Cover

Michael Craft

Wahlgeheimnisse

Mark Manning ermittelt


Ins Deutsche übertragen von Gerold Hens

Edel eBooks

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel "Name Games"

Edel eBooks
Ein Verlag der Edel Germany GmbH

Copyright dieser Ausgabe © 2013 Edel Germany GmbH
Neumühlen 17, 22763 Hamburg
www.edel.com

Copyright © 2000 by Michael Craft

Covergestaltung: Agentur bürosüd°, München

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-95530-258-0

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1

 

 

 

›KÖNIGLICHER‹ BESUCH GEPLANT

Ladeninhaberin kündigt großes Ereignis
in ihrer Welt der Miniaturen an

 

von GLEE SAVAGE
Gesellschaftsredakteurin, Dumont Daily Register

 

14. September, DUMONT, WI – Grace Lord, Inhaberin von The Nook, eines Ladens, der auf Miniaturmöbel und Zubehör für Puppenhäuser spezialisiert ist, kündigte gestern an, dass in ihrem Laden die alljährliche Bezirksausstellung der Midwest Miniatures Society stattfinden wird.

Die Ausstellung wird am kommenden Wochenende, Samstag, 23. September, in einem großen, leerstehenden Ladengeschäft in der Tyner Avenue neben The Nook eröffnet. Über 100 anerkannte Kunsthandwerker und Aussteller werden Tausende von Enthusiasten weit über Wisconsin hinaus anziehen. Pläne für die Ausstellung bestehen seit Monaten, berichtete Lord (64) dem Register, aber erst in der letzten Woche erfuhr sie, dass Mr. Carrol Cantrell, der regieren de ›König der Miniaturen‹ überraschend ihre Einladung annahm, als Preisrichter beim Hauptereignis der Ausstellung, einem Miniaturzimmer-Wettbewerb, zu fungieren.

»Miniaturzimmer«, erklärte sie, »sind das Lieblingsthema der meisten ernsthaften Kunsthandwerker und Sammler. Ein Zimmer wird, ohne die vierte Wand, exakt in allen Einzelheiten aufgebaut, so dass es einem Kulissenmodell ähnelt.« Sie fügte hinzu, dass diese Zimmer normalerweise im Maßstab 1:12 gebaut werden und ein bestimmtes Thema oder einen bestimmten Stil zum Gegenstand haben. Da menschliche Figuren nur selten verwendet werden, besitzt das fertige Miniaturzimmer nur wenig Ähnlichkeit mit der üblichen Vorstellung eines ›Puppenhauses‹.

Carrol Cantrell (50), der von Lord als ›ein sehr großer Mann in einer sehr kleinen Welt‹ beschrieben wird, ist Gründer der Hall of Miniatures, eines großen Museums und Kaufhauses in Los Angeles, das als Mekka der Miniaturenthusiasten gilt. »Alle, die auf diesem Gebiet tätig sind«, fügte Lord hinzu, »nennen ihn einfach Carrol, ein Name, der ebenso verstanden wird wie Barbra oder Jackie.«

Grace Lord gesteht in aller Bescheidenheit, dass ihr mit dem Einverständnis von Cantrell, bei der Bezirksausstellung in The Nook als Preisrichter tätig zu werden, ein großer geschäftlicher Coup gelungen sei. »Ein glanzvolles Wochenende lang«, erklärte sie der Reporterin mit wehmütigem Seufzen, »wird Dumont, Wisconsin, der Mittelpunkt des Universums sein – zumindest innerhalb unserer kleinen Welt.«

Donnerstag, 14. September

Was besagt ein Name?

Jeder Journalist weiß, dass es in seinem Geschäft zunächst gilt, die Fakten festzustellen – das Wer, Was, Wo, Wann, Warum und Wie. Das erste, das Wer, der Name des Betroffenen, führt im allgemeinen die Geschichte an. Der Rest dient nur noch zur Erklärung, wieso für die Person Druckerschwärze verschwendet wird. Eine grobe Vereinfachung? Mag sein. Tatsache aber bleibt, dass fast jede Geschichte von Personen handelt. Und Personen lernen wir als erstes durch ihre Namen kennen.

Mein Name ist Mark Manning. Ich bin zweiundvierzig, Schreiber von Beruf, der im letzten Spätjahr seine Stellung beim Chicago Journal aufgegeben hat und nach Norden gezogen ist, um die Leitung des Dumont Daily Register zu übernehmen. Mein Umzug war von vielen Freunden in der Stadt mit Missfallen aufgenommen worden. Sie beharrten darauf, mein Talent als Enthüllungsreporter wäre ›da oben in der Pampa‹ verschwendet. Ich hatte beschlossen, mir im mittleren Wisconsin eine neue Karriere aufzubauen, weil hier meine familiären Wurzeln liegen, und zwar in einer sauberen, wohlhabenden und im allgemeinen ruhigen Kleinstadt namens Dumont (der Ort hat keinerlei Ähnlichkeit mit einer Pampa). Eine beträchtliche Erbschaft von Seiten der Familie meiner Mutter hatte mir erlaubt, den Register zu kaufen. Ich fungiere nunmehr als sein Verleger und Herausgeber.

Meine Gesellschaftsredakteurin ist eine Frau namens Glee Savage – na, ist das ein Name? An einem Donnerstagmorgen Mitte September brachte sie auf unserer ›Trendseite‹ einen Artikel, in dem berichtet wurde, dass eine Ladenbesitzerin sich der Dienste eines gewissen Carrol Cantrell als Preisrichter einer Miniaturenausstellung, die demnächst eröffnet werden würde, versichert hatte. Obwohl ich Grace Lord nie kennen gelernt hatte, erkannte ich den Familiennamen als einen, der in Dumont großes Ansehen besaß. Von Carrol Cantrell hatte ich trotz seines Ruhms, den er in der Puppenhaus-Demimonde genoss, noch nie gehört; und eigentlich war das ganze Getue um winzige Zimmer in Schuhschachtelgröße bisher völlig an mir vorbei gegangen. Als ich mit Glee in einer Ecke der Redaktion plauderte, beglückwünschte ich sie zu der verrückten Story, konnte mir eine Frage aber doch nicht verkneifen: »Sind das eigentlich alles Spinner oder nur Exzentriker?«

»Weder, noch!«, versicherte sie mir. Sie verzog die vollen roten Lippen, als sei sie über meine Bemerkung beleidigt. Sie war ungefähr zehn Jahre älter als ich und schaute mir jetzt über die Gläser ihrer Halbbrille ins Gesicht. »Bei der Miniwelt«, belehrte sie mich, »handelt es sich um einen ernsthaften Geschäftszweig, nicht nur um irgendein albernes Hobby.« Sie grinste. »Der ›König‹ kommt heute Morgen an und wird die Woche über in Grace Lords Remise residieren. Sie hat mich zu einem Treffen mit ihm eingeladen – hört sich an, als sei er ein ziemlicher Sonderling, ein gutes Thema für einen Folgeartikel. Wieso kommen Sie nicht einfach mit?«

Da nicht viel zu tun war und sie meine Neugierde geweckt hatte, kam ich mit – ich fuhr sogar. Zweifellos würde mein dicker schwarzer BMW deutlich mehr Eindruck auf König Carrol schinden als Glees fuchsienroter Fünftürer. Wir machten uns also standesgemäß von den Büros des Register auf. Ich bog von der First Avenue, Dumonts Hauptstraße, ab, ließ die Innenstadt hinter mir und fuhr, die Wisconsin und die Vincennes Avenue überquerend, auf der Park Street bis zur Prairie Street. Dort, im wohl schönsten alten Wohnviertel der Stadt, wohne ich mit meiner inzwischen dreijährigen Beziehung Neil White und meinem Neffen Thad Quatrain.

»Hey Chef«, sagte Glee, die neben mir im Auto saß. »Vergessen Sie nicht, abzubiegen. Die Tyner Avenue ist die nächste.«

Mit quietschenden Bremsen rutschte ich auf die leere Kreuzung und entschuldigte mich für die rauhe Fahrweise. Ich war noch nie in dieser Straße gewesen, obwohl sie nur wenige Straßen von meinem Haus entfernt lag. Das erinnerte mich daran, dass mir die Stadt noch immer weitgehend unbekannt war, obgleich meine Familie in Dumont tief verwurzelt war. Ich fühlte mich noch nicht zu Hause.

Glee deutete mit dem Finger. »The Nook ist gleich hier vorne links. Grace Lords Wohnung ist nebenan.«

In dem Viertel mit viel Grün mischten sich hübsche, ältere Häuser mit ein paar wenigen adretten Läden, deren Markisen unter der milden Septembersonne Schatten auf den Gehsteig warfen. An Grace Lords Miniaturenladen, The Nook, hingen vom Dach bereits Transparente, die die Ausstellung der Midwest Miniatures Society ankündigten und den ›König der Miniaturen‹, Carrol Cantrell willkommen hießen. Neben dem Laden befand sich ein größerer, leerstehender Verkaufsraum, dessen Schaufenster von innen eingeschäumt waren, und dessen rote Backsteinfassade rostige Löcher von vor Urzeiten abgenommenen Schildern verunstalteten. Auf der anderen Seite des Ladens, ein gutes Stück von der Straße abgerückt, stand zwischen Bäumen herrschaftlich das Haus der Familie Lord – der wogende, ausgedehnte Rasen war gut viertausend Quadratmeter groß.

»Ist ja riesig«, sagte ich zu Glee, als wir uns dem Haus näherten, und bremste den Wagen ab.

»Das war früher ein Außenbezirk der Stadt«, erklärte Glee, die in ihrer riesigen flachen Reisetasche, die sie als Handtasche benutzt, nach etwas kramte. »Die Lords waren schon immer wohlhabend, und als ziemlich große Familie brauchten sie den Platz. Aber die ältere Generation ist inzwischen tot, und die anderen haben sich zerstreut, so dass Grace jetzt ganz alleine hier wohnt.« Glee winkte mit der Hand in Richtung Einfahrt. »Sie können ganz durchfahren, bis hinten zur Remise.«

Die ›Remise‹, die bald hinter dem Haupthaus zu sehen war, entpuppte sich als eine große, alte zweistöckige Garage, die wie eine ehemalige Scheune oder ein Stall aussah. Wie beim Haus selbst bestanden die Wände aus weißen Schindeln aber ohne die viktorianischen Verzierungen. Im Erdgeschoss gab es noch das Schiebetor der Scheune, das geschlossen war; der obere Stock unter einem traditionellen geschwungenen Dach machte den Eindruck einer hübsch renovierten Wohnung, deren Fenster Spitzengardinen zierten. Eine hölzerne Außentreppe – mit frisch grün gestrichenen Stufen und Geländer – führte an der Seite des Gebäudes zu einer überdachten Veranda. Auf den Treppenstufen standen Topfgeranien, die unter dem Verandageländer eine leuchtend rote Hecke bildeten.

Glee und ich stiegen aus und schlossen die Türen mit einem Doppelknall, der für einen Moment die Vögel im Geäst der Bäume verstummen ließ. Glee ging um das Auto herum zur Rückseite des Hauses. »Die Vordertür wird nie benutzt«, erklärte sie.

Bei der Anfahrt zum Haus hatte ich bemerkt, dass tatsächlich kein Weg von der Vordertür zur Straße führte. Dellen im Rasen ließen vermuten, dass früher ein Pfad aus Kopfsteinen vom Eingang zur Einfahrt geführt hatte, der im Lauf der Jahre vom Gras überwuchert worden war. Der Rasen hinter dem Haus hingegen wurde von sauber beschnittenen Backsteinpfaden durchschnitten. Einer führte von der Einfahrt zur Hintertür. Ein weiterer führte von der Tür zu den Stufen der Remise. Und noch einer verlief über den Rasen zum Hintereingang von The Nook und setzte sich weiter fort bis hinter das leerstehende Nebengebäude, in dem die Ausstellung stattfinden sollte, was darauf schließen ließ, dass beide Läden zum gleichen Grundstück gehörten.

Als Glee und ich die Stufen zur Rückseite des Hauses hinaufstapften, hörten wir von der oberen Veranda der Remise ein Juhuu. Ich drehte mich um und sah eine kleine, ältere Frau – vermutlich Grace Lord – die uns von der Ecke der Veranda hinter den Geranien und den tieferen Ästen der Bäume zuwinkte. »Gott sei Dank«, zwitscherte sie mit den Vögeln. »Ich hatte das Auto gehört und dachte schon, es sei Carrol. Ich brauche wohl kaum zu sagen, dass ich noch nicht fertig bin!« Sie lachte über sich. Sie trug ein ausgebleichtes Jeanshemd und hatte eine Art Turban um die Haare geschlungen. In der Hand hatte sie einen gelben Plastikeimer, der mit Lumpen, Gummihandschuhen und verschiedenen Sprühflaschen gefüllt war. Neben ihr stapelte sich Gerumpel, das sie aus der Gästewohnung geräumt hatte. Sie versuchte, alles auf einmal zusammenzuraffen, um es auf einmal die Treppe hinunterzuschaffen.

»Warten Sie!«, riefen wir ihr zu. Ich rannte ihr über den Pfad und die Treppe entgegen. »Wir helfen Ihnen«, bot ich an. »Seien Sie vorsichtig, Grace«, ermahnte Glee sie.

Grace stellte die Sachen ab und lachte außer Atem. »Ich schätze, ein bisschen Hilfe könnte ich gebrauchen.«

Als Glee und ich den Treppenabsatz erreicht hatten, blieb Glee kurz stehen. »Ich glaube, Sie kennen meinen Chef noch nicht – der neue Herausgeber des Register, Mark Manning.«

Ich erklomm die letzten Stufen und streckte die Hand aus. »Es ist mir ein Vergnügen, Miss Lord.« Ich betrat die Veranda, wo sie auf uns wartete, und stellte fest, dass sie mindestens einen Kopf kleiner war als ich, kaum größer als einsfünfzig.

Als ihr klar wurde, wer ich war, riss sie den Turban vom Kopf und wischte sich imaginären Schmutz von den Händen, bevor mir die Hand schüttelte. »Noch ein vornehmer Gast«, gluckste sie, »und ich sehe ganz verboten aus.«

»Keineswegs, Miss Lord«, versicherte ich ihr. Tatsächlich paßte ihr angenehmes Äußeres zu ihrer liebenswürdigen Art. Obwohl sie für die Hausarbeit Jeans trug, hatte sie offensichtlich am Morgen einige Zeit auf Pudern und Schminken verwendet, und die straffen Locken ihrer stahlgrauen Haare sahen aus wie frisch vom Friseur an der Ecke. Angesichts ihres bodenständigen, selbstironischen Humors, ihrer kleinen Statur und ihrer Tätigkeit als Puppenstubenverkäuferin fiel einem nur ein einziges Wort zur Beschreibung der Frau ein: lausbübisch. Sie bestätigte ihre leutselige Natur sofort. »Bitte, Mark, nennen Sie mich Grace. ›Miss Lord‹ hört sich eine Spur unpassend an in meinem Alter.« Und wieder lachte sie, um das Schreckgespenst der Altjüngferlichkeit zu verscheuchen.

Ich war von ihrem entwaffnenden Charme bezaubert. »Kommen Sie, ich helfe Ihnen«, sagte ich nur. Ich nahm so viel wie es ging von den Sachen auf, die sie aus der Remise bringen wollte. Ein Stapel Laken, ein Abfallkorb, ein gerahmtes Bild und eine Schachtel mit Trödel, den sie wohl aus Schreibtischschubladen geräumt hatte – Papierschnitzel, ein altes Telefonbuch, Bleistiftstummel, verbogene Büroklammern und einen staubigen Knäuel Gummiringe.

Glee streckte die Hand aus und erbot sich, die Putzsachen zu tragen. Zusammen mit der übergroßen Tasche mit den Tigerstreifen, die sie in der anderen Hand trug, ergänzte der gelbe Plastikeimer Glees sorgfältig zusammengestelltes, wenn nicht overstiltes, Ensemble auf absurde Weise. Gegen meinen Willen musste ich lachen, als sie uns auf der Treppe voranging und ihre Leopardenpumps auf den grüngestrichenen Stufen klackerten.

Grace fiel es nicht auf. »Ein Segen, dass Sie gerade jetzt gekommen sind. Carrol kann jede Minute eintreffen und ich bin noch nicht mit seinem Zimmer fertig«, jammerte sie. »Ich glaube nicht so recht, dass Carrol Cantrell, der König der Miniaturen, es besonders genieße würde, sich eine Woche lang den sentimentalen Krimskrams der Familie Lord anzuschauen«, fügte sie als Erklärung für den seltsamen Mischmasch, den ich schleppte, hinzu.

Ich warf einen Blick auf den Inhalt der Schachtel und dann auf das Foto, das ich trug. Das Bild stach mir ins Auge – und wie! –, und ich fummelte herum, um es in einem Winkel zu halten, aus dem ich es deutlicher sehen konnte. In dem kostbar verzierten Goldrahmen steckte ein altes Foto, die verblichene Aufnahme eines wunderschönen jungen Mannes, der Frisbee spielte, mit einem großen, gutmütigen Hund, einem Collie, der genau wie Lassie aussah. Das Foto sog mich in die Szene hinein, einen irgendwann in der Vergangenheit eingefrorenen Augenblick irgendwo unter Bäumen auf einem wogenden Rasen. Der Mann war vielleicht zwanzig – eigentlich ein erwachsener Junge – und sommerlich in abgeschnittene Jeans und T – Shirt gekleidet. Er tollte mit dem Hund umher, wobei er ein makelloses Lächeln zeigte und seinen makellosen Körper spannte.

»Da die meisten Aussteller noch einen Brotberuf haben, werden sie jetzt am Wochenende angehetzt kommen, um sich ihre Plätze zu sichern und Stände aufzustellen«, erzählte Grace gerade Glee, als wir am Fuß der Treppe ankamen, aber ich hatte an ihrem Gespräch jedes Interesse verloren. Grace spürte, wovon ich abgelenkt war. »Das sind Ward und Rascal.«

Ich blickte von dem Foto auf. »Wer ist Ward?«, fragte ich in der Annahme, mit dem letzten Namen sei der Hund gemeint.

»Mein Neffe«, antwortete sie stolz strahlend. Es war klar, dass sie ihn vergötterte – wer hätte das nicht getan? –, aber in ihrem Lächeln lag auch etwas Nachdenkliches, als würde das heitere Foto sie an glücklichere Tage erinnern. Sie war damals um einiges jünger gewesen, wurde mir klar, und vielleicht hatte die Realität ihrer vierundsechzig Jahre nicht das gehalten, was die Jugend versprochen hatte.

Und ich dachte über Ward nach. Wie alt war er wohl heute? Was machte er? »Ist Ward der Sohn … Ihrer Schwester?«, fragte ich. Ich wusste nicht einmal, ob Grace eine Schwester hatte – ich klopfte nur etwas auf den Busch.

»Nein, von meinem Bruder.« Sie brach ab und blickte über den weiten Hinterhof. »Wir haben seither ein oder zwei Bäume verloren, aber sonst hat sich nicht viel verändert.«

Ihrem Blick folgend, erkannte ich, dass der Schnappschuss genau hier aufgenommen worden war, einen Frisbeewurf von der Stelle entfernt, wo wir standen. Ich wollte noch mehr wissen, fürchtete aber, es könnte aufdringlich wirken, wenn ich tiefer bohrte. Was interessierte mich denn auch schon an dem Jungen, dessen Bild ich da trug? Da Glee, die mich nur allzu gut kannte, mich schon mit einem anzüglichen Grinsen musterte, wechselte ich das Thema. »Wo soll das ganze Zeug denn hin?«, fragte ich Grace.

»Hier in die Garage«, sagte sie und führte uns um die Ecke des Gebäudes zur Einfahrt, wo sie sich mit dem Scheunentor abmühte. Zentimeterweise bewegte es sich in seiner verrosteten Schiene und mir kam der Gedanke, dass ich meine Hilfe anbieten sollte, aber ich hatte die Hände voll. »Ich schaff’s schon«, sagte sie, als hätte sie meine Gedanken gelesen. »Man muss ihm nur ein bisschen zureden.« Mit einem Knurren schaffte sie es, es weit genug für uns zu öffnen.

Als wir zu dritt in die Garage traten, verstummte das Gezwitscher der Vögel, und meine Sinne gewöhnten sich an den dunkeln Innenraum, den Geruch nach Benzin und den Geschmack von Staub. In dem von der Tür und einem vergitterten Fenster hereinfallenden Licht begann sich die Umgebung abzuzeichnen. Als ich die Sachen, die ich von oben mitgebracht hatte, abstellte, nahm Graces Auto Gestalt an – ein unauffälliger, älterer weißer Taurus. Der übrige Raum war mit Gerümpel angefüllt, den eingelagerten Überresten eines Lebens, den gesammelten, einst wertvollen, Sachen, die eines Tages in die Hände fluchender Erben fallen würden, die alles auf ihre Kosten würden abholen lassen müssen.

Grace drehte einen Schalter um und mehrere nackte Birnen an den Balken tauchten die Gegenstände in der Garage in gleißendes Licht. Ich erkannte, dass der hier versammelte Müll nicht annähernd so zufällig aufgehäuft war, wie ich anfangs geglaubt hatte. Nein, die Überreste hatten ein gemeinsames Thema, einen roten Faden, der sich durch die nun nutzlosen Gegenstände zog. Da standen eichene Aktenschränke, verschlossene Kartons und offene Schachteln, die von Quittungs- und Rechnungsblöcken überquollen. Plumpe Regale an den Holzwänden der Garage enthielten Reihen von Apothekertiegeln aus Glas und Keramik, deren vergilbte Etiketten noch verblasste lateinische Aufschriften trugen. Vom Boden bis zur Decke stand umgedreht ein Mineralwasserautomat; in einer Ecke daneben waren Eisdielentische und die dazugehörigen Drahtstühle für die Nachwelt aufgestapelt. Ein alter Kühlschrank, der noch funktionierte, war mit einem Vorhängeschloss an der abgebrochenen Chromklinke gesichert. Zwischen dem Kühlschrank und der Wand steckte ein rechteckiges Metallschild: LORD’S REXALL. Von den leeren Schraubenlöchern zogen sich orangefarbene Roststreifen.

Grace beobachtete, wie ich all das aufnahm. »Ich halte den Kühlschrank verschlossen, damit die Kinder nicht darin spielen«, erklärte sie. »Man kann nie vorsichtig genug sein...«, fügte sie schaudernd hinzu.

Aber es war nicht der Kühlschrank, der mich faszinierte. »Das Schild da«, sagte ich, »hat das früher über dem leeren Laden neben The Nook gehangen?«

»Aber sicher.« Grace wiegte den Kopf. »Über vierzig Jahre lang war das Lord’s Dumonts beliebtester Drugstore. Mein Großvater hatte ihn eröffnet, lange bevor ich zur Welt kam, und mein Vater führte ihn, solange ich auf dem College war – ich sollte auch Apothekerin werden. Aber dann kam die Walgreenskette in die Stadt, und Lord’s Rexall war zum Untergang verurteilt. Dad und ich machten zu, ein Jahr nach meinem Abschluss.«

Obwohl sie ihre Geschichte flüssig und emotionslos erzählt hatte, lag in ihrer Stimme ein Bedauern, bei dem ich mich fragte, ob dieser zerbrochene Traum einer glücklosen Karriere von dem Bruchstück der Vergangenheit wiederbelebt wurde, das in der Aufnahme mit ihrem Neffen festgehalten war.

»Ich erinnere mich an Lord’s«, erzählte Glee uns. »Da gingen wir am liebsten hin – niemand machte einen so guten Schokoshake wie Graces Bruder. Der Laden wurde etwa zu der Zeit geschlossen, als ich aufs College kam. Ich habe geweint.«

»Ich auch«, erinnerte Grace sie.

Dieses Stück Dumontlegende war durchaus interessant und die Gefühle der beiden Frauen waren bewegend, aber mehr fesselte mich Glees Erwähnung von Graces Bruder. War Glees Lieblingsverkäufer vielleicht der Vater von Graces Neffen Ward? Oder gab es noch andere Lordbrüder, die vielleicht den Samen gelegt hatten, aus dem dieser schöne junge Mann entsprossen war? Ward Lord – was für ein Name  – wie passend er die männliche Energie einfing, die die Jahre überstanden hatte und die von dem körnigen Schnappschuss ausging, der an diesem Morgen zu meinen Füßen in der Garage ruhte.

Grace beschrieb mit den Armen einen Bogen, der das ganze Drugstorezubehör um uns herum umfaßte. »Ich bin schließlich zu dem Schluss gekommen, es sei an der Zeit, mich der Realität zu stellen und meinen Kummer zu vergessen«, erklärte sie Glee. »Die Apotheke meines Großvaters ist jetzt schon fast so lange geschlossen, wie sie offen war. Vorbei ist vorbei und ich kann es nicht wieder zurückholen. Außer,« – ihre Augen blitzten im Dämmerlicht der Garage tatsächlich auf – »dass dieser Müllhaufen der Familiengeschichte ausgezeichnetes Rohmaterial für ein Miniaturmodell abgibt.«

»Ach?« Glees Brauen wölbten sich neugierig. Sie kramte einen Notizblock aus ihrer Handtasche.

»Ich habe mich noch nie selbst richtig im Modellbau versucht – den Laden habe ich nur immer von der Geschäftsseite betrachtet – aber von dem Drugstore hängt mir immer noch etwas nach. Im letzten Jahr dann kam mir eine Idee, die mir sowohl naheliegend als auch reizvoll erschien. Jetzt rackere ich mich schon seit Monaten an einem Miniaturmodell von Lord’s Rexall ab. Es ist noch eine Menge zu machen, aber meine kleine Apotheke müßte zur Enthüllung fertig sein, wenn am nächsten Wochenende die Ausstellung eröffnet wird.« Sie stemmte die Hände in die Hüften, eine Pose gelöster Selbstzufriedenheit, die darauf hinwies, dass sie die emotionale Last, die die Garage voller Müll für sie bedeutete, nahezu abgeworfen hatte.

Glee erwiderte ihr Lächeln. »Viel Glück beim Wettbewerb, Grace.«

»Ich hoffe, Sie gewinnen den ersten Preis«, fügte ich hinzu.

Sie wedelte abwehrend mit den Händen. »Dazu reicht es wahrscheinlich nicht. Das ist mein erster Versuch und die anderen Teilnehmer sind schon Jahre dabei. Außerdem, denke ich, sollte ich als Gastgeberin der Ausstellung nicht am Wettbewerb teilnehmen. Es wäre nicht richtig, Carrol Cantrell das Gefühl zu vermitteln, er sei mir zu irgendetwas verpflichtet, wenn er die Modelle bewertet. Deshalb werde ich mein Zimmerchen nur zur Ausstellung melden.«

»Ich würde es mir liebend gerne anschauen«, sagte ich zu Grace. Glee nickte ebenfalls begeistert.

»Und ich würde es Ihnen liebend gerne zeigen« – Grace ging zum Garagentor und schaltete die Lichter aus. – »aber wir haben keine Zeit, herumzutändeln, jetzt nicht. Carrol müßte demnächst eintreffen, und ich muss mir noch etwas Anständiges anziehen.«

Wir folgten ihr nach draußen in den hellen Vormittag. »Wie kommt Mr. Carrol eigentlich hierher?«, fragte Glee.

Grace führte uns zur Hintertür des Hauses. »Er fliegt bis Green Bay. Einer seiner Kollegen ist gestern in Dumont angekommen und der hat angeboten, Carrol vom Flugplatz abzuholen.«

Ein großzügiges Angebot, dachte ich, da die Fahrt nach Green Bay eine Stunde dauerte.

Glee blätterte in ihren Notizen, während wir die Stufen zur Veranda hinaufstiegen. »Ich wusste gar nicht, dass der Ansturm schon begonnen hat. Wer ist denn der Frühankömmling?«, fragte sie Grace.

Grace, die die Hand ausstreckte, um die Tür zu öffnen, drehte sich um. »Bruno Hérisson.« Sie sprach den Namen mit französischem Akzent aus: Er–ih–son(g).

»Ach?« Glee erschien beeindruckt und las aus ihren Notizen vor. »Er ist ›einer der angesehensten Fachleute der Welt für den Bau von Miniaturstilmöbeln‹ – Der ist selbst schon einen eigenen Artikel wert, Mark«, ergänzte sie zu mir gewandt.

Grace senkte vertraulich die Stimme. »Ich glaube, Bruno war ein bisschen sauer, dass ich nicht ihm die Remise angeboten habe, aber ich hatte sie bereits Carrol versprochen. Bruno kam gestern den ganzen Weg von Paris hierher und ist in Milwaukee gelandet. Er hat sich ein Auto geliehen und ganz alleine hierher gefunden – das sind fast drei Stunden Fahrt. Ich hätte ihn ja gerne abgeholt, aber ich hatte ihn nicht so früh erwartet. Aber gut, dass er hier ist. Ich konnte heute Morgen jede nur erdenkliche Hilfe brauchen. Und Bruno war es auch ganz recht, denke ich. Er hat gesagt, er müsse im Auto etwas mit Carrol besprechen.« Sie schaute auf die Uhr. »Herrje, sie müßten eigentlich schon hier sein. Wenn Sie es sich bitte in der Küche bequem machen wollen. Nehmen Sie sich Limonade – im Kühlschrank steht ein frischer Krug – derweil springe ich kurz zum Umziehen rauf.«

Grace öffnete uns weit die Tür und wollte gerade über die Schwelle treten, aber da war es schon zu spät. Das Surren eines Motors und das Knirschen von Reifen auf dem Schotter verrieten, dass der König der Miniaturen soeben angeliefert wurde. »Oh, mein Gott...«, murmelte Grace und trat ans Geländer der Veranda. Die Tür fiel hinter ihr zu und schnappte ein. Reflexartig flogen ihre Hände zum Kopf, um die Frisur zu richten, die vollkommen ordentlich aussah. Sie strich mit den Handflächen ihre Arbeitskleidung glatt, während sie zur Einfahrt hinunterging. Glee und ich folgten ihr.

Bruno Hérissons Leihwagen, ein einfacher Kleinwagen, fegte über die Einfahrt, kam in der Nähe des Hauses gefährlich ins Schleudern und verfehlte knapp mein eigenes Auto – beim Gedanken an den Schaden, der aus reinem Zufall vermieden worden war, zuckte ich zusammen. Die Autofenster standen offen, und die beiden Insassen schrien sich an. Da ihre Worte nicht zu verstehen waren, wusste ich nicht, ob der Beifahrer sich nur über die fragwürdigen Fahrkünste des Fahrers aufregte oder ob ein Streit im Gange war, der jäh endete, als der Wagen nur Zentimeter vor uns zum Stehen kam.

»Herrrr Gott!«, blaffte der Beifahrer, während er die Tür aufriss und ins Freie stürzte, um aus dem Auto zu entkommen, als fürchte er, es würde gleich in die Luft fliegen. »Irrer Franzose –« Dann, als er uns sah, änderte sich sein Tonfall, und er stieß ein gezwungenes Lachen aus, ein durchdringendes, gut einstudiertes, Beachtung heischendes Lachen.

Das war offensichtlich Carrol Cantrell. In dem Interview im Register vom Morgen hatte Glee ihn als ›einen sehr großen Mann in einer sehr kleinen Welt‹ bezeichnet. Die Beschreibung erwies sich im wörtlichen wie übertragenen Sinn als zutreffend. König Carrol war überlebensgroß, mindestens einsneunzig, und ich fragte mich, wie er die einstündige Fahrt in so einem kleinen Auto überstanden hatte. Obwohl ich wusste, dass er fünfzig war, hatte er seine Züge geschickt bei neununddreißig eingefroren. Alles an dem Mann – seine zu weißen Zähne, seine blondgestreifte Frisur, seine affektierten Bewegungen und sein großspuriges Auftreten – ließ den Herrscher der Miniaturen eindeutig tuckig wirken.

Die Fahrertür öffnete sich. Mit beträchtlichen Schwierigkeiten zwängte sich Bruno Hérisson, ein Bulle von Mann, hinter dem Steuer hervor, wobei er einen Wust von Flüchen ausstieß, die sich für mein ungeübtes Ohr eher aggressiv teutonisch denn charmant gallisch anhörten. Er stemmte sich aus dem Wagen. »Ah, Cantrell! Ich bin auserwählt – welch eine Ehre, Euer kostbare Majestät hin – und herkutschieren zu dürfen. Euer gehorsamer Diener, Cantrell!«, wandte er sich gen Himmel und beugte das Knie zu einem grotesken Hofknicks. Sein Akzent starrte vor kehligen R’s und gehauchten H’s mit französischem Anklang, aber ansonsten beherrschte er das Englische gut, und es war klar, was er sagen wollte: er und Carrol konnten sich nicht ausstehen.

Cantrell quittierte die Mätzchen seines Kollegen mit einem spöttischen Grinsen und ließ ihn stehen, um sich vorzustellen. Er bestand darauf, dass alle ihn einfach Carrol nannten. Grace Lord, seiner Gastgeberin, gegenüber war er außerordentlich ehrerbietig und zu Glee und mir, ›der Presse‹, ausgesucht höflich. In angeregter Unterhaltung mit uns (sein lebhaftes Geplapper wirkte nicht unangenehm, wenngleich aufgesetzt) ignorierte er Bruno, der murrend Carrols Gepäck vom Rücksitz und aus dem Kofferraum auslud.

Ein ungleicheres Paar hätte an diesem Morgen nicht nach Dumont hereinschneien können. Carrol war beinahe grotesk groß und schlaksig, manieriert redselig und eindeutig schwul. Für die Reise trug er einen eleganten Armanianzug und unter dem Jackett ein T-Shirt – sehr kalifornisch. Ganz im Gegensatz dazu war Bruno massig, eine Figur, die man in der winzigen, fragilen Welt der Miniaturmöbel nicht vermutet hätte – der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen. Seine Kleidung war verknittert und die Ärmel seiner Cordjacke waren halb über die Unterarme gezogen, während er sich grunzend mit Carrols Gepäck abmühte, das er in einem Haufen neben dem Auto aufstapelte. Brunos einziges mondänes Accessoire (oder lag es einfach daran, dass er Franzose war?) war der reich verzierte Seidenschal, den er sich um den Hals geschlungen hatte, und dessen Enden aus dem offenen Hemdkragen flatterten. Er schwitzte, Carrol jedoch schien der Streit im Auto cool und völlig ungerührt gelassen zu haben.

»Ich kann Ihnen gar nicht sagen«, sagte Grace, die immer noch an sich herumwischte, zu Carrol, »welche Ehre es für uns ist, dass Sie sich bereit erklärt haben, als Preisrichter bei unserem Wettbewerb zu fungieren. Die Midwest Miniature Society ist ganz aus dem Häuschen!«

»Die Ehre ist natürlich ganz auf meiner Seite«, versicherte er ihr und tätschelte ihr den Kopf. Verglichen mit ihrer winzigen Figur war er riesig.

»Es ist nicht nur die Tatsache, dass Sie Besitzer der Hall of Miniatures sind«, plapperte Grace weiter, »sondern auch die Tatsache, dass Sie alle wichtigen Künstler der Welt repräsentieren – einschließlich natürlich unseres hochgeschätzten Mr. Hérisson.«

Bruno brummte etwas auf Französisch. Die Worte waren nicht zu verstehen, aber in seinem Tonfall lag unmißverständlich Sarkasmus.

Glee mischte sich in das Gespräch ein. »Grace hat selbst auch ein Miniaturzimmer gebaut.«

Hastig wiegelte Grace gutmütig ab. »Es ist aber noch nicht fertig – Sie werden es alle rechtzeitig zu sehen bekommen.«

»Seien Sie nicht gekränkt«, sagte ich zu Carrol. »Uns hat sie’s auch nicht gezeigt.« Es war das erste Mal, dass ich mich an ihn wandte, seit wir vorgestellt worden waren.

Er fuhr zu mir herum. »Ach, wirklich?« Er musterte mich lächelnd – seine Zähne waren wirklich viel zu weiß – gebleicht, überkront, wer weiß? Er schaute mich rasch von oben bis unten an. Ich trug meine übliche ›Arbeitsuniform‹ – Khakihose, blauer Blazer, Button-Down-Hemd, gestreifte Krawatte – alles andere als hochmodisch. Vielleicht fand er mich erfrischend lecker, denn sein taxierender Blick verwandelte sich in ein gierig lüsternes Glotzen. »Wie wäre sie wohl zu überreden?«, fragte er mich mit zu einem Schnurren gedämpfter Stimme.

»Ich glaube, sie braucht nur noch ein bisschen Zeit.« Unser Geplauder wurde nebensächlich, da ich ganz von seiner Anmache abgelenkt wurde. Nicht, dass ich interessiert gewesen wäre. Ich hatte eine glückliche Beziehung mit Neil und außerdem fand ich Carrol nicht im Mindesten anziehend. Trotzdem war es angenehm, von einem anderen Schwulen angemacht zu werden – so etwas kam in Dumont nicht oft vor.

»Mark, hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass sie außerordentlich faszinierende grüne Augen haben?«

Bruno unterbrach unseren Wortwechsel. »Wenn die Herren dann mit ihrer Plauderei fertig wären, könnten wir vielleicht alle zusammen Ihrer Majestät dabei helfen, ihr Matériel in die königlichen Gemächer zu spedieren.« Er warf das Ende seines golddurchwirkten Schals über die Schulter. »Danach muss ich gehen.«

Glee und ich wechselten einen verstohlenen Blick und unterdrückten widerwillig den Drang zu kichern. Was, rätselte ich, war wohl der Grund für diese Kämpfe zwischen Bruno und Carrol – Konkurrenz oder etwas mehr Persönliches?

Mit resigniertem Achselzucken machten wir uns daran, Carrols Sachen zur Treppe der Remise zu schleppen. Meinen Berechnungen zufolge würde der König der Miniaturen nicht länger als zehn Tage in Dumont bleiben, wenn man jedoch sein Gepäck sah, hätte man denken können, er würde hier einziehen. Ich staunte, dass Bruno es geschafft hatte, alles in seinem Auto unterzubringen. Es handelte sich um einen Satz zueinander passender Koffer, Vuitton natürlich. Dazu kamen diverse Kleidersäcke, Mäntel, ein lederner Aktenkoffer, Computertasche – und sogar eine Hutschachtel.

Als Carrol sich hinunterbeugte, um einige seiner Beutel aufzuheben, rutschten die Ärmel seines Jacketts über die Unterarme, und ich sah, dass er an beiden Handgelenken Schmuck trug – zu viel, meiner Meinung nach, sogar für einen Schwulen. Mehrere Ringe, Armbänder und eine mit Diamanten besetzte Armbanduhr, alles höchst elegante Stücke von Topdesignern, mit einer Ausnahme. Ganz eindeutig bestand ein Stück seines Geschmeides nicht aus blankpoliertem Gold, sondern aus abgewetztem Nickel – an einer einfachen Kette am Handgelenk hing ein Medaillon mit einem Symbol aus Emaille. Obwohl ich es aus meinem Blickwinkel nicht lesen konnte, schien es ein Notfallarmband zu sein.

Ebenfalls unpassend zu Carrols penibler Erscheinung war ein fetter, plumper Füllhalter, der in der inneren Brusttasche steckte. Ich hatte schon immer eine Schwäche für Füllhalter – mein eigener, ein alter Montblanc, ist ein kultivierter Luxusgegenstand in einer Zeit der Wegwerfkugelschreiber und Filzstifte. Obwohl ich daher den Mann für seine Standhaftigkeit gegen die sich ausbreitende Bic-Kultur bewunderte, war ich entsetzt über dieses spezielle Schreibinstrument, das, mit einem Wort, potthässlich war.

»Hey!«, unterbrach uns eine Stimme, als wir zu unserer mühsamen Prozession über die Stufen der Remise ansetzten. »Lassen Sie mich helfen!« Über die Einfahrt an der Seite des Hauses kam Douglas Pierce geschlurft, der Sheriff von Dumont County. Am Fuß der Treppe blieb er stehen. »Mark, ich habe Ihr Auto gesehen und mich gefragt, was los ist.«

Jetzt bemerkte Carrol den BMW und zwinkerte. »Hübsches Fahrgestell, Mark«, raunte er mir zu.

Da Pierce zuerst Carrol und Bruno vorgestellt werden musste, machten wir eine Pause und stellten während der Formalitäten unsere Lasten ab. Es war nicht einfach, Bruno Pierces Job zu erklären, da keiner von uns wusste, ob es ein französisches Pendant zu einem amerikanischen Sheriff gab. Ich versuchte, nicht auf Hollywood oder den Wilden Westen anzuspielen. »Die Stadt Dumont ist Teil von Dumont County, und dem County untersteht unsere Polizei. Doug ist der Leiter der Countypolizei.

Bruno nickte, schien aber noch immer verwirrt. »Und das ist Ihre … Berufskleidung?«, fragte er unsicher.

Pierce lachte. »Ich bin ein gewählter Beamter. Ich trage keine Uniform.«

Brunos Verwirrung war verständlich. Ich hatte Doug Pierce in der Woche meines Umzugs nach Dumont kennen gelernt. Aus der bösen Großstadt kommend, hatte ich die veraltete Ansicht gehegt, der Ortspolizist müsse direkt aus dem Hinterwald kommen, aber Pierce entsprach diesem Stereotyp keineswegs. Erstens trug er keine Uniform – keine Polizeimarke, keinen sechsschüssigen Revolver, keine Rangabzeichen. Im Gegenteil, er war schick gekleidet, viel schicker als ich, und ich hatte ihn noch nie die gleichen Sachen an zwei Tagen hintereinander tragen sehen. Damals hatte es einigen Ärger gegeben und Pierce hatte sich als echter Profi, als neuer Freund erwiesen, und als eine wichtige Quelle für meine Arbeit beim Register. Ich war wirklich froh, ihn zu kennen.

Aber ich hätte mir gewünscht, ihn noch besser zu kennen. Obwohl ich ihn fast täglich sehe – er kommt oft zu Besuch bei der Zeitung vorbei, und er kommt häufig nach seinem Morgentraining zum Frühstück zu uns nach Hause – gibt es in seinem Privatleben einen Bereich, der streng tabu ist. Mit fünfundvierzig war er nie verheiratet und behauptet, das läge an seiner Arbeit. Vielleicht ist es ja nur Wunschdenken, aber natürlich vermute ich, dass er schwul ist, und er hat noch nie etwas gesagt, was mich von dieser Annahme abgebracht hätte. Eines Tages, nehme ich mir immer wieder vor, zum richtigen Zeitpunkt, frage ich ihn einfach danach, ganz frei heraus.

»Herrje«, säuselte Carrol Cantrell, »Sie sind ja wirklich ein erfreulicher Beamter, Sheriff.« Er unterzog Pierce der gleichen Musterung, mit der er vor nur wenigen Minuten mich bedacht hatte.

Hilfsbereit griff Pierce nach mehreren von Carrols Taschen, einschließlich der Hutschachtel. »Ich muss mich möglichst beliebt machen – im November stehe ich zur Wiederwahl.« Pierce lachte wieder, und mit einem Mal hatte ich den Eindruck, dass er Carrols Annäherungsversuch tatsächlich genoss.

Während wir zusammen die Stufen hinaufstapften, blieb Carrol stehen und betastete das Revers von Pierces Sportjackett. »Wunderschönes Jackett, Sheriff. Ralph Lauren?«

Poh–lie–zeih!

»Nee«, antwortete Pierce. »Brooks Brothers.« Möglicherweise wurde er ein bisschen rot.

Mir fiel auf, dass ich Pierces gutes Aussehen inzwischen als etwas ganz Natürliches betrachtete. Für einen Mann mittleren Alters war er total fit und auf rauhe Art hübsch, ein Bild, dass durch seine Macke, sich gut anzuziehen, vervollständigt wurde. Carrol hatte Recht: Pierce trug ein wunderschönes Jackett, rostroter Tweed, genau richtig für das Übergangswetter an diesem Herbstmorgen. Seine graue Flanellhose mit den rasiermesserscharfen Falten paßte wie die Faust aufs Auge zu den dunkleren Tönen des Tweedjacketts. Er verdiente Carrols Komplimente.

Auf dem Weg nach oben plapperte Carrol nichtssagendes Zeug, während wir, sein Gefolge, uns anschickten, es ihm in Grace Lords Remise heimisch zu machen.

Zur Fanfare seines eigenen schallenden Gelächters war der König endlich angekommen.

 

2

 

 

 

›UNSERE WAHLEMPFEHLUNG‹

Register unterstützt die Kandidatur von Douglas Pierce
zum Sheriff von Dumont County

 

von MARK MANNING
Herausgeber des Dumont Daily Register

 

16. September, DUMONT, WI – Douglas Pierce, der Polizeichef von Dumont County, hat während seiner ersten Amtszeit bewiesen, dass er ein engagierter, fähiger und tüchtiger Beamter ist. Beurteilt man seine Leistungen als Sheriff nach objektiven Kriterien, steht fest, dass er es verdient, erneut in dieses Amt gewählt zu werden.

Mr. Pierce (45) weist darauf hin, dass während seiner Amtsführung die Verbrechensrate in unserer Gemeinde um etwa 14 Prozent zurückgegangen ist. Die Ausgaben seiner Behörde bewegten sich stets innerhalb des Budgets und er hat einen verantwortungsbewussten Plan für die seit langem überfällige Modernisierung der Gefängniseinrichtungen des County vorgelegt. Er hat sich als geschickter Verwaltungsbeamter erwiesen – und als guter Cop.

Daniel Kerr (35), Mr. Pierces Gegner in dieser Wahl, ist ein Deputysheriff, der in den Fußstapfen seines Mentors, Mr. Pierce, zum Lieutenant aufgestiegen ist. Beim Interview mit Lieutenant Kerr in den Redaktionsräumen des Register wirkte er auf uns umgänglich, intelligent und in seiner Position engagiert. Bekäme er die Gelegenheit, wäre er zweifellos in der Lage, den Pflichten des Amtes, das er anstrebt, effizient zu erfüllen, und wir zollen seinem Eifer, der Gemeinde in dieser Stellung mit breiteren Befugnissen zu dienen, Anerkennung.

Nicht einverstanden indessen sind wir mit Mr. Kerrs Standpunkt, die Behörde des Sheriffs solle bei der Durchsetzung der Sittichkeitsverordnung des Countys eine aggressivere Rolle spielen. Diese Verordnung ist ein Stück Gesetzgebung, das in die falsche Richtung geht und jedem journalistischen Prinzip wie auch dem ersten Verfassungszusatz zuwiderläuft.

Wir befürchten, dass Mr. Kerrs Standpunkt, im Verein mit dem merkwürdigen Befund der Planungskommssion des Countys (über den an anderer Stelle auf diesen Seiten berichtet wird), der Freiheit der Bürger von Dumont weder dient noch sie schützt. Allein dieses Thema lässt unserer Ansicht nach Mr. Kerr nicht als geeigneten Kandidaten erscheinen.

Am 7. November werden sich die Wähler von Dumont den besten Dienst erweisen, wenn sie Sheriff Douglas Pierce erneut in sein Amt einsetzen. Wir bieten ihm dazu unsere rückhaltlose Unterstützung an.