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Ruth Gogolls

WEIHNACHTSGESCHICHTE

Originalausgabe:
© 2006
ePUB-Edition:
© 2013

édition el!es

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info@elles.de

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-037-0

Coverfoto:
© Pixstore – Fotolia.com

»Ich will nichts mit diesem verdammten Weihnachten zu tun haben!«

Michaela Wittling, unter gewissen Umständen Mike genannt, tobte allein bei der Erwähnung des in zwei Wochen stattfindenden Festes.

»Aber Frau Wittling, wir müssen darüber sprechen.« Ihre Sekretärin, eine ruhige Frau Mitte fünfzig, ließ sich nicht erschüttern. Dazu war sie schon zu lange in der Firma Wittling beschäftigt. »Ihre Angestellten haben ein Anrecht auf ein paar freie Tage und vielleicht auch ein bisschen Weihnachtsgeld?« Sie hob fragend die Augenbrauen.

»Freie Tage? Weihnachtsgeld?« Michaelas Augen blitzten. »Ich kriege so was auch nicht. Die haben doch sowieso schon dauernd Urlaub. Das kostet mich ein Heidengeld. Und da sollen sie auch noch etwas extra kriegen? Nicht mit mir! Ich habe nie frei, und mir schenkt keiner was. Warum sollte ich dann den anderen etwas schenken?«

»Es ist kein Geschenk«, erinnerte ihre Sekretärin sie sanft. »Es sind gesetzlich vorgeschriebene Rechte der Arbeitnehmer.«

Michaela stand auf. Sie war groß, und die dunklen Haare, die ihr ins Gesicht fielen, verliehen ihr ein düsteres Aussehen. »Schlimm genug«, sagte sie, »dass diese Faulheit und Verschwendung auch noch vom Staat unterstützt wird.«

»Darf ich . . .?« Eine zierliche blonde Frau trat herein und blieb gleich hinter der Türschwelle stehen.

»Was ist denn?« Michaela fuhr sie an, als ob diese ihre Angestellte schuld an der ganzen Misere wäre, der sie sich gegenübersah.

»Tut mir leid, ich – Entschuldigen Sie bitte, ich wollte nicht stören.« Die junge Frau zog sich zurück.

»Nun sagen Sie schon!« Michaela trommelte ungeduldig auf ihren Schreibtisch. »Wenn ich eins nicht haben kann, dann so ein unterwürfiges Gehabe! Sagen Sie, was Sie wollen, und basta!«

»Ich . . . ich habe gehört, dass Sie die Firma über Weihnachten nicht schließen. Dass man also herkommen kann und arbeiten. Und da dachte ich . . . ich meine, wenn das ginge . . . ich hätte da noch einiges aufzuarbeiten vor dem Jahresabschluss.«

Für einen Moment war Michaela verdutzt. Sie hob überrascht die Augenbrauen. Aber dann zog sie sie wieder zusammen. »Wegen der Feiertagszuschläge, was? Sie lassen die Arbeit liegen, bis es nicht mehr geht, und dann bekommen Sie das Doppelte dafür, weil Feiertag ist.«

»Nein . . .« Die junge Frau hob zögernd eine Hand, wie in Abwehr eines bösen Geistes. »Nein, so ist es nicht. Ich habe nur letztes Jahr gemerkt . . . es ist einfach nicht zu schaffen vor den Feiertagen, weil doch gerade da so viele Bestellungen kommen, und dann verzögert sich der Abschluss, das gibt Ärger mit der Steuer, und wir müssen Sonderzuschläge zahlen, die wir uns sparen könnten, wenn ich an Weihnachten arbeiten würde. Dann könnte die Abschlussbilanz zum vorgeschriebenen Zeitpunkt eingereicht werden. Ich . . . ich will auch gar keine Zuschläge.« Sie sah Michaela von unten herauf an, als ob sie ihre Zustimmung zu einem ungeheuerlichen Vorschlag erwartete. »Ich will einfach nur, dass alles korrekt abläuft und rechtzeitig fertig ist.«

»Die Zuschläge stehen Ihnen zu, Ramona, darauf können Sie nicht verzichten«, warf Michaelas Sekretärin ein. »Und ich finde Ihren Vorschlag gut. Wir würden sehr viel mehr sparen, als wir Ihnen zahlen müssten.« Bei diesen Worten warf sie einen etwas listigen Blick auf Michaela.

Michaela setzte sich, trommelte weiter mit den Fingern auf ihrem Schreibtisch herum, jedoch nicht mehr so hart wie zuvor. »Ist das so?« Sie hob den Blick zu ihrer Sekretärin. »Wir würden etwas sparen?«

»So ist es.« Ihre Sekretärin bestätigte es nickend. »Aber müssen Sie denn nicht bei Ihrem Kind sein?« wandte sie sich an Ramona. »Wird das seine Mutter nicht vermissen unter dem Weihnachtsbaum? Es ist doch noch ziemlich klein.«

»Es –« Ramona schwankte etwas. »Sie wird im Krankenhaus sein über Weihnachten.«

»Über Weihnachten?« Die Stimme der Sekretärin klang entsetzt.

»Es geht nicht anders, sie – Es ist eine langwierige Behandlung.« Ramona blickte zu Boden. Sie hätte sicherlich gut einen Stuhl gebrauchen können, so wie sie zitterte.

»Gut«, sagte Michaela. Sie schien gar nicht zugehört zu haben. »Dann kommen Sie eben an Weihnachten. Ich werde auch da sein – wie immer.« Mit einem ungeduldigen Wedeln ihrer Hand entließ sie Ramona.

~*~*~*~

»Mami, Mami, Mami!« Das Kind stürmte auf seine Mutter zu, als hätte es sie jahrelang nicht gesehen.

»Meine Süße . . .« Ramona ging in die Knie, ließ ihre Handtasche fallen und nahm ihre Tochter in die Arme. »Meine Süße . . .«, wiederholte sie und versteckte die aufkommenden Tränen hinter dem Haarschopf des kleinen Mädchens, indem sie sie fest an sich drückte.

Im Hintergrund näherte sich eine Gestalt. »Ich habe ihr gesagt, sie soll nicht so schnell laufen, aber als sie Sie gesehen hat, war sie nicht mehr zu halten.« Die Kinderkrankenschwester blieb lächelnd neben den beiden stehen.

»Muss sie sich denn –« Ramona erhob sich und nahm ihre Tochter auf den Arm. Sie war zwar schon fünf, aber so klein und schmal, dass Ramona sie mühelos hochheben konnte. Sie sah eher aus wie drei. »Muss sie sich denn schonen?« Ramonas Stimme klang ängstlich. Ihre Augen blickten die Schwester ahnungsvoll an.

»O nein, gar nicht.« Die Schwester lachte. »Es geht ihr gut, unserem kleinen Mäuschen.« Sie kniff die Kleine liebevoll in die Wange, woraufhin die genervt den Mund verzog und versuchte, der Hand zu entkommen.

Ramona setzte ihre Tochter ab. Am Ende des langen Krankenhausganges erschien ein kleiner Junge und winkte. »Mami, komm mit zu Florian. Spielen«, verlangte Ramonas Tochter und zerrte an ihrer Hand.

»Gleich, Leonie.« Ramona lächelte zu ihrer Tochter hinunter. »Ich muss nur noch mit Schwester Johanna sprechen, dann komme ich. Geh doch schon mal vor.«

»Aber wirklich«, entgegnete Leonie bestimmt. »Sonst gehe ich nicht.«

»Natürlich wirklich.« Ramona strich ihr über den Kopf. »Du kannst ruhig zu Florian gehen. Ich komme gleich.«

Leonie sah sie ein wenig misstrauisch an, aber als ihr Blick wieder Florian am Ende des Ganges entdeckte, war plötzlich alles vergessen, und sie raste los, um ihn möglichst schnell zu erreichen.

Ramona blickte ihr hinterher, während sie auf dem Krankenhausflur immer kleiner wurde und schließlich mit Florian im Spielzimmer verschwand. »Es scheint ihr richtig gut zu gehen«, bemerkte sie. Sie versuchte ihrer Stimme einen hoffnungsvollen Klang zu geben. »Wenn Sie das auch sagen . . .«

»Das habe ich nur gesagt, weil das Kind dabei war«, entgegnete Schwester Johanna ernst. Sie schaute Ramona bedauernd an. »Die Ergebnisse der heutigen Untersuchungen waren nicht gut. Ihre Fröhlichkeit täuscht. Damit täuscht sie uns alle. Die ganze Station hat sie furchtbar gern, weil sie immer so gut gelaunt ist. Sie muntert jeden auf mit ihrer Art.«

»Sie hat ja auch ihr halbes Leben hier verbracht«, sagte Ramona etwas bitter. »Sie kennen sie besser als ich.«

»Sie müssen stark sein.« Die Schwester strich ihr über die Schulter. »So ein Geburtsfehler rafft viele der Kinder schon im ersten Jahr dahin. Leonie hat es weit gebracht.«

»Weil sie fünf ist?« Ramona brach fast zusammen. Die Schwester führte sie zu einem Stuhl. »Fünf Jahre? Das soll alles gewesen sein? Ein ganzes Leben?«

»Wir können nichts daran ändern, so schlimm es auch ist.« Wieder strich die Hand der Schwester beruhigend über Ramonas Schulter. »Wir nicht und Sie nicht. Wir haben alles getan, was wir konnten.«

»Alles, was Sie für eine Kassenpatientin tun konnten«, erwiderte Ramona bitter. Sie sah die Schwester an. »Entschuldigung, Sie können ja nichts dafür.«

»Nein, kann ich nicht.« Die Schwester lächelte verständnisvoll. »Und die Ärzte auch nicht. Selbst ohne die Gesundheitsreform wären uns allen die Hände gebunden. Es gibt keine anerkannte Therapie mehr in Deutschland – noch nicht einmal in Europa.«

»Nur in Amerika«, sagte Ramona leise.

»Der Erfolg ist nicht garantiert«, wandte die Schwester ein. »Deshalb zahlen die Krankenkassen das auch nicht.«

»Wie kann das sein?« fragte Ramona mit schwacher Stimme. »Alte Menschen, die sterben wollen, die ihr Leben hinter sich haben und unter ständigen Schmerzen leiden, werden gewaltsam dazu gezwungen, weiterzuleben, sich jeden Tag zu quälen, aber ein Kind – das sein ganzes Leben noch vor sich hat . . . wird zum Tode verurteilt, einfach aus Geldgründen.«

»Ich weiß, Sie sind verzweifelt. Es erscheint so ungerecht.« Die Stimme der Schwester ließ all das Mitleid erkennen, das sie für Ramona und Leonie empfand. »Viele dieser Menschen würden alles dafür geben, endlich sterben zu dürfen, und dann wäre vielleicht das Geld da – nein«, sie unterbrach sich selbst, »so etwas darf man nicht sagen, nicht einmal denken.«

»Nein, das darf man nicht.« Ramona straffte ihre Schultern und wischte sich die Tränen, die dort langsam heruntergelaufen waren, von den Wangen. »Es wäre unmenschlich. Man kann nicht ein Leben gegen das andere aufrechnen. Vielleicht gibt es eine höhere Macht, die weiß, was sie da tut. Ich hoffe immer . . .« Sie schluckte. »Ich hoffe immer, dass das alles einen Sinn hat. Auch wenn ich keinen erkennen kann.«

»Es ist tröstlich, an etwas zu glauben«, nickte die Schwester. »Seien Sie froh, dass Sie das noch können. Viele Eltern haben in so einer Situation den Glauben verloren.«

»Das kann ich gut verstehen.« Ramona stand mit einem entschlossenen Ruck auf. »Aber mein Kind soll nicht darunter leiden, dass seine Mutter es so in die Welt gesetzt hat.«

»Nicht.« Die Schwester ergriff Ramonas Arme und zwang sie, sie anzusehen. »Geben Sie nicht sich die Schuld. Das macht alles nur noch schlimmer. Sie haben keine Schuld. Alle Untersuchungen während der Schwangerschaft waren in Ordnung. Wer konnte so etwas ahnen?«

»Vielleicht ist es eine Strafe«, sagte Ramona. »Ich hätte ein besseres Leben leben sollen.«

»Frau Benckhoff! Jetzt hören Sie aber auf!« Die Schwester schüttelte sie ein wenig, um sie zur Vernunft zu bringen. »Sie sind die anständigste Frau, die ich kenne. Die liebevollste Mutter. Sie arbeiten sich fast zu Tode für Ihr Kind und widmen ihm jede freie Minute. Mehr können Sie nicht tun. Das müssen Sie einsehen. Sie dürfen sich keine Vorwürfe machen.«

»Das ist leicht gesagt.« Ramona seufzte erschöpft. »Hätte Leonie einen Vater, hätte der vielleicht das Geld . . .«

»Jedes Kind hat einen Vater«, sagte die Schwester irritiert.

»Biologisch ja.« Ramona schüttelte den Kopf. »Aber das nützt in diesem Falle leider nichts.«

Sie wandte sich ab und ging den Flur hinunter. Als sie in die Nähe des Spielzimmers kam, richtete sie ihre herabgesunkenen Schultern auf, und ein Lächeln, das man fast hätte für echt halten können, erhellte ihr Gesicht.

»Na, ihr Schlawiner!« Sie trat ein. »Was gibt es denn Schönes?«

~*~*~*~

»Mike? Bist du das?«

Michaela verhielt einen Moment, nachdem sie ihre Wohnung betreten hatte, und ging dann ins Wohnzimmer hinüber, aus dem die Stimme gekommen war. »Was tust du hier?« fragte sie barsch die Frau, die auf dem Sofa saß.

Karina hielt einen Schlüssel hoch. Er klimperte leicht. »Den hast du mir gegeben. Vergessen?« Ein leises Lächeln überzog ihr Gesicht.

»Ja, das hatte ich vergessen.« Michaela setzte ihren Aktenkoffer ab und legte ihren eigenen Schlüssel auf den Tisch. »Wolltest du ihn mir wiederbringen?«

»Eigentlich . . .« Karina stand auf und kam lächelnd auf Michaela zu. »Eigentlich hatte ich gehofft, du würdest ihn mir noch länger lassen.«

»Nachdem du ihn missbraucht und einfach in meiner Abwesenheit meine Wohnung betreten hast, ohne mich zu fragen und ohne dich anzukündigen?« Michaela zog die Augenbrauen hoch.

»Muss ich das denn?« Karina lächelte ziemlich verführerisch. »Ich dachte, ich überrasche dich einfach. Ist das nicht viel schöner?«

»Ich hasse Überraschungen«, knurrte Michaela. Sie nahm Karina den Schlüssel ab und steckte ihn in ihre Hosentasche.

»Aber Mike . . . Micky . . .« Karina gurrte. Sie schob sich noch näher an Michaela heran, berührte Michaelas Körper mit ihrem. Michaela blieb steif stehen. Karinas Hand wanderte zwischen Michaelas Schenkel, legte sich auf ihren Schritt. »Das gefällt dir doch, oder nicht?« Ihre Hand drückte gegen Michaelas Schambein, erst sanft, dann stärker. »Komm . . .«, flüsterte sie. »Lass dich gehen. Sei nicht immer so streng.«

Michaela fühlte das Kribbeln, das von der Berührung ausgelöst wurde. Aber es missfiel ihr, dass sie nicht auf die Begegnung vorbereitet gewesen war. Sie hatte eine leere Wohnung erwartet, und nun so etwas. Nein, Überraschungen waren wirklich nicht ihr Fall. Sie drehte sich weg. »Am besten, du gehst wieder«, sagte sie schroff. »Ich habe noch zu arbeiten.«

»Immer arbeitest du.« Karina klang verschnupft. »Hast du denn niemals Zeit für ein Privatleben?«

»Ich brauche kein Privatleben, die Arbeit reicht mir vollkommen.« Michaela entfernte sich ein wenig von Karina.

Karina glitt durch den Raum wie eine Schlange und schmiegte sich an Michaelas Rücken. »So ganz stimmt das ja nicht.« Sie lachte leicht. »Sonst hätten wir uns nie kennengelernt.« Diesmal griff ihre Hand von hinten zwischen Michaelas Beine.

Michaela zuckte zusammen. »Ich habe dir schon beim ersten Mal gesagt, dass es auch das einzige Mal sein wird. Für mehr habe ich keine Zeit.«

»Das hast du gesagt . . .«, erwiderte Karina gedehnt, »aber mittlerweile haben wir uns mehr als einmal getroffen.«

»Weil du immer wieder aufgetaucht bist.« Michaela drehte sich mit einem Ruck herum. Karinas Hand glitt aus der Position zwischen ihren Schenkeln heraus. Michaela fühlte sich befreit, denn das Kribbeln war stärker geworden. »Ich beschränke mich auf flüchtige Affären, weil das die ehrlichste Art ist, miteinander umzugehen. Ich will keine Hoffnungen wecken, die ich nicht erfüllen kann. Eine Nacht – das ist klar und eindeutig. Mehr brauche ich nicht und mehr will ich nicht. Mein Geschäft hat Vorrang.«

»O ja, wirklich . . .«, sagte Karina spöttisch. »Den hat es immer. Du bist ja fast ausschließlich damit beschäftigt. Es ist ein Wunder, dass deine sexuellen Bedürfnisse da überhaupt einmal zum Vorschein kommen.« Ihre Mundwinkel zuckten ironisch.

»Diese Art Bedürfnisse«, Michaela atmete tief durch, »ist zweitrangig. Aber das wirst du wohl nie verstehen.«

»Nein, das verstehe ich nicht, da hast du recht.« Karina sah sie immer noch ironisch lächelnd an. »So selten, wie du ›diese Art Bedürfnisse‹, wie du sie nennst, befriedigst, sollte man meinen, du müsstest eines Tages platzen.«

»Vielleicht tue ich das«, entgegnete Michaela ungerührt, »aber das ist nicht dein Problem.«

»Und wenn ich es dazu machen würde?« Karinas Lächeln wurde verführerisch. »Wenn es mein Anliegen wäre, dich davor zu bewahren?« Sie stellte sich ganz nah vor Michaela hin und blickte zu ihr auf.

»Gibt es nicht genug Frauen, mit denen du schlafen kannst?« Michaela klang äußerst unwirsch.

»Keine wie du.« Karinas Stimme hatte wieder dieses eindeutige Gurren angenommen. »Du bist einmalig.« Sie beugte sich vor und schmiegte sich an Michaelas Brust.

Michaela wurde zuerst starr und dachte daran, Karina im nächsten Moment vor die Tür zu setzen, doch gleichzeitig spürte sie das Verlangen, das Karinas Avancen in ihr ausgelöst hatten. Es war wirklich schon sehr lange her. »Du bist wie eine Klette«, sagte sie. »Dich loswerden zu wollen, ist reine Zeitverschwendung. Und wenn ich etwas noch mehr hasse als Überraschungen, dann ist es Verschwendung.«

Sie beugte sich hinunter und küsste Karina heftig.

~*~*~*~

Am nächsten Morgen war Karina verschwunden. Sie wusste, dass Michaela sehr unangenehm werden konnte, wenn sie nicht allein in ihrem Bett erwachte. Zumindest das respektierte sie.

Michaela brauchte keinen Wecker, um aufzuwachen. Punkt fünf Uhr dreißig schlug sie die Augen auf, jeden Tag, jede Woche, jedes Jahr. Besonders seit sie die Firma übernommen hatte, hatte sie es sich zur Pflicht gemacht, morgens die erste dort zu sein und abends die letzte – und samstags und sonntags die einzige.

Sie schlüpfte aus dem Bett und ignorierte die Kälte, die durch das geöffnete Schlafzimmerfenster hereindrang. Sie griff ihren Jogging-Anzug vom Haken an der Tür, zog ihn schnell an und verließ das Zimmer. Die Laufschuhe standen im Flur. Weder der Jogging-Anzug noch die Schuhe waren modisch oder neu, der Anzug hatte sogar schon einige kleine Löcher, doch das störte Michaela nicht. Die Löcher beeinträchtigten die Funktionalität des Kleidungsstückes nicht, und also wäre es Verschwendung gewesen, etwas Neues zu kaufen.

Sie schnürte die Senkel der Schuhe fest zu und lief die Treppe hinunter. Vor der Tür schlug ihr ihr eigener Atem wie eine Wolke entgegen. Es war noch kälter als gestern. Sie lief kurz auf der Stelle und schlug sich ein paarmal die Arme gegen die Brust, um warm zu werden. Einige Dehnübungen, dann joggte sie los. Sie wäre nie auf den Gedanken gekommen, in ein Fitness-Studio zu gehen oder sich irgendwelche Trainingsgeräte anzuschaffen. Das alles kostete Geld und war ihrer Meinung nach überflüssig. Wozu hatte sie schließlich den Wald kostenlos vor der Tür?

Exakt eine halbe Stunde später kehrte sie zurück. Kurz darauf durchquerte sie mit ihrem Wagen die immer noch recht stille, aber zu dieser Jahreszeit weihnachtlich geschmückte Stadt. In ihrem Kopf ratterten die Stromrechnungen, die diese ganzen Lichter auflaufen ließen. Gott sei Dank war es nicht ihr Geld – aber Verschwendung war es trotzdem.

Eigentlich fand sie es auch Verschwendung, mit ihrem Wagen zur Arbeit zu fahren, sie hätte lieber die billigen öffentlichen Verkehrsmittel benutzt, aber die schienen ausschließlich auf Leute ausgelegt zu sein, die nur halbtags arbeiteten, von morgens acht oder halb neun bis nachmittags um vier, und am Wochenende gar nicht. Einen normalen Arbeitstag, von morgens sechs bis abends zehn oder zwölf, und das sieben Tage die Woche, unterstützten die Fahrpläne nicht. Michaela wunderte es nicht, dass die Wirtschaft immer mehr den Bach runterging, wenn die Leute so wenig arbeiteten.

Und dann wollten sie noch Unterstützung! Urlaubsgeld, Weihnachtsgeld, Krankengeld – Michaela schauderte. Es war einfach eine unglaubliche Frechheit. Sie selbst hatte keines dieser Privilegien je in Anspruch genommen. War es nicht genug, wenn man Arbeit hatte?

Sie betrat die Firma und genoss auf ihre kühle Art die Ruhe, die die leeren Räume ausstrahlten. Oft empfand sie es geradezu als Störung, wenn ihre Angestellten dann endlich eintrafen, nachdem sie selbst bereits Stunden gearbeitet hatte. Wenn sie so spät kamen, warum kamen sie dann überhaupt?

Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und packte die Unterlagen aus, die sie gestern mit nach Hause genommen hatte, um sie dort zu bearbeiten – bevor Karina gekommen war. Immer noch ärgerte sie der plötzliche Überfall. Was danach gekommen war . . . nun ja. Karina hatte ihre Qualitäten im Bett, unbestritten. Dennoch hatte sie ihr einige Stunden ihrer kostbaren Nachtruhe geraubt, und Michaela bezweifelte, dass das, was Karina ihr dafür gegeben hatte, den Verlust ausglich. Die kurzzeitige Erregung und Entspannung – wozu war das nütze? Ließ es sich in Euro und Cent ausdrücken? Nein.

Warum verzichtete sie nicht ganz darauf?

»Guten Morgen, Frau Wittling. Kaffee?« Ihre Sekretärin lächelte sie an.

Michaela blickte ungehalten auf. »Ich brauche keinen Kaffee.«

»Er kostet nichts. Wir bezahlen das aus der Kaffeekasse, für die wir alle zusammenlegen.« Ihre Sekretärin schmunzelte leicht.

»Ich will nichts geschenkt.« Michaela brummte und wandte sich wieder ihren Akten zu.

»Dann schütten Sie ihn halt weg.« Ihre Sekretärin stellte eine Tasse mit dampfendem Inhalt neben sie hin.

»Frau Majakowski.« Michaela starrte sie an. »Wie oft habe ich Ihnen jetzt gesagt, dass Sie das nicht tun sollen?«

Frau Majakowski lächelte weiter freundlich. »Jeden Tag. Aber Sie werden mich nicht davon abhalten. In zehn Jahren werde ich pensioniert, dann sind Sie mich los.«

»Vermutlich werden Sie Ihre Nachfolgerin in dieser Hinsicht einarbeiten«, grummelte Michaela.

»Vermutlich«, erwiderte Frau Majakowski fröhlich. »Ich weiß, dass Sie den Kaffee nicht wegschütten werden, dafür sind Sie viel zu . . . sparsam.«

»Geizig, wollten Sie sagen.«

»Wollte ich nicht. Aber ich kenne Sie nun schon so lange, Frau Wittling. Seit Sie ein Kind waren. Erlauben Sie mir einfach ein paar mütterliche Gefühle.«

»Mütterliche Gefühle?« Michaelas Kopf zuckte hoch.

»Entschuldigen Sie. Es war nicht so gemeint.« Schlagartig wurde Evelyn Majakowski ernst. »Ich weiß, Ihre Mutter –«

»Meine Mutter war ein Flittchen.« Michaela blickte wieder auf ihre Akten, blätterte sie durch und brachte Bemerkungen an, kühl und unbeeindruckt.

»Frau Wittling . . . seien Sie nicht so hart mit anderen – und sich selbst. Ihre Mutter war lebenslustig . . . ebenso wie Ihr Vater. Ich billige es nicht, dass sie Sie einfach im Stich gelassen hat, aber sie war . . . sie war diesem Leben nicht gewachsen.«

»Sie war dem nicht gewachsen, dass mein Großvater ihr den Geldhahn zugedreht hat, meinen Sie wohl.« Michaela lachte hohl auf. »Sie hatte sich verständlicherweise ein wenig mehr versprochen von ihrer Heirat mit dem Erben von Wittling & Co.«

»Viele Leute, die in beschränkten Verhältnissen aufgewachsen sind, überschätzen den Wert den Geldes«, entgegnete Frau Majakowski. »Das kann man ihnen nicht vorwerfen. Sie haben es nicht anders gelernt.«

Michaela machte ein abschätziges Geräusch. »Sie brauchen nichts zu beschönigen, ich weiß Bescheid. Meine Mutter war ein leichtes Mädchen, das mein Vater irgendwo aufgegabelt und geschwängert hat. Oder noch wahrscheinlicher ist, dass sie sich von ihm absichtlich hat schwängern lassen – geblendet vom Glanz des Geldes, das sie zu bekommen erwartete. Und dann hat sie sich direkt nach meiner Geburt verflüchtigt, als sich diese Hoffnung in Luft auflöste.«

»Ein Kind zurückzulassen ist niemals leicht. Bestimmt war es das auch für Ihre Mutter nicht. Sie wusste, dass Sie es gut haben würden.«

»Und deshalb hat sie einfach die Fliege gemacht? Sie sind zu sentimental, Frau Majakowski. Sehen Sie es so, wie es ist: Ich war ihr völlig egal. Sie wollte nur das Geld.« Mit unbewegtem Gesicht stand Michaela auf und ging zum Aktenschrank hinüber.

Frau Majakowski schüttelte bedauernd den Kopf und verließ das Büro.

»Bin ich zu spät?« Ramona betrat gehetzt den Gang.

»Ein bisschen.« Frau Majakowski blickte auf die Uhr.

»Ich musste noch ins Krankenhaus –«

»Ich weiß.« Evelyn Majakowski unterbrach sie. »Das ist es doch immer. Wir alle haben Verständnis dafür – mehr als Verständnis.« Sie sah Ramona teilnahmsvoll an.

»Sie wohl kaum.« Ramona wies mit dem Kopf in Richtung von Michaelas Büro. »Ich habe jedesmal Angst, dass sie mich entlässt, wenn ich so oft zu spät komme oder abwesend bin.«

Frau Majakowski lächelte leicht. »Sie weiß nichts davon. Und sie wird es auch nicht erfahren. Die Zeitabrechnung mache ich.«

»Und wenn sie dahinterkommt?« Ramona blickte ängstlich. »Ich möchte nicht, dass Sie meinetwegen Ärger bekommen.«

»Bekomme ich nicht. Und selbst wenn – Ich weiß schon, wie ich sie nehmen muss. Ich kenne sie lange genug.« Evelyn Majakowski lächelte und nahm Ramona am Arm. »Trinken Sie erst einmal einen Kaffee. Damit Sie zur Ruhe kommen. Die Arbeit läuft Ihnen nicht weg.«

~*~*~*~

»Würden Sie die Vertreter der Kinderhilfe jetzt empfangen?« Frau Majakowski steckte den Kopf zur Tür von Michaelas Büro herein.

»Kinderhilfe?« Michaela sah auf und runzelte die Stirn. »Was soll das sein?«

»Eine wohltätige Organisation, die Kindern hilft.« Frau Majakowski öffnete weit die Tür. »Bitte kommen Sie herein. Frau Wittling hat jetzt Zeit für Sie.«

»Ich habe keine