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Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts Ausgewählt von Jörg Baberowski, Bernd Greiner und Michael Wildt

Das 20. Jahrhundert gilt als das Jahrhundert des Genozids, der Lager, des Totalen Krieges, des Totalitarismus und Terrorismus, von Flucht, Vertreibung und Staatsterror – gerade weil sie im Einzelnen allesamt zutreffen, hinterlassen diese Charakterisierungen in ihrer Summe eine eigentümliche Ratlosigkeit. Zumindest spiegeln sie eine nachhaltige Desillusionierung. Die Vorstellung, Gewalt einhegen, begrenzen und letztlich überwinden zu können, ist der Einsicht gewichen, dass alles möglich ist, jederzeit und an jedem Ort der Welt. Und dass selbst Demokratien, die Erben der Aufklärung, vor entgrenzter Gewalt nicht gefeit sind. Das normative und ethische Bemühen, die Gewalt einzugrenzen, mag vor diesem Hintergrund ungenügend und mitunter sogar vergeblich erscheinen. Hinfällig ist es aber keineswegs, es sei denn um den Preis der moralischen Selbstaufgabe.

Ausgewählt von drei namhaften Historikern – Jörg Baberowski, Bernd Greiner und Michael Wildt – präsentieren die »Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts« die Forschungsergebnisse junger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Die Monografien analysieren am Beispiel von totalitären Systemen wie dem Nationalsozialismus und Stalinismus, von Diktaturen, Autokratien und nicht zuletzt auch von Demokratien die Dynamik gewalttätiger Situationen, sie beschreiben das Erbe der Gewalt und skizzieren mögliche Wege aus der Gewalt.

Svenja Bethke

Tanz auf Messers Schneide

Kriminalität und Recht in den Ghettos Warschau,
Litzmannstadt und Wilna

Hamburger Edition

Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts

 

Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH

Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung

Mittelweg 36

20148 Hamburg

www.hamburger-edition.de

© der E-Book-Ausgabe 2015 by Hamburger Edition
ISBN 978-3-86854-654-5

© 2015 by Hamburger Edition

ISBN 978-3-86854-295-0

Redaktion: Sigrid Weber
Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras
Satz aus der Stempel Garamond von Dörlemann Satz, Lemförde
Umschlagmotiv: Jüdischer Polizist im Ghetto Litzmannstadt, 1941
© Bundesarchiv_101I-133-0703-32; Fotograf Zermin

Inhalt

Einleitung

I. Kriminalität und Recht in der »Lebenswelt Ghetto«

»Lebenswelt Ghetto« – »jüdische« oder »menschliche« Erfahrung?

Definitionen von Kriminalität und Recht

II. Nationalsozialistische »Judenpolitik« in Osteuropa und die Perspektive der Judenräte

Die Ghettoisierung der jüdischen Bevölkerung

Deutsche Kerninteressen im Wandel

Neue Definitionen von Kriminalität

Willkürliches Handeln und paradoxe Entwicklungen

Die Überlebensstrategien der Judenräte

III. Die Bekanntmachungen der Judenräte – Definitionen von kriminellem Handeln

Deutsche Forderungen und ihre Überführung in die ghettointerne Zuständigkeit

Ghettointerne Regeln und Sanktionen

Deutsche Forderungen im Rahmen der Deportationen

IV. Die jüdische Polizei als Exekutivorgan

Die Einrichtung der jüdischen Polizeiorgane

Versuche interner Gestaltung

Strafverfolgung und Ermittlungen

Deliktdefinitionen in der Praxis der jüdischen Polizeiorgane

V. Die ghettointernen Gerichte

Institutionelle Rahmenbedingungen

Offizielle und inoffizielle Abgrenzungen zur deutschen Gerichtsbarkeit

Rechtstraditionen und Berufserfahrungen

Exkurs: Jüdische Gerichte und jüdisches Recht in historischer Perspektive

Verhandelte Rechtsfälle

»Mildernde Umstände« und Amnestien

Spezifische Rechtsprobleme

VI. Der Strafvollzug im Ghetto

Das Spektrum der Strafen

Die ghettointernen Zentralgefängnisse

VII. Die »einfachen« Ghettobewohner und ihr Bezug auf die »inneren« und »äußeren« Autoritäten

Zum Umgang mit ghettointernen Rechtsinstanzen

Wege der Beschwerde

Kriminalität als Widerstand?

Kriminalität und Recht zwischen »äußerer Macht« und »innerer Autonomie« – Schlussbetrachtungen

Danksagung

Anhang

Abkürzungsverzeichnis

Quellen- und Literaturverzeichnis

Zur Autorin

Einleitung

Am 25. April 1941 klärte der Judenrat in Litzmannstadt1 die Ghettobewohner in der Geto-Tsaytung darüber auf, welche Handlungen in Zukunft als Vandalismus und somit als Verbrechen anzusehen seien: »Wie sich herausstellt, hat eine besonders große Zahl des Abschaums und Vandalen das Ghetto zu solch einem Zustand, welcher unsere Gesundheit bedroht, geführt. So zum Beispiel sind im Laufe der letzten etlichen Monate durch dieselben skrupellosen Menschen der größte Teil von hölzernen und auch gemauerten Aborte und Müllgruben, von welchen nicht die mindeste Spur geblieben ist, auseinander genommen worden. Solche Arten des Vandalismus gehören zu der täglichen Erscheinung. […] Die erwähnten Verbrecher stellen sich nicht für die mindeste Sache ab und setzen ihre zerstörerische Arbeit weiter fort, mit welcher sie bloß Eigennutz – das entwendete Holz zu Wucherpreisen zu verkaufen – bezwecken.«2

Ghettobewohner, die sich solche Delikte zuschulden kommen ließen, wurden vom jüdischen Ordnungsdienst festgenommen und teils von ghettointernen Gerichtsinstanzen zu Geld- und Haftstrafen oder auch zur Fäkalienabfuhr verurteilt.3 Die Haftstrafen wurden im ghettointernen Gefängnis verbüßt.

Im Ghetto Wilna verhängte der Judenratsvorsitzende Jakub Gens unter anderem Strafen für das Verbreiten von Gerüchten. So verurteilte das Ghettogericht im Dezember 1942 aus diesem Grund einen Bewohner zu einer siebentägigen Haftstrafe.4 Im Ghetto Warschau deckte der jüdische Ordnungsdienst auf, dass eine Frau wiederholt geschwächte Ghettobewohner unter dem Vorwand bei sich aufgenommen hatte, sie zu versorgen. Stattdessen hatte sie jedoch abgewartet, bis die Hilfsbedürftigen gestorben waren, um deren Kleidung zu verkaufen.5 Und im Dezember 1941 beschäftigte sich das Gerichtskollegium beim Judenrat im Ghetto Litzmannstadt mit dem ersten Mordfall.6 Der Chronist in Litzmannstadt zog zwei Jahre später eine ernüchternde Bilanz: »Leider existiert praktisch keinerlei Ethik im Ghetto, für alle seine Bewohner steht das Essen an erster Stelle und alle Mittel sind gut.«7 Ähnliches vermerkte im Ghetto Wilna Herman Kruk in seinem Tagebuch: »Das Ghetto ist amoralisch und das Ghettoleben in Wilna bedeutet Gesetzlosigkeit an der Grenze zwischen Leben und Tod.«8

Dem entgegenzustehen scheint die in Forschungsliteratur, zeitgenössischen Quellen und Memoiren vertretene These, dass das Ausmaß der »Kriminalität« in den Ghettos in Anbetracht der katastrophalen Lebensumstände sehr gering gewesen sei.9 Samuel Gringauz, Überlebender des Ghettos in Kaunas, führte dies beispielsweise 1949 rückblickend auf eine »hohe jüdische Moral« zurück.10 Józef Rode, jüdischer Polizist in Warschau, hielt in seinem Tagebuch fest, es habe weder Morde noch Raubüberfälle im Ghetto Warschau gegeben,11 und der dortige Ordnungsdienst-Funktionär Stanisław Adler schrieb: »Das Ausmaß an Kriminalität war nicht so groß, wie man in Anbetracht der großen Armut erwarten würde.«12 Über das Ghetto Litzmannstadt berichtete Oskar Rosenfeld: »Wenn auch hier und da grenzenlose Not zu einem kleinen Diebstahl, zu einem raschen Griff in fremdes Gut verführt, so ist doch das Getto frei von Gewalt und Verfemung.«13

Auch heute begegnet man ähnlichen Auffassungen. »Kriminalität? – Die hat es doch in den Ghettos nicht gegeben!«, entgegnete mir beispielsweise kopfschüttelnd eine Archivarin, als ich sie während meines ersten Archivaufenthaltes in Israel fragte, in welchen Beständen ich Quellen für meine Dissertation über Kriminalität und Recht in nationalsozialistischen Ghettos finden könnte. Einen ähnlichen Einwand bekam ich zu hören, als ich mein Projekt in einem Forschungskolloquium in Deutschland vorstellte. Hier war ein Zuhörer der Meinung, angesichts der deutschen Mordpläne habe es in den Ghettos keinerlei Aushandlungsspielräume bezüglich der Frage gegeben, was als kriminell, was als gerecht oder ungerecht einzuordnen war. Schließlich seien die jüdischen Selbstverwaltungsorgane gezwungen worden, deutsche Befehle und Zwangsmaßnahmen eins zu eins umzusetzen.

Die widersprüchlichen Einschätzungen zeugen davon, dass die Definitionen von kriminellem Handeln überaus subjektiv waren und sind und stets einem Wandel unterliegen. Angesichts der deutschen (Mord-)Pläne gegenüber der jüdischen Bevölkerung14 nahmen Kriminalitätsdefinitionen und daraus resultierende Rechtsnormen15 in den nationalsozialistischen Ghettos eine spezifische Form an.

Die auf Befehl der Deutschen eingerichteten Judenräte waren mit dem Dilemma konfrontiert, deutsche Forderungen erfüllen und deutsche (Rechts-)Vorstellungen in den Ghettos umsetzen zu müssen. Sie hofften, auf diesem Wege das Überleben der Ghettogemeinschaft, zumindest eines Teils, sichern zu können. Bei der Ausgestaltung zweifelsohne eingeschränkter und sich verändernder Handlungsspielräume versuchten sie, die Pläne der Deutschen gemäß rationalen, vernunftgeleiteten Kriterien zu verstehen und sich so wahrgenommene deutsche Interessen – beispielsweise an Arbeitskraft – zunutze zu machen.16 »Wie immer verschieden die Umstände gewesen sein mochten, in denen sich die ›Judenräte‹ befunden haben – gemeinsam war ihnen die Erfahrung einer Grenzsituation, in der alle universell gültigen Antizipationen menschlichen Verhaltens annulliert waren«,17 schreibt der Historiker Dan Diner über ihre Perspektive. Hierunter fiel auch die Erfahrung, dass die Deutschen die Ghettobewohner ermordeten, obwohl die Judenräte deutsche Forderungen erfüllten. Diner bezeichnet dies als »Gegenrationalität«, als Ausdruck des zivilisatorischen Bruchs, den der Nationalsozialismus darstellt.18

Ausgangspunkt dieser Studie ist die These, dass sich das Dilemma der Judenräte in besonderer Weise im Bereich der ghettointernen Rechtssphäre verdichtete.19 Vor diesem Hintergrund wird untersucht, welche Definitionen von Kriminalität und Recht die Judenräte in den von den Deutschen eingerichteten Zwangsgemeinschaften formulierten und wie diesen zur Durchsetzung verholfen werden sollte. Hier, wie insgesamt im Ghetto, bewegte sich das Handeln der Judenräte zwischen dem Erfüllen deutscher Forderungen und der Sorge um das Wohl der Ghettogemeinschaft. Mit der Zeit sollte sich zeigen, dass beide Anliegen angesichts der deutschen Mordpläne nicht miteinander zu vereinbaren waren.

Die Kriminalitäts- und Rechtsdefinitionen der Judenräte waren nicht statisch. Sie standen unter dem Einfluss sich wandelnder deutscher Pläne bezüglich der jüdischen Bevölkerung. Die nach dem Überfall auf Polen im September 1939, vor allem im Laufe des Jahres 1940, eingerichteten Ghettos waren als »Provisorien« konzipiert worden, um weitere, zunächst nicht konkretisierte »Umsiedlungsmaßnahmen« vorzubereiten. Im Laufe des Sommers 1941 entschieden die Deutschen dann, die gesamte jüdische Bevölkerung in Europa systematisch zu ermorden. Abhängig davon, wie sich die Pläne der Deutschen veränderten und in den Ghettos ihre systematischen Ermordungsabsichten bekannt wurden, modifizierten die Judenräte ihre Überlebensstrategien für die Ghettogemeinschaften.

Im Folgenden wird untersucht, inwiefern sich dieser Wandel in ihren Konzeptionen von kriminellem Handeln und daran anknüpfenden Rechtsnormen und Sanktionen ausdrückte. Der Blick wird dabei nicht nur auf die Judenräte gerichtet, sondern ebenfalls auf diejenigen, denen ihre Kriminalitäts- und Rechtsdefinitionen galten: auf die »einfachen« Ghettobewohner, die keinen Posten in der jüdischen Selbstverwaltung innehatten.20 Für sie stellten häufig gerade die neu definierten kriminellen Handlungen individuelle Überlebensstrategien dar. Ihre Wertvorstellungen wichen daher oft eklatant von den Kriminalitäts- und Rechtsdefinitionen der Judenräte ab. Wie noch zu zeigen sein wird, stellten sie dennoch dort, wo es für sie Sinn machte, die ghettointernen Rechtsinstanzen in ihren Dienst.

Die Kriminalitäts- und Rechtskonzeptionen der Judenräte werden hier für die Ghettos Warschau, Litzmannstadt und Wilna untersucht. Diese lagen in verschiedenen deutschen Verwaltungsdistrikten (Warschau im Generalgouvernement, Litzmannstadt im Reichsgau Wartheland und Wilna im Reichskommissariat Ostland) und bestanden unterschiedlich lange: Während das Ghetto Warschau von Oktober 1940 bis Mai 1943 existierte, riegelten die Besatzer das Gebiet in Litzmannstadt im April 1940 ab und ermordeten die verbleibenden Ghettobewohner im August 1944. Das Ghetto in Wilna wurde im September 1941 eingerichtet und im September 1943 »liquidiert«.21 Der Vergleich zwischen zwei Ghettogemeinschaften, die im besetzten Polen lagen und eingerichtet wurden, als die Deutschen die Ghettos noch als »Provisorien« ansahen, und dem Ghetto Wilna in der besetzten Sowjetunion, das von den Deutschen eingerichtet wurde, als ihr Plan zur systematischen Ermordung der jüdischen Bevölkerung bereits feststand, ist in mehrerlei Hinsicht aufschlussreich. Damit kann zum einen gezeigt werden, auf welche Weise die sich wandelnden Absichten der Deutschen die ghettointernen Kriminalitätsdefinitionen, die Ausgestaltung der Rechtssphäre und somit die Werte und Vorstellungen von Zusammenleben in den Zwangsgemeinschaften beeinflussten, und zum anderen, wie sich die unterschiedlich lange Existenz der Ghettos auf die Verankerung von Kriminalitäts- und Rechtsdefinitionen und die Institutionalisierung von Rechtsinstanzen auswirkte.22

Die Ghettos in Warschau, Litzmannstadt und Wilna waren große Ghettos mit einem hohen Grad an Institutionalisierung. In kleineren und in sogenannten offenen Ghettos nahm die Ausgestaltung von Rechtsinstanzen andere Formen an.23 Obgleich ein entsprechender Vergleich bereichernd wäre, wird hier der Schwerpunkt auf die vielschichtigen Aushandlungsprozesse der Instanzen der jüdischen Selbstverwaltungsorgane gelegt. Diese können nur für die großen Ghettos untersucht werden, weil hier ein hoher Grad an Institutionalisierung vorlag und somit eine dichte Quellenüberlieferung gegeben ist. In kleinen Ghettos, insbesondere auf vormals sowjetischem Gebiet, war die Rechtssphäre weniger ausdifferenziert. Die jüdische Polizei übernahm auf Befehl der Deutschen regulative und Recht sprechende Kompetenzen, wobei deutsche Rechtsdefinitionen in Anbetracht der veränderten Pläne der Deutschen von Beginn an unmittelbarer in die Ghettogemeinschaften getragen wurden.24

Je nach thematischem Fokus werden in der Darstellung Schwerpunkte auf einzelne Ghettos gelegt. Das Ghetto Litzmannstadt nimmt dabei aufgrund der Quellenlage besonders viel Raum ein. Dies ist gerechtfertigt, da Rumkowskis Strategie der »Rettung durch Arbeit« zum einen als Zuspitzung der Perspektive der Judenräte eingeordnet werden kann.25 Überdies fungierte das seit 1940 bestehende Ghetto Litzmannstadt aus deutscher Sicht als Modell für später eingerichtete Ghettos und kann daher quasi als »Idealtypus« untersucht werden.26 Vor allem der Kontrast mit dem Ghetto Wilna, das erst im September 1941 eingerichtet wurde, verdeutlicht Unterschiede, die aus den divergenten Einrichtungszeitpunkten resultierten, während Beispiele aus dem Ghetto Warschau zeigen, auf welche Weise sich der weniger autokratische Führungsstil des dortigen Judenrates und strengere deutsche Restriktionen auf die Ausgestaltung einer ghettointernen Rechtssphäre auswirkten. Mit dem vergleichenden Ansatz kann insofern sichtbar gemacht werden, auf welche Weise sich die Erfahrungen der Ghettogemeinschaften – in Anbetracht der an die Judenräte herangetragenen deutschen Forderungen – ähnelten und doch im Hinblick auf Zeit und Raum unterschieden.

Kriminalitäts- und Rechtsdefinitionen beinhalten Vorstellungen von erwünschtem und unerwünschtem Verhalten in einer Gemeinschaft, geknüpft an den Versuch, diese verbindlich zu verankern. Sie durchziehen alle Bereiche des menschlichen Zusammenlebens und sind das Ergebnis komplexer Aushandlungsprozesse, in deren Mittelpunkt die Frage steht, wie Gemeinschaften ihr Zusammenleben gestalten wollen – und können. In den Ghettos formulierten verschiedene Akteure Vorstellungen von Kriminalität, Recht und somit auch von Moral und Gerechtigkeit. Die Studie beschäftigt sich schwerpunktmäßig auf den Judenräten und den ihnen unterstellten Rechtsinstanzen, die kraft deutscher Verordnungen, wenngleich in eingeschränktem Ausmaß, befugt waren, verbindliche ghettointerne Normen zu formulieren. Die Moralvorstellungen der Ghettobewohner kommen vor allem dann zur Sprache, wenn sie sich auf die Kriminalitäts- und Rechtsdefinitionen der Judenräte bezogen, beispielsweise im Rahmen von Briefen, Denunziationen oder Zeugenaussagen.27

Von den Konzeptionen der Judenräte abweichende Überlebensstrategien und damit in Verbindung stehende Vorstellungen von Moral und Gerechtigkeit vertraten Ghettobewohner, die sich bewaffneten Widerstandsgruppen anschlossen. Die Judenräte in Litzmannstadt und Wilna lehnten die Option des bewaffneten Widerstands strikt ab, weil sie ein brutales Einschreiten der deutschen Besatzer und damit eine Gefahr für die gesamte Ghettogemeinschaft befürchteten. Im Ghetto Warschau gab es einzelne Judenratsmitglieder, die den Widerstand finanziell unterstützten.28 Trotz der ablehnenden Haltung der Judenräte in Litzmannstadt und Wilna gab es keinen einzigen Fall, in dem ein Bewohner von einem ghettointernen Gericht wegen »bewaffneten Widerstands« verurteilt wurde.

Gleichwohl fand »Widerstand« als Delikt in vielen Arrestbefehlen der jüdischen Polizeiorgane Erwähnung. Welche konkreten Handlungen darunter fielen, ist aber nicht immer zu rekonstruieren. Eine Ausnahme stellen zahlreiche Arrestbefehle der jüdischen Polizei aus dem Ghetto Wilna dar. Sie erfolgten wegen Verhaltensweisen wie »Beleidigung« von Ghettopolizisten oder »Schlagen eines Polizisten«. Doch obwohl sich Ghettobewohner in Wilna der Fareynigte Partizaner Organizatsie (FPO) und anderen bewaffneten Widerstandsgruppen anschlossen, taucht in den Arrestbefehlen das entsprechende Vergehen nicht auf. Dies zeigt, dass Diskussionen und Positionierungen der Judenräte im Hinblick auf bewaffneten Widerstand nicht in der ghettointernen Rechtssphäre erfolgten, sondern primär als politische Auseinandersetzungen geführt wurden. Diese Annahme kann durch eine Rede von Jakub Gens am 15. Mai 1943 im Ghetto Wilna gestützt werden: Wenige Monate vor der Liquidierung des Ghettos rief er dazu auf, dass sich die Ghettobewohner an die Ghettopolizei wenden sollten, um bewaffnete Widerstandskämpfer zu denunzieren.29 Der Umstand, dass er in den letzten Monaten des Ghettobestehens, als die Deutschen bereits Tausende Bewohner in Ponar ermordet hatten, die Zuständigkeit der jüdischen Polizei für diese Art von Vergehen definieren musste, deutet darauf hin, dass zuvor keine entsprechenden Delikte ghettointern verhandelt worden waren. Aus diesen Gründen werden in der Studie die Positionen der bewaffneten Widerstandsgruppen nur dann erwähnt, wenn ihre Überzeugungen und ihr Handeln in Konkurrenz zu den Überlebensstrategien der Judenräte traten und somit, etwa im Ghetto Warschau, zu einem Bedeutungsverlust der Institutionen des Judenrats führten.

Im Mittelpunkt der Studie stehen Definitionen und Regelungen, die klassischerweise dem Strafrecht zugeordnet werden, das heißt Rechtsnormen, durch die bestimmte Verhaltensweisen verboten und mit einer Strafe als Rechtsfolge verknüpft werden. Eine solche Schwerpunktsetzung entspricht dem Umstand, dass die Judenräte diesen Fällen im Ghetto weitaus mehr Bedeutung beimaßen als zivilrechtlichen Fragen. Das hing damit zusammen, dass beispielsweise Scheidungsfälle zu keiner Bedrohung für die gesamte Ghettogemeinschaft werden konnten, während dies bei strafrechtlichen Belangen sehr wohl denkbar war. In diesem Sinne berührte das Strafrecht innerhalb der ghettointernen Rechtssphäre die Kernfragen des menschlichen Daseins unter den lebensbedrohlichen Bedingungen der Ghettoisierung.30 Die thematische Konzentration auf die Rechtsinstanzen der Judenräte bringt es mit sich, dass parallel existierende religiöse Instanzen, die Streitschlichtungsverfahren nach rabbinischem Recht vornahmen, nur dort Beachtung finden, wo eine Auseinandersetzung oder Überschneidung mit Instanzen der jüdischen Selbstverwaltungsorgane auszumachen ist.

Zum Forschungsstand

Jahrzehntelang wurden die nationalsozialistischen Ghettos vorrangig als Stufe auf dem Weg in den systematischen Massenmord untersucht.31 Im Vordergrund stand dabei die deutsche Täterperspektive, während kaum Raum für die Frage blieb, wie sich die von den Deutschen als »jüdisch« klassifizierten Opfer in den Zwangsgemeinschaften der Ghettos verhielten, wie sie ihren Alltag wahrnahmen und organisierten.32 Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten lediglich kleine Forscherzirkel in den USA und Israel anregende soziologisch motivierte Studien über die Organisierung des Zusammenlebens der dortigen Gemeinschaften hervorgebracht.33 Am Rande thematisierte beispielsweise der bereits erwähnte Samuel Gringauz auch die Kriminalität im Ghetto. Für diese seien nur Ghettobewohner verantwortlich gewesen, die bereits vor der Ghettoisierung Straftaten begangen hätten.34 Diese These reiht sich in seine noch zu diskutierende Argumentation ein, die von einer geringen Kriminalität und einer hohen jüdischen Moral in den Ghettos ausgeht.

Wenn die Judenräte in den Blick gerieten, wurde ihr Handeln, oft nicht zuletzt aufgrund der persönlichen Betroffenheit der Autoren, als »moralisch verwerflich« und sie selbst als Diktatoren eingeordnet.35 Allen voran konstatierte Hannah Arendt 1963 in ihrem Buch über den Eichmann-Prozess, dass die »Rolle der jüdischen Führer bei der Zerstörung ihres eigenen Volkes […] für Juden zweifellos das dunkelste Kapitel in der ganzen dunklen Geschichte« sei.36 Indirekt stieß sie damit in den 1970er und 1980er Jahren wichtige Untersuchungen jüdischer Forscher an, die ein differenzierteres Bild von den Aktivitäten und dem Dilemma der Judenräte, vor allem in den großen Ghettos im besetzten Polen, zeichneten.37 Häufig mit Memoirencharakter entstanden auch zum Ghetto Wilna alltagsgeschichtliche Arbeiten unter besonderer Berücksichtigung des dortigen Judenrates, etwa von Yitzhak Arad, der dort selbst als Jugendlicher gelebt hatte.38

Mit der Öffnung der osteuropäischen Archive nach 1991 konnten Forschungen dann auf eine breitere Quellenbasis gestellt werden. Bereits zuvor hatten polnische Historiker diese in instruktiven Studien zum Ghettoleben einbezogen.39 Auf Grundlage der neu zugänglichen ghettointernen Dokumente entstanden wegweisende alltagsgeschichtliche Monografien zu den Ghettogemeinschaften.40 In diesen Studien wird, wie bereits in den früheren Arbeiten der genannten jüdischen und polnischen Historiker, am Rande auch auf die ghettointernen Rechtsinstanzen eingegangen. Wo dies der Fall ist, werden vor allem die Ausgestaltung und die Aktivitäten der jüdischen Polizeiorgane berücksichtigt, seltener die ghettointernen Gerichte und die Gefängnisse.41 Dina Porat hat sich in einem Aufsatz explizit mit der Einrichtung der Gerichte in den Ghettos Wilna, Kaunas und Šiauliai auseinandergesetzt und diese als Ausdruck des Bestrebens gedeutet, im Ghetto moralische Standards aus der Vorkriegszeit aufrechtzuerhalten.42 Dem ghettointernen Zentralgefängnis in Litzmannstadt widmet sich Antoni Galiński in einem Aufsatz, der ebenfalls besonders die institutionellen Rahmenbedingungen im Blick hat.43

Weil Historiker verstärkt Ego-Dokumente der Ghettobewohner als Quellenbasis einbezogen, wurde das Handeln der jüdischen Polizei, wie auch der anderen ghettointernen Instanzen, überwiegend als »gegen das Wohl der Ghettogemeinschaft« gerichtet beschrieben. Im Hinblick auf die jüdische Polizei hat vor allem ihre ambivalente Rolle beim Schmuggel sowie ihre Beteiligung an den Vorbereitungen der deutschen Deportationen Aufmerksamkeit erfahren.44 Die Perspektive der jüdischen Polizisten selbst, ihr Umgang mit neuartigen Polizeiaufgaben im Ghetto und die Ahndung bisher unbekannter Delikte geraten seltener in den Blick.45

Insgesamt wurde die Frage, welche Wahrnehmungen und Überlegungen hinter dem ambivalenten Handeln der Judenräte in den Ghettos standen, auf Grundlage der zugänglichen ghettointernen Quellen bisher vergleichsweise wenig behandelt. Zwar hat neben Dan Diner auch der israelische Historiker Dan Michman wichtige Grundlagen zur Erforschung der Judenräte im NS-besetzten Osteuropa geschaffen.46 Der davon ausgehende Blick auf die Mikroebene der Ghettogemeinschaften, der das Dilemma anhand konkreter Fallbeispiele näher beleuchtet, steht bisher jedoch erst am Anfang. Eine Ausnahme stellt hier, mit einem biografischen Ansatz, die Monografie von Monika Polit dar, die dies für das Handeln des Judenratsvorsitzenden Rumkowski leistet.47

»Kriminellen Handlungen« in den Ghettogemeinschaften hat die Forschung bisher nur eingeschränkt Aufmerksamkeit geschenkt. Am meisten beachtet wurde der Schmuggel. Hierbei geht es vor allem um die konkreten Abläufe, Praktiken der Bestechung und die Beteiligung jüdischer Polizisten an der Ghettogrenze.48 Die Schmuggelaktivitäten der Ghettobewohner werden häufig per se als »Widerstand« eingeordnet und nicht als Handlungen, die von den verschiedenen Akteuren auf unterschiedliche Weise bewertet wurden.49

Der »jüdischen Kriminalität« im Ghetto Warschau – über das Delikt des Schmuggels hinaus – haben Jan Grabowski und Barbara Engelking eine kurze informative Monografie gewidmet.50 Bei ihnen geraten vor allem deutsche und polnische Kriminalitätsdefinitionen in den Blick, während ghettointerne Definitionen weitgehend ausgespart bleiben. Auch sie werten die kriminellen Handlungen der Ghettobewohner als Widerstand, weil sie, so ihre These, gegen deutsche Normen verstoßen mussten, um zu überleben.51 Grabowski und Engelking machen zwar deutlich, dass die Delikte der Ghettobewohner auf entsprechende Definitionen von Kriminalität zurückgingen. Stellenweise entsteht dennoch der Eindruck, als würden sie sich auf die Suche nach einer »objektiv messbaren« Kriminalität im Ghetto begeben.52 Ein Delikt, das in der Forschungsliteratur darüber hinaus am Rande Berücksichtigung gefunden hat, ist die »Prostitution«.53

Das große Verdienst dieser Arbeiten besteht darin, den Blick für Ambivalenzen und Machtverhältnisse innerhalb der Ghettogemeinschaften zu schärfen. Sie stellen wichtige Anregungen dar, an die das vorliegende Buch anknüpft.54

Zu den Quellen

Wissenschaftler, die sich der Alltagsgeschichte der Ghettogemeinschaften widmen, stehen im Hinblick auf die Quellen vor besonderen Herausforderungen. Sie sind in einer Vielzahl von Sprachen verfasst, nicht selten handelt es sich um schwer leserliche Handschriften oder stark in Mitleidenschaft gezogene Dokumente, weil sie vor den Deutschen versteckt wurden. Das vorliegende Buch bezieht sich auf eine breite Quellenbasis, die durch Recherchen in folgenden Archiven gelegt wurde: Yad Vashem, Jerusalem (YVA), Beit Lohamei Ha-Getaot/ Ghetto Fighter House, Western Galilee (GFH), United States Holocaust Memorial Museum, Washington D.C. (USHMM)55, Institute for Jewish Research, New York (YIVO), Żydowski Instytut Historyczny, Warschau (ŻIH), Instytut Pami¸eci Narodowej, Warschau (IPN), Archiwum Państwowe w Łodzi, Łódź (APŁ).

Die Kriminalitäts- und Rechtskonzeptionen der deutschen Besatzer werden mithilfe von Berichten und Befehlen der für die Ghettos zuständigen deutschen Funktionäre sowie der deutschen Polizeiorgane nachgezeichnet.56 Hinzu kommen Urteile des deutschen Sondergerichts in Litzmannstadt bezüglich verhandelter »Ghetto-Delikte« und Korrespondenzen zwischen den deutschen Besatzern und den ghettointernen Rechtsinstanzen.57

Den Kern des Quellenkorpus stellen Dokumente der ghettointernen jüdischen Selbstverwaltungsorgane dar. Diese sind für die drei Ghettos in umfangreichem Ausmaß überliefert, weil die dortigen Judenräte und Einzelpersonen das Alltagsleben dokumentierten, archivierten und entsprechende Berichte vor den deutschen Besatzern teils in Untergrundarchiven versteckten, um die Erfahrungen im Ghetto für die Nachwelt festzuhalten.58 Im Ghetto Warschau war es der Historiker Emanuel Ringelblum, der mithilfe von einigen Mitarbeitern ab Oktober 1939 ein Archiv organisierte. Nach der Abriegelung des Ghettos wurde seine Tätigkeit im November 1940 illegal unter dem Tarnnamen Oneg Shabbat fortgeführt.59 Die Mitarbeiter des Archivs verfassten Berichte über den Ghettoalltag, sammelten Berichte von Ghettobewohnern, archivierten Dokumente des Judenrates und führten zudem eigene Forschungsarbeiten durch.60

Im Ghetto Litzmannstadt richtete der Judenrat im November 1940 ein Archiv ein, um Dokumente und Materialien für eine zukünftige Darstellung der Ghettogeschichte zu sammeln.61 Die dortigen Mitarbeiter, unter ihnen Journalisten und Schriftsteller, schrieben zwischen Januar 1941 und Juli 1944 anfangs auf Polnisch und später auf Deutsch eine Chronik, die Tagesmeldungen sowie feuilletonistische Berichte über die wichtigsten Alltagsereignisse im Ghetto umfasste.62

Im Ghetto Wilna sammelte der Bibliothekar Herman Kruk unter Mithilfe von Rahel Mendelsund-Kavarski Berichte, dokumentierte im Rahmen einer Chronik Tagesereignisse und organisierte eine Ghettobibliothek.63

Bei den überlieferten Quellen der jüdischen Selbstverwaltungsorgane muss berücksichtigt werden, dass das Hauptinteresse der Archivierenden meist nicht den Definitionen von Kriminalität und Recht im Ghetto galt, weswegen entsprechende Quellen möglicherweise nicht aufbewahrt wurden. Auch die Angst, dass die Deutschen die Dokumentationstätigkeiten entdecken könnten, kann dazu geführt haben, dass insbesondere von diesen definierte kriminelle Handlungen nicht immer eingehend dokumentiert wurden.

Weitere wichtige Quellen stellen die ghettointernen Zeitungen, namentlich die Gazeta Żydowska für Warschau,64 die Geto-Tsaytung für Litzmannstadt65 und die Geto-Yedies für Wilna66 dar. Obgleich sie der deutschen Kontrolle unterlagen, geben sie in besonderer Weise Aufschluss über neuartige Kriminalitätsdefinitionen, Regeln, Kriminalfälle und verhängte Urteile. Wertvolle Informationen liefern darüber hinaus von den Judenräten veröffentlichte Bekanntmachungen, mit deren Hilfe ebenfalls neue Delikte und Regeln verkündet wurden.67

In der Auseinandersetzung mit den jüdischen Polizeiorganen werden Statistiken, Anordnungen, Tätigkeitsberichte sowie Arrestbefehle analysiert.68 Um die Perspektive der jüdischen Funktionäre einzufangen, werden ergänzend von ihnen verfasste Tagebücher und Memoiren hinzugezogen, in denen sie über den Wandel von Kriminalitäts- und Rechtsdefinitionen berichten. Eine unverzichtbare Quelle für das Ghetto Warschau stellen insbesondere die 1943 in einem Versteck auf der »arischen« Seite in Warschau verfassten Memoiren von Stanisław Adler dar.69

Im Hinblick auf die judikativen Instanzen werden Gerichtsurteile aus den Ghettos Litzmannstadt und Wilna analysiert, die bisher in der Forschung kaum berücksichtigt wurden.70 Über das Rechtspersonal im Ghetto Litzmannstadt gibt ferner eine im Ghetto verfasste Enzyklopädie Aufschluss.71

Besondere Quellenprobleme ergeben sich für das Ghetto Warschau. Die Deutschen gestanden den dortigen Judenratsmitgliedern nur eingeschränkte ghettointerne Kompetenzen im Bereich der Strafverfolgung zu, weshalb die jüdischen Funktionäre geheime Verhandlungen abhielten. Dies bedeutete auch, dass Urteile nicht schriftlich festgehalten wurden. Somit bleibt das Bild für die judikativen Instanzen im Ghetto Warschau unvollständig und kann sich lediglich auf wenige Tagebücher stützen.72

Die Untersuchung der Perspektive der »einfachen« Ghettobewohner gestaltet sich ebenfalls als schwierig, weil ihre Vorstellungen in keine verbindlichen, schriftlich fixierten Definitionen und Regeln mündeten. Je nach Adressat und Zeitpunkt variierte die Art und Weise, wie sie sich, wenn überhaupt, zu eigenen kriminellen Handlungen, den Vergehen anderer Ghettobewohner oder den Kriminalitäts- und Rechtsdefinitionen der Judenräte äußerten. Einen Einblick geben hier Ego-Dokumente, die bislang in der Forschung kaum berücksichtigt wurden. Es handelt sich um zahlreiche Briefe, die Ghettobewohner an die Judenräte und in wenigen Fällen sogar an die deutschen Autoritäten richteten. Hinzu kommen Zeugenaussagen vor ghettointernen und deutschen Gerichten.73 Während der Schwerpunkt auf zeitgenössischen Quellen und dabei besonders auf solchen liegt, in denen die Ghettobewohner explizit Bezug auf die Definitionen der Judenräte nahmen, werden Tagebücher und Überlebendenberichte nur ergänzend einbezogen.74

Das hier untersuchte Quellenkorpus kann unausweichlich nur eine eingeschränkte Perspektive der im Ghetto lebenden Menschen abbilden, weil lediglich eine kleine Gruppe von ihnen ihren Auffassungen (schriftlich) Ausdruck verleihen konnte. Zum einen gilt dies für die Mitglieder der jüdischen Selbstverwaltungsorgane, die über ihr Amt mit gewissen Kompetenzen und nicht zuletzt mit finanziellen und materiellen Mitteln ausgestattet waren, um ihre Auffassungen von Kriminalität und Recht zu formulieren. Sie stellten damit eine zumeist männliche »Ghetto-Elite« dar, deren Stellung an Macht und Privilegien gebunden war, deren Verlust sie auch fürchtete.

Eine kleine, gut ausgebildete Schicht stellten zum anderen diejenigen dar, die sich entschieden, als Mitglieder des Judenrates oder auf eigene Initiative, Dokumente zu sammeln, zu archivieren oder über den Alltag im Ghetto zu schreiben. Und nicht zuletzt sind auch die Quellen der »einfachen« Ghettobewohner nur in eingeschränktem Maße repräsentativ. Auch sie geben lediglich Aufschluss über diejenigen, die lesen und schreiben konnten, beziehungsweise dies auch taten, weil sie (noch) daran glaubten, auf diesem Wege ihre Anliegen durchsetzen zu können.

Zum Aufbau

Das erste Kapitel beschäftigt sich mit der Lebensrealität im Ghetto. Für die Erforschung der Ghettogemeinschaften wird das interpretative Konzept der »Lebenswelt« fruchtbar gemacht. Die anschließende Diskussion des Kriminalitäts- und des Rechtsbegriffs, der sich auf demokratisch legitimierte Gemeinschaften bezieht, hebt die Spezifika der Rechtssphäre in der »Zwangsgemeinschaft Ghetto« hervor.

Um die Rahmenbedingungen nachzuzeichnen, unter denen ghettointerne Kriminalitäts- und Rechtsdefinitionen formuliert wurden, rücken im zweiten Kapitel die nationalsozialistische »Judenpolitik« in Osteuropa und die Perspektive der Judenräte in den Fokus. Dabei wird zunächst das nationalsozialistische Bild vom »kriminellen Juden« in den Kontext der Ghettoisierung gestellt, um dann die sich wandelnden deutschen Forderungen und daraus resultierende Deliktdefinitionen zu schildern. Vor diesem Hintergrund entwickelten die Judenräte in Warschau, Litzmannstadt und Wilna ihre jeweiligen Überlebensstrategien für die Ghettogemeinschaften.

Die folgenden Ausführungen beschäftigen sich mit der ghettointernen Rechtssphäre in ihren verschiedenen Ausprägungen. Das dritte Kapitel beleuchtet zunächst die Deliktdefinitionen und Regeln, die in den im Ghetto veröffentlichten Bekanntmachungen und Zeitungen verkündet wurden. Sie erfüllten quasi die Funktion von Rechtsnormen. Im vierten Kapitel wird untersucht, wie die jüdische Polizei als ghettointernes Exekutivorgan ausgestaltet wurde und inwieweit sie für das Ahnden zuvor definierter Kriminalitäts- und Rechtskonzeptionen verantwortlich war.

Das fünfte Kapitel legt den Fokus auf die ghettointernen Gerichte als Instanzen der »Judikative«, die versuchten, eine Rechtspraxis zwischen Rechtstraditionen aus der Vorkriegszeit und den bis dahin unbekannten Bedingungen im Ghetto zu begründen. Neben der institutionellen Ausgestaltung interessieren verhandelte Fälle und Bewertungskriterien dieser Instanzen, wobei gefragt wird, inwiefern sie den Definitionen der Judenräte Nachdruck verliehen und welche Funktion ihre Urteile erfüllten. Dem ghettointernen Strafvollzug widmet sich das sechste Kapitel. Dabei sind sowohl die Bestrafungsmechanismen wie auch die ghettointernen Gefängnisse als Orte von Interesse, da sie in besonderem Maße dem Zugriff der deutschen Autoritäten unterlagen.

Als Personen, auf die sich die neuen Definitionen von Kriminalität und Recht richteten, rücken schließlich im siebten Kapitel die »einfachen« Ghettobewohner in den Mittelpunkt. Ihre Perspektive findet insbesondere dort Beachtung, wo sie sich implizit oder explizit – etwa in Bittschriften und Denunziationen – auf die Kriminalitäts- und Rechtsdefinitionen der Judenräte oder gar der Deutschen bezogen.

Ausgehend davon, dass Konzepte von Kriminalität und Recht immer einen subjektiven und zeitgebundenen Charakter haben, wird danach diskutiert, inwieweit sich kriminelles Handeln im Ghetto als Widerstand einordnen lässt.

Abschließend werden die Ergebnisse der Studie mit der Diskussion um die These von der geringen Kriminalität im Ghetto zusammengeführt und in den größeren Kontext der Geschichte des jüdischen Rechts eingeordnet.

1 Am 11. April 1940 hatte Gauleiter Arthur Greiser die Stadt Łódź in Litzmannstadt umbenannt. Namensgeber war der deutsche General Karl Litzmann, der mit seinem Verband im November 1914 bei Łódź russische Truppen besiegt hatte. Vgl. Feuchert, Chronik. Supplemente, S. 148. Für die bessere Lesbarkeit wird im Folgenden die Bezeichnung »Ghetto Litzmannstadt« verwendet. Dabei wird jedoch auch der Zeitraum von Februar bis April 1940 erfasst, als die Stadt offiziell Lodsch hieß.

2 Archiwum Państwowe w Łodzi (APŁ), Przełożony Starszeństwa Żydów w Getcie Łódzkim (PSŻ), 278/1076, Geto-Tsaytung Nr. 8, 25. 4. 1941, Orig. S. 2. Zitate aus der Geto-Tsaytung beziehen sich auf die vom Judenrat für die Besatzer angefertigte deutsche Übersetzung, die mit dem jiddischen Original abgeglichen wurden. Sprachliche und grammatikalische Unstimmigkeiten gehen auf die Übersetzung zurück.

3 Die Beseitigung der Fäkalien gehörte zu den unbeliebtesten Aufgaben im Ghetto.

4 Kruk, The Last Days, 13. 12. 1942, S. 425.

5 Adler, In the Warsaw Ghetto, S. 258.

6 Feuchert, Chronik 1941, 24. 12. 1941, S. 324f.

7 Feuchert, Chronik 1943, 11. 4. 1943, S. 91.

8 Kruk, The Last Days, S. 598, Datum unbekannt zwischen 1941 und 1943, vermutlich vor Sommer 1942.

9 Ein bedeutsames Moment dieser Untersuchung ist der subjektive, wandelbare – und damit relative – Charakter von Begriffen wie Kriminalität, Recht, Moral, Gerechtigkeit, Delikt, Vergehen und Zuwiderhandlung. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit werden die Begriffe hier nicht durchgehend in Anführungszeichen geschrieben, sie sind jedoch stets, und insbesondere im Hinblick auf die NS-Definitionen, »mitzudenken«.

10 Gringauz ging vom Ghetto Kaunas aus, bezog diese These jedoch auch auf andere Ghettogemeinschaften. Vgl. Gringauz, »The Ghetto as an Experiment«, S. 6f.

11 Żydowski Instytut Historyczny (ŻIH), RG 302, (Pami¸etniki) 129, Józef Rode.

12 Adler, In the Warsaw Ghetto, z.B. S. 48, 257, 259.

13 Rosenfeld, Wozu noch Welt, S. 53.

14 In dieser Arbeit wird die Bezeichnung »jüdisch« und »Juden« für die Personengruppe verwendet, die durch die rassistischen Gesetze der Deutschen während des Nationalsozialismus als solche definiert worden war. Diese Fremdzuschreibung sagt nichts über die Zugehörigkeitsgefühle der betroffenen Menschen aus. Als Beispiel können zum Katholizismus konvertierte Juden im Ghetto Warschau genannt werden, die gemäß deutscher Definition Anfang 1941 in das Ghetto deportiert wurden, wo sie weiter ihre christliche Religion praktizierten. Vgl. Dreifuss, »Warsaw«, S. 910; Ben-Sasson, »Christians in the Ghetto«.

15 Es handelte sich im Ghetto vielmehr um Regeln, denen im Rahmen des ghettointernen Rechtssystems jedoch die Funktion von Rechtsnormen zukam.

16 Vgl. Diner, »Perspektive«, S. 27.

17 Ebenda, S. 24f.

18 Vgl. ebenda, S. 28, 31; ähnlich: ders., »Jenseits des Vorstellbaren«.

19 Der Begriff der Rechtssphäre soll hier sowohl ghettointerne Vorstellungen von Kriminalität und Recht wie auch daraus resultierende institutionelle Ausgestaltungen umfassen.

20 Es wird hier nicht davon ausgegangen, dass es sich um zwei jeweils homogene, klar voneinander abzugrenzende Gruppierungen handelte. Zugehörigkeiten konnten sich z.B. wandeln, sobald ein »einfacher« Ghettobewohner einen Posten beim Judenrat annahm, und nicht immer lassen sich zuverlässige biografische Informationen ausmachen.

21 In Wilna hatte es für wenige Wochen zwei Ghettos gegeben. Die Bewohner des kleineren Ghettos wurden bereits zwischen Mitte September und Ende Oktober 1941 ermordet.

22 Unter den Begriff Rechtsinstanzen werden in dieser Arbeit die Institutionen gefasst, die auf deutschen Befehl oder Geheiß des Judenrates befugt waren, in unterschiedlichem Ausmaß verbindliche Regeln innerhalb der Ghettogemeinschaft zu definieren und Strafen zu verhängen.

23 Die offenen Ghettos wurden nicht hermetisch abgeriegelt und lagen oft am Rande von Kleinstädten. Hier griffen die deutschen Besatzer bei der Umgrenzung oft auf bereits bestehende Mauern oder Gebäude zurück und ließen die Gebiete teilweise offen. Vgl. Pohl, »Ghettos im Holocaust«, S. 40.

24 Dies geschah in den besetzten sowjetischen Gebieten häufig bereits vor der Einrichtung von Ghettos. Dieser Eindruck entsteht z.B. im Hinblick auf die Arrestbefehle der Ordnungsabteilung beim Judenrat in Pinsk (Reichskommissariat Ukraine), wo von Mai bis November 1942 ein Ghetto existierte. YVA, Archives of Belarus (M-41), 949.

25 Mit dieser Strategie, die auch Gens in Wilna wählte, hoffte Rumkowski über die Steigerung der »Ghettoproduktivität« das Überleben der Ghettobewohner sichern zu können. Ab 1942 beinhaltete sie auch die »Selbstselektion«, d.h. die Auslieferung der »Arbeitsunfähigen« an die deutschen Besatzer. Mit Dan Diner kann sie als exemplarisch für das Dilemma der Judenräte eingeordnet werden. Vgl. Diner, »Perspektive«, S. 20.

26 Vgl. ebenda; Browning, Entfesselung, S. 177.

27 Weil ihre Gerechtigkeitsvorstellungen nicht die Form verbindlicher Rechtsnormen annahmen, sind sie als Moralvorstellungen einzustufen.

28 Hierzu gehörte etwa Abraham Gepner, der bei der Versorgungsabteilung des Judenrates tätig war. Es gab auch Judenräte, deren Mitglieder geschlossen bewaffnete Untergrundaktivitäten unterstützten, wie z.B. im Ghetto in Piotrków Trybunalski. Vgl. Trunk, Judenrat, S. 463f.; Trunk, The Attitude. Laut Diner lehnten vor allem die Judenräte, die sich der Strategie der »Rettung durch Arbeit« und der damit einhergehenden »Selbstselektion« verschrieben hatten, den bewaffneten Widerstand strikt ab. Vgl. Diner, »Perspektive«, S. 18.

29 Rede Jakub Gens vor den Vorarbeitern der Zwangsarbeiterkolonnen, 15. 5. 1943, abgedruckt in: Arad/Gutman, Documents on the Holocaust, S. 451ff., D. 1.355.

30 Zweifelsohne sind auch zivilrechtliche Fälle von Relevanz, wenn es um eine Annäherung an die »Lebenswelt Ghetto« geht. So können Urteile in Scheidungsfällen z.B. Aufschluss geben über den Wandel von Familienstrukturen unter den Bedingungen der Ghettoisierung, die einerseits neue Abhängigkeitsstrukturen schufen, andererseits jedoch auch häufig Frauen und auch Kindern Verantwortungen aufbürdeten, die zu neuen Rollenverteilungen führten.

31 In Anbetracht der Literaturfülle seien hier nur beispielhaft genannt: Hilberg, Vernichtung, Bd. 1; Friedländer, Die Jahre der Vernichtung; Browning, Entfesselung; Gerlach, Kalkulierte Morde. Einen umfassenden Forschungsüberblick liefern etwa Pohl, »Ghettos im Holocaust«; sowie Dieckmann/Quinkert, »Einleitung«.

32 Resümierend hierzu z.B. Bergen/Hájková/Löw, »Warum eine Alltagsgeschichte des Holocaust?«, S. 1.

33 Vgl. hierzu etwa die Arbeiten von Philipp Friedman, Überlebender aus dem Ghetto Lemberg: Friedman, »American Jewish Research«, besonders S. 235f.; ders., »Research and Literature«.

34 Vgl. Gringauz, »The Ghetto as an Experiment«, S. 6f.

35 Vgl. z.B. über Rumkowski: Bloom, »Towards the Ghetto Dictator«; Huppert, »King of the Ghetto«; Friedman, »Pseudo-Saviors«; zu Jakub Gens vgl. Friedman, »Jacob Gens«. Resümierend vgl. Michman, »Kontroversen über die Judenräte«.

36 Arendt, Eichmann in Jerusalem, S. 209. Zu der These vgl. ebenda, S. 153ff.

37 Vgl. insbesondere das Monumentalwerk von Trunk, Judenrat; ders., Łódź Ghetto; mit einem Schwerpunkt auf der Haltung der Ghettobewohner: ders., »The Opposition to the Jewish Councils; ders., »The Judenrat and Jewish Responses«, sowie Robinson, And the Crooked Shall be Made Straight; ders.: »Introduction«, S. xxvi. Vgl. zur jüdischen Polizei: Weiss, Ha’mishtara hayehudit; ders., »Jüdischer Ordnungsdienst«; ders., »The Relations«. Vgl. zum Verhältnis von Ghettobewohnern und Judenräten ders., »Jewish Leadership«; sowie zum Ghetto Warschau Gutman, Jews of Warsaw.

38 Arad, Ghetto in Flames. Ähnlich verdienstvolle Arbeiten verfassten Dworzecki, Yerushaleyim de Lite, und Balberyszski, Stronger than Iron.

39 Vgl. z.B. zu den Häuserkomitees im Ghetto Warschau Sakowska, »Komitety domowe«. Zum Ghetto Litzmannstadt: Dąbrowska, »Administracja żydowska«; dies., »Struktura i funkcje, Teil 1«; dies., »Struktura i funkcje, Teil 2«; Galiński, »Policja w getcie«; sowie Rubin, Żydzi w Łodzi, dessen unkritische Befürwortung von Rumkowski jedoch als problematisch einzustufen ist. Nach 1991 für Warschau vgl. z.B. Engelking/Leociak/Libionka, Prowincja noc; Sakowska, Menschen im Ghetto; für das Ghetto in Litzmannstadt vgl. Baranowski, »The Łódź Ghetto«, Baranowski, »Utworzenie«, Baranowski, »Zigeunerlager«.

40 Vgl. zum Ghetto Litzmannstadt insbesondere Löw, Juden im Getto; zum Ghetto Warschau Engelking/Leociak, Warsaw Ghetto; neuerdings auch Roth/ Löw, Das Warschauer Ghetto; sowie zum Ghetto Wilna, Schroeter, Worte.

41 Vgl. z.B. Trunk, Judenrat, S. 172–185, 475–527; Löw, Juden im Getto, S. 105–116; Engelking/Leociak, Warsaw Ghetto, S. 190–217; Arad, Ghetto in Flames, S. 124–128.

42 Vgl. Porat, »The Justice System«, S. 49f.

43 Vgl. Galiński, »Centralne wi¸ezienie«.

44 Z.B. Trunk, Judenrat, S. 498ff.; für Warschau z.B. Engelking/Leociak, Warsaw Ghetto, S. 207ff. Vgl. für Warschau und Litzmannstadt Fox, »The Jewish Ghetto Police«, der jedoch auch solidarisches Verhalten erwähnt, sowie Löw, »Ordnungsdienst im Getto Litzmannstadt«.

45 Für das Ghetto Kaunas geschieht dies bei Levin, »How the Jewish Police«. Engelking und Leociak, Warsaw Ghetto, beziehen ebenfalls Tagebücher von jüdischen Polizisten ein. Vorbildhaft geschieht dies auch in der Monografie von Podolska zum Ordnungsdienst in Warschau, jedoch mit einem deskriptiven, ereignisgeschichtlichen Fokus. Vgl. Podolska, Służba Porządkowa.

46 Vgl. Michman, »Reevaluating«; ders., »Why did Heydrich Write the Schnellbrief?«.

47 Vgl. Polit, Moja żydowska dusza. Knapper und den Forschungsstand resümierend vgl. Unger, Reassessment. Einen ähnlichen Ansatz im Hinblick auf Dilemmata und Handlungsspielräume jüdischer Funktionsträger während des Nationalsozialismus wählt Rabinovoci zum Judenrat in Wien: Rabinovici, Instanzen, und Meyer zur Reichsvereinigung der Juden in Deutschland: Meyer, Tödliche Gratwanderung.

48 Vgl. etwa Engelking/Leociak, Warsaw Ghetto, S. 446–459; Löw, Juden im Getto; S. 172–176; Schroeter, Worte, S. 188f.

49 So etwa für das Ghetto Warschau bei Battrick, »Smuggling«. Vgl. zu entsprechenden Einordnungen kritisch Bauer, »Die dunkle Seite«, S. 153–180.

50 Vgl. Engelking/Grabowski, Żydów łamiących.

51 Vgl. ebenda, S. 8.

52 Vgl. z.B. die Anmerkung, dass es schwierig sei, aus Tätigkeitsberichten des ODEngelking/Grabowski