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Philipp Baar

Philipp Baar wurde im Ruhrgebiet geboren, 10484 Jahre nachdem der Maya-Kalender begann und anderthalb Wochen bevor Jorge Luis Borges starb.

In Bochum lernte er lesen und schreiben, was er später dann auch studierte.

Er brachte Flüchtlingen die deutsche Sprache bei, ließ sich ihre Geschichten erzählen und daraus entstand das erste Buch: „Flüchtlinge unterwegs nach Europa“. Es folgten ein in paar Wanderjahre, die erste Indienreise, dann sein zweites Buch: „Der dreibeinige Hund lacht“.

Hin und wieder arbeitet Philipp Baar auch als freier Journalist.

Er hat keinen Hund und auch keine Katze.



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Philipp Baar

Der dreibeinige Hund lacht





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Philipp Baar: „Der dreibeinige Hund lacht“

1. Auflage, Mai 2019, Periplaneta Berlin, Edition Subkultur

© 2019 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe

Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin

www.periplaneta.com

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Die Handlung und alle handelnden Personen sind erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen oder Ereignissen wäre rein zufällig.

Projektleitung & Korrektur: Marion Alexa Müller

Satz & Layout: Thomas Manegold

print ISBN: 978-3-943412-47-5

epub ISBN: 978-3-943412-48-2

Teil 1

Geier


"There was nowhere to go but everywhere, so just keep on rolling under the stars."

Jack Kerouac

Ankunft nach der Flucht

Fuck. Hier ist Ende der Geschichte. Touchdown in Mumbai.

Indien: das Land meiner Kindheitsträume, das Land aus Kiplings Romanen.

Ich erwache aus rumgetränkten Träumen und registriere zuerst die noch nicht erloschenen Anschnallzeichen und dann meinen Brummschädel. Die Aspirin sind in meinem Handgepäck im Fach über dem Sitz.

„Bitte bleiben Sie sitzen, bis die Anschnallzeichen erloschen sind.“

Fuck. Fucking shit. Ich habs versaut. Also jetzt nicht das mit den Aspirin. Nein, ich habs versaut, weil ich frei sein wollte.

Frei, um was genau zu tun? Reisen? Sex? Drogen? – Ich kann konsumieren, was ich will, fliegen, wohin ich will und schlafen, mit wem ich will, aber die große Freiheit ist so traurig und blass wie das Gelb des kleinen Hyundai, der mich zum Hotel bringen soll.

Der Fahrer heißt Gupta, trägt Schnauzbart und ist dermaßen gut drauf, dass es mir sofort zu viel wird. Er stellt in einer Tour Fragen:

„Wie heißt du?“

„Woher kommst du?“

„Zum ersten Mal in Indien?“

„Wie findest du Michael Schumacher?“

„Lebt Adolf Hitler noch?“

Das alles noch bevor wir das Flughafengelände verlassen haben. Dann rein in die Stadt: Autos, Rikschas, Mopeds, Fahrräder, Handkarren, Fußgänger, Hunde, Katzen, Ziegen, heilige Kühe. Guptas Fragen werden intimer:

„Hast du eine Freundin?“

„Stehst du auf Jungs?“

Ich frage mich, was das soll, dass der erste Inder, den ich treffe, mit mir zu flirten beginnt. Draußen jetzt Blechhütten am Wegesrand. Slum. Alles ist brechend voll. Alles passiert zur gleichen Zeit: Jemand verkauft irgendwelche Backwaren, jemand anders Tee. Schulkinder in Uniformen rennen vor dem Taxi her. Ein Mann rasiert sich. Eine Frau wäscht bunte Kleider über einem Eimer. Eine Kuh frisst Müll. Und alle hupen, hupen, hupen. Mumbais Hupkonzert hört niemals auf. Kein Warnsignal, sondern einfach die ständige Ankündigung: „Hier komme ich.“

Die Häuser werden massiver, höher, die Straßen nicht weniger voll, aber die Leute sind besser angezogen, als wir die Halbinsel erreichen, auf der das Zentrum von Mumbai liegt. Gupta kommt endlich zu einer Frage, die mich interessiert: „Rauchst du gerne Haschisch?“

Ich bejahe wahrheitsgemäß. Er fummelt im Handschuhfach herum und bringt einen zerknitterten Joint hervor, den er mir mit einem seltsamen Wackeln seines Kopfes reicht.

Ich zünde ihn an. Er schmeckt so halbwegs nach Gras, aber was habe ich erwartet? Mumbai ist nicht Amsterdam.

Hütten wechseln sich mit Palästen ab, dann erreichen wir den Bahnhof Masjid Bunder, in dessen Umkreis mein Hotel liegt. Dort halten Züge, die den Norden der Stadt mit dem südlichen Zipfel der Halbinsel verbinden.

Die Gegend ist selbst für Mumbais Verhältnisse noch überfüllt, denn an den Bahnhof schließt sich ein großes Basarviertel an. Zwischen bröckelnden Fassaden und Verkehrschaos drücken sich die Stände der Händler. Es gibt alles: Schuhe, Saris, Shirts, Hemden, Burkas, Tücher, Teppiche, Uhren, Schmuck, Gewürze, Tee, Zigaretten, Kosmetik. Jede Branche hat ihren eigenen Bereich, und jeder Bereich, jede Straße, jede Gasse platzt aus allen Nähten. Allein die Edelmetall- und Edelsteinverkäufer setzen hier täglich mehrere Millionen indische Rupien um. Geteilt durch siebzig sind das immer noch eine Menge Euros.

Mein Hotel liegt in der Gasse der Drogeristen. Zwischen Waschmittel, Shampoo und Seife finde ich einen schmalen Eingang, der mich auf eine noch schmalere, dafür aber ex­trem steile Treppe führt. An deren Ende wartet ein Aufzug, so ein altes Ding mit einem Metallgitter als Tür. Ich fahre in den fünften Stock und stehe vor der Rezeption. Neben dem winzigen Tresen pennt ein Inder in einem Korbsessel. Er trägt eine schwarze Hose, ein weißes Hemd, einen Schnauzbart.

Ich mache mich bemerkbar, er grinst, macht eine Kreisbewegung mit dem Kopf und begibt sich gähnend hinter die Theke, von wo er meinen Ausweis grapscht, um sich unendlich lange damit zu beschäftigten, meine Daten in ein dickes Buch zu übertragen. Er ruft etwas in einer Sprache, die ich für Hindi halte, und ein weiterer junger Typ erscheint, nimmt eine Spraydose aus einem Fach und verschwindet wieder.

„Okeee, Mister Jan. Me name Mandjou, Sir“, werde ich endlich begrüßt.

„Hallo.“

„Sir, room ready five minutes only, Sir“, sagt er kopfwackelnd.

Ich warte ein paar Minuten. Der Typ mit der Spraydose kommt zurück.

„Sir, room ready now, Sir“, freut sich Mandjou.

Ich folge ihm durch einen verzweigten Flur bis zu einer offenen Tür. Der Raum dahinter ist auf den ersten Blick sauber, aber es riecht verdammt stark nach Raumspray. Ist das ein Willkommensgruß? Oder der Versuch, etwas zu vertuschen?

Ich danke Mandjou und dann sagt er etwas, das mich ihn mögen lässt: „Sir, you smoke here, Sir.“

Eine simple Aufmerksamkeit, ein goldener Hinweis. Und die Hinweise werden immer besser, denn jetzt zeigt Mandjou mir die Dachterrasse.

Auf der rauche ich eine Zigarette und sauge ein bisschen Stadt ein. Über mir kreisen riesige Greifvögel, die ich für Adler halte. Unter mir liegt der Basar, bestimmt einer der betriebsamsten Orte der Welt. Sprachfetzen, so zahlreich wie die Gerüche, ziehen zu mir herauf. Ein Muezzin ruft, dazwischen Glockenläuten und Musik.

Indien. Endlich Indien.

Im Gepäck

Die ersten Stunden waren das Schlimmste. Danach wurde es leichter. Weil es nicht mehr schlimmer werden konnte. Was machst du in so einer Situation? Nachdem deine Freundin dir erklärt hat, dass sie sich in einen anderen verliebt hat, du ihr daraufhin einen Antrag machst als völlig bescheuerten Versuch, dich und sie zu retten, sie aber meint, sie müsse nachdenken, und dir einen Tag später mitteilt, dass sie auszieht.

Für solche Situationen hat Gott Betäubungsmittel erfunden. Drei Joints und zwei Bier versetzten mich immerhin in die Lage, ein paar Freunde anzurufen. Sie sagten:

„Wird schon.“

„Andere Mütter haben auch schöne Töchter.“

„Da kann man nichts machen.“

„Wenn du reden willst, …“

„Du musst mindestens mit zehn anderen schlafen, dann kommst du über sie hinweg.“

Na, dann wollen wir mal. Dabei kann man ja nur lernen. Wenn du viele Jahre lang nur mit demselben Mädchen im Bett warst, hast du wahrscheinlich in Sachen Erotik ein bisschen was verpasst. Das macht am Anfang des Single-Seins erst mal ein bisschen Angst. Bist du überhaupt gut darin? Bringst du es überhaupt? Außerdem hatten mir die Medien ein etwas unrealistisches Bild von Beziehungen vermittelt: Liebe wie bei Disney, Sex wie im Porno.

Aber ich lernte schnell. Erst neulich: Man will einfach nur einen ruhigen Abend verbringen und ist gerade mal angetrunken, als man sich auch schon mit einer bis vor wenigen Stunden noch völlig fremden Frau im Bett wiederfindet und verzweifelt einen hochzubekommen versucht, obwohl man anscheinend doch zu viel gesoffen hat.

Schon mal als Mann einen Orgasmus simuliert? Nicht? Welcome to my world.

Der nächste Morgen. Verkatert. Kaffee und eine Zigarette, die noch nicht so richtig schmecken wollte. Sie hatte eine Zahnbürste dabei und verschwand im Bad. Ihre Standardausrüstung? Hatte sie alles geplant? Muss ich mich benutzt fühlen?

Der letzte Kuss schmeckte nach Menthol, dann war sie weg. Wir werden uns nicht wiedersehen. Das will sie nicht, das will ich nicht. Einvernehmliche Einmaligkeit.

Es war kein Vergleich zu ihr, das war klar. Aber diesem Vergleich hielt bisher keine stand. Trotzdem, das ist mein Problem mit One-Night-Stands: Ich verliebe mich jedes Mal ein kleines bisschen und bezahle Sex mit ein wenig Liebeskummer light. Und das fühlt sich dann schon wieder ganz gut an, wenn andere Frauen mir so zusetzen können.

Unter der Dusche meldet sich mein Magen. Das Stechen ist wieder da. Oder ist es ein Drücken? Was auch immer, es liegt vermutlich am Alkohol. Seit sie mich verlassen hat, hat das Trinken überhandgenommen. Aber Trinken gehört zum Verarbeitungsprozess. Indien auch, obwohl das natürlich keine gute Prognose für Magen und Darm ist. Nun, da werden sie irgendwie durch müssen.

Die Nebenwirkungen meines gebrochenen Herzens machen mich untauglich für ein Leben treu nach Vorschrift: Job, Auto, Haus, Kinder. Hände auf den Tisch beim Essen, bei Rot anhalten, wählen gehen. Kann ich alles nicht, so sehr ich es auch versuche. Der Ärger, die Drogen, die Mädchen – es ist, als fühlten sie sich neuerdings von mir angezogen.

„Lenken Sie sich ab“, sagte meine Therapeutin – ah ja. Was bei mir vielleicht gegen Liebeskummer helfe: Arbeit, Bücher, Drogen.

Arbeit fällt weg. Ich habe meinen Job gekündigt und stehe allein und ohne Verpflichtungen über den Dächern Mumbais. Nur mit Mühe konnte ich mich in Deutschland noch jeden Morgen in die Bahn und damit auf den Weg zur Arbeit zwingen.

Meine finanzielle Situation ist nach der Kündigung natürlich katastrophal. Ich habe zwar ein paar Reserven, aber das Hotel kostet mich eine Menge Geld, dazu werden Essen und Trinken, Partys und Haschisch kommen. Kreditkartenschulden winken. Auf Wiedersehen, Dispokredit. Hallo, Schufa-Eintrag.

Trotzdem, ich musste raus. Weg. Von ihr. Vom Alltag, den Sorgen, dem ganzen Tretmühlen-Scheiß. Weg vom Weihnachtsmarkt bei schlechtem Wetter und rein in die Dämmerung der goldenen Tempel. In Deutschland zu bleiben, hätte bedeutet, weiter dieselben Sonnenaufgänge wie sie zu sehen, im selben Regen wie sie zu stehen, denselben Lebens- und Tagesrhythmus wie sie zu haben. Das ging nicht, also musste ich weg.

Das Tor nach Indien

Mumbai lockt unter mir. Der Wind trägt Chaiduft herauf, die Aromen des Orients vermischt mit Abgasen.

Ich steige vom Dach. Im Treppenhaus riecht es nach Haschisch. An der Rezeption finde ich einen weißen Mann, der die Arme voller Bändchen und den Kopf voll geflochtener Rasta-Zöpfe hat. Alles an ihm schreit: Kiffer.

Ich frage ihn nach seinem Namen und einer guten Bar für ein paar Biere.

Der Mann heißt Adam, behauptet, der beste Kneipenkenner von Bombay zu sein, will mich sofort begleiten und erzählt mir seine Geschichte im Taxi unterwegs.

Adam ist Engländer aus gutem Hause (deswegen sagt er auch „Bombay“, weil das so schön altmodisch klingt) und ließ sich vor einer Ewigkeit hier nieder, weil er sich in Goa in eine Inderin verliebt hatte. Die beiden heirateten und kauften ein Stockwerk im damals neuen Hochhaus in Mumbai, um das Hotel zu eröffnen. Die Frau ist lange weg, das Geld auch; Adam, das Hochhaus und das Hotel sind noch da.

Er ist mir auf Anhieb sympathisch. Er hat Haschisch dabei; die Chemie stimmt und wir kommen ins Gespräch: Reisen, Liebe, Drogen.

„Wer kümmert sich um das Hotel, während wir weg sind?“

„Mandjou“, grinst er. „Man glaubt es nicht, weil er so einen Blödsinn redet, aber er ist der Beste, den ich habe. Absolut vertrauenswürdig, zu hundert Prozent verlässlich, pünktlich, akkurat.“

„Wollte ich auch gar nicht bezweifeln.“

„Deutscher kann ein Inder nicht werden“, spottet der Brite, „und so jemand ist in dieser Stadt fast unbezahlbar.“

Wir steigen am südlichsten Zipfel der Halbinsel aus, direkt vor dem Gateway of India-Monument, jenem Triumphbogen, den die Engländer an ihren Landungspunkt gesetzt haben. Touristen aus aller Herren Länder wimmeln drumherum wie die Möwen um einen Fischkutter weiter draußen auf dem Wasser. Wir schlendern durch die Straßen, weg vom Meer. Die Bürgersteige sind auch hier voll von Ständen der Händler. Im Unterschied zur Gegend um mein Hotel geht es hier aber um Touristen. Das bedeutet, dass es zwar genauso viele falsche Rolex, Levi‘s und Ray-Bans gibt, aber keine Saris, Niqabs und Kurtas, dafür mehr Nippes, Postkarten und Sandelholzfiguren.

Adam wird von den Händlern so ziemlich in Ruhe gelassen. Man kennt ihn. Hin und wieder schüttelt er Hände, aber niemand will uns etwas verkaufen.

Die Sonne versinkt hinter den Schiffen in der Bucht, und ich erfahre, wie es ist, in Indien ein Unternehmen zu führen. Manchmal mache es ihn wahnsinnig, erklärt Adam, aber am Ende liebe er die Stadt und die Leute. Sogar mehr, als er seine Ex geliebt habe.

Parallel zum Wasser, etwas hinter dem berühmten Taj Mahal Palace Hotel, verläuft die wahrscheinlich touristischste Straße Mumbais. Café reiht sich an Bar, reiht sich an Restaurant, reiht sich an Hotel, reiht sich an Souvenirstand. Aber es ist nicht so schlimm wie in anderen Städten Asiens, denn Mumbai ist dafür einfach zu groß, zu international. Woanders sucht man die Einheimischen zwischen den Touristen, hier aber ist fast niemand einheimisch. Auch die Inder um mich herum sind meistens zugezogen, um in der Achtundzwanzig-Millionen-Metropole Arbeit zu finden. Außerdem kommen die echten Touristen aus aller Welt, sodass man nur wenige Weiße sieht.

Das Taj Mahal Hotel selbst ist ein Mix aus indischer und kolonialer Architektur, und seine Entstehungsgeschichte ist durchaus spektakulär:

Es war einmal ein Parse, so erzählt Adam, also ein Anhänger der von Zarathustra begründeten Religion, der aus dem fernen Persien nach Bombay kam. Der Parse hatte viel Geld, aber seine Haut war trotzdem zu braun für die englischen Kolonialherren. Als er das beste Hotel an Bombays Küste betrat und um ein Zimmer bat, wurde er von den englischen Herren ausgelacht. Ein Farbiger, der in einem weißen Hotel schlafen möchte? Undenkbar. God save the Queen!

Die Engländer schmissen den armen Kerl aus ihrem schicken Hotel. Das wollte der stolze Parse nicht auf sich sitzen lassen und beschloss, ein besseres Hotel zu bauen. Größer, schöner und royaler als das britische. Also ließ er sein Traumhotel errichten und benannte es nach dem schönsten Bauwerk Indiens, vielleicht der ganzen Welt: Taj Mahal.

Das Hotel ist noch heute die beste Adresse in der Stadt. Die Zimmerpreise sind horrend, selbst für europäische Geldbeutel, aber sie lassen dich, auch wenn du nicht dort übernachtest, selbst in kurzen Hosen an der Bar einen sündhaft teuren Drink nehmen und dabei ein bisschen Maharadschadunst einsaugen.

Hinter dem Prachtbau, nur eine Straße weiter inmitten der Massen, steuern wir Leopolds Café an. Die Legende dieses Ladens ist nicht so alt und königlich wie die des Taj Mahal Hotels, trotzdem nehmen wir unsere Kingfisher-Biere hier im Schatten großer Erinnerungen. 1871 eröffnet, war das Café schon immer ein Treffpunkt für Reisende und daher 2008 unter anderem Ziel der Terroranschläge in Mumbai. Die Einschusslöcher zieren noch heute die Wände.

Durch geschwungene Bögen betreten wir den Restaurantbereich im Erdgeschoss, wo hungrige Backpacker von zackigen Kellnern versorgt werden. Hinten führt eine Treppe nach oben in den Barbereich, wo flüssige Nahrung für die Seele serviert wird.

Adam und ich sitzen oben. Im Barbereich. Wir trinken; er redet, ich höre zu. Vom für meinen deutschen Gaumen etwas zu laffen Kingfisher-Bier bin ich auf Rum umgestiegen. Old Monk, mit seiner schokoladigen Note der ganze Stolz indischer Schnapsbrennerei und der am dritthäufigsten verkaufte Rum weltweit, obwohl sie ihn kaum exportieren.

Adams Lebensgeschichte ist insgesamt eher tragisch, aber er erzählt sie mit viel Humor. Über die Liebe zur Exfrau ist er schon lange hinweg, über die Liebe zum Subkontinent noch nicht, und er bezweifelt, dass das jemals passieren wird. Indien lässt nicht los.

Adams Lebens-, Liebens-, Leidensgeschichte verlangt nach einer Revanche in Form meiner eigenen, aber das bringe ich im Moment noch nicht. Zu früh. Um also nicht in der Bar wegen meiner Vergangenheit zusammenzubrechen, speise ich ihn mit der absoluten Kurzfassung ab. Er wird Geduld haben müssen. Kommt Zeit, kommen Details. Und ich bin schon besser dran als vor ein paar Wochen. Für heute lenke ich aber ab, frage ihn nach den riesigen Vögeln, die über der Stadt ihre Runden machen.

„Geier“, meint Adam.

„So viele? Über einer Großstadt?“

„Nicht einer Großstadt. Bombay.“

Ich ziehe die Brauen hoch.

„Die Geier sind hier wegen der Parsen“, erklärt Adam.

„Parsen?“

„Zarathustra und so.“

Das nicke ich ab. Sagt mir was. Nietzsche und so.

„Davon leben einige tausend in Bombay, und wenn ein Parse stirbt, lassen sie seine Leiche von den Geiern fressen.“

„Was?!“

„Ja, ja, so will es ihr Glaube. Der Körper des Toten gelangt auf einen Dachma, einen Turm des Schweigens, auf dessen Spitze er der Sonne und den Vögeln überlassen wird.“

Ich mache ein entsetztes Gesicht.

„Was willst du? Das ist eine effektive, saubere und elegante Form der Bestattung“, findet Adam.

Leider gehen den Parsen in Mumbai in den letzten Jahren die Geier aus. Zu viel Smog, das mögen selbst die Aasfresser nicht.

Mitten in der Nacht sitze ich wieder auf der Dachterrasse, diesmal betrunken und allein einen Joint rauchend. Armer einsamer Cowboy.

Adam muss sich ums Hotel kümmern. Mandjou ist überlastet. Zu viele Neuankömmlinge.

Das Magengeschwür nutzt die Gunst des Moments und versetzt mir ein paar Tritte. Tritte? Vielleicht ist es gar kein Magengeschwür, sondern der Geist unseres nie geborenen Kindes. Aber da muss es sich schon an sie wenden, ich wäre sofort bereit, mein altes Leben zurückzunehmen.

Allein, weit weg, ziehen die Gedanken nach Hause.

Zu Hause war immer da, wo sie war. Ich hing nie an irgendwelchen Wohnungen oder Orten. Zu Hause war der Platz, an dem sie abends neben mir eingeschlafen ist. Diesen Platz gibt es jetzt nicht mehr. Jetzt gibt es nichts, wohin ich zurück könnte. Nichts, was auf mich warten würde.

Dort vorne sehe ich nur einen dunklen Horizont. Der mir heute keine Angst mehr macht. Du willst die totale Freiheit? Dann bezahle sie mit Abschied, Einsamkeit und Vermissen. Vielleicht lichten sich die Nebelschwaden, wenn ich die Straße entlanggehe.

Bin ich bereit dafür? Aber für was genau? Wohin als Nächstes? Quo vadis, stranger in the night?

Morgen ist einfach ein weiterer Tag, an dem ich hoffen kann, dass es mir irgendwann wieder besser geht. Noch habe ich Geld, dazu unendlich Zeit, keine Verpflichtungen, keine Verantwortung. Und nichts zu verlieren.

Und hier erinnert mich wenigstens nichts an mein altes Leben. Indien ist die Brust, an die ich mein Gesicht drücke, um zu trauern, um meine alte Welt nicht mehr sehen zu müssen. Am indischen Busen ist es warm und beruhigend, hier will ich bleiben, hier will ich heilen. Adam versorgt mich mit Medizin für den Geist, die Straßen Mumbais verabreichen mir Medizin für die Seele mit Spiritualität an jeder Ecke. An den Stoßstangen der Autos, an Götterschreinen, denen in jeder Hütte und jedem Palast Opfer gebracht werden. Auf den Fassaden der knallbunten Tempel und im goldenen Dämmerlicht dahinter.