Cover

Michael Craft

Bei Nachruf Mord

Mark Manning ermittelt


Ins Deutsche übertragen von Gerold Hens

Edel eBooks

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel "Flight Dreams"

Edel eBooks
Ein Verlag der Edel Germany GmbH

Copyright dieser Ausgabe © 2013 Edel Germany GmbH
Neumühlen 17, 22763 Hamburg
www.edel.com

Copyright © 1997 by Michael Craft

Covergestaltung: Agentur bürosüd°, München

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-95530-257-3

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1

 

 

 

100 MILLIONEN $ STEHEN AUF DEM SPIEL

Verschwundene Fluglinienerbin wird in
drei Monaten für tot erklärt

 

Von Mark Manning
Enthüllungsreport des Journal

1. OKTOBER, CHICAGO, IL –
Heute in drei Monaten, am 1. Januar, jährt sich zum siebten Mal der Tag des ungeklärten Verschwindens von Helena Carter, Alleinerbin des verstorbenen Ridgely Carter, dem Gründer von CarterAir. Das in Privatbesitz befindliche Unternehmen, das von vielen Analytikern als die profitabelste nationale Regionalfluglinie angesehen wird, verfügt über geschätzte Finanzreserven in Höhe von über hundert Millionen Dollar.

Sollte das Verschwinden Mrs. Carters bis zum 1. Januar ungeklärt bleiben, wird sie juristisch für tot erklärt, und ihr Vermögen entsprechend den Verfügungen ihres Testaments, in dem sie den größten Teil ihres Besitzes der Römisch-Katholischen Erzdiözese von Chicago sowie eine beträchtliche Geldsumme den Federated Cat Clubs of America (FCCA) vermacht, unter den Erben aufgeteilt. Mrs. Carter verschwand von ihrem Anwesen in Bluff Shores, nördlich von Chicago, am Neujahrstag vor fast sieben Jahren. Die polizeilichen Ermittlungen tappten von Anfang an im Dunkeln. Sollte die Erbin aus ihrem Heim entführt worden sein, so hinterließ ihr Entführer keinerlei Spuren der Tat. Sollte Mrs. Carter hingegen aus freien Stücken verschwunden sein, hinterließ sie keinerlei Hinweise hinsichtlich ihrer Motive oder ihres Ziels.

Jerry Klein, Hauptgeschäftsführer von CarterAir und Verwalter von Helena Carters Besitz, hat vor kurzem die Gerichte gebeten, der Gesellschaft zu gestatten, die Belohnung für Hinweise, die Aufschluss über den Verbleib der Erbin geben, mag sie nun leben oder tot sein, auf eine halbe Million Dollar zu erhöhen. Die Polizei hat die Verfolgung zahlreicher neuer Spuren, die der Belohnung zuzuschreiben sind, mit dem Hinweis abgebrochen, die Informanten seien entweder Spinner oder Schwindler.

Mit Ablauf der Siebenjahresfrist verbreitete sich das Gerücht, Mrs. Carter sei einem Mord zum Opfer gefallen, und eines der städtischen Nachrichtenunternehmen hat unter rhetorischen Forderungen nach Gerechtigkeit öffentlich einen Verdächtigen benannt. Die Ermittlungen des Journal jedoch haben nichts ergeben, was diese Anschuldigungen bestätigen würde, und diese Zeitung vertritt die Auffassung, man müsse logischerweise von der Annahme ausgehen, Helena Carter sei noch am Leben.

Donnerstag, 1. Oktober

»Ich sehe Bäume.« Die flüsternde Stimme im Telefonhörer spricht bedächtig. »Ich sehe ein großes, von Bäumen umgebenes Haus.«

Mark Manning lacht. Sicher, dass es hier nichts zu notieren gibt, schraubt er seinen Lieblingsfüller, einen altmodischen Mont Blanc, wieder zu.

»Ich kann nicht erkennen, was daran so lustig ist, Mr. Manning.« Die Stimme klingt beleidigt. »Ich versuche nur, zu helfen. Diese Information könnte Ihnen für Ihre Recherche nützlich sein.«

»Entschuldigung«, sagt Manning unbeeindruckt, »aber es ist keine gewagte Vermutung, davon auszugehen, dass eine wohlhabende Person in einem großen Haus wohnt. Und die meisten Häuser sind von Bäumen umgeben.« Er klappt seinen Notizblock zu und legt ihn zu dem geordneten Durcheinander auf seinem Schreibtisch im Redaktionsbüro des Chicago Journal.

»Aber ich sehe diese Dinge so deutlich«, beharrt die Person. »Mit ein wenig Hilfe Ihrerseits, Mr. Manning, könnten wir ihre Leiche finden.«

»Das heißt also, sie ist tot? Sehen Sie das auch?« Er starrt auf seinen Computermonitor, einen Augenblick lang gebannt vom rhythmischen Blinken des Cursors.

»Aber gewiss doch«, erwidert die Stimme, als wolle sie ein unwissendes Kind belehren. »Das weiß doch jeder, Mr. Manning. Das ist allgemein bekannt.«

»Danke für den Anruf«, bricht Manning das Gespräch abrupt ab. »Ich habe gleich Redaktionsschluss und kann nicht länger mit Ihnen sprechen.«

Aus dem Hörer dringt leise ein empörter Protest, als er auflegt. Mit einem kleinen Messingfeuerzeug, das er in einer einzigen Bewegung anzündet, ausmacht und in die Tasche seines leuchtend blauen Oxfordhemds verschwinden lässt, steckt er sich eine Zigarette an.

»Hey, Hübscher, Redaktionsschluss war vor fast einer Stunde«, sagt eine spöttische Stimme von hinten. Daryl, die Kopierhilfe, hat den Schluss von Mannings Gespräch mitbekommen und schlüpft nun in die Arbeitszelle des Reporters. Vertraulich hockt er sich auf den Schreibtisch und fragt: »Der wievielte war das jetzt?«

»Der dritte heute morgen«, sagt Manning entnervt. Er rollt mit seinem Stuhl vom Schreibtisch zurück, lockert seine Krawatte und knöpft sich den Kragen auf. »Jedes Mal wenn mein Name über irgendwas erscheint, das mit Helena Carter zu tun hat, kriege ich eine geballte Ladung von Anrufen von diesen bescheuerten Hellsehern.« Er schwingt ein Bein hoch und knallt es neben den Computer. Die Spiegelungen einer fluoreszierenden Schreibtischlampe schimmern in der Form von gewundenen Bändern.

»Und wieso schreibst du dann drüber?«, fragt der Collegestudent und wedelt missbilligend mit der Hand, um den Zigarettenrauch abzuwehren. Er bläht die Nasenflügel, wobei sich übertrieben seine ›spröden negroiden Züge‹, hervorheben, die zuweilen Gegenstand seiner Witze sind.

»Weil wir den ersten Oktober haben. In drei Monaten wird das Vermögen aufgeteilt – es sei denn, sie taucht vorher wieder auf.«

»Na, aus dem Grab kann sie ja wohl kaum sehr gut wieder auftauchen, oder?«, fragt Daryl, der mit ausgestrecktem Arm eingehend seine Fingernägel mustert.

»Natürlich nicht. Aber ich glaube nicht, dass sie tot ist. Ich denke, sie ist freiwillig verschwunden.«

»Klar, Mark, das alte Mädchen könnte aus ‘ner Menge Gründe abgehauen sein – vielleicht ist sie ja bloß bekloppt.« Daryl tippt sich mit dem Finger an die Schläfe. »Ist es nicht doch wahrscheinlicher, dass sie ermordet wurde?«

»Es gab kein Motiv, sie umzubringen.«

»Hundert Millionen Dollar sind kein Motiv? Schau, Liebes, ich bin der erste, der zugibt, dass du mehr über den Fall weißt, als irgendjemand sonst. Du bist von Anfang an an der Geschichte dran gewesen und es gibt keine Zeitung im Land, die dein Zeug nicht nachgedruckt hätte, mit Namen und allem drum und dran.«

»Und was ist mit der Post?«, fragt Manning scharf.

»Ich korrigiere mich. Das Blatt von gegenüber hat deinen Namen nicht gebracht, aber schließlich haben die Humphrey Hasting, und der schreibt genau den Sensationskäse, für den sie bekannt sind. Aber du, Mark, du bist der Experte. Mein Gott – wie viele Reporter werden schon vom Chefermittler angerufen, um sich über seinen eigenen Fall aufklären zu lassen? Ich beuge mich also deinem Urteil. Ist dir’s so recht?«

Manning antwortet mit einem Achselzucken. Er steckt sich die Zigarette in den Mundwinkel, verschränkt die Hände hinter dem Kopf und streckt sich.

Er hat nicht den Körper eines Neununddreißigjährigen. Schlank und muskulös ist er besser in Form als die meisten mit fünfundzwanzig. Die markanten Gesichtszüge weisen auf einen analytischen Verstand hin, der durch die durchdringende Klarheit seiner ungewöhnlich grünen Augen sichtbar zu werden scheint. Sein Haar, in dem inzwischen die ersten grauen Strähnen zu sehen sind, trägt er nach der derzeitigen Mode kurz; es verleiht seiner Erscheinung eine gewisse militärische Attraktivität – ein Eindruck, der durch die gebügelten Khakihosen, die er stets trägt, noch verstärkt wird.

Daryl schlägt die Arme übereinander, um sein Plädoyer abzuschließen. »Also, wieso meinst du – bei allem, was du weißt –, dass hundert Millionen Dollar kein ausreichendes Motiv für einen Mord seien?«

Manning streckt den Arm aus, um die Asche seiner Zigarette abzuschnippen und beugt sich mit einem Seufzer, der zu sagen scheint, Okay, ich erklär’s nur ein einziges Mal, in seinem Stuhl nach vorn.

»Helena Carters Testament wurde kurz nach ihrem Verschwinden ohne Probleme aufgefunden. Es kostete diverse ›interessierte Parteien‹ einige Mühe, die Gerichte davon zu überzeugen, das Testament von jemandem zu öffnen, dessen Tod nicht amtlich war, aber schließlich wurde es tatsächlich geöffnet, vor allem, weil es ein Licht auf ein Mordmotiv hätte werfen können. Alles was dabei allerdings herauskam, war, dass das Dokument schlicht keinen Hinweis auf einen Verdächtigen enthält.«

»Aber, Mark, das alte Mädchen kann nicht alle Tassen im Schrank gehabt haben. Niemand, der bei klaren Sinnen ist, teilt doch sein Vermögen zwischen einem Tierheim und einer Kirche auf.«

»Kein ›Heim‹, Daryl. Es ist ein Verband von Katzenzüchtervereinen. Carter war eine Katzenlady; sie hat sie gezüchtet. Außerdem war sie eine ergebene Katholikin. Die Verfügungen in ihrem Testament waren wohl durchdacht und sie hatte Top – Juristen eingeschaltet, um sie aufzusetzen; sie war keine Verrückte. Sie hatte keine Kinder, sorgte aber dafür, dass ihre einzige überlebende Schwester durch sorgfältig konstruierte Stiftungen gut versorgt ist. Gewiss, sie vermachte den Großteil ihres Erbes Organisationen, die ihr etwas bedeuteten, aber ich denke nicht, dass das verrückt ist.«

»Schau, Mark, es spielt doch keine Rolle, ob sie einen an der Waffel hatte oder nicht. Der Punkt ist doch, dass, wer immer sie auch ermordet hat, nicht wusste, was in dem Testament stand. Offensichtlich hat er geglaubt, es könnte auch für ihn was abfallen.«

»Wer?«

»Weiß ich doch nicht. Was ist mit dem Haushälter, auf dem Hasting und die Post immer rumhacken?«

»Daryl, es gibt Leute, die einen grillen, wenn man kleine, alte Ladys alle macht. Und wenn diese Lady zufällig die Erbin einer höchst profitablen Luftlinie ist, die eines der dicksten Vermögen in den nördlichen Vorstädten von Chicago darstellt, dann kannst du drauf wetten, dass die Bemühungen, den Übeltäter zu stellen und zu braten, enorm sind. Wieso sollte jemand auf die pure Vermutung hin, es sei die Sache wert, seinen geruhsamen Lebensabend aufs Spiel setzen? Würdest du das machen?«

»Natürlich nicht, aber ich bin ja auch kein Mörder. Es gibt allerdings solche Menschen, und die sind nicht alle so logisch wie du. Vielleicht ist der Kerl ja schwachsinnig. Es scheint nur der Fall zu sein, dass Helena Carter ermordet wurde.«

»Du scheinst mit keiner Leiche aufwarten zu können«, widerspricht ihm Manning. »Du scheinst keinen Verdächtigen oder auch nur ein plausibles Motiv vorweisen zu können. Auf der Grundlage dessen, was ich weiß – nicht was ich denke, glaube oder glauben möchte, sondern weiß – bin ich überzeugt davon, dass Helena Carter noch lebt.«

»Wenn du’ s beweisen könntest, wärst du um eine halbe Million Dollar reicher«, erinnert Daryl ihn. »Und ich weiß genau den richtigen Mann, für den du sie ausgeben könntest.«

Manning ignoriert Daryls Wink mit dem Zaunpfahl. »Ich denke nicht nur an die Belohnung«, verrät Manning ihm. »Wenn ich beweisen könnte, dass Helena Carter am Leben ist, würde im nächsten Jahr der Partridgepreis auf mich warten.«

»Der begehrte Messingvogel«, schwärmt Daryl überschwenglich, »die höchste Auszeichnung für investigativen Journalismus.« Dann durchbohrt er Manning mit einem Blick, der sagen soll, komm mal wieder auf den Teppich. »Wenn du beweisen könntest, dass sie lebt.«

Sie verstummen. Beide haben ihren Standpunkt dargelegt und es ist deutlich, dass keine Überzeugungsarbeit geleistet wurde.

Daryl genießt diese Kabbeleien. Er und Manning liefern sich oft solche Wortgefechte und die käfigartige Begrenzung hat etwas Intimes. Nichts körperlich Intimes – wenngleich Daryl deutlich genug zu verstehen gegeben hat, dass er die Gelegenheit begrüßen würde – sondern einfach eine professionelle Nähe. Daryl studiert Journalistik an der Northwestern University und ist trotz seines unbekümmerten Benehmens entschlossen, Karriere zu machen. Für ihn ist Manning der Starreporter des Journal und er sucht ständig nach Gelegenheiten, seine eigenen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen.

Diese Bemühungen sind von Manning nicht unbemerkt geblieben und er ermutigt und behandelt ihn eher als einen Gleichgestellten, denn als Dienstboten. In Augenblicken aufrichtiger Selbstbetrachtung stellt Manning außerdem fest, dass Daryl ihn interessiert. Obgleich er sich nicht besonders zu Daryl hingezogen fühlt, bewundert er die Offenheit des jungen Mannes. Mit neununddreißig und immer noch Single fragt Manning sich einen Moment lang, ob sein nächster Geburtstag etwas auslösen könnte, dem sich zu stellen, er eigentlich nicht für nötig befindet. Er verdrängt diesen Gedanken und verzieht die Lippen zu einem kleinen Lächeln. »Na, genug davon.«

Daryl erwidert Mannings Lächeln. »Wie alt war sie... ist sie eigentlich?«, fragt er.

»Gerade sechsundfünfzig geworden«, sagt Manning. »Sie war neunundvierzig, als sie verschwand, eine junge Witwe, aber auf die meisten wirkte sie ältlich – ich vermute, das passt zu dem Bild einer reichen Nordküstenmatrone. Allerdings ergibt alles, was ich über sie erfahren habe, das Bild einer rüstigen, temperamentvollen Frau.«

Daryl schaut auf seine Uhr und mimt ein Lispeln: »À propos rüstig und temperamentvoll, du kommst jetzt besser mit dem Arsch hoch. Gordon wollte dich vor zehn Minuten sehen.«

Gordon Smith, der Herausgeber des Journal ist kein Mann, den man warten lässt. Manning schießt kerzengerade hoch und drückt seine Zigarette aus. »Wieso hast du mir das nicht gesagt?«

»Naja, hab ich doch – grade eben.«

Manning ist schon in sein Jackett geschlüpft. Er zieht die Krawatte gerade, während er durch den Gang auf die Frontbüros des Redaktionsraumes zueilt.

Der vorherige Herausgeber war erst spät in den Ruhestand gegangen; es herrschte allgemeine Übereinstimmung, er habe damit zu lange gewartet. Gordon Smith, der Leiter der Lokalredaktion, wurde offen als sein Erbe gehandelt, und so überraschte es niemanden, als die Beförderung dann kam.

Smith hatte den Mantel der Autorität mit Anstand aber nur wenig innerer Freude angelegt. Vor einigen Jahren, als er Leiter der Lokalredaktion wurde, hatte er sich nach der kreativen Tätigkeit eines Reporters gesehnt. »Reportage, das ist das A und O der ganzen Zeitungsarbeit«, vertraute er seiner Frau an, als die sich laut fragte, wieso sein Erfolg von einer leichten Lustlosigkeit begleitet war. Nun, da er Herausgeber ist, vermisst er die Pflichten eines Redaktionsleiters, und mit Reportagearbeit hat er weniger denn je in seinem Leben zu tun.

Ungeachtet dessen genießt er es, die Rolle zu spielen, in die er sich nun hineinversetzt sieht. Er hat sich einen Kleiderschrank voller dreiteiliger Anzüge angeschafft und trägt sie ständig. Wenn er sein Büro betritt, hängt er sein Jackett auf, öffnet seine Weste und rollt sich die Ärmel seines gestärkten weißen Hemdes hoch. Es ist zum Inbegriff eines ›arbeitenden Herausgebers‹ geworden und hat Manning gegenüber einmal gewitzelt, dass er plane, sich Hosenträger und Ärmelschoner zuzulegen.

Als Manning Smiths Büro betritt, spürt er allerdings sofort, dass heute keine Scherze gerissen werden. Der Chef sitzt da und starrt auf seinen leeren Computermonitor. Er macht eine finstere Miene, und sein Gesicht wirkt grau.

»Worum geht’s, Gordon?«, fragt Manning ihn, ohne sich auf Smalltalk einzulassen.

»Wissen Sie, Mark, es ist schon komisch.« Etwas abwesend macht Smith Manning ein Zeichen, sich hinzusetzen. Sein Blick wandert aus dem Fenster zum kühlen Herbsthimmel, der sich über dem Lake Michigan wölbt. »Man sollte meinen, ‘ es würde einem Mann genügen, in seinem Hochhausbüro zu sitzen, im sicheren Wissen, dass er den Vorsitz über das angesehenste Nachrichtenunternehmen im Mittleren Westen führt, und die Alltagsarbeit und die verlegerischen Angelegenheiten der besten Mannschaft in der Branche überlässt.« Smiths kaum vernehmbare Stimme verebbt, während er weiter in den Himmel starrt.

»Reden Sie von Nathan Cain?«, fragt Manning, womit er auf den Verleger des Journal anspielt.

»Wen sonst?« Smith dreht sich in seinem Stuhl um, um Manning über den Schreibtisch hinweg anzublicken. »Nathan hat mehr Energie und Einfallsreichtum als jeder Zeitungsmann, den ich kenne. Als er unsere Auslandsredaktion in Äthiopien einrichtete, lachten viele über diese Idee – aber jetzt greifen sie zu unseren Fernschreibern, wenn sie über die Geiselaffäre dort berichten. Man kann von ihm sagen, was man will, aber Nathan ist schon eine ›große Nummer‹.«

»Da sag ich kein Wort dagegen. Das Journal war nie stärker als jetzt mit Cain an der Spitze. Zum Teufel, er ist das Journal.«

»Genau«, sagt der Herausgeber, der jetzt endlich Manning in die Augen blickt, »und eben das macht das Ganze so … schmierig.«

Allmählich beginnt Manning, zu verstehen. »Das Ganze was, Gordon?«

»Die ganze Geschichte mit dieser Carter – Lady. In der Zeitung haben Sie wieder einmal den Schluss gezogen, dass sie lebt, wogegen der Rest der Welt davon überzeugt zu sein scheint, dass sie ermordet wurde. Nathan ist der Ansicht, Ihr Standpunkt sei für die Zeitung peinlich. Dem haben wohl seine Kumpels ein bisschen eingeheizt.«

»Welche Kumpels?«

»Wer weiß? Wahrscheinlich die Kerle mit denen zusammen er sich auf den Vorstandsitzungen von United Way die Ärmel wetzt. Sitzt nicht Josh Williams in diesem Vorstand?«

»Ach ja«, sagt Manning. »Josh Williams, der Herausgeber der Post, der zufällig mit der Schwester von Humphrey Hasting verheiratet ist.«

»Bingo.« Smith schluckt schwer und atmet aus, bevor er fortfährt. »Aus welchem Grund auch immer, Nathan will, dass das Journal einschwenkt. Er will, dass Sie Ihren Standpunkt revidieren.«

»Das kann ich nicht, Gordon, ich …«

»Mark, ich bin ganz Ihrer Meinung, das habe ich ihm auch gesagt. Aber er hat es sich nun mal in den Kopf gesetzt.«

»Um Himmels Willen«, sagt Mannings entgeistert, »wieso bearbeiten Sie denn meine Storys nicht so, dass sie jeder denkbaren Politik entsprechen, die er wünscht?«

»Wieso nicht, in der Tat. Oder ich könnte die Story einfach jemand anderem übertragen. Das habe ich Nathan vorgeschlagen, aber er wollte nichts davon hören. Er hatte schon immer so einen komischen Hang – einen perversen Jagdtrieb. Er besteht darauf, dass die Kehrtwende von Ihnen persönlich kommt.«

»Er kann mich nicht zwingen, irgendetwas zu schreiben, woran ich nicht glaube.«

»Natürlich nicht, aber er kann – und hat’s auch getan – ein Ultimatum stellen. Nathan Cain hat mir heute Morgen gesagt, dass Sie Ihren Standpunkt in Sachen Carter in der nächsten Ausgabe widerrufen müssen. Wenn nicht, und wenn Carter nicht bis Neujahr wieder auftaucht, sind Sie hier raus. Um seinen Wünschen noch mehr Nachdruck zu verleihen, hat er gedroht, dass Sie nie wieder Arbeit bei einer anderen Zeitung finden werden. Und wie Sie sehr wohl wissen, hat er die Macht, sein Versprechen zu halten.«

»Aber wieso?«, fragt Manning. »Was steckt hinter seinem plötzlichen Interesse an der Geschichte? Nathan Cain kommt mir nicht wie ein Mann vor, dem es schlaflose Nächte bereitet, wenn seine Kollegen mal ein bisschen auf die Pauke hauen.«

»Ich habe keine Ahnung«, teilt Smith ihm mit resignierendem Achselzucken mit. »Ja, Nathans Anweisungen erscheinen unbegründet und ich habe versucht, ihn umzustimmen, aber meine Meinung zählt nicht – nicht diesmal. Ich bin nur ein überbezahlter Bote. Und die Botschaft lautet: Er hat das Sagen.«

»Mein gesamtes Leben als Erwachsener habe ich dafür gekämpft, mir einen Ruf aufzubauen, der auf Vernunft und Integrität beruht...«, murmelt Manning verstört.

Smith gibt nichts auf Worte. »Integrität ist einen Scheiß wert, wenn Sie dadurch Ihren Job verlieren – einen Job, in dem man Sie für gut hält.«

Manning denkt einen Augenblick nach, aber nur einen Augenblick, bevor er nachfragt. »Er lässt mir keine große Wahl, oder?«

»Nein, das tut er nicht.«

»Dann mach ich mich besser an die Arbeit und finde Helena Carter.«

Manning steht auf, um zu gehen, hält aber inne. Mit schwachem Lächeln wendet er sich an seinen Herausgeber. »Haben Sie gedacht, ich gebe klein bei?«

»Ich habe gehofft, Sie würden’s nicht tun, aber ich wusste es nicht. Cain war sich sicher, sie würden nachgeben, aber das Ultimatum ist kein Bluff. Wenn Sie den Fehdehandschuh aufnehmen, sind Sie dran.«

»Das weiß ich, Gordon. Ich werde versuchen, Sie nicht zu enttäuschen.«

»Viel Glück, Mark.«

Freitag, 2. Oktober

Manning schaut auf die römischen Ziffern seiner Uhr. Es ist fast Mittag. Vierundzwanzig Stunden sind vergangen seit Gordon Smith ihm das Ultimatum ihres Verlegers überbracht hat. Manning hat keine Zeit verloren und ein Treffen zum Mittagessen mit Roxanne Exner vereinbart, einer Anwältin – eine von vielen –, die mit dem Carter – Vermögen befasst ist. Er braucht ihre Hilfe.

Die Michigan Avenue ist bereits mit Büroangestellten überschwemmt, die sich hinausgeschlichen haben, um das schöne Wetter zu genießen. Manning zwängt sich durch die Massen auf dem schicken Boulevard und biegt dann in die schattige Seitenstraße ab, die zu seinem armenischen Lieblingsrestaurant führt, wobei er wegen des eisigen Ostwinds, der vom See hereinweht, seine Schritte beschleunigt.

Er duckt sich unter die zeltartige Markise und tritt ein; seine Nase atmet die warmen Düfte nach Knoblauch, Weinblättern und Sesam. Er bleibt kurz stehen, damit sich seine Augen an den fast völlig abgedunkelten, voll besetzten Speiseraum gewöhnen, und entdeckt Roxanne, die ihm aus einer der tiefen Nischen zuwinkt.

»Ich staune, dass du schon hier bist«, sagt er, als er sich neben ihr niederlässt.

Sie beugt sich zu ihm hin und bietet ihre Wange zu einem Kuss dar, den Manning verabfolgt. »Ich esse normalerweise nicht so früh, wenn überhaupt«, entgegnet sie. »Aber dein Anruf klang ziemlich verzweifelt und – wie du weißt – schätze ich deine Gesellschaft. Ich musste ein paar Sitzungen verschieben, es scheint also, dass du mir was schuldest.« Sie bedenkt ihn mit einem anzüglichen Lächeln und hebt ihren Scotch mit Soda zu einem flüchtigen Gruß.

Jetzt bemerkt Manning, dass sein üblicher Wodka on the Rocks bereits vor ihm steht. Sie stoßen an und trinken. »Für eine freche Mieze bist du enorm verführerisch«, meint er.

Das gibt ihr zu denken. Gegen ›Mieze‹ sträubt sie sich instinktiv, aber ›frech‹ gefällt ihr, und ›verführerisch‹ klingt noch besser. Alles in allem nimmt sie es als Kompliment.

Während sie noch seine Bemerkung analysiert, mustert Manning Roxanne. Einmal haben sie miteinander geschlafen – oder war es zweimal? Sie ist ein paar Jahre jünger als Manning, etwa fünfunddreißig, Single, modebewusst und unbestreitbar attraktiv. Sie ist eine Aufsteigerin, eine talentierte Anwältin, die kürzlich zur Teilhaberin einer der angesehensten Kanzleien der Stadt ernannt wurde. Gelegentlich gibt sie Manning für seine Artikel Tipps oder juristische Ratschläge. Sie ist eine Freundin.

Roxanne breitet unter dem Lichtkegel einer Laterne im marokkanischen Stil über ihnen ein Exemplar der Post vom Morgen auf dem Tisch aus. Mit dem Zeigefinger tippt sie auf einen Artikel. »Hast du den neusten Mist schon gesehen?«, fragt sie Manning. »Ich hab in Schülerzeitungen schon bessere Berichte gelesen.«

»War voraus zu sehen.«

»Hör dir nur diese Schlagzeile an: CHRONISCHE UNTÄTIGKEIT DER POLIZEI IM FALL CARTER. Und dann kursiv: Wird die Öffentlichkeit je die ganze Geschichte erfahren? Verfasser natürlich: Humphrey Hasting. Einleitender Absatz: ›Der stellvertretende Polizeichef von Chicago Earl Murphy gestand in einem Exklusivinterview mit der Post, der Mangel an belastenden Beweisen habe die Bemühungen der Polizei, den Mörder der verschwundenen Luftlinienerbin Helena Carter zu finden, behindert. Auf die Frage, welche Richtung neuerliche Bemühungen in diesem Fall nehmen könnten, äußerte Murphy, die Mordkommission konsultiere derzeit eine Reihe von Medien und Hellsehern, die nach Chicago eingeflogen wurden, um Unterstützung beim Auffinden der Leiche zu leisten. Die längst überfällige Maßnahme soll zweifellos eine frustrierte Bürgerschaft besänftigen, die der schleppenden Ermittlungstätigkeit, die diesen Fall kennzeichnet, zunehmend überdrüssig ist …‹«

Angewidert stößt Roxanne das Blatt von sich und lässt es zu Boden flattern. »Mark, dieser Fettarsch klopft doch nur auf den Busch, um eine Schlagzeile rauszuschinden.«

»Du trittst offene Türen ein, Roxanne – ich weiß, dass er ein mieser Zeilenschinder ist. Aber er hat’s drauf, die Leute aufzuhetzen, und das macht ihn gefährlich.«

»Und mächtig. Mein Gott, jetzt scheucht er die Chicagoer Polizei herum. Wieso interessiert sich eigentlich die für den Fall? Carter ist doch in Bluff Shores verschwunden.«

»Die Erzdiözese von Chicago soll fast hundert Millionen Dollar erben, wie du dich vielleicht erinnerst, also kannst du drauf wetten, dass Erzbischof Benedict ein paar hohe Tiere angerufen hat. Außerdem verfügt die örtliche Polizei dort nicht über die Mittel, verlässliche Ermittlungen durchzuführen. Irgendwann wurde auch das FBI eingeschaltet, aber die waren schnell wieder raus, da niemand beweisen konnte, dass Geld – oder eine Leiche – die Staatsgrenzen überschritten hat. Die Frage der Zuständigkeit hat den Fall noch verkompliziert, aber das eigentliche Problem ist der Mangel an Beweisen.«

»Der Mangel an Beweisen ist ja auch dein Handicap, Mark. Wenn dir jeder Ansatz fehlt, wie glaubst du dann, dass du das alte Mädel rechtzeitig finden kannst, um deinen Job zu retten?«

»Ich bin mir überhaupt nicht sicher, dass ich’s kann, aber mir bleibt keine große Wahl – ich muss es versuchen. Willst du mir dabei helfen?«

Sie greift über die Speisekarten hinweg, um seine Hand zu tätscheln. »Natürlich«, versichert sie ihm in gespielt tröstendem Ton. Dann, sachlich, »ich bin ehrlich der Meinung, dass du den falschen Baum anbellst, aber wenn du entschlossen bist, einen Märtyrer aus dir zu machen …«

»Schau mal, Roxanne.« Er ist verärgert. »Ich habe nicht vor, mich zu opfern – weder für die journalistische Integrität noch für das ›Recht der Öffentlichkeit auf Information‹;. In dem Schlamassel stecke ich, weil die Alternative untragbar ist. Ich wüsste deine Hilfe zu schätzen.«

Sie nickt, jetzt völlig geschäftsmäßig. »Ich verstehe, Mark. Ich habe meine Akten mitgebracht und für dich habe ich auch ein paar. Was hast du vorzuweisen?«

Er breitet mehrere Aktenmappen auf dem Tisch aus. »Die sind aus dem Archiv des Journal. Sie enthalten Ausschnitte von allem, was wir über Helena Carter gebracht, und jedes einzelne Foto, das wir von ihr geschossen haben. Alles ist auf der Rückseite datiert. Ich bin erstaunt, wie viel es ist – nicht nur meine eigenen Artikel aus den letzten sieben Jahren, sondern auch noch ein Haufen Material von vor ihrem Verschwinden.« Er bricht ab, als er in einer der Mappen etwas entdeckt.

»Was hast du da?«, fragt Roxanne und streckt die Nase über den Tisch.

Manning zieht ein Foto aus einer der älteren Mappen und zeigt es ihr. Es war auf einem offiziellen Bankett im Ballsaal des Drake aufgenommen worden, Jahre bevor Helena verschwand und als ihr Ehemann Ridgely Carter noch lebte. Sie blicken starr von ihrem Tisch auf und zwischen ihnen steht steif ein Mann mit gezwungenem Lächeln, der je eine Hand quer über die Schultern beider Carters gelegt hat.

Roxanne schaut Manning mit einem leeren Ausdruck an, der besagt, Na und?

Er klärt sie auf. »Dieser vornehme, hölzerne Herr, der da im Hintergrund posiert, ist kein Geringerer als Nathan Cain.«

»Gott«, sagt Roxanne und greift nach dem Foto, um es eingehender zu studieren. »Der Mann, der dir heute das Ultimatum gestellt hat, kannte also die Carters.«

»Ich bin sicher, das ist nur ein Zufall – Cain kennt jeden in den gesellschaftlichen Kreisen von Chicago – aber trotzdem, die Verbindung trägt dazu bei, sein Interesse an der Geschichte zu erklären. Was mich allerdings geplättet hat, ist, wieso sein Interesse so plötzlich und so heftig kommt. Seit dem Verschwinden der Frau sind sieben Jahre vergangen, ich habe ganze Bände über den Fall geschrieben, und Cain hat nicht mal buh gesagt... bis heute.«

»Er steckt bis über die Halskrause mit drin, Mark«, sagt Roxanne mit von gespieltem Argwohn getränkter Stimme. »Du hast drei Monate, um an den Dreck ranzukommen. Also fang an, zu graben.« Lachend reicht sie ihm das Foto. »Es überrascht mich, dass es eine so dicke Akte über die mysteriöse Person gibt.«

»Offenbar war sie so etwas wie eine Gesellschaftsgröße«, erklärt Manning, »aber sie genoss auch einen gewissen Ruhm als erstklassige Züchterin in Katzenhalterkreisen.«

»Echt? Welche Art von Katzen?«

»Irgendeine seltene Rasse«, antwortet Manning, während er einen Stapel Fotos durchblättert. »Da haben wir’s. Abessinierkatzen. Schau dir die an – wirklich ein herrliches Tier, fast wie ein kleiner Puma.«

»Aber ja«, stimmt Roxanne zu. »Elegant.«

»Ich fahre nächste Woche rauf nach Bluff Shores, um Carters Schwester, Margaret O’Connor zu interviewen. Seit dem Verschwinden habe ich nicht mehr mit ihr gesprochen. Sie wohnt auf dem Anwesen und kümmert sich um die Katzen. Vielleicht finde ich da einen Anhaltspunkt.«

»Gibt es auch Farbaufnahmen von den Katzen?«

»Ich glaube, ich habe eine gesehen – muss aus der Sonntagsbeilage gewesen sein. Da ist sie.« Manning zeigt Roxanne ein Bild der Erbin, das sie mit einer rötlich gefärbten Katze neben einem riesigen Pokal zeigt, der das Tier zum überragenden Sieger erklärt. Helena Carter hat ein strahlendes Siegeslächeln aufgesetzt; die Katze glotzt gelangweilt direkt in die Kamera. »Wie find ich denn das? Ihre Haarfarbe passt zu der von der Katze. Sie muss sie in diesem bescheuerten Rot gefärbt haben.«

Roxanne betrachtet das Foto. Sie schüttelt den Kopf. »Das ist keine rote Farbe, Mark. Das ist eine natürliche Tönung, die von einer Pflanze oder einem Kraut oder sowas stammt. Das gibt’s schon seit Jahrhunderten. Es heißt Henna.«

»Sei’s drum. Und wenn ich schon mal droben im Anwesen bin, will ich auch mit Arthur Mendel, dem Haushälter, sprechen.«

»Wozu? Wenn du so davon überzeugt bist, dass Carter lebt, wieso verschwendest du dann deine Zeit mit ›Mordverdächtigen‹?«

»Selbst wenn es keinen bekannten Hinweis auf Mord gibt«, erklärt Manning, »muss ich, wenn ich beweisen will, dass die Frau noch lebt, zuerst mich selbst davon überzeugen, dass jeder mögliche Verdächtige nichts mit ihrem Verschwinden zu tun hat. Das ist eine Heidenarbeit. Ehrlich gesagt, hätte ich das schon vor langer Zeit machen müssen.«

»Aber bis heute morgen fehlte dir dazu die nötige Motivation, stimmt’s?«

»Stimmt.« Er lacht. »Kriegst du langsam Hunger?«,

Roxanne bestellt einen weiteren Drink und entscheidet sich für Vorspeisen – Hummus und Lamm mit geschroteter Hirse. Manning nimmt einen Lamm–mit–Couscous–Teller. Während des Essens bringt Roxanne Manning auf den neuesten Stand in Sachen Carter–Vermögen und sie vereinbaren, sich noch einmal in ihrem Büro zu treffen.

»Wo du deinen Terminkalender schon draußen hast«, sagt Roxanne, »bist du nächsten Freitag, heute Abend in einer Woche, frei?«

»Völlig«, sagt Manning, der in seinem Kalender blättert, in dem er jedes Datum mit der Zahl der Tage markiert hat, die bis Neujahr verbleiben – eine Erinnerung daran, dass die Uhr bis zum Ablauf des Ultimatums nun stetig tickt. »Mein Gesellschaftsleben war in letzter Zeit nicht gerade wild bewegt.«

»Dann trag mich doch ein. Ich habe einen Hausgast von außerhalb zu Besuch, einen Künstlerfreund vom College, und will eine Riesen–Cocktailparty schmeißen, um ihn meiner Meute vorzustellen.«

»Ihn?«

»Ja, Mark. Er ist ein Freund. Die Party steigt bei mir zu Hause – jederzeit nach acht.«

»Ich werde da sein«, versichert Manning ihr und trägt das Datum ein, nicht mit Blei, sondern mit Tinte. Er hält einen Moment inne und fragt: »Und du bist dir sicher, dass der Junge nicht mehr ist als ein ›Freund‹? «

»Wenn’s bloß so wäre!«

Am gleichen Nachmittag wartet gegenüber dem Bürogebäude des Journal auf einem der oberen Stockwerke des Post-Gebäudes Humphrey Hasting auf Josh Williams, den Verleger der Post. Hasting, wie immer extravagant gekleidet, fummelt an seiner Krawatte – einer von vielen, wie er sie stets trägt – eine außergewöhnliche Kuriosität, die seinen Umfang betont. Mit neunundvierzig ist er noch immer unverheiratet; zu seinem unschätzbaren Vorteil hat seine Schwester Ruth Josh Williams geehelicht.

Hasting füllt einen gepolsterten Rundsessel neben dem Schreibtisch der Sekretärin vor dem Büro seines Schwagers aus. Ungeduldig hat er die Beine übereinander geschlagen und zeigt Büschel schwarzer Haare auf weißen Schienbeinen. Die Haltung wird ihm unbequem und er stemmt beide Füße auf den Teppich, lehnt sich in dem Sessel zurück und blickt, die Hände auf je ein Knie gestützt, starr geradeaus. Die zehn Finger trommeln in unregelmäßiger Folge auf die eng von burgunderrotem Polyester umspannten Beine – Beine, die die Sekretärin an vier Würste erinnern, von denen zwei über die Sesselkante ragen und zwei weitere auf den Boden hängen.

Die Frau ist damit beschäftigt, etwas abzutippen, das aus einem irgendwo unter den Haaren steckenden Kopfhörer dringt. Das Tippen ihrer Finger auf der Tastatur bricht kurz ab, als sie hastig an ihrer Zigarette zieht, die sie in einem Aschenbecher neben ihr abgelegt hat.

»Würden Sie das verfluchte Ding ausmachen?«, blafft Hasting, während er mehrere lange, graue Tierhaare von seiner Hose zupft. »Wenn Ihnen Ihre eigene Lunge schon egal ist, dann sollten Sie wenigstens ein Quentchen Rücksicht für meine aufbringen.« Streng starrt er die Frau an und denkt Quentchen. Gutes Wort. Hab ich schon ‘ne ganze Weile nicht mehr verwendet.

»Entschuldigung, Mr. Hasting«, sagt sie und drückt die Zigarette aus.

»Schon besser«, schnaubt er und wedelt mit beiden Händen, um den Rauch aus seiner Atemzone zu vertreiben.

Vom Telefon der Sekretärin ertönt ein elektronisches Trillern. Sie nimmt ab. »Mr. Williams empfängt Sie jetzt. Bitte treten Sie ein«, sagt sie zu Hasting.

Er nickt ihr kurz zu, wie um zu sagen, ›Wird auch Zeit‹.

Hasting trägt eine Lesebrille mit halbrund gerahmten Halbgläsern. Auf der Spitze der wuchtigen Nase wirkt sie absurd klein. Beim Aufstehen nimmt er sie mit großartiger Geste ab. Der Sessel gibt ein erleichtertes Ächzen von sich, als er durch das Zimmer auf Josh Williams’ Büro zugeht. Hasting reißt die Tür auf und bleibt, einen Fuß vor den anderen gesetzt, auf der Schwelle stehen, um seine Brille wie ein Lorgnon zu schwenken. »Guten Morgen, Josh«, sagt er dröhnend, als seien sie alte Kumpels, die sich zu einer Partie Golf treffen.

»Morgen, Hump«, sagt Williams mit einem verräterischen Kichern, während er dem Mann zuwinkt, einzutreten.

Innerlich schäumt Humphrey bei der Nennung seines verhassten Spitznamens, während er übertrieben höflich lächelnd die Tür schließt. Er stolziert zum Schreibtisch und lässt sich vor Willams nieder. Seine Hose quietscht über dem Lederbezug des Stuhls, als er sich darauf breitmacht.

Williams ist gerade damit beschäftigt, sich seine Pfeife anzuzünden, die er aus einer in Ständern auf einer Kommode hinter sich aufgereihten Kollektion ausgewählt hat. »Na, weshalb musst du mich so unbedingt sprechen?« Die Pfeife wackelt beim Sprechen zwischen seinen zusammengebissenen Zähnen. Er reißt ein massiges Streichholz an, hält es über den Pfeifenkopf und zieht herzhaft, wobei sich seine Wangen im Takt mit dem Hervortreten seiner Augen eindellen. Aus dem Pfeifenkopf steigen Funken auf, während im Innern der Tabak knistert.

»Naja, Josh«, antwortet Hasting, der seine Brille wieder aufsetzt, »es geht um diese Carter – Lady.«

»Ach ja?«, sagt der Herausgeber. Er ist jetzt bei seinem zweiten Streichholz, mit dem er nicht mehr Erfolg hat als mit dem ersten. Er bläst es aus und schnippt es in den großen Aschenbecher, der vor Hasting steht. Das Streichholz krümmt sich, immer noch qualmend und nach Schwefel stinkend. »Was ist mit ihr?«, fragt er und zündet ein drittes an.

»Ich denke, wir sollten uns auf eine Politik bezüglich der Position unserer Zeitung zum Fall Helena Carter festlegen.«

»Was meinst du mit ›Position‹?« Die Pfeife brennt jetzt – schwach, aber sie brennt.

»Josh, wir müssen einen Standpunkt beziehen«, sagt Hasting, der jedes Wort mit entschiedenem Tippen auf sein Knie unterstreicht.

»Hump, man bezieht keinen Standpunkt im Fall einer verschwundenen Person. Man berichtet schlicht die Fakten.«

»Aber in letzter Zeit hat es keine Fakten gegeben.«

»Und, was sollen wir machen – welche erfinden?«

»Josh.« Er hält inne, um sich darauf vorzubereiten, etwas ganz Einfaches zu erklären. »Wenn wir uns ein Quentchen journalistischer Freiheit gestatten, könnten wir den Ausgang des Falles sehr wohl beeinflussen.« Er stößt mit dem Kopf vor, als wolle er sagen, ›Ist dir das nicht klar?‹

Josh Williams setzt sich in seinen Stuhl zurück, fingert nachdenklich an seiner Pfeife und atmet aus. Eine Wolke aromatischen, blauen Rauchs dringt zwischen seinen Zähnen hervor; aus seinen Nüstern schießen zwei Rauchströme. Williams ist vor kurzem sechzig geworden. Den größten Teil seines Berufslebens hat er bei der Post verbracht und sich nach oben gearbeitet, wie es bei Journalisten üblich war, wie es üblich war, als Chicago noch vier florierende Tageszeitungen hatte. Er hat die Post in den Jahren gekannt, als sie noch den Ruf eines respektablen Morgenblattes genoss – vor der Ära der neuen Besitzer, vor der Zeit, als Auflage und Anzeigengeschäft die einzige Sorge der Geschäftsleitung waren. Jetzt sitzt er, beide Ellbogen auf die Armlehnen seines Sessels gestützt, da und nuckelt noch immer an seiner Pfeife. Er denkt an den Ruhestand – der nur noch fünf Jahre vor ihm liegt. »Okay, Hump«, sagt er ruhig. »Dann tun wir’s. Worauf willst du hinaus?« Seine Pfeife ist ausgegangen.

»Sei nicht so griesgrämig«, sagt Hasting allzu fröhlich. »Ich will auf gar nichts hinaus. Es ist nur so, dass ich mit Ruth gesprochen habe …«

»Das hab ich mir gedacht«, sagt Williams mit einem lauten Lachen. Er stößt beim Sprechen immer noch Rauch aus, obwohl die Pfeife seit geraumer Zeit erloschen ist.

»Ruth und ich haben uns gedacht«, fährt Hasting demonstrativ hustend fort, »dass die Öffentlichkeit ein paar Antworten verdient hat. Schließlich läuft die Sache jetzt schon – wie lange? – fünf, sechs Jahre?«

»Sieben«, unterbricht Williams. Er kann es sich nicht verkneifen, hinzuzufügen: »Liest du das Journal nicht?«

»Sieben, sei’s drum«, kommentiert Hasting die Korrektur. »Egal, die Leute verdienen ein paar Informationen. Es kann nicht sein, dass eine nette, alte Lady ausradiert wird und die Polizei auf den Händen sitzt. Eine solche Greueltat darf in einer freien, aufstrebenden Gesellschaft nicht geduldet werden. Mein Gott, es gibt mögliche Verdächtige – der Haushälter, Arthur Mendel, zum Beispiel, war früher für die Stallungen auf dem Carter – Anwesen zuständig, und du weißt ja sicher, in welch zwielichtiger Gesellschaft solche Leute verkehren. Worauf wartet die Polizei also? Wann ergreift sie Maßnahmen? Wann wird das Bedürfnis der Öffentlichkeit nach Gerechtigkeit endlich befriedigt?« Er macht eine rhetorische Pause und fährt dann, nach vorn gebeugt, sachte fort: »Weißt du, wann, Josh? Wenn wir etwas unternehmen.«

»Und was schlägst du vor, sollen wir unternehmen?«, fragt Williams, der mit einem Instrument, das an einen vorn abgeflachten Nagel erinnert, in seiner Pfeife stochert.

»Wir rühren erst mal das Wasser auf. Wir halten der Öffentlichkeit den Fall ständig vor Augen, gleich auf der Titelseite. Lassen keinen Stein auf dem andern. Sorgen dafür, dass das Publikum nach Blut, nach einer polizeilichen Aktion schreit. Dann – «, er beugt sich vertraulich vor, »vielleicht ein paar gut getimte Leitartikel, in denen gefordert wird, dass ein Verdächtiger vor Gericht kommt. Ich kümmere mich um die Berichterstattung, Josh, und dann können deine Jungs mit den Leitartikeln kommen.«

»Berichterstattung? Welche Berichterstattung, Hump? Der Fall ist in einer Sackgasse gelandet.« Williams’ Pfeife lässt sich nicht wieder in Gang bringen. Er dreht sie um und klopft sie in dem Aschenbecher vor Hasting aus. Ein kleines Häufchen verkohlten Materials fliegt von der Pfeife auf Hastings Oberschenkel.

Hasting, der die Asche mit dem Zeigefinger von der Hose schnippt, stellt fest, dass sie einige Fasern des synthetischen Stoffs zu einem winzigen, harten Klumpen verschmort hat. Als die Asche zu seinen Füßen landet, tritt er sie in den Teppich und betrachtet befriedigt den schmierig schwarzen Streifen, den sein Schuh zieht.

»›Berichterstattung‹ ist vielleicht nicht das richtige Wort«, sagt er. »Eher etwas wie ein – sagen wir – sachkenntlicher Kommentar. Das Publikum kennt den Unterschied nicht. Versteh mich nicht falsch; ich bin mir sehr wohl bewusst, dass es unsere berufliche Pflicht ist, der Öffentlichkeit zu dienen. Nur ist das eben das geeignetste Mittel, dieser Verpflichtung nachzukommen.«

William sitzt einen Augenblick lang still da und bedenkt, was er gerade gehört hat. Er kennt den Ausgang dieses Gesprächs bereits. »Ich nehme an, du hast das mit Ruth besprochen?«

»Genauer gesagt, haben wir eingehend darüber diskutiert.«

»Hm-hmm. Und was hält sie davon?«

»Naja, Josh, ich muss sagen, dass sie der Dienst–an–der–Öffentlichkeit–Aspekt weniger zu kümmern scheint. Ich glaube, sie hat so was wie ›einen Scheißdreck‹ gesagt – du weißt ja, wie hart sie manchmal sein kann. Aber dann brummelte sie was von Wunder für die Auflage wirken, oder etwas in dem Sinn. Ruth scheint zu glauben, von Äthiopien hätten unsere Leser die Nase voll.«

Er lehnt sich zurück und schaut Williams in die Augen. »Kurz gesagt, Josh, sie sagt, wir machen’s.«