Mathilde Hennig

Nominalstil

Möglichkeiten, Grenzen, Perspektiven

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

Inhalt

Abkürzungsverzeichnis

Satzglieder

adjpräd

= adjektivisches Prädikativ

akkob

= Akkusativobjekt

akkpräd

= prädikativer Akkusativ

datob

= Dativobjekt

genob

= Genitivobjekt

kausadv

= kausales Adverbial

konjpräd

= prädikative Konjunktionalphrase

lokadv

= Lokaladverbial

modadv

= Modaladverbial

nompräd

= nominales Prädikativ (Nominativ)

präd

= Prädikat

präpob

= Präpositionalobjekt

präppräd

= prädikative Präpositionalgruppe

sub

= Subjekt

tempadv

= Temporaladverbial

Attribute bzw. nominale Ergänzungen

adjatt

= Adjektivattribut

advatt

= adverbiales Attribut

als/wieapp

= als/wie-Apposition

gendob

= Genitivattribut für Dativobjekt

gengob

= Genitivattribut für Genitivobjekt

genob

= Genitivus obiectivus

gensub

= Genitivus subiectivus

possart

= possessives Determinativ

präpatt

= Präpositionalattribut

semantische Rollen

(nach von Polenz)

AG

= AGENS/HANDELNDER

AOB

= AFFIZIERTES OBJEKT/BETROFFENES

BEN

= BENEFAKTIV/NUTZNIESSER

CAG

= CONTRAAGENS/PARTNER

CAU

= CAUSATIV/URSACHE

COM

= COMITATIV/BEGLEITENDER

DIR

= DIREKTIV/ZIEL

EOB

= EFFIZIERTES OBJEKT/RESULTAT/PRODUKT

EXP

= EXPERIENS/ERFAHRENDER

LOC

= LOCATIV/ORT/RAUM

PAT

= PATIENS/BETROFFENER

PO

= POSSESSIV/BESITZ

TE

= TEMPORATIV/ZEIT

(ergänzend):

POS

= POSSESSOR/BESITZENDER

MOD

= MODIFICATIV

Prädikatsklassen

(nach von Polenz)

EIGEN

= EIGENSCHAFT

GATT

= GATTUNG

HAND

= HANDLUNG

VORG

= VORGANG

ZUST

= ZUSTAND

Konstituentenstrukturen

(nach Eisenberg)

AdjGr

= Adjektivgruppe

Adv

= Adverb

attr

= Attribut

hd

= Kopf (head)

K

= Konjunktion

N

= Nomen (im Sinne von: deklinierbare Wortart)

NGr

= Nominalgruppe

nuk

= Kern (nucleus)

Pr

= Präposition

PrGr

= Präpositionalgruppe

Dependenzstrukturen

(nach Eroms)

Adjqual

= Adjektiv (qualifizierend)

Adjquant

= Adjektiv (quantifizierend)

Advmod

= Adverb(ial) (modal)

Advtemp

= Adverb(ial) (temporal)

Det

= Determinierer (Artikel)

Epräp

= präpositionale Ergänzung

NEK

= Nektiv, Satzteilkonjunktion

N

= Nomen (im Sinne von: Substantiv oder Nomen)

PartI

= Partizip I

PartII

= Partizip II

Präp

= Präposition

Pronrefl

= Pronomen (reflexiv)

Einleitung

Anliegen und Gegenstand

‚Nominalstil‘ ist ein weit verbreiteter Begriff. Eine Googlesuche ergibt aktuell knapp 50.000 Treffer, sie führen uns in Lehr- und Lernkontexte (bspw. „Nominalstil – Verbalstil – Grammatiktraining“), aber auch in den Bereich der Sprachkritik („Nominalstil – die Mutter aller Stilsünden“) und Sprachberatung („Nominalstil vermeiden! So schreiben Sie verständlicher“). Nominalstil ist im Grunde genommen ein vorwissenschaftlicher Begriff, der breite Verwendung findet, bislang aber keine systematische linguistische Aufarbeitung erfahren hat. Als Indiz dafür wird hier gewertet, dass es in der grammatischen Bibliographie des Instituts für deutsche Sprache (grammis) kein Suchwort ‚Nominalstil‘ gibt und die Recherche im Onlinesuchsystem der Deutschen Nationalbibliothek nur zwei Treffer zu DaF-bezogenen Publikationen mit ‚Nominalstil‘ im Titel liefert (Punkki-Roscher 1995, Järventausta / Schröder 1997). Und in der Tat bildet die linguistische Auseinandersetzung mit dem Konzept in keinster Weise den breiten Rekurs auf das Phänomen in der Sprachgemeinschaft ab (eine Ausnahme bildet bspw. Ziegler 2009). Das bedeutet natürlich nicht, dass es keine breite linguistische Forschung zu Nominalstilmerkmalen gäbe, vielmehr sind die einzelnen Phänomene, die gemeinhin als nominalstilistisch eingeordnet werden (bspw. Nominalisierung, Komposition, Attribution), durchaus Gegenstand elaborierter linguistischer Forschung.

Aus dieser Einschätzung ergibt sich das Anliegen des vorliegenden Studienbuches quasi von selbst. Es besteht in einer linguistischen Aufarbeitung des Konzepts ‚Nominalstil‘ auf der Basis der einschlägigen linguistischen Forschung. Dabei – das sei ausdrücklich betont, um Missverständnissen vorzubeugen – liegt der Schwerpunkt auf der grammatischen Seite des Phänomens, d. h. auf ‚Nominal-‘. Anliegen des Buches ist es, einen Überblick über das grammatische System des Nominalstils zu bieten. Außen vor bleibt hier also weitestgehend die mit ‚-stil‘ verbundene Verbindung zum Text: Nominalstil ist ein Phänomen bestimmter Kommunikationsbereiche (etwa: Wissenschaftssprache, Rechtssprache, Behördensprache) und Textsorten. Eine systematische Aufarbeitung des Beitrags von Nominalstil zur Textqualität in diesen oder benachbarten Bereichen bleibt folglich anderen Darstellungen vorbehalten. Die vorgenommenen Analysen zu einschlägigen Textbeispielen werden aber möglicherweise trotzdem einen Eindruck des Beitrags von Nominalstil zur Textprofilbildung vermitteln.

Der Untertitel des Buches, „Möglichkeiten, Grenzen, Perspektiven“, ist wie folgt zu verstehen: Primäres Ziel ist die Aufarbeitung nominalstilistischer Möglichkeiten des Ausdrucks von Satzinhalten. Eine zentrale Prämisse besteht dabei darin, dass Inhalte, die auch in Sätzen mit Vollverben ausgedrückt werden können, in nominale Strukturen überführbar sind. Die zentrale Frage lautet hier folglich: Wie können die Möglichkeiten der Überführung von Satzinhalten von verbalen in nominale Strukturen charakterisiert werden? Es wird aber auch darum gehen, welche Grenzen der nominalen Ausdrucksseite gesetzt sind. Was kann nicht nominal ausgedrückt werden und woran liegt das? Schließlich sind auch die Perspektiven des Ausbaus nominaler Syntax Gegenstand der Darstellung, also solche Bereiche, in denen im aktuellen Sprachgebrauch zu beobachten ist, dass bestimmte Arten von Satzinhalten, die eigentlich Sätzen mit Vollverben vorbehalten zu sein scheinen, nominalstilistisch realisiert werden.

Zielgruppe

Zielgruppe eines Studienbuchs zur germanistischen Linguistik sind zuallererst Studierende der Germanistik. Das Buch ist allerdings nicht als Lehrbuch konzipiert, d.h., es folgt keiner Progression und enthält keine Übungen. Dennoch kann es für das Selbststudium genutzt werden. Empfohlen sei dabei insbesondere eine intensive Auseinandersetzung mit den Beispielanalysen sowie eine Anwendung des Analyseinventars auf selbst gewählte Beispiele. Darüber hinaus richtet sich das Studienbuch an Lehrende der germanistischen Linguistik, die in ihren Vorlesungen oder Seminaren Nominalstil systematisch aufarbeiten oder einzelne nominalstilistische Phänomene besprechen wollen.

Das Buch möchte über die Zielsetzung einer Grundlage für die germanistische Hochschullehre hinaus aber auch zur weiterführenden linguistischen Auseinandersetzung mit dem Konzept des Nominalstils anregen. Es richtet sich deshalb durchaus auch – obwohl es keine wissenschaftliche Monographie ist – an Kolleginnen und Kollegen.

Aufbau und Nutzung

Das Studienbuch entwickelt ein Konzept von Nominalstil. Folglich sind die einzelnen Teile des Buches aufeinander bezogen. Das bedeutet aber nicht, dass das Buch nur linear gelesen werden kann. Folgendes erwartet Sie bei der Lektüre der einzelnen Kapitel:

Zentrales Anliegen des vorliegenden Buches ist eine möglichst verständliche und nachvollziehbare Entwicklung eines Konzepts von Nominalstil. Aus diesem Grunde kann nicht der Anspruch erhoben werden, sämtliche Sekundärliteratur, die sich mit einzelnen Nominalstilphänomenen beschäftigt, zu berücksichtigen bzw. ausführlich zu dokumentieren und zu besprechen. Vielmehr wird in den einzelnen Kapiteln mit zentralen Theoriebausteinen gearbeitet, die möglichst detailliert dargelegt werden, damit sie gewinnbringend für die Entwicklung des Nominalstilverständnisses genutzt werden können.

Ein Studienbuch steht aus Sicht der Autorin vor einem grundsätzlichen Dilemma: Es sollte einerseits ergebnisorientiert sein, um der Zielgruppe ein Handwerkszeug für die Analyse der behandelten Strukturen zur Verfügung zu stellen. Es kann also den eigenen Ansatz nicht in der gleichen Ausführlichkeit aus einer Diskussion der vorliegenden Forschungsansätze entwickeln, wie es in einer wissenschaftlichen Monographie der Fall ist. Andererseits wird natürlich auch in einem Studienbuch das Rad nicht neu erfunden, d.h., es profitiert vom wissenschaftlichen Diskurs zum behandelten Themenfeld. Um einerseits die Einbettung in den Diskurs transparent zu machen und andererseits eine möglichst gute Lesbarkeit zu gewährleisten, werden hier an einigen Stellen Ausführungen zum Diskurs in gesonderte Abschnitte ausgelagert. Diese Abschnitte sind mit dem Hinweis „Diskurs“ gekennzeichnet und vom Fließtext abgehoben. Sie als Leser oder Leserin können also selbst entscheiden, ob diese Informationen für Sie relevant sind, oder ob Sie diese Textteile überspringen möchten, weil für Sie vordergründig die ergebnisorientierte Entwicklung des Nominalstilverständnisses von Belang ist.

Abbildungen, Analysen, Anhang

Sowohl für die Entwicklung des Konzepts von ‚Nominalstil‘ als auch für die potentielle Nutzbarkeit des Studienbuches in Lehrkontexten sind die exemplarischen Analysen von zentraler Bedeutung. Das Buch arbeitet insgesamt zwar nur mit wenigen Beispieltexten, die jedoch unter den jeweiligen Gesichtspunkten ausführlich und detailliert betrachtet werden. Bitte beachten Sie diesbezüglich die folgenden beiden Hinweise:

  1. Analysen folgen immer bestimmten Vorannahmen und basieren auf im jeweiligen Kontext getroffenen Festlegungen. Es gibt folglich keine allgemeingültige, einzig richtige Analyse. In diesem Studienbuch wird versucht, die Kriterien und Hintergründe für die Analysen so transparent wie möglich zu gestalten. Andere Analyseentscheidungen und -wege hätten zu anderen Analyseergebnissen geführt.

  2. Die Beziehungen der Bestandteile von Nominalgruppen zueinander können teilweise vielschichtig und komplex sein. Den Möglichkeiten der Darstellung dieser Beziehungen (etwa durch Tabellen oder typographische Hervorhebungen) sind Grenzen gesetzt. Um dennoch eine möglichst transparente Analyse zu gewährleisten, bietet ein Anhang kleinschrittige tabellarische Analysen zu solchen Phänomenbereichen, deren detaillierte Darstellung den Fließtext möglicherweise langatmig und wenig prägnant machen würde.

Exemplarische Analysen beinhalten nicht immer die Analyse vollständiger Beispieltexte, sondern können sich auch auf einzelne Satz- oder Nominalgruppenbeispiele beziehen. Um die interne Struktur der jeweiligen Sätze und Nominalgruppen nachvollziehbar zu analysieren, wird auf zwei Typen von Darstellungsformaten zurückgegriffen:

  1. Konstituentenstruktur: Die Konstituentenstrukturanalysen folgen dem Modell von Eisenberg (2013b).

  2. Dependenzstruktur: Die Dependenzstrukturanalysen folgen dem Modell von Eroms (2000).

Beide Typen von Strukturanalysen folgen den jeweiligen Modellen. Das bedeutet, dass die Terminologie in den Strukturanalysen nicht den für dieses Studienbuch getroffenen Festlegungen folgt, sondern den Vorgaben von Eisenberg und Eroms. So ist etwa ‚Nomen‘ in den Konstituentenstrukturbäumen à la Eisenberg Oberbegriff für alle deklinierbare Wortarten; in den Dependenzstrukturanalysen à la Eroms hingegen Oberbegriff für das, was hier als Nomen und Substantiv differenziert wird. Dieser Unterschied in der Nutzung des Terminus ‚Nomen‘ illustriert, dass Analysen immer auf Vorannahmen beruhen und dass es unumgänglich ist, Festlegungen zu zentralen Grundbegriffen zu treffen.

Dank

Ich danke allen, die zum Entstehen dieses Studienbuches beigetragen haben. Für anregende Diskussionen und hilfreiche Kritik danke ich allen voran Dániel Czicza, aber auch Daniel Holzhacker und Robert Niemann. Nilüfer Cakmak-Niesen danke ich für die kritische Lektüre des gesamten Manuskripts. Das gilt gleichermaßen für Vanessa Langsdorf, der ich darüber hinaus für die Endkorrektur und vor allem für die Erstellung der Abbildungen zu Dank verpflichtet bin. Schließlich möchte ich mich herzlich beim Narr Verlag für die Aufnahme in die Reihe „Narr Studienbücher“ bedanken sowie bei Valeska Lembke für die kompetente Betreuung bis zur Drucklegung.

 

Schauenburg-Hoof, September 2019

Grundbegriffe

Überblick

Das Kapitel verfolgt das Ziel, das dem Studienbuch zugrunde liegende Verständnis zentraler grammatischer Termini zu erarbeiten. Elementar für eine Auseinandersetzung mit Fragen des Nominalstils sind die Grundbegriffe rund um Nomen/Substantiv und Nominalgruppe. Um die Möglichkeit eines Vergleichs von Nominalstil und Verbalstil zu schaffen, wird aber auch ein Verständnis von ‚Satz‘ benötigt sowie Grundbegriffe zur Beschreibung von Satzinhalten.

Die vorliegende Darstellung folgt nicht einer bestimmten Grammatiktheorie. Das bedeutet nicht, dass keine grammatiktheoretischen Vorannahmen getroffen werden (müssen). Einen zentralen Theoriebaustein bilden die Überlegungen zum Zusammenspiel syntaktischer Kategorien, Strukturen und Relationen bei Peter Eisenberg (also das Kapitel „Grundbegriffe“ im Teil „Satz“ seines zweibändigen „Grundriss der deutschen Grammatik“ 2013b). Aber auch die Dependenzsyntax von Hans Werner Eroms (2000) und die Valenzgrammatik von Klaus Welke (2011) bilden einen wichtigen theoretischen Hintergrund für die Modellierung nominaler Strukturen. Schließlich wird auch auf andere wichtige Grammatiken des Gegenwartsdeutschen – insbesondere die IdS-Grammatik (1997), Dudengrammatik (2016) sowie Ágels „Grammatische Textanalyse“ (2017) – regelmäßig zurückgegriffen. Für die satzsemantische Perspektive ist die Satzsemantik von von Polenz (2008 [1985]) zentral.

Nomen Nomen/ SubstantivSubstantiv

In einem Buch zum Nominalstil ist der Begriff des Nomens bzw. Substantivs natürlich ein Zentralbegriff. „Nomen bzw. Substantiv“ suggeriert einen gewissen Grad an Synonymität. So spricht man in der Dudengrammatik auch einfach von „Substantiven oder Nomen“ (2016: 149) und verwendet dann weiterhin den Terminus ‚Substantiv‘. Andere Autoren und Grammatiken hingegen verwenden die Termini ‚Nomen‘ und ‚Substantiv‘ für begriffliche Unterscheidungen.

Diskurs: Nomen oder Substantiv?

Eisenberg bezeichnet als Nomen „in Anlehnung an eine traditionelle Redeweise die Wörter des Deutschen, die in Hinsicht auf Kasus Kasusflektieren“ (2013b: 14f). ‚Nomen‘ werden dadurch „kategorial von den Flexionstypen ohne Kasusmarkierung Kasusmarkierungab[gegrenzt]“ (Eisenberg 2013b: 17). Eisenberg unterscheidet auf diese Weise zwischen ‚Nomen‘ und ‚Substantiv‘: „Wir werden uns ebenfalls dieses weiten Begriffs von Nomen bedienen und ihn nicht, wie es häufig auch geschieht, synonym mit Substantiv verwenden (s.u.).“ (Eisenberg 2013b: ebd.) Eine völlig andere begriffliche Differenzierung nimmt die IdS-Grammatik vor:

„Die prototypische PrototypFunktion des SUBSTANTIVS besteht in seinem zentralen Beitrag zum Ausdruck von Argumenten, während die prototypische Funktion von VerbVerben der Ausdruck des Prädikats Prädikatist. […] Hingegen nennen wir ‚Nomen‘ (N) den Kopf Kopfeiner ‚NominalphraseNominalphrase‘ (NP), sei er durch ein Substantiv oder Adjektiv (die Kleinen) gebildet oder die Nominalisierung Nominalisierungeines Elements einer anderen Klasse, insbesondere eines Verbs (das Singen), aber auch eines Adverbs (das Heute), eines Subjunktors Subjunktorbzw. Konjunktors (kein Wenn und kein Aber) oder einer Interjektion (das Ach und Weh) usw.“ (IdS-Grammatik 1997: 28)

In der IdS-Grammatik wird folglich ein syntaktischer Begriff ‚Nomen‘ von einem lexikalisch-funktionalen Begriff ‚Substantiv‘ abgegrenzt. Auf diese Weise kann unterschieden werden zwischen solchen Sprachzeichen, die als Substantive Bestandteil des Lexikons sind und solchen, die erst im syntaktischen Kontext nominale Eigenschaften annehmen. Als ein Unterscheidungsmerkmal kann das feste Genus Genusdes Substantivs angesehen werden (IdS-Grammatik ebd.; Dudengrammatik 2016: 149). Eisenberg verwendet dafür den Begriff der WortkategorieWortkategorie:

„Jedes substantivische Paradigma Paradigmaund damit jedes substantivische lexikalische Wort gehört also einem grammatischen Geschlecht an und umgekehrt kann man sagen, dass die Genera eine Klassifizierung der Substantive als lexikalische Wörter abgeben.“ (Eisenberg 2013b: 19)

Wortkategorien Wortkategoriesind keine Flexionskategorien Flexionskategorieund so ist das Genus Genusam Substantiv – als lexikalischem Wort – fest. Natürlich ist auch bei Nomen (im syntaktischen Sinne) das Genus nicht beliebig. Die Genuszuweisung folgt aber den allgemeinen Regeln der Derivation Derivationund Konversion Konversion(siehe Fleischer/Barz 2007: 146ff.): Bspw. sind Verbalabstrakta Verbalabstraktumauf -ung und Adjektivabstrakta Adjektivabstraktumauf -keit feminin (die Wanderung, die Besichtigung, die Enteignung, die Heiterkeit, die Tätigkeit), die morphologische Konversion Konversionmorphologischaus einem Verb Verbmaskulin (der Lauf, der Schlaf) und die syntaktische Konversion Konversionsyntaktischneutral (das Laufen, das Schlafen, das Wandern). Das Genus ist hier also morphosyntaktisch indiziert und nicht – wie es bei lexikalischen Substantiven häufig der Fall ist – arbiträr (das Pferd, die Katze, der Hund).

Die Entscheidung für ein Begriffsverständnis sollte immer in Abhängigkeit davon getroffen werden, was der Kontext und der Zweck der Verwendung des Begriffs ist. Für unsere Überlegungen zum Nominalstil erscheint es mir sinnvoll, eine begriffliche Unterscheidung zwischen ‚Nomen‘ und ‚Substantiv‘ vorzunehmen, mit der wir den Unterschied erfassen können zwischen solchen Lexemen, die im Wörterbuch bzw. in unserem mentalen Lexikon Lexikonals Substantive gespeichert sind, und solchen, die eigentlich einer anderen Lexemklasse Lexemklasseangehören und erst durch die Verwendung als Kern Kerneiner Nominalgruppe Nominalgruppenominale Eigenschaften annehmen.

SubstantivSubstantiv

Ein SUBSTANTIV ist eine Lexemklasse Lexemklasse(WortartWortart). Die Zuordnung eines Lexems zur Klasse der Substantive ist nicht abhängig von der syntaktischen Umgebung. Es handelt sich um die Wortartzuordnung, die dem jeweiligen Lexem Lexemin einem Wörterbuch zugeordnet wird. Substantive haben ein festes GenusGenus, das in vielen Fällen (außer bei einigen Personenbezeichnungen) arbiträr ist (das Pferd, die Katze, der Hund).

Nomen Nomen

Ein NOMEN ist ein KernKern einer NominalgruppeNominalgruppe. Als Nomen können sowohl Substantive Substantiv(das alte Auto, die Hochzeitsfeier) und Pronomen Pronomen(wir beide, manches davon) fungieren als auch Nominalisierungen von Lexemen anderer Lexemklassen (das Ich, das Wenn und Aber, die Durchführung der Untersuchung). Das Genus Genuseines nominalisierten Nomens hängt vom Wortbildungstyp ab (bspw. Infinitivkonversion Infinitivkonversion= neutrum: das Zittern und Bangen; deverbale Derivation Derivationmit -ung = femininum: die Wanderung).

Wichtig erscheint an dieser Stelle noch der Hinweis darauf, dass ‚Substantiv‘ und ‚Nomen‘ ja auch Bestandteile von fachwissenschaftlichen Komposita bzw. Ableitungen sein können: Nominalstil, Nominalgruppe und Nominalisierung vs. Substantivstil, Substantivgruppe Substantivgruppeund SubstantivierungSubstantivierung. Auf der Basis der soeben eingeführten begrifflichen Unterscheidung zwischen Substantiv und Nomen legen wir uns hier auf die Termini Nominalstil, Nominalgruppe und Nominalisierung fest. Mit von Polenz lässt sich diese Entscheidung darüber hinaus wie folgt begründen: „Der sog. ‚Substantivstil‘ ist eigentlich ein Nominalisierungsstil oder Nominalgruppenstil als hauptsächliche Ausprägung des komprimiertenkomprimiert/verdichteten/kondensierten Ausdrucks.“ (von Polenz 2008: 42) Wenn Autoren zitiert werden, die die Termini Substantivstil, Substantivgruppe und/oder Substantivierung verwenden, wird ihre jeweilige Redeweise beibehalten. Die Verwendungen der genannten Termini werden dann mit einem Hinweis auf die jeweilige Quelle versehen.

NominalisierungNominalisierung

Die Unterscheidung zwischen Substantiven Substantivund Nomen Nomenhaben wir deshalb vorgenommen, weil für die Auseinandersetzung mit dem Nominalstil gerade die Nomen interessant sind: Der Eindruck, dass ein Text im Nominalstil verfasst ist, entsteht nicht einfach dadurch, dass viele Substantive verwendet werden, sondern in der Regel erst, wenn es sich um Nomen – meist deadjektivische oder deverbale Nominalisierungen Nominalisierungdeverbal– handelt:

(1)

Die SPD wäre gut beraten, die Sache genau zu studieren, manches davon könnte ihr in den kommenden Gesprächen zur Anbahnung einer Sondierung zur Herbeiführung von Koalitionsverhandlungen zur Ermöglichung einer schwarz-​roten Regierung wieder begegnen. (Die ZEIT, 30.11.2017)

(2)

Bis jetzt konnte also von Elektrizität gar keine Rede sein, und der Wagenführer hatte nicht das geringste mit irgendwelchen Kurbeln und Hebeln zu tun, sondern er hielt in der linken Hand die Zügel und in der rechten die Peitsche. (Erich Kästner: Emil und die Detektive)

Beispiel (1) enthält 33 Wortformen, davon zehn Nomen (die drei Substantive SPD, Sache, Gespräch, das Pronomen manches sowie die sechs deverbalen NominalisierungNominalisierungdeverbalen Anbahnung, Sondierung, Herbeiführung, Koalitionsverhandlung, Ermöglichung, Regierung). Der Anteil der Nomen beträgt also 30,3%. In Beispiel (2) kommen neun Nomen auf 39 Wörter. Die meisten der neun Nomen sind gleichzeitig auch Substantive; der Wagenführer bspw. ist zwar ein deverbales Nomen Nomendeverbal(einen Wagen führen → der Wagenführer), deverbale Personenbezeichnungen wie diese gelten aber (wahrscheinlich aufgrund ihrer starken LexikalisierungLexikalisierung) nicht zwingend als Nominalstilphänomen (der Lehrer, die Verkäuferin). Der Anteil der Nomen in Beispiel (2) ist mit 23,08% zwar etwas niedriger als in Beispiel (1), der Abstand ist aber nicht so groß, wie man aufgrund der ganz unterschiedlichen Wirkung der Beispiele erwarten könnte. Der Eindruck, dass es sich bei Beispiel (1) um einen nominalstilistischen Satz handelt, entsteht folglich stärker auf der Basis der Qualität der Nomen als allein aufgrund ihrer Quantität. Dabei ist es sicherlich kein Zufall, dass alle sechs Nominalisierungen in Beispiel (1) deverbale Nominalisierungen sind.

Die zahlreichen Möglichkeiten, durch Derivation Derivationoder Konversion KonversionLexeme aus einer anderen Lexemklasse Lexemklassein die nominale Domäne Domänenominalzu überführen, ist also offenbar eine wichtige Grundlage für den Ausbau des nominalen Stils: Nominalisierungen sind sozusagen das Herzstück des Nominalstils. Werfen wir also einen genaueren Blick auf den Begriff der Nominalisierung:

Diskurs: ‚Nominalisierung‘ als morphologischer und syntaktischer Begriff

Wie so viele andere Termini wird auch dieser unterschiedlich gebraucht. In der Dudengrammatik bspw. wird der Terminus ‚SubstantivierungSubstantivierung‘ nur für die Bildung von Substantiven durch Konversion Konversion(langes Anstehen, die Neuen) verwendet (2016: 678f., 809); Eisenberg hingegen benutzt ihn sowohl für die Bildung von Substantiven durch Konversion als auch durch Affigierung Affigierung(2013a: 280). Der Terminus ‚NominalisierungNominalisierung‘ wird in der Fachliteratur etwa von Ehrich (1991) und Lübbe/Trott (2017) für deverbale NomenNomendeverbalbildungen verwendet. Deverbale Nominalisierungen werden traditionell ‚VerbalabstraktaVerbalabstraktum‘ genannt. Für Nominalstilfragen relevant sind aber auch sogenannte ‚AdjektivabstraktaAdjektivabstraktum‘, die durch Affigierung mit Suffixen Suffixwie -heit oder -keit gebildet werden (Beschaffenheit, Heiterkeit).

Bei ‚Nominalisierung‘ geht es aber nicht nur um die morphologischen Prozesse der Bildung von Nomen Nomenaus Lexemen anderer Wortklassen, sondern auch um die syntaktischen Konsequenzen der Verwendung der Nominalisierungsprodukte als Nomen (vgl. Welke 2011: 250ff.). Man kann folglich zwischen einer morphologischen und einer syntaktischen Perspektive Perspektiveauf den Begriff ‚Nominalisierung‘ unterscheiden. Für Analysen zum Beitrag von Nominalisierungen zum Nominalstil ist vor allem ihr syntaktisches Verhalten relevant. Zentral für die „SubstantivitätSubstantivität“ (Eisenberg 2013a: 328) ist: „Die Verwendung des Substantivs innerhalb der NGr ist bestimmt durch seine Funktion als Kern Kern(nuk).“ (Eisenberg 2013a: 329) Auch in der Dudengrammatik heißt es: „Substantive bilden den Kern von Nominalphrasen.“ (2016: 149)

Nominalisierung Nominalisierung

Mit dem Terminus NOMINALISIERUNG bezeichnen wir den Prozess der Überführung eines Lexems einer nicht-substantivischen Lexemklasse Lexemklassein die nominale DomäneDomänenominal. Aus morphologischer Perspektive Perspektivebezeichnet ‚Nominalisierung‘ den Wortbildungsprozess, der diesem Lexemklassenwechsel zugrunde liegt (Derivation Derivationdie Wanderung, Konversion Konversiondas Wandern). Der Lexemklassenwechsel führt zu einer Veränderung der syntaktischen Eigenschaften: Das Nomen Nomenals Produkt der Nominalisierung ist Kern Kerneiner NominalgruppeNominalgruppe.

Die Begriffsbestimmung kann prinzipiell auf alle Arten der Nominalisierung Nominalisierungangewendet werden und ist also unabhängig davon, aus welcher Lexemklasse das nominalisierte Nomen stammt. Für die Beschäftigung mit dem Nominalstil in diesem Studienbuch sind deverbale Nominalisierungen Nominalisierungdeverbalvon besonderem Interesse. Deshalb seien hier die morphologischen Möglichkeiten der deverbalen Nominalisierung mit Welke (2011: 256) explizit aufgeführt:

Im Deutschen gibt es unterschiedliche Arten der deverbalen AbleitungAbleitung: explizite Derivation Derivationexplizitmit dem Suffix Suffix-ung [a] und dem Suffix -e [b], implizite Derivation Derivationimplizit[c], Stammkonversion Stammkonversion[d], Infinitivkonversion Infinitivkonversion[e].

  1. verwandeln – Verwandlung

  2. bitten – Bitte, liegen – Liege

  3. springen – Sprung, stehen – Stand

  4. laufen – Lauf

  5. verlangen – das Verlangen

Für deverbale Nominalisierungen Nominalisierungdeverbalverwenden wir in diesem Studienbuch häufig die gängige Bezeichnung ‚VerbalabstraktumVerbalabstraktum‘. Parallel dazu kann eine deadjektivische Nominalisierung Nominalisierungdeadjektivischals ‚AdjektivabstraktumAdjektivabstraktum‘ bezeichnet werden.

An dieser Stelle sei noch darauf hingewiesen, dass im Sinne der hier erfolgten Begriffsbestimmung und des mit diesem Studienbuch verfolgten Anliegens diejenigen Nominalisierungen von Interesse sind, die sinnvoll auf eine verbale Struktur zurückgeführt werden können. Das ist dann nicht der Fall, wenn sich das Produkt der Nominalisierung durch Lexikalisierung Lexikalisierungvom Geberlexem Geberlexemzu weit entfernt hat. Die Übergänge sind natürlich fließend. Als Beispiel sei hier das deadjektivische Nomen NomendeadjektivischAllgemeinheit genannt: Formal ist das Nomen als deadjektivische Nominalisierung Nominalisierungdeadjektivischan der expliziten Derivation Derivationexplizitmit -heit gut erkennbar. Eine Rückführung auf einen Satz wie X ist allgemein ergibt hier aber keinen Sinn, weil sich die Bedeutung des Derivats von diesem Ursprung entfernt hat (vgl. Duden Universalwörterbuch: Öffentlichkeit, Gesamtheit, alle). Um auf einen in diesem Sinne engeren Begriff von Nominalisierung zu verweisen, wird in diesem Studienbuch an den entsprechenden Stellen auch von ‚satzwertiger NominalisierungNominalisierungsatzwertig‘ gesprochen.

NominalgruppeNominalgruppe

Bei der Begriffsbestimmung von Nomen und Nominalisierung haben wir bereits auf den Begriff der Nominalgruppe zurückgegriffen. Mit dem Hinweis auf die Einschätzung von von Polenz, dass mit ‚Nominalstil‘ eigentlich ‚Nominalgruppenstil‘ gemeint sei, ist bereits deutlich geworden, dass es sich bei ‚Nominalgruppe‘ um einen Zentralterminus für die Beschäftigung mit Nominalstil handelt.

Diskurs: Nominalgruppe oder NominalphraseNominalphrase?

Wie auch andere hier diskutierte Terminologiepaare sind ‚Nominalphrase‘ und ‚Nominalgruppe‘ keineswegs synonym. Häufig geht es bei der Entscheidung für einen der beiden Termini um die Verortung in einem grammatiktheoretischen Kontext. So ist ‚Nominalphrase‘ bspw. ein fester Grundbegriff der Generativen Grammatik. Alternativ dazu kann auch zwischen ‚Gruppe‘ als losere Verbindung und ‚Phrase‘ als grammatikalisierte Verbindung mit festen phrasenstrukturellen Eigenschaften unterschieden werden (vgl. Eroms 2016). Gerade für die Beschäftigung mit Grammatikalisierung ist diese Unterscheidung hilfreich, weil mit ihr die Entwicklung von einer loseren Verbindung hin zu einer Struktur mit festen Phraseneigenschaften eingefangen werden kann (vgl. Eroms 2016). Eine solche diachrone Perspektive nimmt das vorliegende Studienbuch aber nicht ein. Da bei der Modellierung syntaktischer Grundstrukturen hier vordergründig auf Eisenbergs Grammatik zurückgegriffen wird, verwenden wir in Anlehnung an Eisenberg den Terminus ‚Nominalgruppe‘.

Für eine Annäherung an den Begriff der Nominalgruppe ist zweierlei relevant: ihre interne Struktur sowie ihre syntaktische Funktion. Für die Erfassung der internen Struktur von Nominalgruppen greifen wir hier auf den Begriff des ‚WortgruppengliedsWortgruppenglied‘ von Ágel (2017: 20ff.; 691ff.) zurück. Dabei handelt es sich um einen Terminus, der gezielt eine Analogie Analogiezum Terminus ‚SatzgliedSatzglied‘ herstellt: Satzglieder sind satzgrammatische Funktionen von grammatischen Formen, Wortgruppenglieder sind wortgruppengrammatische Funktionen von grammatischen Formen (Ágel 2017: 23). Hinter dieser Analogie steckt die folgende Grundidee: Wenn etwas (in unserem Fall: eine grammatische Form) Bestandteil einer größeren Einheit (in unserem Fall: eines Satzes oder einer WortgruppeWortgruppe) ist, dann muss es eine Funktion in Bezug auf diese größere Einheit haben. Salopp formuliert: Es gibt keine Aliens in Sätzen oder Wortgruppen. Diesen wichtigen Kerngedanken wollen wir hier in Bezug auf die Glieder von Nominalgruppen weiter verfolgen. Als Nominalgruppenglieder betrachten wir hier Kerne (NomenNomen), Köpfe Kopf(ArtikelArtikel) und Attribute. Da ‚Attribut‘ ein Zentralbegriff für die Beschäftigung mit Nominalstil ist, widmen wir diesem Wortgruppenglied einen eigenen Abschnitt.

Diskurs: Köpfe Kopfund Kerne

Es ist bereits deutlich geworden, dass das Nomen eine zentrale Funktion in der Nominalgruppe übernimmt. Diese zentrale Funktion wird in manchen Darstellungen mit dem Terminus ‚Kopf‘ und in anderen mit dem Terminus ‚KernKern‘ erfasst. So bezeichnet die IdS-Grammatik das „strukturelle und funktionale Zentrum einer WortgruppeWortgruppe“ als Kopf (1997: 72). Das ist in Bezug auf die Nominalgruppe nicht unproblematisch, weil das Nomen nicht gleichzeitig strukturelles und funktionales Zentrum ist. Es ist vielmehr „nur“ das lexikalische Zentrum (Eisenberg 2013b: 53; Ágel 2017: 698). Die Rede von einem lexikalischen Zentrum ergibt Sinn, wenn man diesen Begriff vom Artikel Artikelals grammatischem Zentrum der Nominalgruppe abgrenzt (Eisenberg u. Ágel ebd.). Der Artikel wird in dieser Tradition als ‚Kopf‘ bezeichnet. Diese Verwendung des Terminus ‚Kopf‘ ist also nicht identisch mit der Verwendung des Terminus ‚Kopf‘ in der IdS-Grammatik. Mit der Unterscheidung von Köpfen und Kernen knüpft Eisenberg an die syntaktischen Grundüberlegungen von Oliver Teuber (2005) an (die dieser seiner Dissertation zu analytischen Verbformen als Begriffsapparat voranstellt). Köpfe und Kerne werden bei Teuber und Eisenberg ebenso wie die klassischen Satzgliedbegriffe Satzgliedbegriffals syntaktische Relationen Relationsyntaktischerfasst. An diese Tradition knüpft auch Ágel an (2017), der – wie bereits ausgeführt – für die syntaktischen Relationen in der Wortgruppe in Analogie Analogiezu den syntaktischen Relationen im Satz Satzden Terminus ‚WortgruppengliedWortgruppenglied‘ einführt. Die Dudengrammatik verwendet ebenso wie Eisenberg den Terminus ‚Kern‘ für das Nomen in einer Nominalgruppe (dort aber NominalphraseNominalphrase). Für die Funktion des Artikels verwendet Peter Gallmann, der Autor des Satzkapitels in der Dudengrammatik, keinen gesonderten Terminus. Auf sein Konzept des Hauptmerkmalträgers werden wir unten genauer eingehen.

Es erweist sich als wichtig, die Wortgruppenfunktion Wortgruppenfunktiondes Nomens Nomenvon der Wortgruppenfunktion des Artikels Artikelabzugrenzen. Was mit der Redeweise vom Artikel als grammatisches Zentrum gemeint ist, sollen die folgenden Beispiele illustrieren:

 

Maskulinum (stark)

Maskulinum (schwach)

Femininum

Nominativ

der Mann

die Männer

der

Automat

die

Automaten

die Frau

die Frauen

Genitiv

des Mannes

der Männer

des

Automaten

der

Automaten

der Frau

der Frauen

Dativ

dem Mann

den Männern

dem

Automaten

den

Automaten

der Frau

der Frauen

Akkusativ

den Mann

die Männer

den

Automaten

die

Automaten

die Frau

die Frauen

Tab. 1:

Exemplarische Paradigmen deutscher Substantive

Die Beispiele zeigen, dass die grammatischen Kategorien Kategoriegrammatischder Nominalgruppe (GenusGenus, KasusKasus, NumerusNumerus) am Artikel Artikeldeutlich häufiger sichtbar werden als am SubstantivSubstantiv: Das starke Maskulinum MaskulinumMann hat im Singular Singularnur im Genitiv Genitiveine eindeutige Kasusendung, sie ist allerdings mit der Endung des Artikels identisch und dadurch redundant. Im Plural Plurallässt sich nur der Dativ Dativvon den anderen Kasus unterscheiden. Beim schwachen Maskulinum Automat ist nur der Nominativ NominativSingular von den anderen Kasus unterscheidbar, alle anderen Kasus im Singular sowie alle Kasus im Plural tragen die schwache Endung -en. Beim Femininum FemininumFrau schließlich sind nur Singular und Plural unterscheidbar. Für die Maskulina bietet der Artikel im Singular unterschiedliche Formen für alle vier Positionen im ParadigmaParadigma, im Plural sind immerhin nur Nominativ und Akkusativ Akkusativsynkretistischsynkretistisch, also mehrdeutig.

In Bezug auf die Funktion der Kennzeichnung der nominalen Kategorien Kategorienominaldurch den Artikel spricht Gallmann in der Dudengrammatik von einem ‚HauptmerkmalträgerHauptmerkmalträger‘ (2016: 955). Das muss nicht unbedingt ein Artikel sein, auch ein stark dekliniertes DeklinationAdjektiv Adjektivkann diese Funktion übernehmen, wenn kein Artikel mit entsprechender Endung vorhanden ist:

D-er starke schwarze Kaffee hilft da sicher.

Dies-er starke schwarze Kaffee hilft da sicher.

Mein stark-er schwarz-er Kaffee hilft da sicher.

Ein stark-er schwarz-er Kaffee hilft da sicher.

Stark-er schwarz-er Kaffee hilft da sicher.

(Dudengrammatik 2016: 956)

In der Terminologie von Eisenberg ist der Hauptmerkmalträger HauptmerkmalträgerKopf Kopfeiner NominalgruppeNominalgruppe. Die Konsequenz dieser Auffassung ist im Grunde genommen, dass auch die Flexionsendung eines stark deklinierten DeklinationAdjektivs Kopffunktion übernimmt. Meist werden aber nur Artikel Artikelals Köpfe betrachtet. Wir werden es in diesem Studienbuch aus Gründen der Überschaubarkeit auch bei diesem kurzen Hinweis auf die Kopffunktion der Flexive Flexivstark deklinierter Adjektive Adjektivbelassen. Die Adjektive stark und schwarz sind in den Beispielen darüber hinaus als Wortgruppenglieder Wortgruppengliedauch Attribute. Der Attributstatus ist dabei unabhängig davon, ob ein Adjektiv stark oder schwach dekliniert ist, ob es also gleichzeitig Hauptmerkmalträger ist oder ob ein Artikel als Hauptmerkmalträger fungiert.

Als zweites Standbein der Annäherung an den Begriff der Nominalgruppe Nominalgruppewurde eingangs ihre syntaktische Funktion benannt. Nominalgruppen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie im Satz eine Satzgliedfunktion Satzgliedfunktionübernehmen können:

(3)

Der verliebte Paul will der glücklichen Paula rote Rosen schenken.

Dieser Satz enthält drei Nominalgruppen: der verliebte Paul, der glücklichen Paula und rote Rosen. Alle drei Nominalgruppen sind Satzglieder Satzgliedin diesem Satz: Der verliebte Paul ist SubjektSubjekt, der glücklichen Paula ist Dativobjekt und rote Rosen ist AkkusativobjektAkkusativobjekt. In der Grammatik von Eisenberg sind Nominalgruppen deshalb KonstituentenkategorienKonstituentenkategorie. Das bedeutet, dass sie unmittelbare Bestandteile des Satzes sind. Das lässt sich in Anlehnung an Eisenberg wie folgt abbilden:

Abb. 1:

Nominalgruppen als Satzkonstituenten

Wichtig ist dabei aber: Als Konstituentenkategorien in Bezug auf Sätze kommen nicht nur Nominalgruppen in Frage, sondern beispielsweise auch Präpositionalgruppen Präpositionalgruppeund NebensätzeNebensatz.

Umgekehrt können auch Nominalgruppen nicht nur als Konstituenten von Sätzen fungieren. Sie können auch Konstituenten von Präpositionalgruppen sein:

(4)

Der verliebte Paul wartet hinter der Mauer auf die glückliche Paula. Er überrascht sie mit roten Rosen.

Im Gegensatz zu Beispiel (3) ist hier die glückliche Paula nicht unmittelbare Konstituente Konstituenteunmittelbardes Satzes und folglich auch kein Satzglied, sondern Konstituente Konstituenteder Präpositionalgruppe. Bei Eisenberg ist sie der Kern Kernder Präpositionalgruppe (die Präposition Präpositionist der KopfKopf). Die Präpositionalgruppe ist hier die Konstituente des Satzes und ein Satzglied (Präpositionalobjekt). Das Gleiche gilt für roten Rosen: Auch diese Nominalgruppe ist Konstituente einer Präpositionalgruppe (mit roten Rosen), ebenso wie die Nominalgruppe der Mauer Konstituente der Präpositionalgruppe hinter der Mauer ist.

Abb. 2:

Nominalgruppen als Konstituenten von Präpositionalgruppen

Schließlich können Nominalgruppen auch Konstituenten von Nominalgruppen sein:

(5)

die erste Durchsteigung der Nordwand der großen Zinne auf der Direttissima im Winter 1989 durch Kurt Albert und Gefährten im Rotpunkt-Stil (IdS-Grammatik 1997: 1927)

Mit diesem Beispiel illustrieren die Autoren der IdS-Grammatik, dass eine Nominalgruppe Nominalgruppesehr komplex sein kann. Es handelt sich zunächst insgesamt um eine Nominalgruppe, weil sie als Konstituente Konstituenteeines Satzes fungieren kann:

(6)

Die erste Durchsteigung der Nordwand der großen Zinne auf der Direttissima im Winter 1989 durch Kurt Albert und Gefährten im Rotpunkt-Stil war eine Sensation.

Die Nominalgruppe fungiert in diesem Satz als SubjektSubjekt. Da, wie wir gerade diskutiert haben, Nominalgruppen auch Konstituenten von Nominalgruppen sein können, ist es hilfreich, einen Terminus zu haben, mit dem wir solche komplexen Nominalgruppen wie (5) benennen können. In Anlehnung an Mertzlufft (2013: 230) nennen wir Nominalgruppen, die Konstituenten von Sätzen sind und eine Satzgliedfunktion Satzgliedfunktionübernehmen, in diesem Studienbuch „maximale NominalgruppeNominalgruppemaximaln“. Die Nominalgruppe mit dem deverbalen Kern KerndeverbalDurchsteigung ist deshalb so komplex, weil sie weitere Nominal- und Präpositionalgruppen Präpositionalgruppeals Attribute enthält. Die Attributstruktur Attributstrukturschauen wir uns im Abschnitt zu Attributen näher an.

An dem Beispiel haben wir nachvollzogen, dass eine Nominalgruppe sehr umfangreich sein kann. Was ist aber die untere Grenze für die Annahme einer Nominalgruppe, d.h., was muss minimal vorhanden sein, damit von einer Nominalgruppe ausgegangen werden kann?

Diskurs: Gibt es eingliedrige Nominalgruppen?

Die Grundsatzfrage lautet: Wieviele Elemente sind notwendig, damit man von einer Gruppe sprechen kann? Mit dieser Frage gehen die Grammatiken unterschiedlich um. Die Dudengrammatik und die IdS-Grammatik sprechen auch bei einzelnen Substantiven Substantivvon Nominalphrasen: Kühe fressen Gras (Dudengrammatik 2016: 808); Julia weint (IdS-Grammatik 1997: 1928). In der IdS-Grammatik spricht man hier von ‚Einwort-Nominalphrasen‘. Eisenberg hingegen unterscheidet als Konstituentenkategorien KonstituentenkategorieNomen Nomenund Nominalgruppen und benennt als Bedingung für eine NominalgruppeNominalgruppe, dass diese mindestens zwei Nomina (im Sinne des Begriffsverständnisses: deklinierbare Wörter) enthalte (2013b: 22). Nach diesem Verständnis wären im Beispiel Paul liebt Paula zwei Nomen Konstituenten des Satzes, im Beispiel der junge Paul liebt die alte Paula zwei Nominalgruppen. Wir müssen hier nicht unbedingt eine Festlegung bezüglich der Frage treffen, ob auch einzelne Nomen als Nominalgruppen zu betrachten sind. Für eine Beschäftigung mit dem Nominalstil sind allerdings einzelne Nomen als Satzkonstituenten Satzkonstituentenicht besonders interessant. Für den Nominalstil sind vielmehr komplexe Nominalgruppen konstitutiv.

Nominalgruppe Nominalgruppe

Eine NOMINALGRUPPE ist eine WortgruppeWortgruppe, die ein NomenNomen als Kern Kern(lexikalisches Zentrum) enthält. Eine Nominalgruppe enthält maximal je einen Kern und einen Kopf Kopf(grammatisches Zentrum; in der Regel ein ArtikelArtikel). Hingegen kann eine Nominalgruppe durch beliebig viele Attribute erweitert werden. Nominalgruppen können Konstituenten von Sätzen sein, also Satzgliedfunktion Satzgliedfunktionübernehmen. Sie können aber auch Konstituenten von Präpositionalgruppen Präpositionalgruppesein (sie fungieren dann als Kerne) oder Konstituenten von Nominalgruppen (hier fungieren sie als Attribute).

Das Vorhandensein eines Kerns ist die Grundbedingung für eine Nominalgruppe. Diese Bedingung kann allenfalls durch Koordinationsellipsen ausgehebelt werden:

(7)

Die neue Freundin von Paul ist hübscher als die alte.

An der Oberfläche besteht die Nominalgruppe die alte nur aus Kopf und AdjektivattributAdjektivattribut; Freundin ist sozusagen als Kern mitzudenken.

Wichtig ist, dass eine Nominalgruppe nur einen Kern hat. Dabei können aber mehrere Nomen zu einem komplexen Kern Kernkomplexkoordiniert werden:

(8)

Die Eltern und Kinder besuchen den Zoo.

AttributAttribut

Attribute spielen eine zentrale Rolle bei der Konstitution von Nominalstil, weil sie zum Ausbau der Nominalgruppen und somit auch zum Aufbau nominalstilistischer Komplexität Komplexitätbeitragen. Laut Ágel ist „[a]lles, was in einer Wortgruppe Wortgruppenicht Kern Kernund nicht Kopf Kopfist, […] syntaktisch abhängige, lexikalische Spezifizierung/Modifikation Modifikationdes Kerns. Diese Spezifizierungen/Modifikationen werden traditionell […] Attribut genannt.“ (2017: 698) Bevor wir uns mit Beispielanalysen der Frage nähern, was für Typen von Attributen es gibt und welche Rolle Attribute beim Ausbau des Nominalstils spielen, sei auch hier wieder ein kurzer Blick in die Diskussion um den Attributbegriff in der Forschung geworfen.

Diskurs: Was ist ein Attribut?

Der Begriff des Attributs gehört wie auch der Satzgliedbegriff Satzgliedbegriffzu den zentralen Konzepten der Schulgrammatik. Eine genauere theoretische Betrachtung zeigt jedoch, dass die Antwort auf die Frage, was ein Attribut ist, alles andere als trivial ist. Die hier bereits getroffene Unterscheidung zwischen Attribut, Kopf Kopfund Kern Kernals verschiedene Typen von Wortgruppengliedern Wortgruppengliedbietet bereits eine wichtige Eingrenzung des Attributbegriffs. Hingegen kam es in der Diskussion um den Attributbegriff im 20. Jahrhundert zeitweise auch zu einer Gleichsetzung von Attribut und Gliedteil. Der Terminus ‚Gliedteil‘ wurde von Glinz (1968 [1952]) in die germanistische Linguistik eingeführt; im Grunde genommen war sein Verständnis vergleichbar mit dem, was wir hier Wortgruppenglied nennen (1968: 489). In der Folge ist teilweise ‚Attribut‘ mit ‚Gliedteil‘ gleichgesetzt und auch auf Artikel Artikelausgedehnt worden (Fuhrhop/Thieroff 2005: 313). Diese Entwicklung kann man sehr gut an der Dudengrammatik nachvollziehen: In der vierten Auflage (1984: 592) wurden auch die Artikel den Attributen zugeordnet. In der aktuellen achten Auflage (2016) ist der Possessivartikel Possessivartikelnach wie vor Attribut, weil dieser auch als Aktant Aktant(= ErgänzungErgänzung) fungieren kann (vgl. Sie lacht → ihr Lachen).

Eine weitere zentrale Frage der Attributdiskussion ist die, auf was sich Attribute beziehen können und was als Attribut in Frage kommt. Einen hervorragenden Überblick über diese Frage bietet der Aufsatz „Was ist ein Attribut?“ von Fuhrhop/Thieroff (2005). Wir können dem entnehmen, dass gegenüber der traditionellen Auffassung, Substantive Substantivseien die Bezugselemente von Attributen, nach heutigem Verständnis im Grunde fast jede Wortart Attribute an sich binden kann (bspw. AdjektivAdjektiv: der sehr begabte Schüler, PronomenPronomen: Ich Idiot, SubjunktorSubjunktor: Kurz bevor er einschlief NomenPartizip

SupplementvalenzgebundenNominalisierungdeverbalValenzpotenzWir hoffen auf Frieden unsere Hoffnung auf FriedenSatzgliedsekundärRecycling

Wortgruppein Buchholzdie Brücke über den Kanal in BuchholzLesartdie Brücke über den KanalBrückeKanal

KonstituenteunmittelbarKernnomenDependenzgrammatik