dennis es sich auch nicht nehmen lassen, immer dann zu ihnen ins Haus zu ziehen, wenn Dad unterwegs war; das heißt, bis er an einer schweren Herzattacke starb, als Angela acht Jahre alt war.

»Ja, sicher«, erwiderte ihre Mutter zögerlich. »Aber das war nicht dasselbe, als wäre dein Vater zu Hause gewesen ... Natürlich konnte ich mich außerdem immer darauf verlassen, daß du mir mit deinen Ich-mach-was-ich-will-Attacken Ablenkung geliefert hast.«

Angela konnte sich nur noch dunkel daran erinnern, damals mit ihrer Mutter gestritten zu haben ... wahrscheinlich ging es immer nur um irgendwelche unwichtigen Kleinigkeiten, wie bei den meisten Auseinandersetzungen zwischen Mutter und Kind. Aber wenn Daddy nicht zu Hause war, dann hatte sie ihre Mutter gnadenlos getestet, das stimmte. Und bis zum heutigen Tag wurde ihre Mutter nicht müde, sie daran zu erinnern. »Würde es dir helfen, wenn ich mich dafür entschuldige?«

»Jetzt mach aber mal halblang, junge Dame. Außerdem habe ich mich nicht beschwert... Ich wünschte nur, ich hätte dein dickes Fell...«

Alles ist relativ, dachte Angela. Vielleicht hatte sie in den Augen ihrer Mutter wirklich ein dickes Fell, aber ihrem Gefühl nach hatte sie zu nahe am Wasser gebaut. Angela hatte zwar nie eine richtige Therapie gemacht, sondern nur in unregelmäßigen Abständen psychologische Betreuung in Anspruch genommen, die das Frauenzentrum am Bostoner College angeboten hatte. Doch das war erst nach ihrer Ehe gewesen, nachdem die Angst sich in ihr festgesetzt hatte ...

Dexter war rechtskräftig verurteilt und saß hinter Schloß und Riegel, also waren ihre Ängste unter diesen Umständen völlig irrational, aber wann sind Ängste nicht irrational? Da saß sie nun – eine alleinstehende Mutter mit Kind, die Angst hatte, nachts allein zu sein. Ihr erster Impuls war zwar gewesen, sich sofort in die Sicherheit ihres familiären Nestes zu flüchten, aber sie hatte dieser Regung nicht nachgegeben, nachdem sie entdeckt hatte, daß es sich damit ebenso verhielt wie mit dem Anhalten von Luft: Man muß nur lange genug durchhalten, und irgendwann ist einem alles egal. Natürlich bekam sie noch hin und wieder Angstattacken, aber vermutlich nicht öfter als andere Frauen, die allein lebten.

Laut dem Thermometer vor dem Küchenfenster herrschten am nächsten Tag fast achtzehn Grad. Es war ein sonniger, frischer Morgen, ein Wetter, das Angela unbedingt ausnützen wollte, solange es noch anhielt. Dabei fiel ihr sofort der Montgomery Park ein, der nur eine halbe Meile von ihrem Haus entfernt lag. Sie und Sam hatten dort den Sommer über oft alle Einrichtungen genutzt, die das vierundzwanzig Hektar große Waldgrundstück seinen Besuchern bot. Sie hatte Sam sogar einen besonders leichten Tennisschläger gekauft und innerhalb von vier Wochen mit Freuden festgestellt, daß seine Bewegungen gut koordiniert waren und er einen recht anständigen Schlag entwickelte.

Sam war noch in seinem Zimmer und zog sich an; sie würde ihm den Vorschlag machen, nach der Schule zum Tennisspielen zu gehen, sobald er in die Küche käme. In der Zwischenzeit lief sie durch die Wohnung und räumte die Zimmer auf, eine Arbeit, der sie noch nie sonderlich viel abgewinnen konnte; anschließend setzte sie Kaffee für sich auf und stellte den Orangensaft und die tiefgefrorenen Waffeln für Sam heraus, die sie später toasten und mit Ahornsirup für ihn zubereiten wollte. Im Gegensatz zum Abend vorher verspürte sie im Moment nur positive Energie durch ihre Adern fließen. Aus dem Grund dachte sie sich auch nicht viel dabei, als es an der Tür läutete, selbst wenn es ziemlich ungewöhnlich war, vor sieben Uhr morgens Besuch zu bekommen.

Sie lief die Treppe hinunter zur Tür und öffnete sie – draußen stand Dexter.

Sie spürte, wie ihr Herz wie ein Stein in Richtung Magen sackte und dabei irgendwo in ihrer Brust hängenblieb, als baumelte es kopfüber an einem dünnen Faden. Automatisch schob sie den Riegel der Fliegengittertür vor, trat einen Schritt zurück, packte hilfesuchend die Tür und starrte ihn an. Er machte einen erstaunlichen Eindruck, fast so, als sei er auf einer Gesundheitsfarm und nicht im Gefängnis gewesen. Bis auf einen kurzen, sauber gestutzten Bart mit grauen Fäden in den schwarzen Haaren sah er aus wie immer ...

»Du siehst gut aus, Angela«, meinte er mit einem anerkennenden Nicken.

»Was machst du hier?« fragte sie. Er war zu sechs Jahren verurteilt worden, aber sie mußte erst gar nicht nachrechnen, um zu wissen, daß noch keine fünf davon vergangen waren.

Er zuckte die Achseln. »Gute Führung, die Seelenklempner waren der Ansicht, daß ich bemerkenswerte Fortschritte gemacht hätte. Ich dachte erst, ich schmeiße eine Willkommensparty, aber dann habe ich mir überlegt, Mensch, Dexter, Angela ist doch eine tolle Frau ... vielleicht macht sie das für dich.«

Das war nicht sehr wahrscheinlich, und das wußte er auch ... Aber er kam offensichtlich auf seine Kosten mit seinem dummen Gerede. Da es ihr wie immer an der Schnelligkeit fehlte, auf seine Spielchen einzusteigen, konstatierte sie die Fakten. »Wir sind geschieden«, bemerkte sie trocken. Sie stellte fest, daß ihre Hand zitterte, und nahm sie von der Tür, in der Hoffnung, daß er es nicht gesehen hatte. »Laut Aussage meines Anwalts hat man dir die dafür erforderlichen Papiere zugeschickt. Du hast hier nichts zu suchen.«

Sie sparte sich die Mühe und fragte ihn nicht, woher er von ihrem Umzug wußte, offensichtlich hatte ihn seine Familie auf dem laufenden gehalten. Angela hatte zwar nicht sonderlich viel übrig für seine scharfzüngige Schwester Pauline oder für seine dumpfen, langweiligen Eltern, die in New Jersey lebten, aber sie schickte ihnen trotzdem jedes Jahr zu Weihnachten eine Karte mit einem Foto von Sam.

Er nickte und starrte sie weiter unverwandt an, was ihre Unruhe nur steigerte. »Hör mal, Angela, ich bin nicht gekommen, um dich zu belästigen. Ich will dir auch keine Angst machen.« Mit dem Kopf deutete er auf ihre Hand, die jetzt wieder die Tür umklammert hielt. »Aber ich habe einen Sohn.«

Sie hatte Probleme, zu begreifen, was er damit meinte. Rasch schüttelte sie den Kopf, als könnte sie dadurch klarer sehen.

»Tja, wenn du diese Papiere gelesen hättest, dann hättest du vielleicht bemerkt, daß das Gericht eine Verfügung erlassen hat, die dir verbietet, sich deinem Sohn zu nähern. Oder mir.« Und genau in dem Moment mußte Sam, der nachsehen wollte, was los war, natürlich auftauchen; Ollie trottete hinter ihm her.

Als er Dexter sah, trat ein Lächeln des Wiedererkennens auf sein Gesicht. »Hey, ich kenne Sie doch, Sie sind der Mann in dem Auto.« An seine Mutter gewandt, fuhr er fort: »Siehst du, ich habe dir doch gesagt, er hat nicht –«

Es mußte wohl der Ausdruck auf ihrem Gesicht gewesen sein, der ihm sagte, daß hier etwas nicht stimmte, auch die Schärfe in ihrer Stimme, als sie ihm erklärte: »Geh bitte wieder nach oben und iß dein Frühstück.« Er hielt mitten im Satz inne, machte aber keine Anstalten, zu gehen, erst als ihre Stimme eindringlicher wurde. »Sam, tu bitte, was ich dir gesagt habe!«

Nachdem er weg war, sah sie Dexter fragend an. »Hast du dich bei seiner Schule herumgetrieben?«

»Um ihn mir anzusehen, das war alles. Er ist ein hübscher Junge – er hat viel von dir ... vielleicht sogar ein bißchen was von mir. Wie steht’s denn in der Schule, wie macht er sich denn so? Ist er Klassenbester?« Als sie ihm keine Antwort gab, meinte er: »Vergiß es, das war nur eine rhetorische Frage. Natürlich ist er der Beste. Was sollte dagegen sprechen?«

Sam war nicht der beste Schüler seiner Klasse, aber sie betrachtete das Leben auch nicht als Konkurrenzkampf wie Dexter. Sam war ein kluger Junge, und sie war überzeugt, daß Dexter sich dafür schulterklopfend den Löwenanteil zusprach. »Hör mir zu, Angela«, fuhr er fort, als könnte er ihre kritischen Gedanken lesen, »ich habe den Wagen nicht einmal angehalten. Jahrelang waren Fotos alles, das ich von meinem Kind hatte. Also, hab Nachsicht.«

»Wieso? Wieso glaubst du, daß du meine Nachsicht verdienst?«

»Ich wollte euch nie –«, setzte er an, aber sie unterbrach ihn.

»Bitte, spar dir das für jemanden auf, der es dir glaubt«, bemerkte sie bitter. Nach all der Zeit hielt er immer noch an seiner ursprünglichen Lüge fest – und bestand jedem gegenüber darauf, daß er Sam mit dem brennenden Manuskript niemals hatte verletzen wollen. »Die Fackel war doch nur das Symbol unserer Liebe, unserer ewigen Bindung zueinander«, hatte er den Geschworenen erklärt, als er im Zeugenstand aussagte. Und er machte seine Sache gut; sie glaubten ihm und sprachen ihn nur der fahrlässigen Körperverletzung und nicht eines schwereren Verbrechens schuldig, was ihm eine Strafe von weniger als einem Jahr einbrachte. Es waren der tätliche Angriff und die Vergewaltigung – er hatte ihr zwei Rippen gebrochen –, die das Strafmaß erhöhten. Er stieß einen Seufzer aus, sein anfänglicher Schwung schien nachzulassen. »Ich würde mich auf den Boden werfen und deine Fußsohlen küssen, wenn ich wüßte, daß ich dadurch etwas in Ordnung bringen könnte, Angela. Was ich getan habe, war verachtenswert, gemein, schändlich, es gibt kein passendes Wort, um es zu beschreiben, und es verfolgt mich wie eine Plage und wirft einen Schatten über mein ganzes Leben.

Ich habe im Gefängnis als Wartungsmonteur gearbeitet ... einmal war ich drauf und dran, mich vor die Kreissäge zu werfen. Ich wollte meinen Kopf endlich frei bekommen und nicht mehr länger das Bild von dem herumschleppen, was ich dir und dem Jungen angetan hatte. Aber dann wurde mir klar, daß nur ein Feigling so gehandelt hätte ... und so habe ich es mir anders überlegt. Ich kam zu dem Schluß, daß der einzige Weg aus der Misere für mich der wäre, meinem Sohn ein Vater zu sein. Ein guter Vater, ein beispielhafter Vater, einer, den der Junge gern als Vorbild betrachten wird. Das ist alles, was ich will, Angela.«

»Verschwinde, bevor ich die Polizei hole«, sagte sie. Die Kraft in ihrer Stimme war bereits am Nachlassen, und ihre drohend gemeinten Worte hörten sich eigenartig lahm an. Sie knallte ihm die Tür vor der Nase zu und rannte nach oben, wo sie die Wohnungstür von innen verriegelte und sich heftig atmend dagegen lehnte. Er hatte sie dazu gebracht, sich seine Ausführungen anzuhören – fünf Jahre waren vergangen, aber es war, als wäre er nie fort gewesen.

Er verfügte immer noch über diese magische Ausstrahlung, deren Zauber sich die wenigsten entziehen konnten und die viele dazu brachte, sich unbesehen seiner Meinung anzuschließen. Aber Angela kannte auch Dexters andere Seite, seine skrupellose, gewalttätige und unberechenbare Seite. Alles, was aus seinem Mund kam, war verdächtig ... seine Behauptungen eben waren nur ein weiterer Versuch, sich wieder einen Weg in ihr Leben zu erschleichen.

»Wo ist er hin?«

Die Worte rissen sie aus ihren Gedanken, und sie schreckte hoch ... Als sie Richtung Küche blickte, sah sie, daß Sam dort unter der Tür stand und sie mit neugierig funkelnden Augen anschaute.

Sie schüttelte den Kopf. »Er ist weg.«

»Kennst du ihn?«

»Ich habe ihn einmal gekannt«, erwiderte sie. »Sam, wenn du ihn wieder in der Nähe der Schule siehst, dann will ich, daß du das sofort einem Lehrer meldest. Du darfst auf keinen Fall mit ihm reden. Verstehst du mich?«

»Ist er böse?«

Er wirkte so kräftig und gesund, wie er so dastand – und das hatten sie einzig und allein der Gnade Gottes zu verdanken. Er war damals noch zu klein gewesen, um sich an die Ereignisse dieser Nacht zu erinnern, zu klein, um noch etwas von den Hautverpflanzungen, den Schmerzen und jenen entsetzlichen Monaten im Krankenhaus zu wissen. Gelegentlich fragte er zwar nach einem Daddy, aber er konnte sich an keinen erinnern, und so hatte sie ihm erklärt, daß sein Vater weit weggegangen sei und niemals wiederkommen würde.