Gunter Pirntke (Herausgeber)

 

Herman Melville

 

Moby Dick

 


Impressum

 

Covergestaltung:  Alexandra Paul

 

Digitalisierung: Gunter Pirntke

 


 

2013 andersseitig.de

 

ISBN:  9783955010713




 

 

andersseitig Verlag

Dresden

www.andersseitig.de


info@new-ebooks.de


(mehr unter Impressum-Kontakt)

Inhalt

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Epilog

Das Buch

 

 

 

 

 

1

 

Nennt mich Ishmael. Vor einigen Jahren — wie lange es wirklich her ist, tut nichts zur Sache — war eines Tages mein Geldbeutel leer, und da mich auch sonst nichts an Land hielt, dachte ich mir, segle einmal ein bisschen auf dem Meer umher und schau dir die Welt vom Wasser aus an. Das ist so meine Methode, wieder ins Gleichgewicht zu kommen und mein Blut wieder in Gang zu bringen. Immer wenn mich tiefe Melancholie überfällt, meine Mundwinkel herabhängen und sich mir das feuchte Novemberrieseln aufs Gemüt schlägt, wenn ich unwillkürlich vor den Auslagen der Sargtischler stehen bleibe und von jedem Leichenzug unwiderstehlich angezogen werde, kurz, wenn mich die trüben Stimmungen so überwältigen, dass es aller meiner Kräfte bedarf, um mich zusammenzunehmen, da ich am liebsten auf die Straße laufen und allen Passanten die Hüte vom Kopf schlagen möchte, dann ist es allerhöchste Zeit für mich, zur See zu gehen. Das ist der Weg, den ich wähle, anstatt mir die Kugel zu geben. Cato stürzte sich mit schwungvollem rednerischen Pathos in sein Schwert, ich hingegen haue wortlos ab — auf ein Schiff. Das ist auch nicht weiter verwunderlich. Schließlich übt das Weltmeer auf jeden eine gewisse Anziehungskraft aus.

 

Wenn ich nun von meiner Gewohnheit erzähle, zur See zu gehen, sobald sich meine Augen verschleiern und ich meine Lunge stärker spüre als sonst, so soll das keineswegs heißen, dass ich meine Seereisen als Passagier mache. Dazu gehört ein voller Geldbeutel, meiner ist jedoch die meiste Zeit leer. Außerdem werden Passagiere oft seekrank, werden streitsüchtig, schlafen nachts nicht und die Reise macht ihnen keinen Spaß - nein, ich bm niemals als Passagier gefahren. Auch nicht als Kommodore, Kapitän oder Koch, obwohl ich em ganz leidlicher Seebär bin. Derartig würdevolle Positionen überlasse ich gerne denen, die sich daraus etwas machen. Nein, wenn ich zur See gehe, dann fahre ich vor dem Mast als gewöhnlicher Matrose zwischen Vorderdeck und Masttop. Sicher, sie hetzen mich schon ein bisschen hin und her und lassen mich von Spiere zu Spiere springen wie einen Heuschreck auf einer Maiwiese. Und zuerst ist das ziemlich peinlich. Es geht einem an die Ehre, wenn man aus einer alteingesessenen Familie abstammt wie ich. Immerhin sind die van Resselaers, die Randolphs und Hardicanutes unter meinen Vorfahren. Besonders schlimm ist es, wenn man vor kurzem noch Dorfschullehrer war, vor dem selbst die größten Bengel ehrerbietig strammstanden. Der Übergang vom Schullehrer zum Matrosen ist hart, und es erfordert eine kräftige Portion Selbstbeherrschung, will man ihn mit heiterer Miene ertragen. Doch mit der Zeit gibt sich auch das.

 

Was macht's schon aus, wenn ein altes Ekel von Kapitän mich um den Besen schickt und das Deck schrubben lässt? Was ist dabei Würdeloses? Wer ist denn schließlich kein Sklave? Das möchte ich gerne wissen. Also gut! Soll mich nur irgendein Kapitän herumkommandieren und mir nach Herzenslust einen Tritt versetzen, was macht mir das schon aus. Und ich weiß, es hat auch seine Richtigkeit damit. Wir alle kriegen unseren Teil ab, so oder so.

 

Ich gehe also als Matrose zur See, weil sie mich dafür bezahIen. Und ein weiterer Grund, warum ich als Matrose zur See gehe, ist die gesunde Turnerei und die frische, reine Luft auf dem Vorderdeck, die man kostenlos geliefert bekommt.

 

Aber warum setzte ich mir diesmal m den Kopf nachdem ich mit schon mehrmals als Matrose auf einem Handelsschiff den Seewind hatte um die Nase wehen lassen, mich auf einem Walfänger anheuern zu lassen? Diese Frage kann ich nicht beantworten. Aber daran ist nicht zu zweifeln: Dass ich auf Walfang gehen sollte, war ein Teil des Spielplans, den die Vorsehung schon längst festgelegt hatte.

 

Von all den verschiedenen Beweggründen war die überwältigende Vorstellung von einem großen Wal der ausschlaggebende. Dieses riesenhafte, geheimnisvolle Ungetüm weckte meine Neugier. Dazu die wilden, fernen Meere, durch die er seinen Leib wie eine riesige Insel wälzt; die unentrinnbaren und namenlosen Gefahren, die um den Wal lauern, all das bestärkte mich in meinen Wünschen. Mag sein, dass sich andere dadurch nicht hätten verleiten lassen, aber ich bin ein Mensch, den eine quälende Sehnsucht immer wieder in die Ferne treibt. Ich fahre leidenschaftlich gern m verbotenen Gewässern und steige an Barbarenküsten an Land. Mit dem Wissen um das Gute ist mir doch das Grauen nicht fremd, und könnte ich, wie ich wollte, ich gäbe mich ihm mit Lust hin.

Aus diesen Gründen also kam mir die Fahrt zum Walfang gerade recht. Die weiten Tore der Wunderwelt öffneten sich und in den tollen Bildern meiner Fantasie schwammen Wale, immer in Paaren, in endlosem Zuge.

2

Ich stopfte ein paar Hemden in meinen alten Seesack, nahm ihn unter den Arm und machte mich auf nach dem Kap Hoorn und dem Pazifik. Das gute alte Manhattan ließ ich hinter mir und kam glücklich in New Bedford an. Es war ein Samstagabend im Dezember. Ich war sehr enttäuscht, als ich erfuhr, dass das kleine Postschiff nach Nantucket schon ausgelaufen war und es vor Montag keine Überfuhr gab.

 

Da die meisten Anwärter für den Walfang von New Bedford aus ihre Fahrt antreten, muss ich erwähnen, dass ich es mir in den Kopf gesetzt hatte, nur mit einem Segler aus Nantucket zu fahren, denn alles, was ich über diese berühmte Insel gehört hatte, umgab etwas Großartiges, das mich interessierte. Zwar hatte in letzter Zeit New Bedford den Großteil des Walfangs an sich gerissen, und Nantucket war beträchtlich ins Hintertreffen geraten, aber Nantucket ist und bleibt für mich unübertroffen, denn hier war der erste von Amerikanern erlegte Wal an Land gebracht worden.

 

Von Nantucket sind die Ur-Walfänger, die Rothäute, in ihren Kanus ausgefahren, um den Wal zu jagen. Und hier von Nantucket aus fuhr auch die kleine Schaluppe zu ihrem großen Abenteuer los. Es wird berichtet, sie sei mit Kieselsteinen beladen gewesen, die man nach den Walen warf, um die richtige Entfernung für das Schleudern der Harpune vom Bugspriet festzustellen.

 

Ich hatte nun in New Bedford eine Nacht, einen Tag und noch eine ganze Nacht vor mir, ehe ich mich nach meinem Bestimmungsharen einschiffen konnte, und es erhob sich die Frage, wo ich bis zu meiner Abfahrt essen und schlafen sohlte. Der Abend war alles andere als schön, im Gegenteil sehr dunkel, trübselig und trostlos, dazu noch bitterkalt, und ich kannte hier keine Menschenseele. Ich kramte m meiner Hosentasche und förderte schließlich ein paar Silbermünzen zutage. Also, Ishmael, sagte ich zu mir, während ich mitten auf der trostlosen Straße meinen Seesack auf den Rücken nahm, wo immer du auch zu übernachten gedenkst, vergiss nicht, nach dem Preis zu I ragen, und sei ja nicht allzu wählerisch.

 

Zögernd ging ich die Straßen auf und ab und kam an dem Wirtshaus »The Crossed Harpoons« vorüber, wo es für meine Verhältnisse allzu hoch herging. Ein Stück weiter warfen die erleuchteten Fenster des »Sword-Fish Inn« so glühend rote Strahlen in die Nacht hinaus, dass es mir vorkam, als hätten sie den lest getretenen Schnee und das Eis vor dem Haus weggetaut. Sonst lag das Eis überall zu einer dreißig Zentimeter dicken Schicht gefroren, hart wie eine Asphaltstraße. Ich wurde allmählich müde. Außerdem befanden sich meine Schuhsohlen m einem jämmerlichen Zustand. Und wieder dachte ich: Nein, auch da geht es zu toll für dich zu. Einen Augenblick lang blieb ich stehen, sah das grelle Licht, das auf die Straße fiel, und hörte drinnen das Klirren der Gläser. Schau, dass du weiterkommst, Ishmael, sagte ich mir schließlich. Ohne bestimmten Plan nahm ich nun die Straßen, die zum Wasser führten, denn dort lagen bestimmt die billigsten, wenn auch nicht gerade die lustigsten Herbergen.

 

Mein Gott, was waren das für trübselige Straßen! Die Häuser zu beiden Seiten wirkten wie schwarze Quader, hier und da sah man den Schein einer Kerze. Zu so später Stunde war dieses Stadtviertel am letzten Tage der Woche wie ausgestorben. Doch da drang ein Lichtschein aus einem niedrigen, lang gedehnten Gebäude. Die Tür stand einladend offen. Von außen sah es verwahrlost aus wie ein Nachtasyl für heruntergekommene Menschen. Gleich in der Vorhalle stolperte ich über einen Ascheneimer. Hoppla, dachte ich, hoppla, als die aufwirbelnde Asche mir den Atem nahm. Wenn die anderen Gasthöfe schon Namen wie »The Crossed Harpoons« und »Sword-Fish Inn« führten, dann müsste dieses hier wohl »The Trap« heißen. Ich fing mich wieder, und als ich eine laute Stimme hörte, ging ich beherzt weiter und öffnete eine zweite Tür, die ins Innere des Hauses führte.

 

 

 

An die hundert Gesichter wandten sich mir zu. Über ihnen auf einer Kanzel stand der Engel des Jüngsten Gerichts und schlug immer wieder auf ein Buch. Ich war in eine Kirche geraten. Der Bibeltext des Predigers handelte von der tiefsten Finsternis, von Heulen, Wehklagen und Zähneklappern. O je, Ishmael, murmelte ich und verduftete, das ist keine besonders einladende Unterhaltung im Gasthof »The Trap«. Ich machte mich wieder auf den Weg. In der Nähe der Docks sah ich schließlich einen trüben Lichtschimmer und hörte über mir etwas wie ein einsames, klägliches Knarren. Als ich aufblickte, schwang über der Tür ein Schild, auf dem in weißer Schrift gemalt war: »The Spouter-Inn - Peter Coffin«. Peter Coffin, also Peter Sarg? Und Spouter? Ein blasender Wal? Diese Zusammenstellung verhieß nichts Gutes, dachte ich. Doch mit Nantucket soll der Name Coffin häufig vorkommen und dieser Vier wird wohl von dort stammen. Das Licht schimmerte trübe, die Gegend war leidlich still, vorerst wenigstens, und das halb zerfallene Blockhaus schien aus den Trümmern einer Feu-ersbrunst gerettet worden zu sein. Aus dem kläglichen Knarren des Schildes schloss ich, dass ich hier eine billige Schlafstelle und einen prima Malzkaffee bekommen würde.

 

Es war schon etwas unheimlich, dieses alte Giebelhaus an einer scharfen, windigen Straßenecke, mit der einen Wand schräg überhängend, als leide es an der Gicht. Aber ich wollte mir die Laune nicht verderben lassen. Auf geht's zum Walfang! Da gibt es Tran in Hülle und Fülle. Kratzen wir uns das Eis von den hart gefrorenen Sohlen und untersuchen wir diesen »Spouter« etwas näher.

3

Betrat man den Gasthof von der Giebelseite her, so kann man in einen geräumigen, niedrigen, schwer zu überblickenden Flur. Die altmodische Täfelung erinnerte an die Schanzbalken eines abgewrackten Schiffes. An der einen Wand hing ein riesiges Ölgemälde, rauchgeschwärzt und nachgedunkelt. Durch den dunklen Flur und einen niedrigen gewölbten Gang dahinter — vor langer Zeit muss er der große Hauptrauchfang für sämtliche anliegende Kamine gewesen sein - gelangte man in die Gaststube. Dieser Raum war noch dunkler. Die schweren Deckenbalken waren so niedrig, die alten Bodenplanken so abgetreten, dass man sich in das Cockpit eines alten Schoners versetzt glaubte, noch dazu an einem Abend wie diesem, wenn der Sturm heulte und diese an einer Straßenecke verankerte Arche in allen Fugen erbebte.

 

Auf der einen Seite stand ein langes, niedriges, tischähnliches Gestell, darauf mehrere Schaukästen mit gesprungenen Glas-scheiben, worin haufenweise verstaubte Raritäten aus den entlegensten Enden der Welt zu sehen waren. Aus der hinteren Ecke ragte ein finsterer Vorbau m den Raum hinein — der Ausschank -, die primitive Nachbildung eines Walfischschädels, Das war ja noch zu ertragen, doch darüber wölbte sich der gewaltige Rachenschlund eines Wales in so hohem Bogen, dass beinahe eine Kutsche durchfahren konnte. Darunter standen ein paar schäbige Bretterregale mit alten Karaffen und kurz- und langhalsigen Flaschen. Und mitten unter diesem jeden Augenblick mörderisch zuschnappenden Rachen: ein zweiter, von Gott verfluchter Jonah — mit diesem Namen wurde er auch tatsächlich gerufen —, ein verhutzeltes altes Männchen, das für teures Geld den Matrosen Schnaps einschenkte.

 

Als ich eintrat, saßen mehrere junge Matrosen um einen Tisch und besahen sich beim trüben Schein einer Kerze aus Walfischzähnen und -knochen geschnitztes Zeug. Ich ging auf den Wirt zu und fragte nach einem Zimmer für die Nacht, bekam aber zur Antwort, sein Haus sei voll besetzt, kein einziges Zimmer sei mehr frei. »Doch halt« - er tippte sich an die Stirn -, »Sie haben doch nichts dagegen, das Bett mit einem Harpunier zu teilen, was? Sie wollen doch auf Walfang, und da ist es schon besser, Sie gewöhnen sich beizeiten dran.«

 

Ich hätte noch nie gern zu zweit in einem Bett geschlafen, erwiderte ich. Sollte ich es aber je tun, so käme es sehr darauf an, was für ein Bursche dieser Harpunier sei. Aber wenn der Wirt tatsächlich kein Bett mehr für mich habe und gegen den Har-punier nichts einzuwenden sei, na, dann würde ich lieber mit einem anständigen Kerl die Bettdecke teilen, als mit dieser bitterkalten Nacht noch weiter in der Stadt umherzuirren.

»Das dachte ich mir gleich. Schön, also bleiben Sie da. Wie steht's mit einem Abendessen? Wird gleich fertig sein.«

 

Ich setzte mich auf eine alte Holzbank, auf der Buchstaben und Zeichen eingeritzt waren wie auf den Bänken im New Yorker Battery Park. An dem einen Ende der Bank saß ein Matrose und bearbeitete mit einem Seemannsmesser das Brett zwischen seinen Beinen, das ihm allem Anschein nach noch nicht kunstvoll genug geschnitzt war. Es sollte ein Schiff unter vollen Segeln darstellen, aber er kam mit seiner Arbeit nicht recht vom Fleck.

 

Endlich wurden vier oder fünf von uns in einen Nebenraum zum Essen geholt. Hier herrschte arktische Kälte. Der Wirt sagte, er könne es sich nicht leisten, auch hier zu heizen. Zwei trübselige Talgkerzen verbreiteten ein Licht wie m einer Grabkammer. Eilig knöpften wir unsere Matrosenjacken bis oben hin zu und waren froh, als wir mit halb erstarrten Fingern den kochend heißen Tee an unsere Lippen brachten. Das Essen war reichlich, außer Fleisch und Kartoffeln gab es auch noch Klöße. Alle Wetter! Klöße zum Abendbrot! Ein junger Bursche in einem grünen Kutschermantel hieb denn auch ganz mörderisch rein.

 

»Na, mein Junge«, sagte der Wirt, »nach dieser Portion wirst du heule Nacht ordentliche Albträume haben.«

»Herr Wirt«, flüsterte ich ihm zu, »das ist doch nicht etwa der Harpunier?«

.»Nein, nein«, sagte er und verzog das Gesicht zu einer grinsenden Fratze, »der Harpunier ist ein dunkelhäutiger Bursche. Der isst überhaupt keine Klöße, der nicht, der isst nur Beefsteaks, und die am liebsten fast roh.«

»Zum Teufel, das auch noch. Wo steckt denn dieser Harpunier eigentlich? Ist er schon da?«

Ich konnte mir nicht helfen, doch dieser »dunkelhäutige« Harpunier fing an, mir unheimlich zu werden. Wenn wir schon zusammen schlafen mussten, dann sollte er sich als Erster ausziehen und ins Bett steigen. Das stand bei mir fest.

 

Als wir mit dem Essen fertig waren, gingen meine Tischgenossen wieder in die Schankstube, und da ich nichts weiter vorhatte, schien es mir am besten, den Abend als Zuschauer zu verbringen. Auf einmal hörte man draußen einen gewaltigen Radau. Der Wirt horchte auf: »Das ist die Mannschaft von der Grampus. War schon heute Morgen angesagt. Ein voll beladenes Schiff, drei Jahre auf Fahrt. Hurra, Jungs, jetzt erfahren wir das Neueste von den Fidschi-Inseln.« Seemannsstiefel polierten über den Flur, die Tür wurde aufgerissen und herein torkelte eine wilde Horde von Matrosen. In ihren zottigen Mänteln, bis über die Ohren in zerlumpte und gestopfte Wollschals gewickelt, die Barte voller Eiszapfen, brachen sie in den Raum.

Sie waren eben gelandet, und dies war das erste Haus, das sie betraten. Kein Wunder also, dass sie schnurstracks auf den Walfischrachen, den Schanktisch, lossteuerten, wo der verhutzelte alte Jonah der ganzen Bande die Gläser bis zum Rand voll schenken musste. Einer jammerte, er sei ganz benommen, da er einen schrecklichen Schnupfen habe, worauf Jonah ihm eine zähflüssige pechschwarze Arznei aus Gin und Sirup mixte und Eide schwor, für sämtliche Arten Erkältungen und Katarre, selbst die hartnäckigsten, sei dies die einzig sichere Kur, ganz egal, ob man sie sich an der Küste von Labrador oder an der Luvseite eines Eisberges geholt habe.

 

Der Schnaps stieg ihnen zu Kopf und sie begannen zu lärmen. Indessen fiel mir auf, dass sich einer von ihnen etwas abseits hielt, obwohl er mit seiner Nüchternheit den angeheiterten Kameraden den Spaß nicht verderben wollte. Aber er krakeelte nicht mit den anderen. Als die Zecherei seiner Kumpane ihren Höhepunkt erreicht hatte, verschwand der Mann unbemerkt, aber schon bald fiel sein Fehlen auf, und alle stürmten hinaus, ihn zu suchen.

 

Inzwischen war es neun Uhr geworden. Nach dieser wüsten Sauferei kam mir die Wirtsstube unnatürlich still vor, und ich beglückwünschte mich zu dem Plan, den ich mir ausgedacht hatte, noch ehe die Matrosen hereingestürmt waren.

 

Niemand schläft gern zu zweit in einem Bett, ja nicht einmal im! dem eigenen Bruder. Ich weiß nicht, warum, aber im Schlaf ist man am liebsten allem. Tritt nun aber der Fall ein, dass man in einem fremden Gasthaus in einer fremden Stadt mit einem fremden Menschen, noch dazu mit einem Harpunier, zusammen übernachten soll, so wachsen die Einwände dagegen ins Ungeheure. Zudem gab es auch nicht den geringsten Grund, warum ich, nur weil ich Matrose war, mit einem anderen das Bett teilen sollte. Denn Matrosen auf See haben alle ihre eigene Schlafstatt. Zwar schlafen sie alle in einem Kaum zusammen, aber jeder hat seine Hängematte für sich und deckt sich mit seiner eigenen Decke zu.

 

Je mehr ich mir die Sache mit diesem Harpunier überlegte, desto gräulicher war mir der Gedanke, mit ihm zusammen zu si Malen. Es war anzunehmen, dass er als Harpunier nicht gerade die feinsten Hemden und das sauberste Unterzeug trug.

Mich juckte es bei dieser Vorstellung bereits am ganzen Körper. Auch wurde es allmählich spät und ein solider Harpunier müsste eigentlich schon zu Hause sein und ans Zubettgehen denken. Angenommen er kommt erst gegen Mitternacht zu mir hereingetorkelt, weiß ich denn, aus was für einem schmierigen Loch er gekrochen ist?

»Herr Wirt, ich habe es mir anders überlegt. Mit dem Harpunier schlafe ich nicht. Lieber schlafe ich hier auf der Bank.«

 

»Ganz wie Sie wollen. Schade nur, dass ich kein Tischtuch übrig habe, dann hätten Sie eine Unterlage. Das Brett hier ist verdammt rau. Aber warten Sie mal. Ich habe da einen Hobel hinter der Theke. Nur keine Sorge, da Sie ein bisschen wählerisch sind, werde ich Ihnen ein behagliches Plätzchen bereiten.« Und schon holte er einen Hobel und staubte mit einem alten Seidentaschentuch erst einmal die Bank ab, dann hobelte er aus Leibeskräften an meinem Bett herum und grinste dabei wie ein Affe. Die Späne flogen nur so nach allen Seiten, auf einmal aber stieß das Hobeleisen gegen einen widerspenstigen Knorren. Der Wirt hätte sich beinahe die Hand verstaucht. Ich sagte, er solle um Himmels willen aufhören, das Bett sei mir schon weich genug. Aus Fichtenplanken würden doch bekanntlich niemals Eiderdaunen, und wenn er sich kaputthobelte. Da grinste er wieder, fegte die Späne zusammen und schüttete sie in den großen Ofen mitten in der Wirtsstube. Dann ging er wieder seinen anderen Arbeiten nach und ließ mich mit meinen düsteren Gedanken allein. Nun maß ich die Bank aus. Sie war einen Viertelmeter zu kurz, doch wenn ich einen Stuhl heranstellte, konnte ich mich ausstrecken. Aber leider war auch die Breite um einen Viertelmeter zu schmal und die zweite Bank in der Gaststube war etwa um zehn Zentimeter höher als die mit dem Hobel bearbeitete. Die beiden wollten also durchaus nicht zu-einander passen. Ich rückte also die erste Bank der Länge nach in die Wand, wo noch Platz war, und ließ einen Zwischenraum, wo ich meinen Rücken hinkuscheln konnte. Bald aber spürte ich vom Fenster her einen kalten Luftzug, sodass es doch nicht das Wahre war, weil es außerdem von der undichten Tür her ganz schön kalt hereinkam.

 

Der Teufel soll diesen Harpunier holen, dachte ich. Doch halt. Wäre es nicht eine gute Idee, ihm zuvorzukommen? Ich verriegle die Tür von innen, steige ins Bett und er kann gegen die Tür donnern — ich stelle mich einfach tot. Das war kein schlechter Einfall, aber nach einigem Nachdenken verwarf ich den verlockenden Gedanken wieder, denn wer weiß, wenn ich morgen früh den Kopf zur Tür hinausstecke, steht womöglich der Harpunier da und schlägt mir den Schädel ein.

 

Ich schaute immer wieder umher, fand aber nirgends eine Möglichkeit, die Nacht halbwegs angenehm zu verbringen. Vielleicht hegte ich völlig grundlose Vorurteile gegen diesen mir unbekannten Harpunier. Ich dachte mir, wartest du halt noch ein Weilchen, er muss ja schließlich bald kommen. Dann sehe ich ihn mir erst einmal an und am Ende werden wir vielleicht noch die besten Freunde und Bettgenossen. Man kann nie wissen.

 

De anderen Logiergäste kamen alle herein, einer nach dem anderen, zu zweit, zu dritt, und gingen zu Bett. Vom Harpunier keine Spur.

»Herr Wirt«, sagte ich schließlich, »was ist das eigentlich für ein Bursche? Ist das immer so ein Nachtvogel?«

Es ging schon beinahe auf Mitternacht.

Wieder ließ der Wirt sein infames Gekicher hören und schien sich zu amüsieren, worüber, blieb mir schleierhaft. »Ich weiß auch nicht«, erwiderte er, »sonst ist er immer früh dran — früh ins Bett, früh wieder raus —, Morgenstund hat Gold im Mund. Doch heute Abend ging er mit etwas hausieren. Weiß der Teufel, warum er so lange ausbleibt. Vielleicht kann er seinen Kopf nicht verkaufen.«

 

»Seinen Kopf nicht verkaufen? Was für eine Räubergeschichte erzählen Sie mir da!« Mich packte die Wut. »Sie wollen mir doch nicht weismachen, Wirt, dass dieser Harpunenwerfer ausgerechnet heute an diesem verwünschten Samstagabend oder vielmehr Sonntagmorgen mit seinem Kopf in der Stadt hausieren geht.«

»Doch, doch, das stimmt genau«, sagte der Wirt. »Dabei habe ich ihn gewarnt, er würde ihn hier nicht los. Der Markt ist mit dem Zeug überschwemmt.«

»Mit was für Zeug?«, brüllte ich ihn an.

»Ich sag's doch, mit Köpfen natürlich. Es gibt doch viel zu viele Köpfe auf der Welt.«

»Ich will Ihnen mal was sagen, Herr Wirt«, sprach ich jetzt ganz ruhig. »Nun machen Sie aber Schluss. Ich bin kein grüner Junge mehr.«

»Das wohl nicht«, und er nahm ein Stück Holz und schnippelte sich einen Zahnstocher zurecht, »aber der Harpunier schlägt Sie grün und blau, wenn er erfährt, dass Sie an seinem Schädel herummäkeln.«

»Entzweischlagen werde ich ihm seinen Schädel!«

 

Dieses blödsinnige Geschwätz machte mich allmählich rasend. »Ist schon entzwei«, sagte er.

»Was soll das heißen — entzwei?«

»Na, eben kaputt. Deswegen wird er ihn ja wahrscheinlich nicht los.«

»Herr Wirt«, ich machte ein paar Schritte auf ihn zu und maß ihn von Kopf bis Fuß, »jetzt aber Schluss mit dieser verdammten Herumrederei! Wir wollen die Lage klarstellen. Ich betrete Ihren Gasthof und verlange ein Bett. Sie können mir nur ein halbes geben, weil die andere Hälfte einem Harpunier gehört. Und von diesem Harpunier, den ich noch nie gesehen habe, erzählen Sie mir eine dunkle, haarsträubende Geschichte nach der anderen, sodass mir dieser Mensch, mit dem ich zusammen schlafen soll, geradezu unheimlich wird. Und mit jemandem das Bett zu teilen, das ist doch eine sehr intime und vertrauliche Sache, nicht wahr, Herr Wirt? Also heraus mit der Sprache. Ich muss wissen, welche Art von Mensch dieser Harpunier ist. Und erklären Sie mir bitte auch gefälligst dieses Märchen von der Hausiererei mit dem Schädel. Wenn das stimmt, besteht kein Zweifel: Der Harpunier ist total verrückt, und ich denke gar nicht daran, mit einem Geistesgestörten m einem Bett zu schlafen. Und Sie, Sir — jawohl, Sie meine ich, Herr Wirt —, wenn Sie mich mit vollem Wissen in eine solche Lage bringen, dann gehören Sie vor Gericht gestellt, verstanden!«

 

»Na, na«, sagte der Wirt beruhigend und holte tief Atem. »Das war 'ne ganz schöne Predigt für einen Burschen, der dann und wann auch mal gern ein bisschen aufschneidet. Aber nur immer mit der Ruhe, immer mit der Ruhe. Der Harpunier, von dem ich Ihnen erzählt habe, kommt eben von der Südsee und hat einen ganzen Berg von einbalsamierten Neuseeland-Köpfen mitgebracht, Kuriositäten, müssen Sie wissen. Die hat er alle abgesetzt außer dem einen, und den wollte er heute Abend an den Mann bringen, weil morgen Sonntag ist. Und wenn die Leute in die Kirche gehen, kann er doch nicht gut auf der Straße seine Menschenschädel feilbieten. Letzten Sonntag wollte er tatsächlich damit losziehen und hatte schon vier Schädel auf einem Bindfaden regelrecht wie Zwiebeln aufgereiht, da habe ich ihn gerade noch an der Tür erwischt.«

 

Dieser Bericht klärte das Geheimnis einigermaßen auf und zeigte, dass der Wirt mich doch nicht zum Narren gehalten hatte. Was sollte ich aber von einem Harpunier denken, der sich von Samstagabend bis m den heiligen Sonntag hinein herumtrieb und noch dazu so kannibalischen Geschäften nachging wie dem Feilbieten von Köpfen toter Heiden?

 

»Verlassen Sie sich darauf, Herr Wirt, dieser Harpunier ist ein gefährlicher Bursche.«

»Zahlen tut er jedenfalls pünktlich«, war die Antwort. »Nun aber los in die Falle. Es ist wirklich ein schönes Bett, ein gewaltig großes Bett ist es. Kommen Sie mit, ich mache Ihnen gleich Licht.«

Damit zündete er eine Kerze an, reichte sie mir und wollte vorangehen. Doch ich konnte mich nicht recht entschließen. Er blickte auf die Uhr in der Ecke. »Sieh mal an«, sagte er, »schon Sonntag. Da lässt sich der Harpunier heute wohl nicht mehr blicken, der hat irgendwo Anker geworfen. Kommen Sie doch, kommen Sie oder wollen Sie nicht?«

 

Einen Augenblick war ich noch unschlüssig, dann gingen wir doch hinauf. In der Kammer, in die er mich führte, war es kalt, aber es stand tatsächlich ein Bett von solchen Dimensionen darin, dass ohne weiteres vier Harpuniere bequem darin Platz gehabt hätten. »So«, sagte der Wirt und stellte die Kerze auf eine alte Seekiste, die zugleich als Wasch- und Esstisch diente. »So, nun machen Sie sich's gemütlich und ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.«

Ich konnte mich von dem Anblick des Bettes gar nicht losreisen. Als ich mich umwandte, war der Wirt verschwunden. Ich schlug die Steppdecke zurück und beugte mich über das Bett. Es war zwar nicht ausgesprochen elegant, aber es konnte sich einigermaßen sehen lassen. Dann blickte ich mich in der Kammer um. Außer dem Bett und dem Tisch gab es an Möbelstücken nur ein grob gezimmertes Regal und einen tapezierten Kamin-schirm, auf dem ein Mann im Kampf mit einem Wal zu sehen war, In einer Ecke lag auf dem Boden eine gefaltete Hängematte und statt eines Koffers ein großer Seesack mit den Kleidungsstücken des Harpuniers. Auf dem Kaminsims häuften sich fremdländische Angelhaken aus Knochen und am Fußende des Bettes lehnte eine außergewöhnlich lange Harpune.

 

Doch was war das auf der Seekiste? Ich nahm es in die Hand und hielt es gegen das Licht. Ich fühlte daran herum, beroch es und suchte auf alle mögliche Weise herauszubekommen, was das sein könnte. Es ließ sich am ehesten mit einer großen Fußmatte vergleichen. Am Rande war es mit rasselnden Stäbchen verziert, ungefähr wie die bunten Stachelschweinkiele an Indianer-Mokassins; und in der Mitte befand sich ein Ausschnitt wie der Kopfschlitz an einem südamerikanischen Poncho. Aber wie konnte sich ein Harpunier bei nüchternem Verstand eine Fußmatte über den Kopf ziehen und in einem solchen Aufputz durch die Straßen einer Stadt paradieren? Ich stülpte das Ding über, um es einmal auszuprobieren. Es drückte mich nieder, so zottig und dick war es. Auch fühlte es sich feucht an, als hätte es der geheimnisvolle Harpunier im Regen angehabt. Ich trat damit vor die Spiegelscherbe an der Wand. Mein Leben lang weide ich diesen Anblick nicht vergessen! So schnell ich konnte, zwängte ich meinen Kopf wieder heraus und verrenkte mir beinah den Hals dabei.

 

Ich setzte mich auf die Bettkante und dachte über den Köpfeverkäufer und seinen Türvorleger nach. Dann stand ich auf, zog meine Matrosenjacke aus, stellte mich mitten ins Zimmer und glotzte tiefsinnig vor mich hin. Ich fing aber bald zu frieren an, und da mir der Wirt gesagt hatte, der Harpunier werde heute Nacht doch nicht mehr nach Hause kommen, fuhr ich schnell aus Hose und Stiefeln, blies die Kerze aus, schlüpfte ins Bett und empfahl mich der Obhut des Himmels.

 

Ob die Matratze mit Maiskolben oder Topfscherben gefüllt war, habe ich nicht untersucht. Jedenfalls wälzte ich mich unruhig hin und her und konnte nicht einschlafen. Schließlich döste ich aber doch ein bisschen ein und war schon beinahe ganz hinüber, da hörte ich schwere Schritte auf dem Korridor, und von der Türschwelle fiel ein schwacher Lichtschein in das Zimmer. Der Herr stehe mir bei, dachte ich, das ist sicher der Harpunier. Ich blieb unbeweglich liegen und nahm mir vor, kein Sterbenswort zu sagen, bis er mich anredete. In der einen Hand ein Licht, in der anderen den bewussten Neuseeländerkopf, trat der Fremde in die Kammer, stellte, ohne nach dem Bett hinzusehen, die Kerze ziemlich weit weg von mir in eine Ecke auf den Boden und begann, an der geknoteten Schnur des schon erwähnten Seesacks herumzunesteln. Ich brannte darauf, sein Gesicht zu sehen. Aber er hielt es abgewendet, während er sich bemühte, den Sack aufzuknoten. Schließlich gelang es ihm und er drehte sich um. Allmächtiger, was für ein Anblick! Ein grausiges Gesicht! Von dunkelpurpurroter und gelber Färbung, hier und da mit großen schwärzlichen Vierecken bedeckt. Hatte ich es mir nicht gleich gedacht: ein Grauen erregender Schlafgenosse. Der hatte sich an einer Messerstecherei beteiligt, war grässlich zugerichtet worden und kommt nun direkt vom Wundarzt. In dem Augenblick fiel das Licht voll auf sein Gesicht, und ich sah nun deutlich, diese schwarzen Quadrate konnten unmöglich Wundpflaster sein. Es waren ganz eigenartige Flecken. Erst fand ich überhaupt keine Erklärung, aber dann kam mir eine Ahnung, was es sein könnte. Ich erinnerte mich an die Geschichte, die ein Weißer, auch ein Walfänger, einmal erzählt hatte, der unter Menschenfresser geraten und von ihnen tätowiert worden war. Dieses Schicksal konnte auch dem Harpunier auf seinen weiten Reisen widerfahren sein. Und schließlich suchte ich mich mit dem Gedanken zu beruhigen, man dürfe einen Menschen nicht nach seinem Aussehen beurteilen. Doch wieso hatte der Mann eine so ungewöhnliche Hautfarbe? Ich meine die Stellen rund um die viereckigen Tätowierungen? Die konnten zwar von einem tüchtigen tropischen Sonnenbrand herrühren. Allerdings halte ich noch nie davon gehört, dass selbst die heißeste Sonne einen weißen Mann in einen purpurrot-gelben verwandelte. Ich war freilich noch nie in der Südsee gewesen, und es kann ja sein, dass die Sonne dort solch merkwürdige Effekte hervorbrachte.

 

 

Während mir all das durch den Kopf schoss, hatte mich der Harpunier überhaupt noch nicht bemerkt. Als er seinen Seesack mit einiger Mühe geöffnet hatte, kramte er darin herum und zog nun etwas Tomahawk-Ähnliches und einen haarigen Beutel aus Seehundfell heraus. Beides legte er auf die alte Schiffskiste in der Mitte der Kammer, ergriff den grausigen Neuseelandkopf und stopfte ihn m den Sack. Dann nahm er seinen Hut, einen funkelnagelneuen Biberhut, ab. Mein Erstaunen wurde noch größer. Er hatte nicht ein einziges Haar auf dem Schädel. Der zarte Flaum war kaum erwähnenswert, nur vorne über der Stirn thronte ein großer geflochtener Knoten. Dieser kahle puterrote Schädel wirkte wie ein vermoderter Totenkopf. Wäre der Fremde nicht zwischen mir und der Tür gestanden, ich hätte sicher vor Entsetzen die Flucht ergriffen. Ich überlegte mir, ob ich nicht durch das Fenster entwischen könnte, doch das war unmöglich, das Zimmer lag im zweiten Stock. Ich bin von Natur aus bestimmt kein Feigling, aber das, was ich hier sah, ging über meinen Verstand. Ich gestehe, dass ich so verwirrt war, dass ich glaubte, der Leibhaftige sei zu dieser Mitternachtsstunde zu mir eingedrungen. Ich hatte solche Angst, dass ich nicht wagte, ihn anzusprechen und zu fragen, was das alles bedeuten sollte. Inzwischen zog er sich weiter aus und Brust und Arme kamen zum Vorschein. So wahr ich lebe, diese Körperteile waren genauso kariert wie sein Gesicht. Auch der Rücken war von dunklen Vierecken übersät, und nicht genug damit, sogar seine Beine waren gefleckt, als kletterten dunkelgrüne Frösche an zwei jungen Palmstämmen empor. Nun gab es für mich keine Zweifel mehr. Der Kerl musste ein gräulicher Wilder sein, den in der Südsee ein Walfänger an Bord genommen hatte und der jetzt in unserem christlichen Land ausgeladen worden war. Mich schauderte bei diesem Gedanken. Und dazu handelte er mit Köpfen!

Vielleicht sogar mit Köpfen seiner leiblichen Brüder! Womöglich interessierte er sich auch für meinen? Herrgott im Himmel, wenn ich nur einen Blick auf diesen Tomahawk warf!

 

Doch mir blieb keine Zeit, weiteren Gedanken über meinen Stubengenossen nachzuhängen, denn jetzt ging ein Theater los, das mich faszinierte und gleichzeitig überzeugte, dass der Wilde zweifelsohne ein Heide sein musste. Er nahm seine schwere Kapuzenjacke vom Stuhl, kramte in den Taschen und zog schließlich ein komisch missgestaltetes Figürchen mit einem Buckel heraus, das die Farbe eines drei Tage alten Kongobabys hatte. Wegen des einbalsamierten Kopfes hielt ich diesen Puppenzwerg zuerst für einen auf die gleiche Weise konservierten Säugling. Als ich aber sah, dass das Ding wie Ebenholz schimmerte, schloss ich, es müsse wohl ein Götzenbild aus Holz sein, und das war es tatsächlich. Nun trat der Wilde an den leeren Kamin, schob den tapezierten Schirm beiseite und stellte sein buckliges kleines Götzenbild zwischen den beiden Kaminböcken auf. Die Ziegelsteine der Kaminwände waren verrußt und bildeten den passenden Schrein für den schwarzen Götzen.

 

Ich schaute wie hypnotisiert auf das mir halb verborgene Götzenbild, um zu sehen — ganz geheuer fühlte ich mich nicht dabei —, was noch kommen würde. Erst nahm er aus seiner Kapuzenjacke zwei Hand voll Sägespäne, die er sorgsam vor den Götzen hinstreute, dann legte er ein Stück Schiffszwieback obenauf und hielt die Kerze an die Späne. Als das Opferfeuer aufflackerte, griff er immer wieder blitzschnell in die Flamme, zog die Hand noch schneller zurück — offenbar hatte er sich die Finger ziemlich versengt —, bis er schließlich das Stück Zwieback zu fassen bekam. Nachdem er Glut und Asche weggeblasen hatte, brachte er den Zwieback dem kleinen Neger als Opfergabe dar. Aber das winzige Teufelchen schien nicht das geringste Interesse an dieser trockenen Mahlzeit zu haben. Es bewegte nicht einmal die Lippen. Diesen ganzen seltsamen Hokuspokus begleitete der Opfernde mit eigenartigen Kehllauten. Er summte irgendeinen heidnischen Singsang, wobei sein Gesicht unnatürlich zuckte. Als er schließlich das Feuer ausgeblasen hatte, packte er seinen Götzen höchst unzeremoniell beim Schlafittchen und steckte ihn gleichgültig in die Jacke.

 

Dieser ganze Zauber beunruhigte mich nur noch mehr. Da ich merkte, dass er Anstalten machte, zu mir ins Bett zu steigen, hielt ich es für die allerhöchste Zeit, etwas zu unternehmen, und zwar noch ehe er das Licht ausblies.

 

Doch während ich noch überlegte, was ich sagen sollte, nahm er das einem Tomahawk ähnliche Gebilde vom Tisch, untersuchte flüchtig das eine Ende, hielt es an die Flamme, wobei er den Stiel zum Mund führte und bald Wolken von Tabaksqualm in die Luft blies. Im nächsten Augenblick war das Licht aus und mit seinem Tomahawk zwischen den Zähnen sprang dieser Menschenfresser zu mir ins Bett. Ich schrie auf, und mit einem verwunderten Grunzen begann er, nach mir zu tasten. Was ich gestammelt habe, weiß ich nicht. Jedenfalls rollte ich mich von ihm weg zur Wand und beschwor ihn, wer oder was immer er auch sein mochte, liegen zu bleiben, mich aufstehen und das Licht wieder anzünden zu lassen. Die Kehllaute, mit denen er reagierte, machten mir klar, dass er mich nicht verstanden hatte.

 

»Werrr —Teufel du?«, sagte er schließlich. »Du nicht sagen — verrdammerrr — ich dirrr machen kaputt.« Dabei fuchtelte er mit dem qualmenden Tomahawk im Dunkeln um mich herum.

»Herr Wirt, um Himmels willen, Peter Sarg!«, brüllte ich. »Wirt! Hilfe! Sarg! Engel Gottes! Hilfe!«

»Du sagen, werrr du sein, ich dirrr sonst machen kaputt!«, knurrte der Kannibale wieder, während mir bei dem widerlichen Gefuchtel die heiße Tabaksasche ins Gesicht stob. Ich fürchtete schon, mein Hemd würde Feuer fangen. Doch dem Himmel sei Dank, in diesem Augenblick kam der Wirt, eine Kerze in der Hand, zur Kammertür herein. Mit einem Satz war ich aus dem Bett.

»Warum denn diese Angst?«, sagte er und grinste. »Queequeg hier krümmt Ihnen doch kein Haar.«

»Lassen Sie doch das blöde Grinsen!«, brüllte ich ihn an. »Warum haben Sie mir denn nicht gesagt, dass dieser Teufel von einem Harpunier ein Kannibale ist?«

»Ich dachte, das wissen Sie längst. Habe ich Ihnen denn nicht erzählt, dass er in der Stadt mit Köpfen hausieren geht? Aber jetzt zieht eure Flossen ein und schlaft! Und hör mal, Queequeg, du mich kennen und ich dich kennen. Der Mann hier bei dir schlafen, du verstehen?«

 

»Ich dirrr verstehen«, grunzte Queequeg, setzte sich im Bett auf und paffte an seiner Pfeife. »Du in Bett einsteigen«, fügte er hinzu, wobei er mit dem Pfeifenstiel winkte und einladend die Decke zurückschlug. Das wirkte nicht nur höflich, sondern geradezu liebenswürdig. Einen Augenblick zögerte ich noch und schaute ihn mir genauer an. Trotz all seiner Tätowierungen war er eigentlich ein recht sauberer, nett aussehender Menschenfresser, stellte ich schließlich fest. Was habe ich da für eine blöde Szene gemacht, dachte ich mir, der Bursche ist ein Mensch genau wie ich und hatte schließlich ebenso viel Grund, vor mir Angst zu haben.

 

»Wirt«, sagte ich, »er soll seinen Tomahawk ausmachen oder seine Pfeife oder was das für ein Ding ist. Kurz, er soll das Rauchen lassen, dann lege ich mich zu ihm. Aber die Raucherei im selben Bett mit mir kann ich gar nicht leiden. Ist auch gefährlich.«