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Julie Smith

Ich bin doch keine Superfrau

Krimi


Ins Deutsche übertragen von Bettina Thienhaus

Edel eBooks

 

1

Der Lärm wuchs, und ich hämmerte in die Tasten, um ihn zu übertönen. Ich guckte auf meine Finger, vielleicht starrte ich auch ins Leere, ich weiß es nicht mehr. Die beiden Bullen in Uniform, die mit gezogener Waffe durch die Tür stürmten, hatte ich jedenfalls nicht gesehen. Ich hörte nur ein Geräusch und dann Schreie. Ich blickte auf und unterbrach mein Spiel. Die Leute im Foyer drängten zur Treppe. Elena Mooney flüchtete zum Kamin.

»Achtung! Ruhe hier!« kommandierte einer der beiden. »Dies ist eine Razzia.«

Seltsam, wie man in solchen Situationen reagiert. Eigentlich hätte ich mich schrecklich fürchten und die Schlagzeilen schon leuchten sehen müssen: »Anwältin in Bordell erwischt!« Ich hätte mir Sorgen machen müssen – mein guter Ruf, und wie sollte ich meiner Mutter die Sache erklären? Aber nichts dergleichen. Ich sah einen Revolverlauf, hörte jemanden wie im Kino brüllen: »Dies ist eine Razzia!« und klammerte mich an den Flügel, um nicht »Scheiße, die Bullen!« zu rufen.

Dann wurde es dunkel. Nicht daß ich ohnmächtig wurde; das Licht ging nur aus. Eine Hand packte meinen Arm und zog mich fort. Neues Geschrei und dann ein Schuß. Ob jemand getroffen war, wußte ich nicht, aber langsam dämmerte mir, daß die Situation real war. Ich ließ mich mitziehen, stieß gegen tausend Leute, schnappte Sprachfetzen auf, wie »Ruhe!« und »Keine Panik!« – das waren sicher die Bullen –, dann hörte ich erneut Schüsse und wieder Schreie.

Mein Retter machte eine Tür auf und zog mich in die Küche. Die Kaffeehausvorhänge ließen genug Licht herein, daß ich Elena erkennen konnte.

Sie ließ mich los, griff nach einer Taschenlampe, die auf dem Kühlschrank lag, und öffnete eine weitere Tür, vermutlich zur Speisekammer. Irrtum, hier ging es in den Keller. Sie ließ mich vorangehen und schloß hinter uns ab.

Am Fuß der Treppe wartete ich auf Elena mit der Lampe, aber als sie neben mich trat, knipste sie sie aus. Von rechts kam ein schwaches Leuchten. Elena machte mir ein Zeichen zu schweigen und drängte sich an mir vorbei in den Kellerraum. Ich folgte ihr.

Die Wände wirkten roh und unfertig, aber der Putz war gestrichen. Das Licht kam von einem silbernen Kandelaber mit sechs schwarzen Kerzen, der auf dem Fußboden stand. An der hinteren Kellerwand waren in Knöchel- und Schulterhöhe eiserne Fesseln angebracht, und von der Decke baumelten schauerliche Flaschenzüge und Seilwinden. Aber ich war nicht in der Stimmung, genauer hinzusehen. Ein Wunder, daß ich diese Details überhaupt bemerkt hatte, denn vor mir stand ein Messingbett mit einem splitternackten Mann drauf. Er lag auf dem Rücken, alle viere von sich gestreckt.

Seine Handgelenke waren ans Kopfende gefesselt, die Knöchel ans Fußende. Auch ohne seinen Maßanzug erkannte ich Senator Calvin Handley. Ich hatte ihn kürzlich im Fernsehen erlebt, auf einer Pressekonferenz über seinen Gesetzentwurf zur Legalisierung der Prostitution. Immerhin, er war kein Heuchler.

Elena begann, seine Handgelenke loszubinden. »Rebecca, du die Knöchel«, flüsterte sie.

Sie redete Handley nicht mit »Senator« an – in der Hoffnung, ich würde ihn nicht erkennen. »Es gibt Schwierigkeiten. Die Polizei ist hier, aber wir haben Zeit, Sie ungesehen rauszubringen. Wo sind Ihre Sachen?«

»Kandi hat vergessen, sie runterzubringen.«

»Verdammt!« Die letzte Fessel war gelöst, der Senator setzte sich auf und rieb seine Handgelenke. Elena warf einen Blick in den Schrank am Eingang. »Sie hat sie wirklich vergessen – dann müssen Sie eben das hier anziehen.«

Sie lupfte ein schwarzes Etwas von einem niedrigen Stuhl. Darunter lagen Handschellen und ein schwarzer Stoffstreifen, der wie eine Augenbinde aussah. Chacun à son goût. Erwachsene tun sowas ja freiwillig.

Ich hatte seine Fußfesseln gelöst, und der Gesetzesmann schlüpfte in das schwarze Textil, eine bodenlange Robe mit langen Ärmeln und einer Kapuze – absolut anständig, aber äußerst verrückt.

»Schuhe?« fragte Elena. Der Senator schüttelte den Kopf. »Okay, gehen wir. Du auch, Rebecca.«

Sie schob den Schrank beiseite, hinter dem eine Art Tunnel zum Vorschein kam, gab mir die Taschenlampe und fischte einen Schlüssel aus ihrem Mieder. Ich sah, wie ihre Hand zitterte. »Hört zu, ihr beiden«, flüsterte sie. »Da oben wurde geschossen. Vielleicht ist jemand tot oder verletzt. Dies ist mein Haus, und ich muß hierbleiben. Rebecca, dies ist ... Joe. Ich verlasse mich darauf, daß du ihn zu seinem Auto bringst. Dann fahr nach Hause, zieh dir was Ordentliches an und komm wieder her. Wir werden dich brauchen. Am Ende des Tunnels ist eine Tür mit Vorhängeschloß, dies ist der Schlüssel dafür. Mein Auto steht direkt dahinter, die Schlüssel stecken. Nimm das Vorhängeschloß mit; vielleicht brauchen wir den Tunnel heute noch. Bring nur den Sen ..., bring Joe hier raus. Wenn ich euch losfahren höre, warte ich noch fünf Minuten, dann gehe ich wieder nach oben. Viel Glück.« Sie drückte meine Hand.

Wir mußten uns im Tunnel bücken. Ich ging mit der Taschenlampe voran, dahinter der Senator, die Hände an meine Hüften gelegt. Das war nicht zwingend notwendig, aber ich gestattete es ihm. Ich hatte in diesem Augenblick andere Probleme. Ich verwünschte mich, weil ich idiotischerweise Elenas Bitte nachgegeben hatte, und ich verwünschte Elena, die mir die ganze Geschichte als vollkommen sicher verkauft hatte.

Nein, sie war keine Lügnerin. Auf der Party wurden wirklich keine Freier bedient. Aber einen nackten Senator im Keller zu verschweigen war schon eine ernste Unterlassungssünde.

Der Senator, Typ großer Junge, hielt die Taschenlampe, während ich die Tür aufschloß. Elenas Mustang stand zwar direkt davor, aber doch so weit weg, daß wir beim Einsteigen in eine Schlammpfütze treten mußten. Da ich nur Sandalen und der Senator gar keine Schuhe anhatte, war’s für uns beide gleichermaßen ungemütlich.

Der Mustang schnaubte ein paarmal, legte die Ohren an und fegte los, Richtung Broderick Lane.

»Wo steht Ihr Auto?« fragte ich.

»Oh, mein Gott! Ich muß zurück. Ich hab meine Schlüssel nicht dabei!«

»Vergessen Sie Ihre Schlüssel. Sie können nicht zurück. Ich bringe Sie nach Hause.«

»Aber mein Geld! Meine Papiere! Die brauche ich unbedingt! Kehren Sie um!«

»Nein.«

»Ich sagte umkehren

»Hören Sie mal«, zischte ich. »Die Bullen interessieren sich nicht für Freier. Wahrscheinlich bekommen Sie Ihre Sachen diskret zurück. Das ist zwar peinlich, aber nichts im Vergleich dazu, was passiert, wenn man Sie in diesem Outfit im Bordell erwischt.«

»Verdammt, kehren Sie um!«

Eine gute Bürgerin hofft natürlich, daß die Politiker wenigstens ein bißchen Grips im Kopf haben, ganz gleich wie ihre sexuellen Neigungen auch aussehen mögen. Aber dieser Typ hier hatte nur Rührei im Hirn. Ich diskutierte nicht weiter. Er war es wohl nicht gewohnt, Befehlen zu gehorchen, außer vielleicht bei Kandi, wenn sie ihre Spielchen trieben, also gab ich die Rolle der strengen Mutter auf. Ich fuhr weiter, Richtung Heimat, aber vorsichtig wegen des Regens.

Ein, zwei Minuten war er still, und als wir in die Fillmore Street einbogen, versuchte ich es noch mal. Jetzt klang ich hoffentlich so aufmunternd und hilfsbereit wie eine Sekretärin oder eine Ehefrau.

»Wo kann ich Sie absetzen?«

»Verdammt noch mal, junge Frau, bringen Sie mich zurück!« brüllte er.

»Ihr Senatorenhirn tickt wohl nicht richtig!« erwiderte ich. »Wo wohnen Sie denn, um Himmels willen?«

Er beugte sich rüber, griff ins Lenkrad, und ich verlor die Kontrolle über den Wagen. Wir schlitterten mit quietschenden Reifen nach rechts. Ich riß gerade noch rechtzeitig das Steuer herum, um einem parkenden Auto auszuweichen, und trat die Bremse voll durch. Aber die Lenkung blockierte, und der Mustang knallte mit dem Heck gegen das andere Auto. Da hörte ich auch schon die Sirene. Ich sah in den Rückspiegel: der Streifenwagen war nur einen halben Block entfernt.

Bevor ich mich fassen konnte, riß der Spinner von Senator schon die Tür auf und sprang mit nackten Füßen auf die Fillmore Street. Ohne ein »Dankeschön fürs Mitnehmen« flitzte er in seinem wogenden schwarzen Gewand davon. Er wirkte wie einer der üblichen Freaks von San Francisco, nur daß die selten so edle, silbergraue Haare haben. Ich machte die Beifahrertür wieder zu. Vielleicht hatten die Bullen ihn nicht gesehen. Sie hielten neben mir, als der Senator um die Ecke verschwand.

Der Bulle, der ausstieg, hatte einen seidenweichen Schnurrbart, und der Rest sah auch nicht schlecht aus. »Alles okay, Madam?«

»Ich denke schon. Ich bin bei der Nässe ins Schleudern geraten und konnte nicht mehr richtig gegensteuern.«

»Zeigen Sie mal Ihren Führerschein.«

»Ich ... ich hatte einen Notfall. Ich habe ihn nicht dabei.«

»Sie haben doch Ihre Autoschlüssel. Und die waren bestimmt in Ihrer Handtasche, mit dem Führerschein.«

»Nein, die Schlüssel steckten schon.«

»Sie heißen?«

»Rebecca Schwartz.«

»Haben Sie getrunken, Miss Schwartz?«

»Ein bißchen. Aber deswegen habe ich das Auto nicht gerammt. ich bin ins Schleudern geraten.«

»Wenn Sie die Freundlichkeit hätten, Ihren Wagen da drüben abzustellen, Miss Schwartz. Ich bin gleich wieder da.«

Unter Stress parke ich eher schlecht, aber der Bulle bemerkte es nicht, glaube ich. Er war im Streifenwagen zugange.

Nach einer Minute kam er wieder. »Haben Sie überhaupt einen Ausweis dabei?«

»Nein, das habe ich Ihnen doch schon gesagt.«

»Wir haben Ihren Wagen überprüft. Er ist auf eine Elena Mooney zugelassen.«

»Ich weiß, sie hat ihn mir geliehen.«

»Und sie weiß, daß Sie ihn fahren?«

»Natürlich.«

»Miss Schwartz, ich muß Sie bitten, sich einem kleinen Test zu unterziehen. Seien Sie so nett und strecken Sie Ihre Arme waagerecht aus. Gut. Jetzt den Kopf etwas zurück, die Augen zu, und die Nase mit dem Zeigefinger berühren.«

»Mit dem linken oder dem rechten?«

»Mit beiden. Je dreimal.«

In solchen Sachen war ich noch nie gut. Bei sechs Versuchen traf ich meine Nase dreimal, und auch wenn ich stinknüchtern gewesen wäre, hätte ich nicht mehr geschafft. Ich habe es inzwischen tausendmal probiert. Natürlich glaubte der attraktive Bulle nicht, daß das eine ganz persönliche Eigenart von mir ist. Aber insgesamt war er sehr freundlich. Es schien ihm fast peinlich: »Sie in einer solchen Nacht um noch etwas zu bitten ist mir unangenehm, aber glauben Sie, daß Sie an einer geraden Linie entlangbalancieren können?«

»Ich werde klatschnaß.«

»Oh, das tut mir leid, Madam.« Der Typ war wirklich süß, wenn man bedenkt, daß ich nicht gerade respektierlich aussah.

Als ich ausstieg, lief mir der Regen in Strömen ins Dekollete. Ich setzte solange einen Fuß vor den anderen, bis der Bulle »Halt!« sagte. Ich wollte weitermachen, wußte ich doch, daß die Linie gerade würde, sobald ich den Dreh raushatte. Er schien nicht überzeugt. Ich war ganz schön vom Kurs abgewichen.

»Ich befürchte, Ihr Notfall wird warten müssen, Miss Schwartz. Sie haben mit einem Auto, das nicht Ihnen gehört, einen Unfall verursacht. Sie können weder einen Führerschein noch einen anderen Ausweis vorzeigen, den Nüchternheitstest haben Sie nicht bestanden, und außerdem ist der Wagen mit zweihundert Dollar Strafzetteln belastet.«

»Aber ...«

»Sie sollten den Mustang heute besser nicht mehr fahren. Schließen Sie ihn ab, und kommen Sie in den Streifenwagen.«

»Halt! Ich kann Ihnen das mit dem Auto erklären.«

»Alle Erklärungen der Welt werden mich nicht von Ihrer Nüchternheit überzeugen.«

Ich tat wie befohlen, während sie den Schaden an dem geparkten Auto inspizierten. Dann saßen wir im Streifenwagen, der Bulle mit dem Schnurrbart und ich, während sein Partner einen Unfallbericht ausfüllte. Ich habe nie kapiert, warum das unbedingt am Unfallort passieren muß statt auf dem Revier, aber es gab mir Zeit, meine Geschichte zu erzählen.

Ich war auf einem Kostümfest gewesen – das würde hoffentlich meine Aufmachung erklären –, und einem Freund war plötzlich schlecht geworden. Wir waren auf dem Weg ins Krankenhaus, als ich das geparkte Auto rammte.

»Und wo ist dieser Freund jetzt?«

»Er bekam es mit der Angst und lief weg.«

»Wie krank war er denn?«

Ich senkte den Blick. »Ich weiß es nicht. Er hat sich sehr seltsam benommen, eine Art Nervenzusammenbruch, glaube ich.«

Der Bulle folgerte genau das, was er sollte. »Gab es auf dieser Party Drogen, Miss Schwartz?«

Ich sagte ja, und er fragte nicht weiter.

Auf dem Weg zur Hall of Justice [in den USA ein Gebäude, in dem Polizeipräsidium, Gericht und Stadtgefängnis untergebracht sind; Anm. d. Übers.] versuchte ich, meine Gedanken zu sammeln. Ich sah wie eine Nutte aus, und trotz meiner lahmen Erklärung hielten sie mich auch für eine. Drei Wochen nach Halloween veranstaltet niemand mehr Kostümfeste. Ich konnte auch nicht vorbringen, daß ich Anwältin bin, denn ohne Ausweis konnte ich das nicht beweisen. Es hätte sowieso nichts genützt, weil sie mich für betrunken hielten. Elena und die anderen würden vermutlich auch in der Hall sein. Wir könnten klären, wem das Auto gehört und wer ich bin. Ich könnte meine Kanzleipartnerin Chris anrufen, damit sie uns rausholt. Ob Chris das schaffen würde? Es sah fast so aus, als müßte Rebecca Schwartz, die jüdische Anwältin und Feministin, eine Nacht im Gefängnis zubringen. Ich tat ein Stoßgebet, daß der Alkoholpustetest negativ ausfallen möge. Dann sann ich nur noch über die finsteren Kräfte nach, die mich in diesen Streifenwagen verfrachtet hatten.

 

2

Die finsteren Kräfte hockten natürlich unter meiner Schädeldecke. Ich mußte daran denken, wie meine Mutter mich einmal vollständig bekleidet unter die kalte Dusche gestellt hatte, nur weil ich keine Konzertpianistin werden wollte, mit meinen neun Jahren. Ein bißchen Provokation war dabei gewesen: Ich hatte den Entschluß während einer Klavierstunde gefaßt und zur dramatischen Unterstreichung Notenblätter zerrissen und das Metronom in die Ecke geschleudert. Ich war schwer beeindruckt von mir. Wahrscheinlich habe ich mich in Elenas Bordell ans Klavier gesetzt, um meiner Mutter eins auszuwischen. Dieser Meinung ist jedenfalls mein Analytiker.

Es gäbe auch andere plausible Gründe.

Erstens war mein Leben eher langweilig. Ich war achtundzwanzig und hatte nie etwas Aufregenderes erlebt, als gute Noten zu bekommen und feministische Anwältin zu werden. Ich war nie mit Freund und Rucksack durch Europa getrampt und hatte auch keinen Sommer im Kibbuz verbracht.

Warum, weiß ich nicht; vielleicht, weil ich von Natur aus sehr konservativ bin. Ich hasse Veränderung und packe nur widerwillig Gelegenheiten beim Schopfe; spielte ich Poker (was ich nicht tue), würde ich drei Könige nur mit zwei Assen in der Hinterhand präsentieren. Aufgewachsen bin ich in Marin County, Kalifornien, studierte Jura in Berkeley und wurde Anwältin in San Francisco. Meine Familie gehört zur liberalen jüdischen Mittelklasse. Meine politischen Vorstellungen und Einschätzungen entsprechen denen, die ich als Kind mitbekommen habe, Drogen und Sex ausgenommen – da habe ich eine modernere Einstellung als meine Eltern.

Ich war die Frau, die sich jede Mutter als Schwiegertochter wünscht. Aber Heiratsanträge bekam ich nicht, und mir war’s auch egal. Ich war viel zu beschäftigt, die Ambitionen meines Vaters zu erfüllen. Oder das, was ich dafür hielt. »Werde Arzt, Rebecca. Mit Jura kannst du kein Geld verdienen«, aber natürlich war das ein Witz. Er nahm mich von klein auf in den Gerichtssaal mit, und als ich dann ein Teenager wurde, diskutierte er seine Fälle mit mir. Was waren da schon Ärzte. Mein Leitbild war der Anwalt.

Wenn man so bieder lebt, und es kommt jemand und fragt: »Hast Du Lust, eine Nacht in einem Bordell Klavier zu spielen; es sind nur Freunde da, nichts kann passieren« – wer hätte da wohl nein gesagt? Zumal in einem feministischen Bordell? Mit Rache an der Mutter hatte es jedenfalls nichts zu tun.

Und noch etwas: Elena brauchte mich. Sollte ich meiner Freundin eine Bitte abschlagen, nur weil ich zu fein bin, mich in einem Bordell aufzuhalten? Eine schöne ›Schwester‹ wäre ich da! Elena ist Prostituierte und eine Art Bordellmutter, aber nicht ganz, denn ihr Etablissement ist eine Kooperative. Entscheidungen werden von allen Mitgliedern getroffen und die Einnahmen aufgeteilt. Elena ist der Motor des Ganzen, und ohne ihre politischen Ansichten wäre sie eine echte Puffmutter.

Ich lernte sie kennen, als die Koop zum erstenmal aufflog und Jeannette von Phister mich bat, den Fall zu übernehmen. Obwohl ich gewisse Vorbehalte habe, was Prostitution als feministisches Anliegen angeht (Jeannette nennt das »horizontale Feindseligkeit«), gehörte ich schon damals zur Rechtsberatung von HYENA, der Organisation der »leichten Mädchen«, die Jeannette gegründet hatte. HYENA steht für »Head Your Ethics Towards a New Age« und hat zum Ziel, Prostitution zu legalisieren.

Wegen des feministischen Anspruchs dieser exotischen Frauen gab es viel Publicity um HYENA. Als ich mich zur Mitarbeit bereit erklärte, war mir unbewußt schon klar, daß diese Publicity auch auf die Anwältin der HYENA-Frauen abfärben würde. Und genauso war es, als ich Elenas Verteidigung übernahm.

Elena (geborene Eileen – möchte ich wetten; hatte aber nie den Nerv, sie zu fragen) leitete die feministische Bordell-Kooperative seit sechs Monaten. Sie war intelligent, doch fehlte ihr die Praxis. Sie hatte sich bestimmt zu wenig mit dem Problem »Schmiergeld für die Bullen« befaßt. (Eine Anwältin sollte so etwas höchstens denken, aber nicht laut aussprechen.) Elena wurde zusammen mit ihren drei Partnerinnen verhaftet, und ich sollte sie verteidigen.

Der Fall wirbelte viel Staub auf. Das Haus galt als Nobelbordell, und es gab Gerüchte über Elenas Adreßbuch, das angeblich einflußreiche Namen enthielt. Die HYENA-Frauen machten großes Geschrei wegen »sexistischer Repression«. Jeannette und ich organisierten eine Pressekonferenz, bei der wir die Polizei schwer beschimpften: sie verplempere ihre Zeit mit dem Herumschnüffeln in Transaktionen, die (im rechtlichen Sinne) erwachsene Personen in wechselseitigem Einverständnis durchführten. Ich erklärte meine Mandantinnen zu Opfern unserer heuchlerischen Gesellschaft, die Frauen unterbezahle, sie aber strafrechtlich verfolge, wenn sie sich zur Prostitution gezwungen sähen. Die Frauen müßten auch noch lächelnd ignorieren, daß ihre Kunden an dieser Unterdrückung maßgeblich beteiligt seien. Ich wurde zu Talk-Shows eingeladen, trug aber zur Freilassung der Koop-Frauen wenig bei: sie waren nicht vorbestraft und bekamen Bewährung.

Wir freundeten uns an, Elena und ich. Sie gefiel mir; sie hatte Humor, war irgendwie robust und grundsolide, was sicher daher kam, daß sie aus einer armen Familie mit sechs Kindern stammte. Als aufrechte Vertreterin der unverheirateten Mittelklasse wünschte ich mir, sie möge ihr ungesetzliches Leben aufgeben und wieder studieren, aber man kann nicht die Entscheidungen anderer Leute treffen.

Nach der Geschichte trafen wir uns häufig zum Lunch, wobei sie mir Details aus dem Leben einer Prostituierten mitteilte. Natürlich nichts, was an die Nieren ging. Elena, die Irin, konnte wunderbar fabulieren, und sie ließ den Bordellalltag glitzern wie ein englisches Sittenstück aus dem siebzehnten Jahrhundert.

In meinem braven grauen Blazer und der Cacharel-Bluse, vor Krabbensalat und Weißwein, kam ich mir ziemlich naiv vor, als sie aus dem Milieu der Kristalleuchter und hochhackigen Riemchenschuhe erzählte. Das war eine Welt, die persönliche Eitelkeit nicht nur tolerierte, sondern feierte, und ich fand es herrlich, einen Blick darauf zu erhaschen. Etwas in mir war regelrecht fasziniert. Elena mußte gemerkt haben, daß die biedere Rebecca Phantasien pflegte, die zu einer jüdischen Anwältin und Feministin nicht unbedingt paßten, denn sie schickte mir Billets für HYENAs jährlichen Halloween-Wöhltätigkeitsball, den »Dirnenzauber«. Dort, in dieser Plüsch-, Samt- und Seidenatmosphäre lud sie mich ein, ihr neues Haus zu besichtigen: sie sei wieder im Geschäft. Ich war nicht Elenas Mutter oder ihre Bewährungshelferin. Der Takt gebot, die Einladung anzunehmen, das Bordell zu bewundern und alles gesetzlich Mögliche zu tun, um ihr zu helfen.

Ich sollte am nächsten Samstag kommen, morgens, denn um zwölf Uhr machte sie den Laden auf.

 

3

Um null Uhr fünfundvierzig erreichten wir die Hall of Justice, und ich wurde wegen Verdachts auf »Fahren unter Alkoholeinfluß« verhaftet. Ein schändlicher Augenblick für die Familie Schwartz. Die Bullen brachten mich zur Abteilung Verkehrsdelikte, eine Art Großraumbüro mit zig Tischen und Schreibmaschinen. Ich fragte, ob ich Elena anrufen könne.

»Natürlich, aber erst der Alkoholtest. Blut, Atem oder Urin?«

»Atem.«

Sie ließen mich erst mal allein. Ich versuchte, mich positiv auf den Test einzustellen, aber es klappte nicht. In meinem Kopf rollten immer wieder die Ereignisse vorbei, die mich hierher gebracht hatten. Es fing mit besagtem Samstag an, als ich zum erstenmal ein Bordell besuchte.

Elenas Haus lag in Pacific Heights, aber die Adresse verrate ich nicht. Anwaltsgeheimnis!

Es war ein hübsches Beispiel für den Queen-Anne-Victoria-Stil, weiß gestrichene Wände mit dunkelblauen und goldenen Verzierungen. Würdevoll, wenn man so will.

Elena hatte ganz ordinäre Jeans an, als sie mir öffnete, trat aber schnell zur Seite, um mir den Blick aufs Vestibül freizugeben: nackter Boden, auf der Treppe ein roter Teppich, an den Wänden echte rotgeflockte Pufftapete. An Mobiliar gab es nur einen altmodischen Garderobenständer aus Eiche und einen rubinroten Glaslüster mit blinkenden baumelnden Kristallprismen.

»Mein Gott!« sagte ich. »Der klassische Puff!«

»So würde ich es nicht unbedingt nennen.«

»Es ist umwerfend.«

Elena nickte. »Es fehlt höchstens ein Perlenvorhang, aber der hätte nur vor den Gang zur Küche gepaßt, und ich wollte nicht, daß da ein Kunde hereinspaziert.«

Sie führte mich in den Salon, an dessen hinterer Wand sich ein offener Kamin befand und darüber das obligatorische Gemälde – ein weiblicher Akt. Nicht schlecht. Das Modell aalte sich auf einem Messingbett, und es war nicht einmal ganz nackt. Die Dame trug Stiefel.

Es gab einen rosafarbenen Satinkuschelsitz mit Fransen und noch einen in weinrotem Samt. Dazu passende Mahagonistühle. Und natürlich Kristallüster.

Hinten links waren viktorianische Stühle und Tische zu Sitzgruppen zusammengestellt. Rechts davon ein Flügel mit einem wunderschönen alten Überwurf. An den Wänden mehr nackte Damen mit Schönheitsflecken auf Gesicht und Popo.

»Sehr gemütlich«, sagte ich.

»Absolut schrill«, erwiderte Elena, »aber heimelig. Deshalb dieser Haufen Kitsch. Es soll nach Phantasiewelt aussehen, aber nicht einschüchtern. Mit viel Platz zum Herumlaufen. Tanzen kann man im Vestibül oder zwischen den beiden Salons.«

»Perfekt«, sagte ich. »Hast du mal daran gedacht, Innenarchitektin zu werden?«

Sie lachte. »Wenn ich mich zur Ruhe setze.«

»Du Witzbold!«

»Komm, ich zeig dir die obere Etage. Hier unten ist nur noch die Küche, da trinken wir nachher Tee.«

Elenas privates Schlafzimmer lasse ich weg, es hat für die Demimonde, die ich hier skizziere, keine Bedeutung. Die übrigen drei Gemächer waren zum Arbeiten da.

Der rote Teppich schlängelte sich durch den Korridor und in zwei Zimmer hinein, die mit Marmortischen, vergoldeten Spiegeln und barocken, von rotem Samt bedeckten Mahagonibetten dekoriert waren. Das letzte Zimmer enthielt nur ein Möbelstück: das größte Wasserbett, das ich je gesehen hatte. Wände und Decken waren verspiegelt. »Nicht gerade viktorianisch«, bemerkte ich.

»Über schlechten Geschmack läßt sich nicht streiten. Das Wasserbett ist unsere größte Attraktion.«

Wir gingen runter in die Küche, die wie jede Küche aussah, nur daß ein anständig großer Tisch hineinpaßte. Ich setzte mich, Elena machte Tee und servierte englische Muffins.

»Dies ist – außer dem Schlafzimmer – der einzige Raum, der irgendwie zu mir gehört«, sagte sie. »Es ist nicht sehr angenehm, hier auch zu wohnen, aber wir können das Haus nicht einfach nach der Arbeit zusperren und weggehen.«

Als ich Elena so in ihren Jeans in der Küche hantieren sah, konnte ich mir vorstellen, daß sie es »nicht sehr angenehm« fand, in einem Bordell zu leben. Sie hatte glänzendes kastanienbraunes Haar und kräftige Augenbrauen, die sie, kluges Kind, nicht zupfte. Nichts an ihr – außer ihren langen Fingernägeln – paßte zu der landläufigen Vorstellung von einer Prostituierten.

Ich wußte zwar alles über Elenas lustige Familie in Chicago, aber nicht, wie aus ihr eine feministische Prostituierte geworden war. Ich kannte viele HYENA-Frauen, und alle erzählten in etwa die gleiche Geschichte: sie arbeiteten als Sekretärinnen oder Büroangestellte, bis ihnen eines Tages jemand für Sex Geld anbot. Sie kamen zum Feminismus, als die Frauenbewegung herausfand, daß für Männer das Geldverdienen leichter ist als für Frauen.

Elena schien mir intelligenter und gebildeter als die anderen Prostituierten, die ich kannte. Sie setzte sich mit ihrem Tee und einem gebutterten Muffin an den Tisch.

»Elena, du hast mir nie erzählt, wie du ...«

»... vom Pfade der Tugend abgekommen bist?« Sie goß sich Tee ein.

»Nun ja.«

»Ich habe meinen Beruf am College gelernt, genau wie du.« Sie lachte. »An der Universität von Chicago. Im Fachbereich Geschichte. Im vierten Semester, als ich Seminare und Vorlesungen besuchte und gleichzeitig als Kellnerin jobbte. Ich war fix und fertig, hatte zehn Pfund abgenommen und immer Ringe unter den Augen. Eine Lehrkraft mochte mich und hat mir eine leichtere Arbeit verschafft.«

»Ein Mann?«

»Nein. Eine Frau, eine Professorin. Sie hatte sich selbst einen Teil ihres Studiums mit Anschaffen verdient.«

»Also hör mal!«

Elena zuckte die Achseln. »Sie schien genau zu wissen, was sie tat. Sie sagte, da wäre ein Mann, der mich kennenlernen wollte. Er war bereit, hundert Dollar zu investieren, aber ich mußte ihr fünfzig davon abgeben.«

»Einer Professorin für Geschichte?«

»Ich war auch schockiert, aber seitdem weiß ich, daß es so läuft. Ich verdiente bald doppelt soviel wie beim Kellnern, aber in einem Bruchteil der Arbeitszeit.«

»Hast du das Studium abgeschlossen?«

»Nein. Das heißt, das Grundstudium ja, aber dann war ich so gut im Geschäft, daß ich dachte: warum weiterstudieren, wenn man auch so viel Geld verdienen kann? Ich wollte in San Francisco ganz groß zuschlagen. Eine Zeitlang klapperte ich die Bars ab und verdiente auch gut, lernte Kolleginnen kennen. Jeannette gründete HYENA, und mir gefiel ihr Konzept: Prostitution als stinknormaler Beruf mit Gewerkschaft. Und dann beschlossen wir vier – Stacy, Renée, Hilary und ich –, eine Kooperative zu gründen.«

»Tut es dir nicht leid um dein Studium? Kein Abschluß und so?«

»Den Abschluß kann ich immer noch machen, wenn ich will. Ich weiß, worauf du hinaus willst. Ich bin nicht dumm, ich habe Talent fürs Dekorieren. Wahrscheinlich könnte ich auch noch ganz andere Sachen machen. Warum also Prostitution, wenn ich die Wahl habe?«

»Nun?«

»Ich weiß nicht. Ich versuche, nicht viel darüber nachzudenken. Vielleicht gefällt es mir, Leute zu manipulieren, in Rollen zu schlüpf en, Phantasien auszuagieren. Und da ist noch etwas – die Angst vor dem Versagen, vor der Armut. Als Prostituierte bin ich gut; es ist leichtverdientes Geld, das will ich nicht aufgeben.

Wie du weißt, träumt jede Prostituierte von dem Tag, an dem sie sich zur Ruhe setzt. Wahrscheinlich werde ich wirklich mal Innenarchitektin oder etwas Ähnliches, Antiquitätenhändlerin zum Beispiel, mit einem hübschen kleinen Laden. Warum allerdings jemand, der nie arm war, Nutte wird, verstehe ich nicht. Eine unserer Teilzeitkräfte, Kandi, kommt aus einer guten Familie; sie könnte alles machen.«

Elena zuckte die Achseln. »Sie ist wohl einfach nur geldgierig, faul und übt gern Macht aus. Wie ich.«

Beim Rausgehen blieb ich am Flügel stehen, um die schöne Decke genauer anzusehen, und dabei gerieten meine Finger automatisch an die Tasten. Ich wäre bestimmt niemals Pianistin geworden – meine Mutter liegt da völlig falsch –, aber ich bin musikalisch und liebe Klaviere. Und da saß ich auch schon auf dem altertümlichen Hocker und legte mit dem ›Maple Leaf Rag‹ los. Warum gerade mit diesem Song weiß ich nicht – vielleicht, weil er genau hierher paßte. Elena sah mich an, als hätte ich einen Wurf Karnickel aus meinem BH gezogen.

 

4

Ein Atemtestgerät funktioniert so: Man pustet durch ein Mundstück in eine Apparatur, die die Atemluft in einem Zylinder auffängt und sie durch eine chemische Lösung schickt. Das Ganze wird zweimal wiederholt und dauert kaum fünfzehn Minuten.

Nichts Schlimmes. Aber das sage ich nur, weil es für mich gut ausging.

»Bin ich noch immer verhaftet?« fragte ich nach dem negativen Ergebnis.

»Nicht wegen Alkohol am Steuer«, sagte der Bulle mit dem Schnurrbart. »Aber wir müßten den Besitzer des Mustang sprechen. Können sie ihn verständigen?«

»Klar.« Um Elena zu finden, hätten sie nur ins Gefängnis im sechsten Stock fahren müssen. Aber das erzählte ich ihnen natürlich nicht. Mein Plan war, bei Elena anzurufen und hinterher zu behaupten, sie habe eine Nachricht hinterlassen, daß sie in der Hall of Justice sei. Das klänge dann so, als hätte ich das Haus schon vor der Razzia verlassen.

Aber Elena war offenbar zu Hause, denn sie kam ans Telefon.