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Anne Wall

NUR EIN BLICK VON DIR

Roman

Originalausgabe:
© 2012
ePUB-Edition:
© 2013

édition el!es

www.elles.de
info@elles.de

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-033-2

Coverfoto:
© scarlet61 – Fotolia.com

1.

Wie zur Salzsäule erstarrt stand Silke auf der Straße und blickte dem bedrohlich immer näher auf sie zukommenden Wohnmobil entgegen. Hilflos zerrte sie an ihrem Bein. Ihr Absatz hatte sich im Gullydeckel verfangen und wollte sich einfach nicht lösen. Als wollte sie das Ungetüm von Fahrzeug mit bloßer Muskelkraft aufhalten, streckte sie ihre Arme nach vorn. Sie schloss die Augen. In Sekundenschnelle flog ihr gesamtes Leben an ihr vorüber.

Nur wenige Zentimeter vor ihr kam das Monstrum zum Stehen. Der Geruch von Gummi und Benzin stieg ihr in die Nase. Sie konnte sich auf einmal nicht mehr halten. Mit wackligen Knien sank sie zu Boden.

Eine wütende Frau sprang aus dem Wohnmobil. »Sind Sie verrückt geworden? Haben Sie denn keine Augen im Kopf? Was denken Sie sich dabei, einfach mitten auf der Straße stehen zu bleiben?«

Silke brachte kein Wort heraus. Sie deutete nur mit einem zitternden Finger auf ihren eingeklemmten Absatz. Ihr ganzer Körper zitterte.

»Ach du je.« Die Frau besah sich den Schuh genau. »Ich würde sagen, erst mal den Fuß aus dem Schuh, dann sehen wir weiter.« Sie griff zu und zog Silkes Fuß mit einem kräftigen Ruck heraus.

Silke gab einen Schmerzenslaut von sich. »Haben Sie sie noch alle? Was wollen Sie mir denn noch alles antun?«, fauchte sie wild.

»’Tschuldigung.« Die Frau schaute Silke mit einem aufreizenden Grinsen an. »Ich wusste nicht, dass Sie so ein Mimöschen sind.«

»Mimöschen? Ich?« Silke versuchte aufzuspringen, was aber nicht gleich gelang. »Ich habe schon ganz andere Sachen ausgehalten!« Endlich hatte sie es geschafft und balancierte auf einem Bein neben dem Gully.

Die andere Frau hob die Hände. »Ich wollte nur helfen.«

»Das ist ja wohl auch das mindeste!« Silke blickte auf ihren Schuh hinunter, der immer noch im Gullydeckel feststeckte. »Und jetzt? Soll ich auf einem Bein nach Hause laufen?«

»Ihre Beine funktionieren ja noch«, erwiderte die andere amüsiert. »Es ist nur Ihr Schuh.« Sie beugte sich hinunter und zerrte das Corpus Delicti heraus. »Bitteschön.« Sie grinste.

Silke griff nach ihrem Schuh. »Dankeschön«, erwiderte sie ätzend. »Viel damit anfangen kann ich aber nicht mehr.«

»Sie haben schon im Gully festgesteckt, bevor ich kam«, sagte die andere. »Das war nicht meine Schuld.«

»Ja, klar, ich habe mich fast selbst überfahren«, erwiderte Silke bissig.

Die andere grinste erneut. »Ich bin gern bereit, Sie als Strafe nach Hause zu fahren, wenn Sie möchten.«

»Ich möchte nicht!« Wütend humpelte Silke mit dem Schuh in der Hand los.

»Hören Sie.« Nach ein paar Metern tauchte das Wohnmobil neben ihr auf. Durch das heruntergekurbelte Fenster sprach die Fahrerin sie an. »Seien Sie doch nicht so stur. Ich habe kein Problem damit, Sie nach Hause humpeln zu lassen, aber in meiner Kutsche wäre es viel bequemer.«

»Kutsche?« Silke warf einen geringschätzigen Blick auf das Wohnmobil. »Ja, stimmt. So alt sieht es auch aus.«

Die Besitzerin des Gefährts lachte. »Ich bin ja auch nicht mehr die Jüngste. Wir passen zueinander.«

Silke lief ungleichmäßig, weil sie nur einen Absatz hatte, weiter, während das Wohnmobil neben ihr herrollte. Sie fühlte, dass sie den anderen Schuh auch ausziehen musste, wenn sie sich nicht eine Hüftverrenkung zuziehen wollte. Und dann würde sie nur noch auf Strümpfen laufen. Schotter und Glasscherben auf der Straße machten das nicht gerade zu einer angenehmen Aussicht. Innerlich wehrte sie sich dagegen, diese Frau war eine blöde Kuh, mit der sie nichts zu tun haben wollte, aber andererseits fingen ihre Füße an weh zu tun. Und diese Frau war schuld, dass ihr Schuh kaputt war. Sie hatte ihn mit roher Gewalt herausgezogen statt vorsichtig, wie Silke selbst es getan hätte. Also sollte sie auch die Folgen tragen. »Wir sollten Namen und Telefonnummern austauschen«, sagte sie und blieb stehen. »Falls noch was nachkommt.«

»Was soll denn nachkommen?« Die Frau schien erstaunt.

»Wer weiß? Blasen an den Füßen, Infektionen . . .«

»Na, Sie sind ja vielleicht gut . . .« Die Frau lachte.

»Lassen Sie mich schon einsteigen«, schnappte Silke. »Bevor ich es mir anders überlege und Sie verklage.«

»Junge, Junge.« Die andere Frau grinste erneut. »Sie sind aber nachtragend.«

»Ja, bin ich«, sagte Silke. »Merken Sie sich das am besten gleich. Falls wir uns noch mal begegnen.« Sie ging um den Wagen herum und stieg auf der Beifahrerseite ein.

»Ehrlich gesagt bin ich darauf nicht scharf«, sagte die andere, während sie einen Blick auf Silke warf und die Hände kurz vom Lenkrad hob. »Also? Wohin?«

Silke drehte sich stöhnend im Bett um. Anscheinend hatte sie sich den Knöchel mehr verdreht, als sie angenommen hatte. Sie würde sich morgen wohl krankmelden müssen.

Nachdem Marina, das war der Name der Frau, die sie fast überfahren hatte, sie nach Hause gebracht hatte, hatte Silke sich sofort hingelegt, aber es hatte nicht viel genützt. Besser wäre es wohl gewesen, sie hätte gleich Eis auf den Knöchel getan, aber daran hatte sie nicht gedacht. Und neuerdings war sie ja allein zu Hause. Nachdem Gaby weg war . . .

Nicht dass es etwas genützt hätte, wenn Gaby dagewesen wäre. Sie war nicht gerade der fürsorgliche Typ. Jedenfalls nicht Silke gegenüber. Als Silke vor kurzem nach Hause gekommen war, hatte Gaby sich allerdings sehr fürsorglich um eine andere Frau gekümmert – mit dem Kopf zwischen ihren Beinen. Und das in unserem Bett! Silke konnte es immer noch nicht fassen. Sie hatte vermutet oder eigentlich gewusst, dass Gaby sie nicht liebte, aber dass sie so weit gehen würde . . .

Sie hatte selbst Gabys Sachen gepackt und sie aus der Wohnung geschmissen. Gaby schien das nichts auszumachen. Wahrscheinlich fuhr sie gleich zur nächsten Frau weiter. Sie fand immer eine. Zum Schluss hatte sie Silke noch vorgeworfen, dass sie selbst schuld wäre. Sie wäre immer so verkniffen, da hätte sie, Gaby, sich ja nach einer etwas lockereren Frau umsehen müssen, um endlich mal wieder Spaß zu haben.

Ich? Verkniffen? Silke musste zugeben, dass die Falten um ihre Mundwinkel in den letzten Monaten mit Gaby tiefer geworden waren. Die Frau in ihrem gemeinsamen Bett war nicht die erste gewesen, mit der Gaby sie betrogen hatte. Immer wieder hatte Silke sich überzeugen lassen, dass es das letzte Mal gewesen war, dass es nie wieder vorkommen würde – und Gaby konnte sehr überzeugend sein, wenn sie wollte.

Habe ich sie deshalb hierbehalten? fragte Silke sich. Nur wegen der Sache mit dem Bett? Jedenfalls hatte sie sich vorgenommen, das nie mehr wieder zu tun. Das war endgültig vorbei. Solche Frauen wie Gaby oder diese . . . Marina, sie stieß ein verächtliches »Pf!« aus, würden ihr nie wieder ins Haus kommen.

Diese Marina, echt . . . die hielt sich ja wohl für den Nabel der Welt. Statt sich bei Silke zu entschuldigen, hatte sie sich noch über sie lustig gemacht. Sie würden sich nie mehr wiedersehen, aber falls – dann konnte dieses Früchtchen was erleben! Die war wohl mit einem goldenen Löffel im Mund geboren und hielt sich für wer weiß was. Und das mit diesem alten Schrottmobil. Worauf bildete sie sich überhaupt etwas ein?

Silke wünschte sich fast, sie wiederzusehen, nur um ihr die Meinung sagen zu können. Eingebildete Leute hasste sie. Die andere von oben herab behandelten, als ob sie etwas Besseres wären. Silke hatte sich zur Mitarbeiterin in einer Versicherung hochgearbeitet, war das etwa nichts? Sie betreute Kunden und hatte einen guten Ruf, was das betraf. Sie konnte immer noch lächeln, wenn ihre Kollegen schon überrollt von unfreundlichen Kunden am Boden lagen. Sie war stolz darauf, dass sie eine Menge aushielt.

Und da hatte diese Marina sie für ein Mimöschen gehalten! Mimöschen! Das war ja wohl die Höhe! Die soll mir noch mal unter die Augen kommen!

Stöhnend drehte sie sich auf die andere Seite. Ihr Knöchel war jetzt richtig angeschwollen. Schöner Mist.

Und alles nur wegen dieser blöden Marina!

2.

»Wenn dein Knöchel wieder in Ordnung ist, könnten wir doch heute Abend walken gehen. Was meinst du?« Silkes Kollegin Yvonne hob fragend die Augenbrauen.

»Walken?« Silke verzog zweifelnd das Gesicht. »Ich weiß nicht, ob ich schon so weit –«

»Hör schon auf!«, unterbrach Yvonne sie mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Du willst dich nur drücken. Das ist doch schon lange wieder in Ordnung.«

Silke presste die Lippen zusammen. »Du musst es ja wissen. Du hattest die Schmerzen schließlich nicht.«

»Hattest«, wiederholte Yvonne. »Die Betonung liegt auf hattest. Vergangenheitsform. Du springst doch schon seit Tagen wieder rum wie ein junges Reh.«

»Jung. Ha!« Silke warf den Kopf zurück. »Wer hat mir letztens erzählt, dass ich auf die Vierzig zugehe?«

»Tust du ja auch. Neununddreißig ist das letzte Stadium vor dem Friedhof, weißt du doch.« Yvonne grinste. »Also komm, raff dich schon auf. Klaus geht auch mit.«

»Klaus?« Jetzt begann Silke zu grinsen.

Yvonnes Wangen schienen sich ein wenig rot zu färben. »Er will was für seine Kondition tun.«

»Ach ja?« Silke grinste noch mehr. »Und deshalb will er walken gehen? Fällt ihm da nichts Besseres ein zusammen mit dir?«

»Weiß nicht«, antwortete Yvonne ausweichend. »Hab ihn nicht gefragt.«

»Gib’s zu, du magst ihn«, bohrte Silke weiter. Klaus war ein netter Kollege, sie hätte sich gefreut, wenn ihre beste Freundin endlich mal einen netten Mann finden würde.

»Ja, ich mag ihn«, gab Yvonne zu. »Aber ich bin lieber vorsichtig. Du weißt ja.«

Silke grinste wieder. »Na, dann wollen wir mal sehen, wie viel Kondition dein Klaus hat, wenn er mit zwei Frauen unterwegs ist.«

Yvonne verzog das Gesicht, sagte aber nichts mehr dazu.

Der Mittwochvormittag zog sich endlos dahin. Der Nachmittag verlief im Gegensatz dazu dann völlig hektisch. Als Silke um halb fünf ihren Rechner herunterfuhr, fühlte sie sich wie durch den Wolf gedreht. Es kam ihr vor, als wären in den letzten drei Stunden mindestens zehn Mannschaftsbusse voller Kunden bei ihr vorgefahren. Gerade verließ der letzte Kunde die Schalterhalle, als ein großes Aufatmen zu hören war.

»Was für ein Wahnsinnstag«, stöhnte Yvonne erleichtert auf. Die übrigen Kollegen stimmten ihr lautstark zu. »Wir holen deine Laufschuhe, und dann geht’s los.«

»Wo ist Klaus?« Silke blickte suchend an Yvonne vorbei.

»Der kommt direkt zum Waldparkplatz«, sagte Yvonne. »Er hatte noch was zu erledigen.«

»Aha.« Silke grinste.

»Was soll das denn?«, fragte Yvonne ungehalten. »Er kann doch wohl noch was erledigen, bevor er laufen geht.«

»Schon gut«, sagte Silke. »Lass uns meine Schuhe holen. Wenn du mich schon unbedingt quälen willst.«

Als sie am Parkplatz ankamen, erwartete Klaus sie schon. »Wie immer zu spät, die Damen«, begrüßte er sie grinsend.

»Wart’s ab.« Silke schnürte ihre Laufschuhe noch einmal fest zu. »Wer am Schluss zu spät ist, werden wir ja sehen.« Sie lachte und ging mit großen Schritten los.

Erst nach einer Weile merkte sie, dass Yvonne und Klaus ihr nicht folgten. »So so, walken. So nennt man das also jetzt«, sagte sie schmunzelnd zu sich selbst. Sollte sie zurückgehen und die beiden stören? Nein, das wäre nicht nett. Sie gönnte Yvonne jede Minute allein mit Klaus. »Dann wird es wohl ein Ein-Frau-Rennen«, bemerkte sie seufzend und lief weiter.

»Bist du sicher, dass du das kannst?« Es gab Stimmen, die erkannte man sofort wieder, insbesondere, wenn sie sich über einen lustig machten.

Silke wollte nicht stehen bleiben, aber diese Behauptung konnte nicht unwidersprochen bleiben. »Was ist daran auszusetzen?« Sie drehte den Kopf und erkannte Marina in ihrem Augenwinkel.

Marina holte mit weitausholenden Schritten auf, bis sie neben Silke war. »Du hast keine Ahnung, wie man die Stöcke richtig hält.«

»Ach, habe ich nicht? Ich habe das vor drei Jahren in der Reha gelernt.« Silkes Augen blitzten Marina an. »Und seit wann duzen wir uns?«

»Nun hab dich nicht so. Unter uns Walkerinnen . . .«

»Ist das eine Familie, oder was?«, schnappte Silke. »Ich suche mir immer noch selbst aus, wen ich duze und wen nicht.«

»Dann willst du also nicht, dass ich dir zeige, wie man die Stöcke richtig hält?« Marina blieb unbeeindruckt beim Du.

»Ich brauche keine Hilfe, danke sehr«, fauchte Silke sie an. »Und ich brauche auch keine Begleitung. Ich komme sehr gut allein zurecht.«

»Was du nicht sagst.« Marina grinste. »Ich walke normalerweise auch allein. Und ich war nicht erfreut, dich zu sehen. Aber wo wir uns jetzt schon mal getroffen haben . . .«

»Wir haben uns nicht getroffen. Du bist mir hinterher gelaufen.« Silkes Augen blitzten erneut.

Marina grinste. »Doch Familie?«

»Auf keinen Fall!« Silke stapfte wütend weiter. Aber sie konnte nicht davor davonlaufen, dass Marina einen Eindruck bei ihr hinterlassen hatte. Sie strahlte Kraft und Stärke aus und wusste anscheinend sehr genau, was sie wollte.

Ich wünschte, ich wüsste das, dachte Silke. Nach dem, was mit Gaby war . . . Sie blieb stehen. »Was willst du?«, fragte sie. »Auf eine Gelegenheit warten, mich noch mal fast zu überfahren?«

»Wieso fast?«, fragte Marina. Sie trat einen Schritt auf Silke zu. »Du bist mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Damit hatte ich nicht gerechnet. Passiert mir nicht oft.«

»Ich habe kein Interesse«, erwiderte Silke kalt. »Ich war froh, als ich dich nicht mehr sehen musste.«

»Du musst mich ja nicht sehen.« Marina trat hinter Silke. »Ich kann dir auch so zeigen, wie man die Stöcke richtig hält.« Sie griff um Silke herum und legte ihre Hände auf Silkes.

Silke hielt den Atem an. Diese plötzliche Nähe ließ ihr Herz schneller schlagen, was für sie völlig unvorbereitet kam.

Leise lachend streiften Marinas Lippen wie versehentlich Silkes Ohr. »Okay. So müsste es gehen.«

Silke konnte keinen klaren Gedanken fassen und verstand nicht, was da in ihr vorging. Das war genau das, was sie nicht mehr wollte. Warum reagierte sie dann so heftig auf Marinas Berührungen? »Lass das.« Sie entfernte sich einen Schritt von Marina und hatte das Gefühl, endlich wieder freier atmen zu können. »Ich will das nicht. Davon habe ich die Nase voll.«

Marina kam zu ihr und blickte ihr ins Gesicht. »So heftig? Was ist passiert?«

»Nichts.« Silke kniff die Lippen zusammen. »Jedenfalls nichts, was dich etwas angeht. Also lass mich in Ruhe.« Sie lief schnell los.

Marina folgte ihr mit Leichtigkeit. »Das hat nichts mit mir zu tun«, stellte sie fest. »Deine Freundin?«

»Ich habe keine –« Silke brach ab. Was ging das Marina an? »Mehr«, fügte sie dennoch hinzu.

»Und es ist noch nicht lange her, oder?« Marina nickte. »Kenn ich.«

»Hat sie dich auch –?« Silke biss sich auf die Zunge. Sie interessierte sich nicht für Marina. Nicht für Marina, nicht für ihre Freundinnen und nicht dafür, ob sie sie betrogen hatten. Für gar nichts, was Marinas Leben betraf.

»Was?«, fragte Marina. »Betrogen? Verlassen? Das ist nichts Besonderes. So was kommt öfter vor.«

»Und es macht dir gar nichts aus?« Zumindest schien es so.

»Nein, warum?« Marina schüttelte den Kopf. »Dieses ganze Gefühlskarussell ist nichts für mich. Ich weiß, was ich will, und meistens bekomme ich es. Manchmal nicht, aber so ist das Leben.«

»Gut, dass du das kapierst«, sagte Silke. Langsam wurde ihr die Luft knapp, weil sie so schnell lief, »denn ich gehöre in die Kategorie Manchmal

»Da bin ich nicht so sicher.« Marina überholte sie und verstellte ihr den Weg. »Und jetzt solltest du mal eine Pause machen. Du bist ja schon ganz außer Atem.«

»Wann ich Pause mache, hast du nicht zu bestimmen!« Während sie diese Worte hervorstieß, stützte Silke sich auf ihre Stöcke und atmete schwer.

»Du musst nicht vor mir weglaufen«, sagte Marina ruhig. Sie schien überhaupt nicht außer Atem zu sein. »So schlimm bin ich gar nicht.«

»Das will ich überhaupt nicht wissen!«, fauchte Silke. »Und ich laufe nicht weg.«

»Nein, gar nicht.« Marina lachte. »Du trainierst nur für die olympischen Spiele.«

»Silke! Bist du hier irgendwo?«

Am liebsten hätte Silke laut aufgeschrien vor Erleichterung. Klaus und Yvonne kamen um die Ecke.

»Ja, hier!«, rief sie, hob einen Stock und winkte.

»Du musst ja ein Tempo vorgelegt haben«, keuchte Yvonne, als sie endlich bei ihnen war. »Wir dachten, wir holen dich nie mehr ein.« Sie warf einen neugierigen Blick auf Marina. »Du hättest doch sagen können, wenn du schon mit jemand verabredet warst.«

»War ich nicht«, knurrte Silke. »Wir haben uns nur zufällig getroffen.«

»Ja, ganz zufällig«, bestätigte Marina. »Aber jetzt können wir ja zusammen weiterlaufen. Ich laufe sonst meistens allein.« Sie schaute Yvonne unschuldig an. »Ist schön, mal Gesellschaft zu haben.«

»Klar, komm einfach mit«, sagte Yvonne. »Das heißt, wenn du nicht so ein Tempo vorlegst wie Silke. Da komme ich nämlich nicht mit.«

»Aber nein«, behauptete Marina erneut mit diesem Unschuldsblick. »An Silkes Tempo komme ich nicht heran. Keine Sorge.«

»Na dann«, sagte Yvonne. »Ich bin Yvonne.«

»Klaus«, fügte Klaus nickend hinzu.

»Marina«, stellte Marina sich vor.

Silke war für einen Moment sprachlos. Marina log, dass sich die Balken bogen, aber was sollte Silke schon machen in Gegenwart von Yvonne und Klaus? Einen Streit anfangen mit einer Frau, die sie kaum kannte? Zähneknirschend schloss sie sich den anderen beim Weitergehen an.

Marina fühlte sich sichtlich wohl in Yvonnes Gesellschaft. Klaus wirkte wie das fünfte Rad am Wagen.

Und ich auch, dachte Silke. Erst rennt sie mir hinterher wie verrückt, und jetzt flirtet sie mit Yvonne? Sie könnte genauso gut Gaby heißen. Dann weiß ich ja Bescheid.

Nach gut eineinhalb Stunden erreichten sie erhitzt und außer Atem wieder den Parkplatz. »Ganz schön schweißtreibend«, stellte Marina fest, obwohl sie zusammen mit Klaus am wenigsten erhitzt aussah. »Wie wär’s mit was zu trinken? Dahinten ist eine ganz nette Kneipe.«

Yvonne schüttelte den Kopf. »Für mich nicht. Ich will so schnell wie möglich nach Hause. Ich muss duschen.«

»Ich auch«, schloss Klaus sich an, und wenn Silke nicht so erschöpft gewesen wäre, hätte sie gegrinst.

»Dann bleiben wohl nur noch wir zwei«, wandte Marina sich an Silke, und Silke hätte schwören können, dass mindestens eines ihrer Augen zwinkerte.

Silke wollte auch ablehnen, aber Klaus und Yvonne waren so schnell verschwunden, dass sie sich plötzlich sehr verlassen vorkam. »Wie schade, dass Yvonne nicht zugestimmt hat, nicht wahr?«, giftete sie Marina an.

»Yvonne ist mir völlig egal.« Marina sprach sehr leise und trat auf Silke zu. »Ich hatte gehofft, dass die beiden verschwinden.«

»Ich nicht.« Silke hatte das Gefühl, sie hätte noch nie so abgehackt gesprochen. Marina kam ihr einfach zu nah. »Yvonne ist meine beste Freundin, und Klaus ist ein netter Kollege.«

»Und die beiden sind gerade zusammen auf dem Weg ins Bett.« Marina lachte. »Keine schlechte Idee, oder?« Sie blickte Silke fragend an.

»Du bildest dir wirklich eine Menge ein«, entgegnete Silke scharf. »Aber was auch immer du dir einbildest, es ist genau das: nichts anderes als Einbildung. Ich habe genug von Frauen wie dir.« Sie ging zu ihrem Wagen und legte die Stöcke in den Kofferraum.

»Frauen wie mir?« Marina kam auf sie zu. »Du hattest nichts dagegen, dass ich dir zeige, wie man die Stöcke hält.«

Silke schluckte. »Ich war nur so überrascht«, sagte sie. »Das hast du ausgenutzt.«

»Du warst vielleicht überrascht«, flüsterte Marina ganz nah vor ihrem Gesicht. »Aber du hättest mich geküsst, wenn Yvonne und Klaus nicht gekommen wären.« Ihre Nasen berührten sich fast, während sie das sagte.

»Hätte ich nicht«, behauptete Silke kühl.

»Aber jetzt tust du’s.« Marina beugte sich vor, und ihre Lippen berührten sich sanft.

Silke erstarrte für einen winzigen Moment und trat dann ein Stück zurück. Das war ihr eindeutig zu nah. Sie war noch lange nicht dazu bereit, sich wieder auf jemanden einzulassen – und schon gar nicht auf Marina.

Marina schmunzelte. »Du spielst die eiserne Jungfrau, hm? Auch nicht schlecht. Das reizt mich.«

»Ist mir doch egal, was dich reizt. Ich habe jetzt Durst«, verkündete Silke laut. Laut genug, um das laute Klopfen ihres Herzens zu übertönen.

»Wie wär’s bei mir?«, fragte Marina. »Zu trinken habe ich genug.«

»Du bist verrückt.« Silke stieg in ihren Wagen. »Unschuldige Frauen wie die arme Yvonne kannst du vielleicht mit deinem Kneipencharme übertölpeln, aber ich falle auf so etwas nicht rein.«

»Kneipencharme. Wie liebenswürdig«, sagte Marina, aber ihre Mundwinkel zuckten, als müsste sie ein Lachen zurückhalten. »Du bist wirklich zu nett zu mir.«

»Immer gern«, erwiderte Silke. »Du kannst dich jederzeit bei mir melden, wenn du diese Art Nettigkeit brauchst.« Sie schloss die Tür, startete den Wagen und legte den Gang ein.

Als sie aus dem Parkplatz hinausfuhr, ging Marina gerade zu ihrem Wohnmobil. Und sie winkte Silke lachend zu, als wären sie die besten Freundinnen.

Die lässt sich auch von nichts erschüttern, dachte Silke. Aber da ist sie bei mir an der falschen Adresse.

Und als ob dieser Gedanke ihre Stimmung mit einem Mal gehoben hätte, fuhr sie pfeifend nach Hause.

3.

»Sind Sie hier für Versicherungen zuständig? Ich hätte da einen Unfall zu melden.«

Silke schloss kurz die Augen und versuchte sich zu beherrschen, nicht loszuschreien. »Ja«, antwortete sie dann zuckersüß und schaute Marina an, die vor ihrem Schreibtisch stand. »Ich bin zuständig, wenn es sich um einen Unfall handelt. Aber meine Kolleginnen können Ihnen genauso gut weiterhelfen. Ich mache nämlich jetzt Pause.« Sie stand auf.

»Das trifft sich gut.« Marina lachte sie an. »Dann können wir ja zusammen einen Kaffee trinken.«

»Können wir nicht«, erwiderte Silke wütend. »Wenn du deine Rostlaube im Wald um einen Baum gewickelt hast, melde das bitte irgendwo dahinten.« Sie wies in den Raum. Dummerweise war ihr Schreibtisch der erste am Eingang. »Ich habe keine Zeit. Ich gehe jetzt.« Sie griff nach ihrer Jacke und begab sich schnell zur Tür.

»Mein Auto ist ganz in Ordnung«, sagte Marina, die ihr sofort gefolgt war. »Aber dass du bei einer Versicherung arbeitest, ist sehr praktisch. So kann ich dich jederzeit erreichen.« Sie schlüpfte schnell hinter Silke durch die Tür nach draußen auf die Straße.

Silke rollte die Augen. »Muss das sein? Habe ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt?« Sie beschleunigte ihre Schritte, um so schnell wie möglich zu dem Café zu kommen, das sie und ihre Kollegen in den Pausen oft aufsuchten, weil es nur um die Ecke lag.

Es sah wie eine Flucht aus, und das sollte es auch sein. Nur war es wohl von vornherein sinnlos, da Marina ihr nicht von der Seite wich. Silke überlegte, ob sie nicht lieber gleich zurückgehen sollte, denn mit ihrem Abgang hatte sie nichts erreicht. Außer vielleicht, dass ihre Kollegen nicht alles beobachten konnten, was zwischen ihr und Marina geschah.

Geschah! Es geschah überhaupt nichts. Nur in Marinas Phantasie – wahrscheinlich.

»Was war mit deiner Freundin?«, fragte Marina in ihre Gedanken hinein. »Betrogen? Verlassen? Beides?«

»Ich habe sie rausgeworfen«, sagte Silke mit einem ärgerlichen Blick auf Marina. »Als ob dich das interessieren würde.«

»Tut es«, sagte Marina. »Weil du deine Wut auf sie an mir auslässt und mir deshalb keine Chance gibst.«

Silke blieb stehen. »Ich gebe dir deshalb keine Chance«, sagte sie langsam und deutlich, »weil du mich nicht interessierst. Und weil du nicht mein Typ bist.«

»Du bist auch nicht mein Typ«, entgegnete Marina lässig, »aber das ist doch kein Grund.«

»Ich bin nicht dein Typ?« Silke starrte sie an. »Warum verfolgst du mich dann?« Wie konnte Marina es wagen? Nicht ihr Typ. Als ob das für sie einen Unterschied machte. Sie war doch sowieso hinter jeder Frau her. Hauptsache Frau. Das war ihr Typ.

»Weil du mich reizt«, grinste Marina. »Sagte ich doch schon. Das macht alles andere wett.«

»Für mich nicht.« Silke ging weiter. »Und außerdem interessiert mich das alles nicht. Ich bin sehr glücklich allein. Ich brauche niemanden.«

»Jeder braucht jemand«, sagte Marina. »Wenigstens ab und zu.«

»Fürs Bett, meinst du?« Silke lachte trocken auf. »Davon habe ich auch genug. Das wird weit überschätzt.«

»War sie so eine schlechte Liebhaberin?« Marina grinste. »Glaub mir, das wird dir mit mir nicht passieren.«

»Interessiert mich nicht«, wiederholte Silke. »Und außerdem –«, sie warf einen abfälligen Blick auf Marina, »überschätzt du dich in jeder Beziehung. Also bestimmt auch in der.«

»Woher willst du wissen, dass ich mich überschätze, wenn du es nicht ausprobiert hast?«, fragte Marina scherzend.

»Man muss nicht ins Feuer springen, um zu wissen, dass man sich daran verbrennt«, sagte Silke. »Das sieht man schon von weitem.«

»Aus der Nähe sieht man aber wesentlich besser«, behauptete Marina. »Und vielleicht ist das Feuer ja gar nicht so heiß. Nur angenehm warm.«

»Dann wärm doch bitte jemand anderen. Mir ist nicht kalt.« Sie hatten endlich das Café erreicht, und Silke betrat es schnell und ging zu dem Tisch, der normalerweise ihr Stammplatz war, sofern ihn nicht gerade jemand anders belegte.

»Nettes Café«, sagte Marina, während sie sich ungebeten zu Silke an den Tisch setzte. »Kannte ich noch gar nicht. Ich bin sonst nicht in dieser Gegend.«

»Und warum bist du heute hier?«, fragte Silke ärgerlich. »Doch nicht etwa meinetwegen.« Frauen zu verfolgen war anscheinend Marinas Hobby. Das hatte ihr gerade noch gefehlt!

»Nein«, erwiderte Marina. »Es traf sich nur so. Ich habe gleich hier in der Nähe einen Termin.«

»Dann geh doch zu ihr«, giftete Silke. »Was hältst du dich noch auf?«

»Es ist keine Sie, es ist ein Er. Und er ist zwölf Jahre alt«, sagte Marina. Sie bestellte einen Kaffee bei der Bedienung, die gerade gekommen war.

Silke bestellte auch einen. Sie war verwirrt. »Ein Kind?«, fragte sie. »Was hast du denn mit Kindern zu tun?«

»Ich bin Sozialpädagogin«, erklärte Marina. »Ich betreue Schüler, die Lernschwierigkeiten oder soziale Probleme haben.«

»Sozialpädagogin? Du?« Silke starrte sie an.

»Beurteile ein Buch nie nach dem Umschlag«, erwiderte Marina grinsend. »Ich bin ein netter Mensch, auch wenn du das nicht glauben willst.«

»Vielleicht bist du zu Kindern nett«, brummelte Silke in ihren Kaffee. »Warum bleibst du nicht dabei?«

»Ich bin nicht pädophil«, entgegnete Marina lachend. »Für manche Dinge brauche ich schon eine erwachsene Frau.«

»Manche Dinge.« Silke schüttelte den Kopf. »Das ist alles, woran du interessiert bist.«

»Ich habe einen stressigen Job mit sehr unregelmäßigen Arbeitszeiten.« Marina runzelte fast etwas entschuldigend die Stirn. »Für mehr hätte ich gar keine Zeit.« Sie grinste Silke wieder an. »Und ist doch auch schön, oder nicht?«

»Wenn du jemand findest, der das genauso sieht wie du«, entgegnete Silke. »Meine Arbeitszeiten sind eher regelmäßig, ich brauche so was nicht.«

»Jeder braucht so was«, sagte Marina leise und beugte sich über den Tisch zu Silke. »Ich bin eine Frau für gewisse Stunden. Den meisten reicht das. Und mir auch.«

»Mir nicht«, sagte Silke, trank ihren Kaffee aus, legte ein paar Münzen auf den Tisch und erhob sich. »Pass auf, dass du nicht zu spät zu deinem Termin kommst.« Schnell verließ sie das Café und ging an ihren Arbeitsplatz zurück.

4.

Eine Frau für gewisse Stunden. Ich glaub’s ja nicht! Silke konnte sich kaum beruhigen über Marinas Unverschämtheit. So etwas hatte sie nicht nötig. Mit Gaby hatte sie in der Beziehung schon genug Ärger gehabt. Das brauchte sie nicht noch mal.

Marina war zumindest ehrlich, das musste Silke zugeben. Bei Gaby war sie erst nach einiger Zeit darauf gekommen, was sie trieb. Das Problem hätte sie mit Marina nicht.

Hätte? Was heißt denn hier: hätte? Denke ich etwa darüber nach –? Nein, tue ich nicht.

Und dennoch hatte Marina etwas, das Silkes Herz höherschlagen ließ, ob sie wollte oder nicht. Ich bin doch kein Teenager mehr. Ich habe meine Erfahrungen gemacht, und jetzt ist es genug. Nie wieder eine Frau, die nicht treu ist. Nie wieder eine Frau, die auf allen Hochzeiten tanzt, aber für mich keine Zeit hat, wenn ich sie brauche. Dann kann ich auch allein bleiben.

»Sie, junge Frau, arbeiten Sie hier?«

Silkes Kopf zuckte hoch. Ein Kunde hatte sich zu ihr an den Tisch gesetzt, und sie hatte ihn gar nicht bemerkt. »Ja. Ja, schon«, sagte sie schnell. »Was kann ich für Sie tun?«

»Ich dachte, Sie wären dazu da, Versicherungen zu verkaufen«, entgegnete der Mann säuerlich. »Aber ich kann mich ja auch irren.«

»Nein, Sie irren sich nicht.« Silke versuchte zu lächeln, wie sie es immer tat, wenn sie Kunden beriet. »Was für eine Versicherung interessiert Sie denn?«

»Ich hab ja jetzt auch ’nen Computer«, sagte der Mann. »Und da dachte ich, was ist denn, wenn der gestohlen wird?«

Silke nickte. »Haben Sie eine Hausratversicherung?«

»Weiß ich nicht. Muss man das haben?«

Silke rollte innerlich die Augen. Das war wieder so ein Kunde . . . Sie lächelte den Mann an. »Wenn Sie keine haben, sollten wir vielleicht eine abschließen«, sagte sie freundlich und zuvorkommend wie immer. Es war ihr Metier, jedem Kunden eine Versicherung zu verkaufen, der eine wollte, egal, ob sie den Kunden mochte oder nicht.

»Was ist denn mit dir passiert?«, fragte Yvonne stirnrunzelnd. »Den ganzen Nachmittag hängst du schon rum wie ein Schluck Wasser.«

»Gar nicht wahr.« Silke lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, immer mit einem Blick auf die Tür, die sich jeden Augenblick öffnen konnte. Bald war Feierabend, aber manche Kunden kamen eine Minute vor Schluss, und dann waren Überstunden angesagt. Kunden wegzuschicken war verboten.

»Wohl wahr«, sagte Yvonne. »Ich kenn dich doch.«

»Es ist nichts«, behauptete Silke. »Ein bisschen unausgeschlafen, das ist alles.«

Yvonne schaute sie zweifelnd an, zuckte dann jedoch die Schultern. »Ich wollte dich eigentlich schon heute Morgen fragen, hab es aber irgendwie vergessen. Ich habe heute kein Auto dabei. Kannst du mich mitnehmen?«

»Ja, klar. Aber wie bist du dann hergekommen?«, fragte Silke stutzig.

»Klaus hat mich gebracht.« Yvonne starrte verlegen auf ihre Schuhe.

»Klaus? Hoppla, gibt’s da was zu erzählen?« Silke sah Yvonne erwartungsvoll an.

»Nein. Er hat mich nur gefahren, weil ich mein Auto in die Werkstatt bringen musste«, gab Yvonne zurück.

»Und er hat nicht zufällig die Nacht bei dir verbracht?«, grinste Silke.

Yvonne antwortete nicht gleich. »Ja, hat er«, sagte sie dann. »Aber das bedeutet gar nichts.«

»Er ist wirklich sehr nett.« Silke lächelte Yvonne an.

»Ich will das nicht übers Knie brechen«, sagte Yvonne. »Und bei dir? Da ist doch auch irgendwas. Das merke ich doch.«

»Nein, gar nichts.« Silke schüttelte den Kopf. »Du weißt doch, dass Gaby gerade erst ausgezogen ist. Ich bin froh, dass ich meine Ruhe habe.«

»Du bist heute Mittag mit Marina Kaffee trinken gegangen?«, fragte Yvonne plötzlich.

»Nein«, erwiderte Silke trotzig. »Sie hat sich einfach an mich drangehängt.«

»Woher kennst du sie überhaupt?«, fragte Yvonne.

Silke lehnte sich zurück und atmete tief durch. »Ich hab dir doch die Geschichte mit dem Wohnmobil erzählt«, antwortete sie. »Das mich fast überfahren hätte.«

»Ja.« Yvonne nickte. »Übel. Aber du hast es ja überlebt.«

»Mit einem verstauchten Fuß. Weshalb die Frau mich nach Hause gefahren hat.« Silke holte noch einmal Luft. »Und das war sie, die Frau.«

»Marina war das?« Yvonne blickte zur Tür, als könnte sie Marina dort immer noch sehen.

»Ja«, bestätigte Silke seufzend.

»Dann habt ihr heute den glimpflichen Ausgang gefeiert«, nahm Yvonne an.

Silke lachte trocken auf. »Nein, das nun nicht gerade. Sie ist einfach vorbeigekommen, weil sie hier in der Gegend zu tun hatte.«

»Und?«, fragte Yvonne.

»Was und?« Silke runzelte die Stirn. »Nichts weiter.«

»Ich hab doch Augen im Kopf«, sagte Yvonne. »Sie ist . . . na ja . . .«

»Sie steht auf Frauen, ja klar«, erwiderte Silke unwillig. »Aber das heißt noch lange nicht, dass ich auf sie stehe.«

»Sie sieht irgendwie nett aus«, meinte Yvonne. »Was macht sie so?«

»Sozialpädagogin«, grummelte Silke.

»Wow«, machte Yvonne. »Das heißt, sie ist jemand, der sich um andere kümmert, oder nicht?«

»Und was soll das heißen?« Silke stand auf. Feierabend. Und kein Kunde mehr in Sicht.

»Dass du jemand brauchen kannst, der sich um dich kümmert«, erklärte Yvonne. »Nach all denen, die du hattest, die sich nicht um dich gekümmert haben.«

»Das ist doch kein Grund«, wehrte Silke sich. »Ich mag sie nicht. Sie ist überhaupt nicht mein Typ.«

»Schade.« Yvonne betrachtete Silke anteilnehmend. »Ich hätte dir mal so jemanden gewünscht.«

»Kümmert Klaus sich nicht um dich?«, entgegnete Silke bissig. »Dann hast du doch, was du brauchst.«

»Das wird sich erst noch rausstellen«, meinte Yvonne. »Aber dazu muss man eben leider ins kalte Wasser springen.«

»Ich soll mit Marina baden gehen?«, fragte Silke sarkastisch. »Sie wäre sicher begeistert.«

»Du bist unverbesserlich.« Yvonne schüttelte den Kopf. »Sie ist nicht dein Typ. Was soll das heißen: Sie ist nicht dein Typ? Was ist denn dein Typ? Frauen wie Gaby, die gleich ohne Rücksicht auf Verluste mit jeder ins Bett springen?«

»Das tut Marina auch«, schnappte Silke.

Yvonne grinste. »Dann ist sie doch dein Typ.«

Silke starrte sie an. »Ach, lass mich doch in Ruhe. Ich weiß auch nicht. Marina ist eben nicht die Frau, nach der ich gesucht habe.«

»Vielleicht nicht gesucht«, sagte Yvonne, »aber doch gefunden. Ihr seid euch bestimmt nicht zufällig über den Weg gelaufen.«

»Gelaufen!« Silke stieß das Wort zynisch hervor. »Hätte ich laufen können, wäre das alles nie passiert.«

»Es ist also doch was passiert?« Yvonnes Neugier war erneut geweckt.

»Nein. Es ist nichts passiert. Absolut gar nichts. Und es wird auch nichts passieren.« Silke winkte ab. »Marina ist – Ach, was weiß ich, was sie ist. Jedenfalls nichts für mich.«

»Wenn du da so sicher bist . . .« Yvonne zuckte die Schultern. »Dann kann man natürlich nichts machen.«

»Nein, kann man nicht«, entschied Silke. »Und jetzt bringe ich dich nach Hause.«

5.

Das Telefon klingelte anhaltend. Silke hörte es von draußen durch die Tür. Schnell beschleunigte sie ihre Schritte und schloss auf. Etwas außer Atem hob sie den Hörer ab. »Ja?«

»Warst du walken – oder habe ich dich bei etwas Wichtigerem gestört?«, fragte Marinas amüsierte Stimme.

»Weder noch«, erwiderte Silke gereizt. Um diesen Anruf entgegen zu nehmen, hätte sie nicht so zu rennen brauchen. »Ich war in der Waschküche. Und mein Training besteht darin, dass ich den Wäschekorb hochgeschleppt habe.«

»Dann bin ich ja beruhigt«, bemerkte Marina. Der amüsierte Klang in ihrer Stimme hatte sich nicht geändert.

»Es geht dich überhaupt nichts an, auch wenn es anders gewesen wäre«, schnappte Silke. »Ich lege gleich wieder auf.«

»Oh, bitte nicht«, sagte Marina schnell. »Ich dachte . . . na ja, nachdem es beim Walken doch eigentlich recht schön war . . . wollen wir nicht mal wieder zusammen walken gehen?«

»Langweilst du dich jetzt doch allein?«, fragte Silke beißend. »Ich dachte, das fändest du so toll.«

»Es war auf jeden Fall weniger langweilig, als wir zusammen gelaufen sind«, sagte Marina. »Und ein bisschen Körperertüchtigung tut immer gut.«

»Ich kann mir schon vorstellen, was du darunter verstehst«, giftete Silke. »Und das spare ich mir lieber.«

»Wir hatten einen etwas unglücklichen Start«, erklärte Marina. »Das merke ich jetzt. Lass uns doch einfach noch mal von vorn anfangen.«

»Okay«, sagte Silke. »Ich stelle mich auf die Straße, und du überfährst mich. Dann hätten sich alle Probleme erledigt.«

Marina lachte. »Nun komm schon. Walken tut uns beiden gut. Und was soll ich dir im Wald schon antun?«

»Da könnte ich mir einiges vorstellen«, sagte Silke. Aber es war seltsam. Je länger sie mit Marina sprach, selbst wenn sie sich angifteten, desto mehr erschien ihr Marinas Angebot verführerisch. Jedesmal, wenn sie Marina traf, war es irgendwie . . . aufregend.

Sie ist nicht mein Typ, erinnerte sie sich selbst. Sie ist überhaupt nicht mein Typ! Aber vielleicht war es gerade das. Wenn Marina nicht ihr Typ war, bestand keine Gefahr, sich zu verlieben. Es wäre alles ganz unverbindlich, von Anfang an. Keine Erwartungen, keine Gefühle, keine Enttäuschungen.

»Ich denke darüber nach«, sagte sie. »Aber erst mal muss ich meine Wäsche bügeln.«

»Mittwoch Abend?«, fragte Marina. »Sechs Uhr? Auf dem Parkplatz?«

»Verlass dich nicht drauf«, erwiderte Silke und legte auf.

Sie nahm den Wäschekorb hoch, brachte ihn auf die andere Seite und stellte das Bügelbrett auf. Während das Bügeleisen über die Wäsche glitt, hatte sie Zeit, über alles nachzudenken.

Sie hatte so oft daran gedacht, wie es sein würde, wenn Gaby endlich ausgezogen wäre. Die schrecklichsten Szenarien hatte sie sich vorgestellt. Wie sie einsam und allein auf dem Sofa sitzen und heulen würde. Doch keine Spur davon. Sie fühlte sich frei, mit einer Ruhe und Leichtigkeit, von denen sie nicht gewusst hatte, dass sie überhaupt existierten.

Das konnte nur mit etwas zusammenhängen, das sich verändert hatte. Etwas, das sie nicht erwartet hatte. Etwas – oder jemand.

Marina war eine faszinierende Frau. Sie strahlte Stärke und Ruhe aus, beides Dinge, die Silke meistens fehlten. Obwohl sie es sich selbst gegenüber nicht zugeben wollte, fühlte sie sich zu Marina hingezogen. Sie wollte es nicht, und doch war es so.

Verwundert über diesen Gedanken schüttelte sie den Kopf. Alles, was sie Marina gesagt hatte, war wahr. Sie wollte keine neue Beziehung – und schon gar nicht mit Marina. Und doch ertappte sie sich dabei, dass sie Gaby mit Marina verglich. Rein optisch war das ein Unterschied wie Tag und Nacht. Und auch sonst lagen zwischen den beiden Welten. Selbst wenn sie Marina und Gaby im Gespräch verglich, gab es da kaum Gemeinsamkeiten.

Die einzige Gemeinsamkeit war, dass sie beide nicht treu waren, dass Liebe für sie ein Fremdwort war, dass sie jede Frau abschleppten, die nicht bei drei auf den Bäumen war.

Silke seufzte und legte eine Bluse zusammen. Nicht die schönste Vorstellung. Wie hatte Marina gesagt? Von vorn anfangen? Ja, genau das wäre es: dasselbe wie mit Gaby von vorn.

Nein, danke. Darauf konnte sie verzichten.

6.

Die Woche zog sich dahin, oder manchmal raste sie, aber jedenfalls hatte Silke das Gespräch mit Marina schon fast vergessen. Yvonne hatte sich eine böse Erkältung zugezogen und musste zu Hause bleiben, ebenso waren ein paar andere Kollegen plötzlich krank geworden, und das hieß, dass Silke fast rund um die Uhr arbeiten musste, um sie zu vertreten.

Morgens um halb acht Telefondienst, nachmittags Kundenbetreuung, und manchmal beides gleichzeitig. Es war mehr Stress, als sie ertragen konnte. Sie schlief schlecht, aß wenig und sah von Tag zu Tag abgespannter aus.

»Frau Sander, Sie werden mir doch nicht auch noch krank werden?«, sagte ihr Chef eines Morgens zu ihr, als sie zur Arbeit kam. »Das können wir uns nicht leisten.«

Komischerweise können es sich alle anderen leisten. Nur ich nicht? dachte Silke. Aber so war es immer. Die anderen legten sich beim kleinsten Kratzen im Hals ins Bett, aber die brave Silke schob natürlich Doppelschichten für alle. Nicht dass die anderen sich dann bei ihr revanchierten, wenn sie ihren Urlaub einreichen wollte. Nein, dann sollte sie sich nach denen richten, die Kinder hatten. Die hatten alle Rechte, Silke konnte nehmen, was übrig blieb.

Manchmal kotzte es sie richtig an. Was war das für ein Leben? Immer nur Arbeit, keine Liebe, keine Frau, die zu Hause auf sie wartete. Oder wenn, dann lag sie mit einer anderen im Bett. Sie hätte heulen können.

Das ist nur der Stress. Du bist überarbeitet, versuchte sie sich selbst zu beruhigen. Sobald die anderen wieder da sind, wird es besser. Dann mache ich Urlaub.

Endlich waren zumindest zwei der Erkrankten wieder da, und sie konnte einmal wieder pünktlich nach Hause gehen.

Sie ließ sich zu Hause aufs Sofa fallen und legte die Beine hoch. Was für eine Woche. Als ob alle Kunden sich verschworen hätten, ausgerechnet jetzt eine Versicherung abschließen zu wollen, wo alle krank waren. Sie hätte sich vierteilen können, und es hätte nicht gereicht.

Sie musste an die frische Luft. Die ganze Woche hatte sie nur drin gehockt, und wenn sie nach Hause kam, war sie todmüde ins Bett gefallen. Sie hatte es kaum geschafft zu duschen.

Jetzt fühlte sie sich müde, aber gleichzeitig unruhig. Was war das nur? Schließlich fiel es ihr ein: Heute war Mittwoch. Die Verabredung mit Marina.

Verabredung. Eine Verabredung war es nicht, aber immerhin wäre sie dann nicht allein beim Walken, um frische Luft zu schnappen.

Sie erhob sich vom Sofa. Wenn sie noch eine Minute länger wartete, würde sie keine Lust mehr haben rauszugehen. Sie fühlte sich immer lascher.

Sie zog sich um, schnappte sich ihre Stöcke und machte sich auf den Weg.

Nur noch eine Ampel. Dann war sie am Ziel. Doch plötzlich verspürte sie eine Aufregung, die ihr völlig unverständlich war. So als hätte sie ein Date. Dabei hatte sie gar kein Date, sondern wollte sich nur mit Marina zum Walken treffen, also Sport treiben. Bei diesem Gedanken spürte sie Hitze in sich aufsteigen. Oh mein Gott, dachte sie. Was ist denn mit mir los? Bei Sport und Marina wird mir ganz heiß?

Sie fuhr den Wagen kurz an den Straßenrand und atmete mehrfach tief durch, um sich zu beruhigen. Langsam fuhr sie wieder an und bog kurz darauf in den Parkplatz ein. Sie sah Marina, schon mit ihren Stöcken bewaffnet, dort stehen. Ein Lächeln glitt über Marinas Gesicht.

Silke fuhr neben Marinas Wohnmobil und stellte den Motor ab. Sie blieb hinter dem Steuer sitzen.

»He.« Es klopfte an die Scheibe, und Marinas lachendes Gesicht erschien. »Schön, dass du doch noch gekommen bist. Willst du nicht aussteigen?«

Silke hatte ganz entschieden das Gefühl, dass sie das nicht wollte, aber sie tat es trotzdem. »Ich hatte eine furchtbar stressige Woche«, sagte sie. »Ich wollte nur ein bisschen Luft schnappen.«

»Geht mir genauso«, nickte Marina. »Frische Luft, um die Energie mal wieder ein bisschen aufzutanken.«

»Dann veranstalten wir heute kein Rennen?«, fragte Silke.