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Frédéric Ciriez

Auf den Straßen

von Paris

Roman

Aus dem Französischen von

Hansgeorg Hermann

FUEGO

– Über dieses Buch –

Tagsüber ist er Müllmann, nachts »Sapeur« – ein Mann aus dem Kongo in Dandy-Klamotten. Von morgens bis zum Sonnenuntergang lenkt er seine stinkende Fracht durch das Strassengewirr des 10. Pariser Arrondisments, die Bistro-Tischchen streifend, an denen die Bobos hocken, die Bourgeois Bohèmiens, und fünf Euro teuren Milchkaffee schlürfen. Danach zieht er sich um, für die Parade im gemieteten Rolls Royce – »Sape«, die heißeste Kluft zwischen Nordpol und Kapstadt: Blazer in »elektrisch-grünem Kroko«, knallenge gelbe Hose, kurze Krawatte in Eidechsen-Muster, silbern. Das Altarbild eines flämischen Meisters in grellem Neon. Im Zentrum der Stenz, ihm zur Linken ein depressiver Gewerkschafter am Vorabend des 1. Mai, zu seiner Rechten eine asiatische Straßenverkäuferin auf Rollschuhen.

Frédéric Ciriez macht in Paris das Licht an und zeigt bisher unveröffentlichte Bilder der anschwellenden Hauptstadt. Man trägt Kongo-Mode und spricht edles Gossenfranzösisch. Man ist Mitglied der »Gesellschaft für Unterhalter und elegante Personen«. Die Poesie aus dem Müll ist so selbstverständlich wie die auf Hochglanz gewienerten, handgenähten Lederhalbschuhe.

 

»Auf den Straßen von Paris« wurde 2013 mit dem deutsch-französischen Franz-Hessel-Preis ausgezeichnet.

 

»… Der Roman macht verdammt noch Mal Lust, Ciriez in die Tradition von Queneau, Calet und Perec zu stellen. Die Geschichte vom Müllwagen-Kutscher erlaubt es Ciriez, abzutauchen in die unterirdische, unbekannte Welt des afrikanischen ›Sapeurs‹, der nur für seine Klamotten lebt.«

Transfuge

»… Als aufmerksamer Beobachter des urbanen Alltags wird Frédéric Ciriez zu einem äußerst scharfsinnigen Zeugen des „Infra-Ordinären“ und der prekären Verhältnisse unserer Epoche.«

Begründung der Jury zur Verleihung des Franz-Hessel-Preises

 

 

 

 

 

Den wirklichen und ausgedachten

Mitgliedern der Gesellschaft für Unterhalter

und elegante Personen

I.

Transfixion

(chirurgisch: Durchstichverfahren – z.B. bei Amputationen)

 

 

 

 

 

Der weiße Xantia steht vor dem Hof für abgeschleppte Autos in Saint-Ouen (93400), es dämmert. Ein Kassenzettel auf dem Beifahrersitz über 14.90 Euro, 20.34 Uhr – der Zeitpunkt, zu dem das Küchenmesser gekauft wurde, das im Herz des Fahrers steckt. Sein Kopf ist auf die Knie gesunken, das Ganze sieht aus wie der Foetus eines jungen Mannes mit kastanienbraunem, gewelltem Haar, der, sozusagen mit sich selbst beschäftigt, am Griff des Messers nuckelt. Das Messer: Eingegraben ins Herz, und nichts wird jemals wieder so hart sein in seinem Leib, nichts hatte jemals eine solche Konsistenz wie diese in die seidenweichen Kranzgefäße versenkte stählerne Klinge. Fleischige Lippen haben sich um die Waffe des Abends gekrampft, tropfend und leblos. (In der Ferne die nervöse Stadt – in den Straßen wird der Samstag Abend eingeläutet, der Frühling sprüht.) Was den Toten anbetrifft, so wartet der in dieser verlassenen, erdfarbenen Straße, dass man ihn abholt, so wie man ein Kind von der Schule abgeholt hätte, das sich weigert, um seine Mutter zu weinen. Über ihm inhaliert der Himmel weißen Rauch, der senkrecht aus der Müllverbrennungsanlage der kommunalen Müllverarbeitung Syctom steigt. Deren Eingang liegt ein bisschen weiter unten in der Straße, in der Nummer 22.

 

Eine notdürftig verputzte Mauer aus Hohlblocksteinen entlang des Abstellplatzes, auf deren Krone sich Stacheldraht ringelt. Das dahinter ist Paris. Jenseits des Baumarktes Conforama, dem Land, wo das Leben so wunderbar billig ist, erscheinen am Horizont die wie Brustwarzen sich reckenden, beleuchteten Kuppeln der Sacré-Cœur über dem Nordhang des Montmartre-Hügels. Davor, das Industriegebiet ausgrenzend, trägt ein Arm der Seine an diesem Abend jenes Rostrot des Himmels mit sich, das gegenüber am anderen Ufer auch die Spiegelglasfassaden der Bürogebäude reflektieren. Der Xantia steht eingeparkt zwischen einem vergessenen Lieferwagen und einer Skoda-Limousine, 800 Euro zum Ausschlachten. Auf der anderen Straßenseite parken hinter einem Ring aus Mauern so um die 300 illegale Schlitten. Sechs Kameras passen auf und registrieren Sekunde um Sekunde ihre Nicht-Existenz, während in den Rückspiegeln der eingesperrten Wagen Fragmente einer erstorbenen Autowelt aufblitzen – starrer Kühlergrill im Schminkspiegelchen einer Sonnenblende, ein im Nichts eines Wagenfensters sich manifestierendes Nummernschild, ein erloschener Scheinwerfer, eingeschaltet vom Licht der Dämmerung. Eine feine Staubschicht hat diese leblose Gesellschaft überzogen. Kein Kind aus osteuropäischen Gefilden hat sich zu dieser Stunde auf dem ummauerten Gelände eingefunden, um den Mercedes ei­nes Funktionärs im höheren Dienst auseinander zu neh­men, auch kein Lösungsmittelschnüffler. Nur die letzten Wogen der Tageshitze kräuseln noch die Leisten aus Chrom und die Schattenbilder der verwaisten Karosse­rien.

Plötzlich leuchtet die Westentasche des Toten auf und schickt gedämpftes Summen wie von einer elektrischen Haarschneidemaschine aus. Der kleine Screen eines Mobiltelefons, aufgeladen von Emotionen aus grünflüssigem Kristall, liefert ein die Umstände erfassendes SMS: BIST DU HEUTE ABEND UNTERWEGS? Das künstliche Samsung-Herz, im Telefon eingenistet wie ein Appendix in der Leistenbeuge, erlischt abrupt und lässt seinen Besitzer in der Stille der Straße zurück. Der Tote hat die Augen auf seinen Unterleib gerichtet. Die gleich Schießscharten noch halb offenen Augenlider lassen zwei Strahlen aus blauem Licht passieren. Der Nacken ist gespannt. In den Haaren spielt das letzte Tageslicht. Das Kinn berührt die Stelle, wo sich die Schlüsselbeine treffen. Das auf den Oberkörper gesunkene Gesicht sieht fröhlich aus, und frisch. Die leicht geöffneten, in den Mundwinkeln von weiß getrockneter Spucke bedeckten Lippen küssen den schwarzen, mit drei Nieten aus Stahl verzierten Griff des Messers. Der gedrungene Körper von mittlerer Größe weist auf Ende Vierzig. Unter dem Sicherheitsgurt straffen sich ein heller Anzug und ein weißes Hemd, schwarze Stadtschuhe an den Füßen, dessen einer – wie zur Erholung – auf der Kupplung ruht.

 

Der Kamin der Verbrennungsanlage streckt sich in den rostfarbenen Himmel. Seine drei Abzugsrohre machen ihn zu einer mehrläufigen Flinte, an die hundert Meter hoch, die mit professioneller Stetigkeit den Wasserdampf aus verbrannter Materie verschießt. Weiße Eruptionen entweichen aus klaffenden Abzugsöffnungen und verflüchtigen sich waagerecht im Nichts der Luft. Warnleuchten aus rötlichem Licht verzieren dieses Industrieorgan wie mit immateriellen Rubinen, pur und unverfälscht im leeren, rostigen Himmel. Einzelne Müllwagen fahren noch auf den Hof der Anlage, um sich vor Anbruch der Nacht ein letztes Mal ihrer Fracht zu entledigen. Die Leute von der Kontrollbereitschaft glotzen unbeteiligt auf ihre Monitoren, die ohne Ende die Filmversion der Wirklichkeit ausstrahlen.

Im Jahr 1884 drückt der Prefekt Eugène Poubelle den Parisern die Benutzung des Mülleimers auf, genannt »Poubelle«. 1896 entsteht die erste Verbrennungsanlage in Saint-Ouen. Der Kamin raucht nur ein paar Schritte entfernt von der Stelle, wo der Tote in einem Sarkophag ruht, der den Namen einer obskuren ägyptischen Göttin trägt, Xantia. Die Materie verbraucht sich. Ihre energetische Verwertung wird manifest in der Produktion von heißem Dampf für Heizung und häuslichen Strom in Paris und Umland (einige Häuserblocks vom Kamin weg verdampft Instinkt, taumelt gemeines Volk im Alkohol, nisten Flüche und feuchte sexuelle Triebe). Es ist noch keine Stunde her, da sah die ziegelrote Sonnenscheibe aus wie ein offener Schließmuskel, wie ein gigantischer Projektor. Die Verbrennungsanlage kennt keinen Sonntag und auch keine Feiertage (Saint Ouen, der Heilige Audoenus, ist der Schutzpatron der Fleischgriller). Das gegenwärtige Zentrum für Energieverwertung namens Syctom, dessen phonetische Nähe zum televisuellen Terminus Sitcom bemerkenswert ist, wurde 1990 gegründet.

 

* * *

 

Die Reifen der Rollstühle, die auf das Reha-Zentrum Kerpape in der Nähe der Atlantik-Stadt Lorient zuhalten, drehen still um ihre Achsen. Die sie antreibenden muskulösen Arme haben die Spannweite großer Meeresvögel, sie breiten sich aus in ständigem Rhythmus, riesige V-förmige Wellen beschreibend. Die Hände der Piloten, oft Opfer des Straßenverkehrs, ste­cken in weißen und schwarzen Halbhandschuhen von der Sorte, mit denen Cabriolet-Fahrer – Männer oder Frauen – Mitte des 20. Jahrhunderts hoch über die steilen Felsen der Côte d’Azure dahinbrausten. Eng verbunden mit ihrem normalen fahrbaren Untersatz gleiten die Stühle aus einwandfreiem Chrom auf das Etablissement zu, das hier ans Meer gebaut wurde. Die Strandkiefern mit ihren stufenförmig wie japanische Pavillons ausgebreiteten Ästen grüßen heute Abend in majestätischer Gelassenheit das sie umgebende Wasser. Das Meer schäumt sacht auf die sandigen Ufer. Um diese Tageszeit sind die Sterne noch unsichtbar, einige Stunden wird es dauern, bis sie sich in glitzernde Nadeln über einem Atlantik verwandeln werden, der so schwarz sein wird, wie die Nacht, gesäumt nur von gespenstischer Gischt. Das ist die Dämmerung. Das Meer sieht aus wie blaues Bier. Die Behinderten kehren zurück ins Zentrum wie Matrosen in ihren Hafen.

 

* * *

 

Das Auto badet in rotem der Dämmerung abgerungenen Licht, die sich auf der Straße mit dem Namen »Die Docks« ausgebreitet hat. (Ein Projekt der Öffentlichen Hand, »Horizon 2025« genannt, das die vollständige »Rehabilitation« des Quartiers vorsieht: zehntausend neue Einwohner, Miettürme am Seine-Ufer, ein Einkaufs­zentrum von europäischem Zuschnitt, eine amtlich patentierte und statistisch festgestellte soziale Vielfalt, eine Siedlung zum Ruhm des französischen Volksliedes, architektonische Modelle, die in einer Räumlichkeit des Rathauses von Saint-Ouen ausgestellt sind, eine eigene Agentur für öffentliche Verständigung, die Informationen über eine Hotline zu geben verspricht, preisgegeben von Bedienungspersonal mit leicht mechanischer Stimme und einem Zwischendiplom in Politischen Wissenschaften, der volle und penible Strang von Sozialstruktur also, ein­gegraben ins urbane Gewebe wie ein Messer ins Herz.) Der jüngste Wohnsitz des Dahingeschiedenen ist im Moment allerdings nur ein weißes Mobil-Home der Marke Citroën, auf den Namen Xantia getauft (die Karre trägt den Namen einer Göttin der Straßen, ist aber nichts als eine Gelegenheitsdame, aus zweiter Hand quasi – die Frauen werden dich umbringen dafür), das sich an den mit Stacheldraht verhauenen Leib des Abstellplatzes gedrückt hat. Fehlt nur noch das Plakat für ein Schauspiel ohne Zuschauer, das absolute Spektakel (Reminiszenz vielleicht an eine Illustration des belgischen Zeichners Guy Peellaert im Badezimmer des Verstorbenen: Ein Poster der »Supremes«, die drei schwarzen Sängerinnen der »Motown« preißend, die – gehüllt in fuchsienrote Fummel, in einen Sturzbach aus Perlen und ein diamante­nes Lächeln – sich auf dem Dach eines liegengebliebenen Autowracks präsentieren).

Die Unterbrechung des Spektakels ist die einzige phi­losophische Frage, die zählt.

Neben der des Suizids.

 

* * *

 

Der Aufbahrungsraum von Lorient – Stadt im Departement 56, Unterpräfektur Morbihan, Küstenstreifen mit bretonischer Sprache – wurde beim Ortsausgang an eine vierspurige Ausfallstraße gebaut, mit ihren nie abreißenden Strömen bunter Autos unter einem aschegrauen Him­mel. (Lorient, L’Orient, Laure riant – die lachende Laure: leicht ist es, den Namen der Stadt zu variieren, deren Verbindung zum Orient über ein vergangenes indisches Handelskontor nicht hinausreicht, die Sonne am Atlantik vielleicht noch eingerechnet, die an schönen Tagen über den Betonquadern der 50er-Jahre-Architektur zu schmelzen vermag wie Gold oder Bronze, letztere ein Ergebnis des Zweiten Weltkrieges, erstarrt in ewiger urbaner Fiktion, morbide und depressiv). Es handelt sich um einen sternförmigen Komplex, aschefarben auch er, als wolle das Gebäude mit dem flanellfarbenen Ton seines Wirkens harmonieren. Tagsüber verschmilzt der milchige Rauch des Brenners mit dem Himmel und letztlich weiß niemand, dass die Kadaver sich verbrauchen wie Holz in der Feuerstelle eines Kamins, bevor sie als Wasserdampf durch den Abzug verschwinden. In der Nacht, im Licht der Straßenlampen, behauptet sich der Rauch eher wie ein vertikaler, weißlicher Schlussstrich – die Finsternis des ständig wachsenden Vermisstwerdens anreichernd (wenn nun die bestimmende Lebensfarbe von Morbihan, des Westens also, wirklich grau ist – grau und nichts anderes, wenn der Tod, der die Nacht begattet, demnach weiß trägt, dann sind wir weit entfernt von den Farben der Hoffnung, die sich zu Beginn des neuen Jahrtausends in jenen von schmerzlicher Entchristianisierung befallenen Zonen nur in elektrischen Girlanden ausdrücken, ausgestellt wie die letzten Reste religiöser Organe, nicht nur auf dem Tannenbaum im Wohnzimmer, sondern auch draußen vor dem Haus, auf den kalten Fassaden aus Granit, die zu blinken beginnen auf dem klingenden Stein, wenn er endlich da ist, der heilige Abend und mit ihm das ganze lange Fest.

Die Dämmerung. Eine aschegraue Dämmerung. Das Maul der Verbrennungsanlage verströmt ausdruckslose Freude. (Die eigentliche Fremdartigkeit Lorients aber geht auf ihre keltischen Gene zurück, wie Schlacke kleben sie auf der Anpassung ans Französische, auf dem Militärischen, das die Stadt drückt mit seinem Arsenal und der U-Boot-Basis, längst rehabilitierte Überbleibsel der Nazi-Zeit; im August beherrscht interkeltische Festlichkeit die Straßen, ein Sturm der echten und der eingebildeten Kelten aus aller Welt, und natürlich die Mädchen, die – so will es die lokale Hymne – »so sind wie die Hummer / sie tragen ihre Bänder in rot und in schwarz«.) Das ist die Dämmerung.

 

* * *

 

Xantia: Die Limousine mit dem Namen einer Industrie-Gottheit steht in einer beeindruckenden Straße. Ihr weißes Leichentuch liegt im Staub der Stadt, der die Luft ge­sättigt hat, Tag um Tag satter in der Hitze des Frühlings. Ihre Flanken sind von all den Kanten eines Lebens zerbeult, Falten auf dem Kleid aus Blech, befleckt von Schmiere aus dem Dunkel unter den Kotflügeln. Hin­gestreckt auf dem Gehweg vor dem Abstellplatz war­tet sie darauf, endlich genommen, verkauft, zerlegt zu werden, in der Schrottpresse zu enden. Oder aber ihre Reinheit wieder zu gewinnen, Jungfräulichkeit aus den Händen eines unverheirateten Bastlers, eines Schraubers mit Hang zur Vernunftehe. Im Wageninneren ist der Besitzer im Zustand absoluten Autismus (er ist tot). Die Zentralverriegelung ist eingerastet. Das Auto ist verschlossen, eine wandernde Junggesellenwohnung ohne Vorhänge an den Fenstern. Abgeschal­tet sind alle Organe und Funktionen – Motor, Tachometer, stehengebliebener Kilometerzähler, die weißen Ziffern für 184456 Kilometer, die rote 7 für Hektometer, als wäre das hier ein Glückspiel, Gangschaltung auf Leerlauf, Gebläse auf volle Kraft aber ohne Luft, Autoradio stumm, etc. – mit einer einzigen, gleichen Botschaft: Bitte nicht mehr stören!

In etwas weniger als zwei Stunden wird der 1. Mai Einzug halten in diese trostlose Straße. (Für die Heiden im Norden Europas ist längst Walpurgis, die Nacht, in der die Lebenden den Toten begegnen, das Ende des Winters und der lebenspendenden Erneuerung. Anachronistischer Hexensabbat löchert die Stille der fernen skandinavischen und germanischen Wälder, Feuer prasseln in feuchter Finsternis, während die Demonstrationszüge der französischen Arbeiterklasse sich noch gedulden müssen, bis sie endlich in diesen großen Tag hineinmarschieren dürfen, über die Boulevards und durch das Stadtzentrum von Paris, in praller Sonne.) Der Maibaum ist gepflanzt, mitten hinein ins Herz des Fahrers, seine stählerne Wurzel getränkt von menschlichem Blut.

 

* * *

 

Er ist noch nicht tot. Aber bald, aber bald …

 

Dienstag, 2. April, 11 Uhr morgens.

 

Er befindet sich im XIV. Arrondissement von Paris, steigt die Treppen eines Hauses in der rue Lecuirot Nummer 8b hinauf. Noch bevor er das Stockwerk mit den Büros seiner Gewerkschaft erreicht, kreuzen Frauen seinen Weg – zwei Damen wie Stelzvögel, die eben die Agentur »Elite« verlassen, die Vermittlung für Mannequins; eine ziemlich braune Blondine und eine Schwarze mit gelbem Haar, beide so um die Zwanzig. Sie bewegen sich ruhig, scharf, die nackten Arme in der frischen Luft des Treppenabsatzes, Sonnenbrillen auf der Nase (das Treppenhaus ist freilich finster wie ein Brunnenschacht). Eingezwängt in seinen engen Anzug aus sandfarbenem Leinen mustert er sie aus den Augenwinkeln, die rechte Hand hängt ob des Gewichts einer geräumigen Aktentasche etwas tiefer als die Linke. Die Tür mit dem Messing-Firmenschild »Elite« schließt sich wieder. Noch zwei Stufen muss er steigen, bis er die beiden direkt vor sich hat. Geschafft. Sie bemerken ihn nicht, oder nur flüchtig. Sind das Professionelle oder nur Berwerberinnen fürs Metier? Er belauert sie, diese Kreaturen einer anderen Menschenkategorie, Gipfel gesellschaftlicher Gestaltung und plastischer Sonderheit. Zwei Frauen wie Jungstuten – die leichenblasse Ghoula in einer Tunika aus rotem Satin, eine Schwarze, die Augenbrauen und das geglättete Haar mit Superoxyd gelb gebleicht. Es bleibt ihm noch eine Etage bis ins Gewerkschaftsbüro. Thema heute: »Die Mitgliederwerbung optimieren«. Sie sind nicht ganz so perfekt wie im Fernsehen oder im Internet mit seinen Pixel-Collagen, aber immerhin …

 

Warum haust die Gewerkschaft über der Agentur »Elite«? Auf der oberen Etage – eine progressive Vision von Demokratie, interprofessioneller Dialog, aufopfernde Treue, narzistische, kleinstmögliche Förderung von Engagement, Kollegen, die Wirklichkeit. Auf der unteren Etage – der Handel mit dem Schein, der Bestand an kosmopolitischem, die Rassen transzendierendem Menschen­material, Hülsen, geografische Zuordnung (Frage: welche Gewerkschaft ist eigentlich für Mannequins zuständig? Sind diese beiden Mädchen eigentlich organisiert? Und wo? Bei ihnen da oben? Das würde ihn überraschen. Und warum soll nicht er sie vertreten? Das würde ihm Abwechslung von den normalen Lohn­empfängern verschaffen. Und der Arbeiterschaft ein bisschen frisches Blut …). Er dreht sich um, schaut sich das abgenutzte Treppenhaus zwischen dem dritten und vierten Stock an, erspäht zwei Haarkronen in Bewegung. Er könnte kopfüber hinunterspringen, auf die Mannequins stürzen, sie mit seinem Tod grüßen. Er könnte auch einfach zurücksteigen, einem dieser Mädchen das Glasbein brechen, sich eine Scherbe greifen, als wäre es eine zerbrochene Flasche, sich damit die Adern öffnen, das Herz des Opfers durchbohren. Ihm wird schwindlig, er nimmt sich zusammen.

 

* * *

 

Die Straße wartet. Sie verharrt im Dämmerschlaf in brüllender Hitze, der alles verzehrenden Gewalt der Sonne ausgesetzt, umgeben von Mauern aus Schamottsteinen wie von den Wänden eines Backofens. Kein Windhauch, eher eine unbestimmte Art von Atemnot über dem glühenden, sich verflüssigenden Makadam. Ein herumirrender Hund mit mageren Flanken hebt das Bein und will ein paar Tropfen loswerden am Reifen eines Lieferwagens, der zwischen dem Abstellplatz und einer Automobilvertretung an der Ecke Boulevard Victor-Hugo steht. Der Hund hat Durst, lässt die Zunge zwischen den Reißzähnen aus dem Maul hängen, kratzt sich das weiße Fell, das an manchen Stellen rot ist wie von einer Nekrose, trollt sich schließlich und will in den Autohof hineinkommen, den er vielleicht mit der Gesellschaft zum Schutz der Tiere SPA verwechselt – (falls ein illegales Tier es bis auf den Hof schafft, könnte es womöglich ein Auto besetzen, sich im Schatten ausruhen, sich dort wohlfühlen, in einem Alfa Romeo verrecken, während es auf die Nacht wartet).

Im ZAC, der Stadtraumentwicklungszone von Saint-Ouen, wird an diesem Dienstag Nachmittag gearbeitet. Von der rue Ardoin bringen die Abschleppwagen die eingesammelten Fahrzeuge nacheinander auf den Hof. Die Müllwagen kommen und verschwinden wieder aus der Syctom, die Kaminrohre stoßen Rauch in den durchsichtigen Himmel. Paletten mit zusammengefalteten Kartons stapeln sich beim Öko-Verpackungssystem. Der Lager- und Hamsterdiscount »laffaire.com« öffnet dem Publikum die Pforten, ein »Privatverkauf« italienischer Anzüge ist angesagt. Morgen allerdings wird nicht gearbeitet, da haben wir Maifeiertag. Zu dieser Stunde wartet die Straße, sie ist offen wie nie, herzklopfend offen. Ihr schwarzer Bauch ist nackt, ausfließend, bereit sich zu entleeren, wie eine Gebärmutter sich ihrer blutigen Regel entledigt. Autos fahren vorbei, die Luft ist vom schweren Abgasgestank noch stickiger geworden. Die Straße ist wie eine Feuersbrunst, gespeist aus unsichtbaren Hinweisen, steckengeblieben in der Zeit zwischen Walpurgis und dem Tag der Arbeit. Sie wartet auf ihre Stunde und auf ihren Mann.

Ach, wie erwartungsfroh ist die Natur, seit einem Monat platzen die Knospen auf jedem Zweig eines jeden Baums der Stadt! Ach, wie erwartungsfroh ist die Natur, wie in jedem Jahr wird die negative Nacht den Monatsfluss aus den Herzen der Selbstmörder trinken! Ach, wie erwartungsfroh ist die Natur, morgen werden die Arbeiter durch Paris ziehen und die Fahnen ihrer Träume schwenken.

 

* * *

 

Freitag, 5. April, 23.30 Uhr

 

Er ist allein in seinem Salon in der verlassenen Straße hinter der Porte de Clichy (auf dem Périphérique drehen die Autos ihre Runden im reißenden Rhythmus einer Muräne im Aquarium, auf die obskure Ausfahrt wartend). Er thront in seinem Büro und schaut sich zwei Dokumente von exakt gleicher Größe durch. Er sieht prima aus in seinem vom schwachen Licht der Deckenlampe gesprenkelten anthrazitgrauen Anzug. Er hat einiges Gewicht verloren, war niemals zuvor so gepflegt, so würdevoll, so in Form – wie für ein Sprintfinale.

 

Erster Stapel

 

Arbeitsplatzbeschreibung: betraut mit der Leitung und dem Engineering von Gebietsprojekten

Arbeitscode zur Angliederung: A 30

Direktion oder Struktur: Regionaldirektion der Unternehmen, des Wettbewerbs, des Verbrauchs, der Arbeit und des Arbeitsverhältnisses

Verwaltung: 210, quai de Jemmapes, 75010 Paris

Fachbereich: Konzeption, Promotion, Einsatz von Politik und ministeriellen Maßnahmen im Sinne des Arbeitsverhältnisses

Hilfsmittel: Büro, Telefon, Fax, Tragbarer Computer

 

Das leichte Berühren des Papiers mit den Fingerkuppen übermittelt so etwas wie das Gleiten eines Kamms durch das Haar vor einem blinden Spiegel / den Genuss von unnützer Macht / Freude. Er qualmt eine Zigarette von Benson&Hedges weil die goldene Packung dem ordinären Tabakkonsum einen Hauch von Luxus verleiht. Die Glastür zum Balkon im zweiten Stock ist offen (draußen verströmt jene Epedemie, die sich Leben nennt, ihre ers­ten olfaktorischen und visuellen Ergebnisse aus den Verästelungen des immensen pflanzlichen Geschlechts und seiner diffusen Erregung, die die Stadt und die Süße der Nacht mit ihrem Duft erfüllt).

 

Stapel 2

 

Broschüre 3318 des offiziellen Journals zur allgemeinen nationalen Vereinbarung über erwachsene Mannequins und Mannequins im Alter von weniger als 16 Jahren, angestellt von professionellen Agenturen.

Bezahlter Urlaub … Mindesteinkommen … Spezifische Modalitäten zur Anstellung von Kindern … Gleichbehandlung französischer und ausländischer Gehaltsempfänger … Gleichbehandlung männlicher und weiblicher Mannequins … Berücksichtigung behinderter Gehalts­empfänger … Recht auf gewerkschaftliche Tätigkeit … Der im Schnellverfahren überprüfte Index bestätigt ihm: Er hat einiges zu lesen heute Abend. Dann verweilt sein Blick auf dem rosafarbenen Dossier der Penelope R., neunzehn Jahre, der die Mannequin-Agentur per Vertrag untersagt hat, nach 23 Uhr die Wohnung zu verlassen und mehr als einmal alle zwei Tage zu essen … Das soll alles legal sein?

 

Im Kellergeschoss des Hauses, in den betongegossenen Marställen der Tiefgarage, erholt sich Xantia still in ihrer Box. Ihre Augen sind geöffnet und abgeschaltet, sie schläft weiß in kühler Finsternis.

Über ihr spielt ihr Meis­ter weiter den Aktenfresser, Hausarbeitszeit der Büroarbeitszeit hinzufügend. Als suhlte er sich aus Gefallsucht oder Überlebensinstinkt in einer trüben Freude darüber, zu viel zu arbeiten. Er hält sich aufrecht, lässt den Strahl seiner blauen Augen über ein Meer kalter Buchstaben gleiten, vage Verwaltungsvorgänge, unterschiedslos und düster. Sein Mund bläst nun Rauchkringel, die in Hula-Hoop-Bewegungen zur Decke aufsteigen.

Er steht auf und holt sich ein Glas Wasser aus der Küche. Morgen hat er Gäste. Das heißt, einkaufen, den Kühlschrank füllen, der seit Tagen klagt. An der Türklinke hängt ein Bund Messer.

Er geht zurück in sein Büro und widmet sich wieder seiner Berufsprosa. Der Schwall von schwarzen und weißen Einzelheiten auf dem A4-Papier rutscht immer mehr zusammen, wird unleserlich – bald nur noch ein Kontinuum aus Tinte, das er fixiert, aber nicht mehr entziffert, als befände er sich auf einer Brücke hoch über der Autobahn.

Wie sein alter Kollege Maturin sagt – es ist Mitternacht und die Verzweiflung führt kein Tagebuch.

 

 

 

RÜCKSPIEGEL

 

 

Sein Personalausweis beweist: er ist wirklich in Paris geboren, in einem Hospital im XVIII. Arrondissement. Obwohl von Jahrhunderte alter bretonischer Abstammung, begleitet von irischem, blauäugigem Äußeren, lässt ihn eine gewisse Eitelkeit immer noch sagen, er sei in Paris zur Welt gekommen. Bevor er aus dem Zentrum an die Peripherie gerückt wird und auf einem Abstellplatz landet.

 

Mitte der 90er Jahre ist er im dritten Semester Soziologie an der Universität Rennes-II eingeschrieben, ein fröhliches Studenten- und Protestmilieu, bekannt für seine rie­sige Cafeteria, das größte noch aktive Theater der Bretagne. Er wohnt zur Untermiete mitten im Stadtzentrum, die Wohnung ist neu, Eigentum eines Kleinunternehmers aus der Gegend, für den sie eine Investition ist, abgesichert durch die staatlich Wohnungshilfe APL, und natürlich den Hausmeisterlohn des Mieters. Die Familie vom Stockwerk darunter hat sich längst verabschiedet – Musik in voller Lautstärke, ohne Ende. Sein Vorgänger hat das Zimmer in bestem Zustand übergeben, er ist der neue Mann in einer Runde von drei studierenden Lebemännern. Eines Abends im Büro will er seinen Füllfederhalter testen, seine Hand rutscht aus. Die rosafarbene Tapete ist nun schwarz gesprenkelt.

 

Er macht den Hausmeister in Saint-Malo, um sein Studium zu bezahlen. Mitte der Woche kommt er zurück nach Rennes, um in der Uni vorbeizuschauen. Am Donnerstag besäuft er sich mit den Wohnungsnachbarn und den anderen Kumpeln. Er liebt den Cine-Club, macht sich schick für die Caféteria, mit Piratenohrring im linken Ohr, nicht um auf schwul zu machen sondern auf böser Junge vom Land.

 

Eines nachts pennt er mit einer gottverlassenen Tussi, die sich in der Morgendämmerung aus dem Staub macht. Er steht auf, in Unterhosen, will frühstücken, schaut auf seine Socken, die Jungs flachsen.

 

Seine geballte Faust, der Arm ist völlig entspannt, knallt in aller Natürlichkeit und mit viel Geschwindigkeit auf die Nase eines lästigen Nachtschwärmers, der Streit sucht in einer hippen Nachtbar namens La Contrescarpe. Alle sind sich einig: er hatte recht und er schlägt hart.

 

Er ist die Nummer 9 im sportlichen Oval, im Fußballclub von Quéven an der Peripherie von Lorient. Er haut sie rein, die Bälle, Tor um Tor, im Jünglingsalter, wird freigestellt vom Militärdienst wegen der ständigen Verletzungen. Was ihn allerdings nicht davon abhält, ein gewisses Talent auf der Mittelstrecke zu zeigen, mit weit ausgreifendem Schritt bei einer Körpergröße von nur 1,70 Meter – still zu lächeln, wenn er an diesen Dienst denkt, dessen von den Rekruten gefeiertes Ende, den »sapin« (Tannenbaum), er niemals kennenlernen wird, weil er es vorzieht, auf seine eigene Stunde zu warten und schließlich dem Ruf, aber nicht dem zu den Waffen, zuvorzukommen.

 

Seine schlimmste öffentliche Erniedrigung, 1995, hat mit seiner ständigen Abwesenheit zu tun. Weil er seit Wochen das Seminar zur Soziologie der Arbeit (für sein DEA, Diplôme d’études approfondies, Master 2) meidet, lässt der verantwortliche Turbo-Assistent – ein Mann mit Schnurrbart, sympathisch und betrübt zugleich in seinem weinstein-farbenen Anzug – den Spruch los, der zwanghaft Abwesende habe »psychologische Probleme« (im selben Zeitraum gelingt es einem Kommilitonen des »zwanghaft Abwesenden«, im Bereich Arbeitsrecht eine These über die »Neuordnung der Lohnabhängigkeit« so­wohl zu verwerfen als auch zu unterstützen. Die Jury reagiert mit Ovationen und unterstreicht, sie habe in seiner Arbeit »keinen einzigen orthographischen Fehler ent­deckt«).

 

Seine Startversuche ins Berufsleben sind grausam. Nicht unbedingt wegen seines Postens als Berater in einer Nebenstelle der Verwaltung von Rennes, wo er täglich Arbeit suchende junge Leute ohne nützliche »Verbindungen« empfängt, und bisweilen auch die Versager aus dem bourgeoisen Stadtzentrum. Sondern viel mehr, weil er einfach keine Bleibe findet. Trotz eines Gehalts von 9000 Francs im Monat (1.400 Euro nach heutiger Rechnung), will ihm niemand eine Wohnung vermieten, er kann keine solide Kaution vorlegen. Schließlich bezieht er übergangsweise eine Kleinstwohnung mit Blick auf den Fluss Vilaine. Nach einer persönlichen Krise, verbunden mit ständiger Angst vor dem »morgen« und einem daraus resultierendem Sparzwang, zieht er in eine finstere Kellerwohnung in der Nähe des Frauengefängnisses.

 

Eines Abends im Juni 1996, auf dem Rückweg von einem Fußballspiel im Stadion von Rennes, sieht er sich im Auto dem Spott der Sportsfreunde ausgesetzt. Im Fond des Wagens hockend fragt ihn einer, in dem er sogleich einen Feind des Arbeiterlebens und scharfen Linken erkennt, ob ihm die Beratungsstelle im Rahmen eines »Berufsprojekts« nicht den Führerschein bezahlen könne. Im Auto, das im Stau steht, schütten sich alle aus vor Lachen. Der Arbeitslosenberater lacht auch, allerdings vor Wut. Im Grunde hat er Angst vor dem Radikalen. Allerdings ohne es auszuschließen.

 

Agio-graphie = Rechnung + Zinsen

 

* * *

 

Dienstag, 30. April, 15.15 Uhr

 

Im Halbdunkel der Tiefgarage öffnet er die Tür der Xantia. Er setzt sich rein und bedient die Zündung, lässt die Augen der Göttin aufleuchten. Es ist noch früh. Er ist allein. Er ist nicht zur Arbeit gegangen. Er geht auf Reisen, ohne Koffer. Rückwärtsgang rein, Halbkreis fahren / Vorwärtsgang rein, im Dämmerlicht / eine Wendelauffahrt über drei Etagen bis zur Ebene Null / Tageslicht, sehr bald (der Nachmittag bricht an). Er biegt nach rechts ab, fährt in Clichy-sous-Bois ein, ins Pariser Vorfeld jenseits des Périphérique, in die lebensmüden Viertel des sozialen Verfalls, verschmilzt langsam mit dem Verkehrsgewebe, mit dem schleichenden Krebs des Ballungsraums, völlig erschöpft in dieser Bullenhitze. Dann gleitet er durch Saint-Ouen. Er fährt durch Straßen mit blöden Namen, ist im Kontinuum von unaufdringlichen Fassaden und verkehrstechnischen Anweisungen. An einer roten Ampel drückt er die Zentralverriegelung, er will allein sein / absolut allein sein / ganz allein sein. Als die Ampel auf grün springt, setzt er sich hinter einen Motorroller C1 BMW mit Dach, der Fahrer trägt keinen Helm, dafür einen Anzug für drittklassige Schauspieler, in Nullkommanichts überholt der die Autoschlange und verschwindet. Jetzt ist er hinter einem Opel Zafira voller Kinder – vielleicht ist das ja die nährende Göttin –, nimmt eine Avenue, die den Namen eines Schriftstellers trägt, treibt in einer luftigen Fata Morgana. Er überholt nicht, folgt dem allgemeinen Sog. Wieder eine rote Ampel. Auf einer Fassade verspricht ein Plakat den kommunalpolitischen Kampf zwischen einem strahlend braunen Mann und einer strahlend blonden Frau, denen Scherz­bolde jeweils einen Zwicker und einen Schnauzbart verpasst haben. Er startet, fährt an einem Müllwagen am Straßenrand vorbei, schaut, wie die Männer in der Sonne Tonnen leeren, späht hinauf zum Fahrer – der sieht ihm aus wie ..., aber nein, das ist nicht der Freund, mit dem er vergangenen Samstag Abend ins Kino gegangen ist. Die Luft ist schwer vom Gestank der Abgase / die Blätter an den Bäumen glänzen / die grüne Ampel löst den Stau auf / schwarze Kindermädchen schieben weiße Nachkommenschaft im Kinderwagen / Möbelgeschäfte wechseln sich ab mit aussätzigen Kaffeebars / die Stadt ist die Aus­wirkung der Wirklichkeit / eine Oberschülerin überquert die Straße neben den Zebrastreifen / die Wirklichkeit wirkt sich nicht aus.

 

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Montag, 8. April, 11 Uhr morgens

 

Er steigt langsam die Treppe zur Gewerkschaft hoch. Er schwimmt im Dämmerlicht, die Lampe hat er nicht angeknipst, reiht Stufe an Stufe, geschwind wie ein Maulwurf. Eine junge Frau (grüner Body, aufgedruckte gelbe Dollarscheine / Westernjeans mit Fransen / Flip-Flops in schwarzem Leder) wartet allein auf dem Treppenabsatz vor der Agentur, im Kühlen. Sie hat sich auf die Brüstung vor dem Aufzugschacht gesetzt, konsultiert ihr i-Phone, das Gesicht geflutet vom weißlichen Schein ihres Apparats. Er beobachtet sie, setzt seinen Aufstieg fort.

(Zu seinem eigenen Vergnügen beschreibt er bisweilen diese ungeheure Koinzidenz: die Räumlichkeiten der Agentur Elite unter seinem zweiten Zuhause, den Gewerkschaftsbüros, und die Annahme, dass die Wege der Gewerkschaft gepflastert sind mit Sünde. Aber sein Untergrundhumor lässt nur die unruhige Spannung steigen zwischen Anmut und Langeweile, zwischen Image und Gesellschaft, zwischen der Oberfläche und den anderen.)

Auf halber Strecke zwischen den beiden Stockwerken dreht er sich um, streckt den Kopf über das Geländer. Sein Blick richtet sich nach unten, erspäht den weißen Fleck des Mobiltelefons, das eine Etage tiefer flimmert. Das Mädchen ist allein. Die Reste der phosphorisierenden Helle ziehen ihn an wie das Licht am Ende eines Tunnels. Was ihn allerdings heute erwartet ist kein Totenlicht sondern eine Konferenz zum Thema: »Die technische Organisation der Wahl der Gewerkschaftsvertreter in kleinen und mittleren Unternehmen im Raum Paris.« Würde das Mädchen mit dem Dollar-Körper an der Konferenz teilnehmen? Würde sie mit den Kollegen sympathisieren? Ein letzter schneller Blick über die Rampe … Es ist Zeit, die Manege zu verlassen, man könnte ihn entdecken, und er ist schließlich kein Voyeur.

(Er hat sein Lager gewählt. Er wird helfen. Darauf ist er programmiert. Das Leben gibt ihm mit seinen 39 Jahren weniger als anderen. Es ist zu spät, das noch zu ändern. Die Agentur Elite wird bald umziehen, in die Avenue Montaigne 21, ins VIII. Arrondissement, zwei Schritte bis zu den Champs-Elysées, die Gewerkschaft als Waise dieser sinnlichen Nachbarschaft zurücklassend.)

 

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Dienstag, 30. April, 22.35 Uhr

 

Die Xantia und ihr Meister gedulden sich in der finsteren Straße, sie ist immer noch schwer von Hitze, gespeichert im Asphalt und in den hohen Ziegelmauern, die sich hinunter zur Seine ziehen. Als trüge die nun über das Indus­triegebiet hereingebrochene Nacht für die Nachkommenschaft Trauer unter der Schleppe eines langen, schwarzen Schleiers ohne Anfang und ohne Ende. Ab und zu brausen Autos durch die Straße des Selbstmörders, flüchtige Schatten, deren Scheinwerfer wie Pinsel über den hier abgestellten Sarg streichen und ihm seine weiße Orginalfarbe zurückgeben. In unregelmäßigen Abständen taucht die Xantia auf aus ihrer Finsternis, erstrahlt für eine lange, absolute Sekunde und lässt kurz den gebeugten Kopf des Fahrers erkennen. In wenigen Stunden wird man ihn finden. In einigen Stunden wird man ihn wegbringen. Das Fahrzeug wird seinem Besitzer folgen, es wird aus dem öffentlichen Leben verschwinden, sich zurückziehen auf die andere Seite der Mauer, auf deren Krone sich raue Stacheldrahtlocken ringeln (heute Abend sendet TF 1 FBI: Portés disparus (Without a trace) / France 2, Cold case / France 3, Péri-Gore, meurtres en région / Canal Plus, Un prophète II / La Cinq, L’Impasse / M6, Lady Di assassinée? / Arte, Themaabend Alfred Hitchcock / D8, un spécial O.J. Simpson / W9, Le Professionnel / TMC, Dracula chez les bonnes soers / NT1, Mangattack, la revanche des insectes bridés / NRJ, Elite model look 2012: le concours / France 4, Le Boucher / D 17, Vie du jet-setteur serial-killer Thierry Paulin / Gulli, Inspecteur Gadget/ TV Breizh, Columbo).

Die Xantia und ihr Meister werden, auf ewig vereint, in dieser Straße ohne Zuschauer ruhen. Das Handy vibriert wieder, es leuchtet in der Tasche des Toten auf – eine Buchstabenfolge auf grünem Grund in förmlicher, nutzloser Schönheit: WAS MACHST DU DEN ARBEITER KOMM MIT MIR BRILLIEREN IS DAS FEST DES JAHRES

 

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13. April, 23.40 Uhr

 

Sein drittletzter Samstag Abend. Er hat den beigen Anzug ausgesucht, dazu ein blendendweißes Hemd, und ist zum Friseur gegangen. Nun lehnt er an der Tür zum Wohnzimmer des Appartements, unbeweglich und wie festgewachsen, eine Schrottwohnung – wenn auch mit »Zierrat«, wie die Franzosen die angeklebten Stuck-Deko­ra­tionen abschätzig nennen – oben im 4. Stock, rue de Paradis 44, X. Arrondissement. Die Fenster zur Straße sind offen. Brodelnde Nachtluft drängt in den von Menschen überquellenden faunesken Salon. Er schaut zu wie sie tanzt. Sie löst sich aus der Menge. Sie trägt den Namen einer Blume und ein Kleid ohne Träger mit aufgedruckten Sinnsprüchen in gelb und schwarz. Ihr Retro-Flair lässt sie aussehen wie eine Hausfrau in einem Stummfilm. Hübsches Lächeln, bestes blondes Haar, Kurven, regelmäßige weiße Zähne, berufstätig. Kein Mann, soweit ihm bekannt ist. Sie gefällt ihm. Das Parkett ist in schlechtem Zustand, es gibt nach unter den Füßen. Er beobachtet sie. Kleinmütig wartet er auf den richtigen Moment, wo doch die französischen Chansons, faszinierend und hohl zugleich, längst das Wesentliche des Abends ausposaunen. Und wenn du eines Tages an mir zweifeln würdest / ein Faustpfand der Liebe habe ich, dreifach geprüft / ich liebe dich so, ich liebe dich so / mit meinem Blut habe ich es auf den Arm geschrieben / auf Leben und Tod, das löscht mir keiner / und ich liebe dich so, ich liebe dich so.

... und im Regenbogenlicht der Spots, die dieses Haus ein wenig freundlicher machen, löst sich, feucht und gelb, der Gips in Placken von der Decke – Hausnummer 14, von der kaum einer weiß, dass sie für die kommunistischen Juden der Hauptstadt seit der Befreiung eine Zauberformel ist, dass der Laden demnächst zugemacht wird, ausgeräumt und seiner Bewohner entleert – vielleicht als gesundheitsschädlich deklariert / demnächst im Sonderangebot der Baugesellschaft für Leute mit bescheidenem Einkommen zu finden / womöglich eine Erinnerungsstätte für Immigranten und jüdischen Widerstand in der kommunistischen Gastarbeiterorganisation Main-d’oevre ouvrière immigrée MOI …

Sie tanzt mit ihren Freunden über das schiefe Parkett. Ein paar Latten sind weggeknallt wie Knöpfe von der Hose und haben den dance-floor zum schwierigen Parcours gemacht. Die Wohnung ist vom Untermieter untervermietet und der offizielle Untermieter, der diese Wände auf Monate vermietet hat, weil er in Afrika arbeitet, dieser Untermieter fragt sich, wie lange er noch mit einer solchen Adresse in einem angenehmen Viertel im Zentrum von Paris prahlen kann. Das Mädchen mit dem Blumennamen hat mitgekriegt, dass der junge Mann in der Tür zum Salon sie mit den Augen verschlingt und dass irgendwas nicht rund läuft bei ihm – er hat sich seit einer halben Stunde nicht bewegt, steht da allein mit einem Glas Punsch in der Hand, wie ein Komparse, der nicht so recht an seine Rolle glaubt und seine Anwesenheit bis hin zur Illusion verleugnet – er macht ihr ein wenig Angst. Manu Manureve / wo bist du / Manu Manureva / Phantomschiff, das du dir erträumst / die Inseln / und es wird niemals ankommen / dort unten.

… gesagt werden muss, dass die »14« kein Symbol ist wie die vielen anderen der jüdischen Geschichte, keine in Metall gravierte Vignette auf einem dieser Touristenweg­weiser namens »Geschichte von Paris«, die auf dem Gehweg vor den zu kennzeichnenden Häusern stehen. Bis heute gilt die »14« für das »Von da komme ich her« mehrerer Generationen kommunistischer Juden, gilt für das Gebäude, in dem Büros und Vereine untergekommen sind wie die Union der Juden in der Resistance und in der Selbsthilfe UJRE, die Zentrale Kommission für Kinderhilfe CCE, dann gibt es noch den Stallgeruch von Vereinigungen wie der Ver­einigung der Freunde der CCE (AACCE), von zahlreichen kulturellen und sportlichen Vereinen, es gibt Schirmherrschaften, eine Krankensta­tion, eine erstklassige Bibliothek mit Büchern in jiddischer und französischer Sprache, die Büros der wichtigsten Druckerei für Umgangsjiddisch in Europa, die Naïe Presse (Neue Presse), den Jüdischen Volkschor von Paris, und sogar ein Theater, das Yiddisher Kunst Teater. Kurz und gut: Das soziale, politische, intellektuelle und künstlerische Herz mehrerer Generationen kommunistischer Pariser Juden – Folge und Ergebnis der Immigra­tion aus Zentraleuropa und des antifaschistischen Widerstands – hat hier angefangen zu schlagen, in der rue du Paradis Nummer 14, in diesem Stadtviertel der Glaswerker, der Kristallkünstler, der Lampenhersteller und der aschkenasischen Kürschner, ohne dass das heute noch jemand weiß, oder jedenfalls fast niemand, nicht mal die Einwohner des Viertels …

Er bewegt sich nur, wenn er sich ein neues Glas nachschenkt, nimmt danach mechanisch wieder seinen Platz in der Tür ein, an dieser Kreuzung, wo Gäste aus dem Raum verschwinden, wo neue hereinströmen, die mitgebrachte Flasche in der Hand. Sein Gesicht ist in einem falschen Grinsen erstarrt. Er sieht, wie sie mit Freunden diskutiert, mit Leuten, die im Dienst humanitärer Organisationen in Paris vorbeischauen und ihren Aufenthalt nutzen, um ein paar nette Stunden mit Bekannten zu verbringen. Die heutige Soirée haben sie spendiert, eine Ansammlung aus Alleinstehenden ohne festen Beruf und einigen Ehepaaren. Die Wohnung ist groß und kostet nichts, insofern eine prima Sache. Nur – was feiert man hier eigentlich? Den Frühling vielleicht, oder einfach das kurze Glück eines gemeinsamen Tanzes in diesem ziemlich lahmen Milieu, sichere Abwechslung und einziger schnellbindender kultureller Zement. Verirrt im Höllental / der Held heißt Bob Morane / auf der Suche nach dem Gelben Schatten.

Von Zeit zu Zeit bleibt jemand stehen, flüstert dem einsamen Gast kurz etwas ins Ohr und macht sich wieder davon, ohne bei ihm etwas bewegt zu haben. Sie allein ist es, die ihn interessiert. Gleich wird er zu ihr hingehen. Genau – er wird zu ihr hingehen, zu ihr allein und keiner anderen, auf das überladene Tanzparkett, das durchaus einstürzen könnte – und er wird ihre Hand nehmen. Mit der geht etwas. Sie stammt aus seinem Milieu. Die ist kein Kind reicher Eltern. Keine Komplizierte, keine künftige Unzufriedene, die sich zweimal scheiden lässt, bevor sie sich bei Attractive World einschreibt, dem Web-Treffpunkt für anspruchsvolle Singles. Die weiß, wie man mit Kindern umgeht, wie man das tägliche Leben verkraftet, wie gespart wird, wie man Pläne macht. Die wird ihn nicht wie einen Hund behandeln. Er wird hingehen, ihre Hand nehmen, sie werden über die Wellen dieses kaputten Parketts tanzen. Genau wie in dem Film Carrie au bal du diable, aber ohne den letzten schlechten Scherz, wo ihnen die Leute von der Kulisse aus einen Eimer Schweineblut über die Köpfe kippen, aus reiner Boshaftigkeit. Gleich wird er zu ihr hingehen. Er wird seine Karten aufdecken und das Schicksal wird seinen Lauf nehmen. Sucht den Jungen / findet seinen Namen.

… weil nämlich Freundschaft, Brüderlichkeit und Einigkeit das Leben sind. Die Ehemaligen der »14« wissen das genau, sie wurden alle im Geist des laizistischen und internationalistischen Judaismus erzogen, in dem Kameradschaft und Solidarität zählen. Patenschaften sorgten dafür, dass sie im Sommer in Ferienkolonien verschickt wurden, dass ihre Betreuung intellektuelle Qualität hatte, und dass sie mit einer kollegialen und fortschrittlichen Sicht der menschlichen Existenz aufwuchsen. Leicht kann sich einer vorstellen, mit welcher Sorgfalt man sich nach dem verheerenden Krieg der Jüngsten annahm, nicht nur um eine traumatisierte Gemeinschaft wieder aufzurichten, sondern auch, um den völlig mittellosen Familien beizustehen und die Waisen zu beschützen. Die in der ganzen langen Geschichte der »14« herrschende Sorge um die Kinder zeigte sich nicht nur darin, welch großes Gewicht der Erziehung allgemein zugemessen wurde, sondern auch im Respekt gegenüber den von den Ehemaligen nicht nur einfach Lehrer sondern »Pädagogen« genannten Erziehern – Frauen und Männer, die bei der Ausbildung ihrer jungen Schüler auf avantgardistische Lehrmethoden bauten …

 

Er steht wie festgenagelt, das Grinsen geliftet vom Mund bis an die Ohren. Hat sich noch einen Punsch eingeschenkt, schwenkt ihn hin und wieder im Glas, betrachtet die wirbelnden Bananenscheibchen und Mandarinenstückchen. Der Punsch ist gepfeffert, mit Zimt gewürzt, intensiv. Das ist es aber nicht, was ihm Angst macht, eher wird er durstig davon. Obwohl er nie ein regelmäßiger Trinker war, seine Lehre hat er bei großen Meistern absolviert – bei einem Kumpel von der Kriegsmarine, den er ganz nüchtern »Seemann« nennt, und dessen wichtigs­tes Gesellschaftsspiel das Niedermachen einer Flasche Ricard ohne Wasser verlangt, was man sich erst mal vorstellen muss … Kurz, mit Kameraden solchen Stehvermögens wird er sich wahrlich nicht vor diesen dünnblütigen Schätzchen hier fürchten.

Wochenende in Rom / wir zwei ohne sonst jemanden / Florenz, Mailand / falls die Zeit reicht / Spaghettifresser-week-end / im Angeberschlitten / Melodramen aller Art / Spaghettifresser-week-end