Heinz Mosmann

Der Parzival
Wolframs von Eschenbach

Erkenntnis und imaginative Gestaltung
des Gralsmysteriums

Verlag Freies Geistesleben

Für Linda

Inhalt

Zur Einführung

Vom fliegenden Gleichnis

Gachmuret – Leben im Zweifel

Dem Höchsten dienen

Belakane – die Magie der Sinne

Blutsbande und Rittertum

Zahlensymbolik: Polaritäten in Potenz

Diamant und Bocksblut

Herzeloyde – die Durchlichtung des Gemüts

Soltane – Quarantäne und Entwicklungsraum

Sigune

Schuld und Trauer

Stimme des Gewissens

Pietà – der Logos der Seele

Der Rote Ritter

Ein eigennütziger Fischer

Das Lachen Kunnewares

Die Bluttat

Gurnemanz

Der väterliche Lehrmeister

Die Ritterlehre

Zeitbildung und Individualität

Condwîr âmûrs

Munsalvaesche und der Gral

Vom geistigen Wortsinn

Der Ritt zur Gralsburg

Lanze und Schwert

Annäherung an latente Fragen

Geistesnahrung

Die Jungfrau

Artusritterschaft und Gralswirken

Drachenkampf

ûf dem snê – drî bluotes zäher rôt

Auf dem Gipfel

Kunde vom Gral – Auflösung der Artusrunde

Gawan – der Weg in die Seelenwelt

Obie und Obilot – Polaritäten der Seele

Antikonie – der Schild des Verstandes

Kingrimursel und Liddamus – Qualitäten des Denkens

Der Seelenweg zum Gral

Trevrizent – Erwachen am anderen Menschen

Ankunft

Grenzerfahrungen

Geisteszeugen

Herzenswärme und Geisteslicht – vom Herzdenken

Vom Wesen des Grals

Die Hüter des Grals

Wandlung

Anfortas

Die offene Wunde

Gralsimpulse

Schicksalswirren und Erkenntniswille

Geistverwandtschaft

Orgeluse – Schönheit im Banne Klinschors

Gegenbilder

Die Stolze

Die erlösende Kraft des Vertrauens

Der gute Wille

Die Eroberung von Schastelmarveile

Gawans Fragen

Der schöne Schein

Mitten hinein

Die Phantasie und die geheime Seele der Dinge

Selbstüberwindung – die Imagination des Löwen

Menschliches Interesse und soziale Gestaltung

Orgeluses Erlösung

Im Innern des Turms

Der Weg in Orgeluses Herz

Hochmut in Person

Einhorn und Karfunkel

Schwalbe und die Musik

Anfortas’ Sturz

Gawans Erhöhung

Gawan als Vermittler und Diplomat

Die Rettung der Freude

Itonjes geheime Liebe

Festlichkeiten und Lebensfreude

Klinschor

Arnives Freude und Leid

Kompositionen für Joflanze

Gawans Motive

Die Inszenierung

Darbietung und Zusammenführung

Die Blindheit der Hoffart

Exkurs: Erkenntnisinteresse und Gewalt

«ich hân mich selben überstriten»

Kommunizierende Lebenswege

Gramoflanz – Brücken der Liebe

Der Kampf gegen den Hochmut

Die Wandlungskraft der Liebe

Die Kunst des Verzeihens

Die «rehte ê»

Erkenntnis als Kommunion

Der Weg zum Gral

Aufbruch

Parzivâl vant hôhen funt

Das Schriftstück Gottes

Begegnung zweier Welten

Berufungen

Geistesgaben

Die Wandlungsmacht des Grals

Anfortas’ Leid und Erlösung

Trevrizent und die unentschiedenen Geister

Die Familie als Gralsgemeinschaft

Sigune – Tod und Auferstehung der Seele

Der Sinn der Erde

Die große Gralsfeier

Taufe und Wandlung

Die Zukunft der Gralsgemeinschaft

Vom Geist des Fragens

Sælde

Ausgewählte Literatur

Zur Einführung

Im Literaturunterricht der Waldorfschule finden wir wohl keinen Lehrplanstoff, dem eine so grundlegende Bedeutung beigemessen wird wie dem Parzival-Epos Wolframs von Eschenbach, ausgenommen vielleicht Goethes Faust. Lässt sich Letzteres immerhin damit begründen, dass Goethe in seinem Werk die existenziellen Grundfragen und Probleme des neuzeitlichen Menschen thematisiert, so wird man bei Wolframs Parzival zunächst durchaus verständliche Zweifel hegen, ob ein dermaßen monumentales Werk aus dem Mittelalter heutigen Jugendlichen zugemutet werden sollte. Allein die Bewältigung des Lesestoffs – die in den Schulen meistens benutzte Übertragung von Wilhelm Stapel umfasst etwa 440 Seiten – scheint ein unüberwindliches Hindernis für den Zugang zu diesem Werk zu sein. Hinzu kommt die Schwierigkeit, dem mittelhochdeutschen Originaltext gerecht zu werden, und schließlich handelt es sich um einen Text, der außerordentlich komplex ist und sich dem Lesen keineswegs auf den ersten Blick erschließt. Beim mündlichen Vortrag, für den die Verse ursprünglich gedichtet wurden, mag für ein gebildetes Publikum vieles aus der Situation heraus verständlich gewesen sein, was dem heutigen Leser Kopfzerbrechen bereitet. Hierzu zählen häufig wechselnde Perspektiven, eine «hakenschlagende» Erzähltechnik – die Wolfram im Prolog mit der Hasenjagd vergleicht – und eine oft als «dunkel» erlebte Rätselsprache, die bis in die feinsten Nuancen hinein die Aufmerksamkeit des Lesers fordert. Zudem ein Gewirr von Namen und Personenbeziehungen – man kann rund 290 Personennamen zählen, die zum größten Teil in einem Geflecht verwandtschaftlicher Beziehungen miteinander verbunden sind –, eine ebenso verwirrende Namengebung, deren Bedeutung sich teilweise aufdrängt, teilweise entzieht, sowie eine schwer zugängliche Natur- und Zahlensymbolik – alles das führt Lehrer und Schüler häufig an die Grenzen ihrer Verständnismöglichkeiten.

Daher wurde in letzter Zeit verstärkt versucht, neue Zugänge zur Parzivalthematik zu finden, beispielsweise durch in den Unterricht integrierte Bühnenprojekte oder vom eigentlichen Text mehr oder weniger losgelöste Gesprächs- und Erfahrungsarbeit. Dagegen ist nichts einzuwenden, solange es die Textarbeit begleitet und nicht ersetzt. Wer einmal eine Unterrichtsepoche erlebt hat, in der es gelungen ist, die jungen Menschen für die Geheimnisse zu erwärmen, die uns in diesen «Aventüren» angetragen werden, wird den Wert einer gründlichen Texterschließung im Literaturunterricht zu schätzen wissen. Daher wurde dieses Buch, das unter anderem auf dreißig Jahren Unterrichtserfahrung beruht, vor allem im Hinblick auf den Unterricht in der Waldorfschule geschrieben. Abgesehen von gelegentlich eingestreuten didaktischen Hinweisen sollte die Arbeit aber keineswegs nur für Unterrichtende von Interesse sein und geht auch an vielen Stellen über das hinaus, was für die unmittelbare Unterrichtsarbeit von praktischem Nutzen ist.

Die Erarbeitung literarischer Texte gehörte schon immer zu den unverzichtbaren menschenbildenden Unterrichtstätigkeiten und ist heute so wichtig wie nie zuvor. Wann und wo sonst hätten die Jugendlichen in der schnelllebigen Medien- und Informationsgesellschaft die Ruhe und die Gelegenheit zu einer gemeinsamen geistigen Vertiefung, zu Gesprächen über Grundfragen des Lebens, über das Wesen des Menschen und den Sinn des Daseins? In einer Zeit, in der die Menschen immer mehr an instinktiver Lebenssicherheit und traditioneller Sinngebung verlieren, entsteht die Gefahr, dass die seelische Emanzipation und Individualisierung mangels geistiger Orientierung in neue Zwänge und Unfreiheiten führt. Die Erschließung großer Kunstwerke bietet hingegen die Möglichkeit, sich der geistigen Führung ihrer Schöpfer anzuvertrauen, ohne die eigene geistige Autonomie, ohne die Freiheit aufgeben zu müssen. So wahr es ist, dass der Mensch die Antworten auf die Fragen nach Sinn und Ziel seiner Existenz aus sich selbst heraus erringen muss, so wahr ist es, dass dies auch heute nicht ohne geistige Hilfe geschieht. «Literatur scheint ihre Wirkung daraus zu entwickeln», schreibt Bernd Schirok in seiner «Einführung in die Probleme der ‹Parzival›-Interpretation», «‹dass sie uns keine Lebensentscheidungen vorgibt, sondern uns auffordert, unsere eigenen Entscheidungen zu treffen, damit unseren personalen Umriss, unsere personale Bestimmtheit zu schärfen … Im Durchgang durch die großen Werke werde ich mehr ich selbst, als ich es war›.»1

In diesem Sinne ist Wolframs Parzival ein ungeheurer Glücksfall für die Pädagogik, denn «der Erzähler lässt seine Hörer nicht allein, aber er gängelt sie auch nicht. Er stößt Erkenntnisprozesse an, aber er lässt offen und muss offen lassen, wie sie verlaufen und zu welchem Ziel sie führen, denn diese Prozesse bedeuten auch je eigene Selbsterkenntnis und je eigene Selbstfindung.»2 Bei der Beschäftigung mit der Biographie des jungen Parzival werden die Schüler einerseits die sachliche Distanz empfinden, die sich gegenüber einer anderen Kulturepoche ganz natürlich einstellt, andererseits können sie aber auch unmittelbare Betroffenheit und persönliches Interesse an der Entwicklungs- und Lebensgeschichte des Helden erleben. So können ganz unbefangen innere Erfahrungen thematisiert werden, ohne dass die Gefahr der psychologischen Nabelschau entsteht. Fragen werden aufgeworfen, die sonst vielleicht nie ins Blickfeld treten würden: Welchen Wert haben Tugenden? Welches Verhältnis besteht zwischen Fühlen und Denken? Was ist Höflichkeit? Was ist Kunst? Welche Qualitäten der Liebe gibt es? Oder auch: Was ist eine echte Frage?

Zugleich kann bei der Beschäftigung mit diesem Werk bald deutlich werden, dass man es mit großer Kunst zu tun hat. Gelingt es, in die Bilderwelt Wolframs behutsam einzudringen und mehr und mehr ihren inspirativen Kern freizulegen, wird man bemerken, wie die Frage nach dem Wesen des Grals auf eine unerwartete Weise Gestalt annimmt. Die Mehrschichtigkeit der Sinnebenen, wie sie im mittelalterlichen Denken erlebt wurde, und die Bildhaftigkeit des künstlerischen Ausdrucks entfalten sich zu einer lebendigen, farbenreichen Sinngestalt, durch die wir auf die Gebärdensprache des Lebens aufmerksam werden können. Man wird zu der Überzeugung gelangen, dass Wolfram mehr ist als ein Künstler im herkömmlichen Sinne, sondern ein Weiser, der in die tiefsten Geheimnisse der Welt eingeweiht war. Nach den Worten Rudolf Steiners gehört er «zu den großen initiierten Dichtern, die selbstlos genug waren, große gegebene Stoffe zu bearbeiten»3. «Wo Sie Wolfram von Eschenbach aufschlagen, Sie werden überall finden, dass er ein Eingeweihter war.»4

Der Status des großen Eingeweihten hat allerdings dem Verständnis seines Werkes nicht immer gutgetan. So wurde in den Veröffentlichungen anthroposophischer Autoren zum Parzival immer wieder versucht, aus der Darstellung Rudolf Steiners bekannte Initiationswege an das Werk heranzutragen, um dann darin die Bestätigung für einen bestimmten Weg zu finden. Damit gerät man nicht nur in die Gefahr spekulativer Missdeutungen und Überinterpretationen, man wird auch dem künstlerischen Anliegen Wolframs nicht gerecht. Denn wenngleich er durchaus – wie wir noch sehen werden – seinem Kunstwerk einen tieferen Wirklichkeitscharakter beimisst, so versteht er sich vornehmlich als Künstler und sollte daher im Wesentlichen durch Inhalt und Form seiner Dichtung verstanden und beurteilt werden. Sie vor allem eröffnet einen Zugang zu der von ihm vertretenen Wahrheit. Um dies zu bekräftigen, werden hier auch zahlreiche Textstellen unmittelbar in die Darstellung eingefügt. Dies unterbricht zwar den Lesefluss, verweist aber bewusst immer wieder auf den gemüthaften Klang und die lebendige Bildhaftigkeit der mittelalterlichen Sprache, die auch im Unterricht präsent sein sollte. Manchmal klingen darin auch inhaltliche Nuancierungen an, die in der Übersetzung verloren gehen. Wo sich Letztere erübrigt, wird sie gelegentlich auch weggelassen.

Dies soll aber nicht jenem öden Bemühen das Wort reden, alles aus der fröhlichen Fabulierlust des Künstlers erklären zu wollen, so wenig es für ein vertieftes Verständnis fruchtbar wäre, das Werk als Verbildlichung eines spirituellen Einweihungsweges zu deuten. Hingegen soll versucht werden, die imaginative Sinngestalt herauszuarbeiten, in der Dichtung und Geisterkenntnis sich begegnen. Die systematisch am Text orientierte Darstellung kommt dabei dem parallelen Textstudium entgegen, wie es beispielsweise zur Unterrichtsvorbereitung hilfreich ist. Davon ausgehend werden in der vorliegenden Arbeit selbstverständlich Erkenntnisse aus der anthroposophischen Geisteswissenschaft und Aussagen Rudolf Steiners zur Vertiefung herangezogen, soweit dies aus der Bildsprache Wolframs schlüssig hervorgeht und soweit es diese erhellt. Es ist hier wie überall in der Forschung: Inwieweit ein Begriff oder eine Idee uns sehend macht und den Gegenstand erschließt oder uns die Wirklichkeit verdeckt, ist eine Frage des inneren Selbstverständnisses des Forschenden.

Zu den Spekulationen über Initiationswege gesellen sich oft solche über Ort, Zeit und Faktizität der Handlung. Auch wenn man davon ausgeht, dass die Handlung des Romans historischen Tatsachen entspricht, heißt das nicht, man könne diese in naiv-realistischem Verfahren aus den Handlungselementen erfolgern. Wer aus der Geschwindigkeit eines Vogelflugs, mit dem Parzivals Ritt zur Gralsburg verglichen wird, deren geografischen Standort errechnen will, zeigt für die Bildsprache Wolframs wenig Verständnis. Dieser lässt uns zwar mit vagen Andeutungen und Stimmungen in der Beschreibung des Ambientes und mit gelegentlichen, selten eindeutigen konkreten Orts- und Zeitangaben immer wieder spüren, dass das Erzählte durchaus auch in geschichtlichen Ereignissen zu finden ist und dass er, wenn er wollte, auch Genaueres vorweisen könnte. Bewusst verhindert er aber jede ernsthafte Zuordnung des konkreten Geschehens zu bestimmten Schauplätzen und jede Anknüpfung an historische Ereignisse. Am meisten irritiert hat das die Forschung in Bezug auf die Hauptquelle, die Wolfram selbst für seine Darstellung anführt: den Meister Kyot. Zahllose Untersuchungen sind über den Gewährsmann Wolframs verfasst worden, mit den unterschiedlichsten Ergebnissen. Denn Wolfram belässt es nicht nur bei unergiebigen Andeutungen, er setzt auch immer wieder eine rein äußerlich zu verstehende Urheberschaft dieses Meisters außer Kraft, indem er als Quelle seines Wissens die dichterische Inspiration in Form der «Frau Aventüre» angibt. Man gewinnt den Eindruck, Wolfram wolle dem Leser klarmachen, dass der Zugang zu den tieferen Wahrheiten seines Werkes eben nicht auf dem Weg äußerer Recherche möglich ist, sondern allein durch die Erringung innerer Gewissheit.

Daraus erklärt sich auch die gedanklich und sprachlich anspruchsvolle Form der Darstellung, die vom Erzähler selbst immer wieder reflektiert und dem Leser oder Zuhörer zur Disposition gestellt wird, oft mit Selbstironie und humorvollen Assoziationen relativiert und in Frage gestellt. Dadurch verwischt er scheinbar die Grenzen zwischen Zuhörer, Erzähler und «Frau Aventüre». Das erzählende Subjekt «beschränkt sich nicht darauf, zwischen Stoff und Publikum zu vermitteln», schreibt Joachim Bumke, Verfasser der wohl bekanntesten Werkmonographie Wolframs. «Es wechselt seinen Standort scheinbar beliebig, bald tritt es augenzwinkernd in ein Komplott mit den Hörern, bald nimmt es die Erzählung gegen die Neugier des Publikums in Schutz, tut geheimnisvoll und unergründlich, spielt mit den Erwartungen der Hörer, narrt sie mit dunklen Anspielungen und falschen Fährten und prüft ihre Aufmerksamkeit. Auf den epischen Erzählzusammenhang wirkt diese Technik gelegentlich fast katastrophal, weil die geordnete Erzählfolge immer wieder von Einschüben und Abschweifungen unterbrochen und zerrissen wird. Dafür gelingt es aber diesem Stil, den Erzähler und sein Publikum in die Dichtung hereinzunehmen und zu Mitspielern der Handlung zu machen.»5

Somit wird es Sache des Lesers und Zuhörers, «die Handlungsdarstellung, die divergierenden Figurenperspektiven und die wertenden Kommentare des Erzählers zu registrieren, zu verstehen und gegeneinander abzuwägen … In dem damit verbundenen Prozess eigenständiger Urteilsbildung liegt zugleich das, was die Geschichte … vermittelt.»6 Wolfram macht «seinem Publikum klar, dass es für sein Werk kein leicht zu habendes Verständnisrezept gibt, er verlangt von den Zuhörern vielmehr, dass sie durch alle Brüche und Wendungen hindurch dem Gang der Handlung folgen. Das heißt: der Sinn erschließt sich allein im Nachvollzug; dem Erkenntnisprozess, den der Held des Romans durchläuft, geht die Sinnerfahrung durch den Hörer parallel. Eine andere Verständnishilfe ist nicht möglich.»7

Diese eigenwillige Erzählweise, die «mit Überraschungen und Dissonanzen arbeitet und von den Zuhörern ein ständiges Mitdenken einfordert»8, unterscheidet Wolfram auch von Chrétien de Troyes, dessen feinsinnige Erzählung des «Conte du Graal» ihm bekannt war und, wie allgemein angenommen wird, als Vorlage diente. Allerdings geht Wolfram in seiner Darstellung weit über das unvollendet gebliebene Werk Chrétiens hinaus, nicht nur was den zeitlichen Rahmen der Handlung betrifft, sondern auch im Hinblick auf Vielfalt und Tiefgründigkeit der Sinnbezüge. Schon rein äußerlich wird die Eigenständigkeit der Wolframschen Schöpfung augenfällig: Er stellt der Handlung, wie sie Chrétien in rund 9000 Versen übermittelt, nicht nur 3450 Verse voran und führt sie um 5370 Verse weiter fort, er erweitert sie auch auf knapp 16000 Verse. Insbesondere das zentrale 9. Buch mit dem Karfreitagsgespräch umfasst bei Chrétien nur etwa ein Siebentel des Wolframschen Textes.

Hinzu kommt, dass zwar die Handlungsführung mit der Darstellung Chrétiens weitgehend übereinstimmt, doch verglichen mit anderen höfischen Epen, die nach französischen Vorlagen gearbeitet wurden, ist die Übernahme, wenn es sich überhaupt um eine solche handelt, sehr frei und eigenständig. Vieles hat Wolfram völlig anders gewichtet, er hat erweitert und gekürzt, vielen Figuren hat er erstmals Namen gegeben, andere hat er umbenannt, manche hat er neu eingeführt, und oft hat er den Personen einen anderen Charakter verliehen. Die meisten Figuren sind mehr in ihrer individuellen Eigenart herausgearbeitet. Wolfram findet sogar kritische Worte für den «Meister Christian». So heißt es im Epilog, Chrétien habe der Geschichte Unrecht getan, wie sie von Meister Kyot übermittelt worden sei: «Ob von Troys meister Cristjân disem mære hât unreht getân, daz mac wol zürnen Kyôt, der uns diu rehten mære enbôt.» Der nachfolgende Text lässt dann offen, ob er sich dabei nur auf die Fortsetzung der bei Chrétien unvollendeten Handlung bezieht oder auch auf den übrigen Gehalt. Wir werden an einschlägigen Stellen, wo es dem vertieften Textverständnis dient, entsprechende Vergleiche anstellen. Hier sollte zunächst darauf hingewiesen werden, dass Wolframs Version der Parzival-Erzählung eine ganz und gar originäre Schöpfung ist.

Auch vom Parsifal Richard Wagners wird Wolframs Epos im Folgenden abzugrenzen sein. Sicher hat das Gralsthema durch Wagners «Bühnenweihfestspiel» die meiste Verbreitung gefunden, vor allem durch die Schönheit und spirituelle Tiefe der Musik. Was den Text betrifft, kann man geteilter Meinung sein. Er wurde zwar in Anlehnung an Wolframs Dichtung verfasst, die Entwicklungsgeschichte Parzivals wurde jedoch, was natürlich für die Opernbühne unumgänglich ist, auf ein paar wenige Szenen begrenzt. Dabei wurde vieles umgedeutet und anders gewichtet, oft so, dass es den Wolframschen Intentionen durchaus zuwiderläuft. So ist beispielsweise die Gralsgemeinschaft eine reine Männerwelt, das Weibliche wird auf die Rolle der zu erlösenden Verführerin beschränkt und, was damit innerlich zusammenhängt, Parzival persönlich bricht den Klinschor-Zauber und gewinnt den heiligen Speer. Für Wolframs Gralsverständnis wesentliche Figuren und mit ihnen verbundene Handlungsstränge wurden dabei fallen gelassen, wie beispielsweise Gawan und Sigune, andere wurden umgedeutet, wie Gurnemanz und Kundrie. Durch all dies entsteht ein Sinnzusammenhang, der in sich durchaus schlüssig erscheint, aber nur noch in einigen Grundzügen mit der Wolframschen Gralsthematik verwandt ist. Zudem eignet sich der Text auch sprachlich kaum für eine Behandlung im Literaturunterricht. Man könnte ihn allenfalls in Form eines Referats zur Arbeit hinzuziehen.

Schließlich stellt sich die Frage, inwieweit man auf mittelalterliche Fortsetzer des Gralsthemas nach Wolfram und Chrétien eingehen sollte, besonders auf den sogenannten Jüngeren Titurel des Alfred von Scharfenberg. Man wird in diesem umfangreichen Werk, dessen Urheberschaft umstritten ist, so manche Anregung zur Interpretation finden können, man sollte sich aber davor hüten, es zu schnell zur Deutung der vielen Rätsel des Parzival hinzuzuziehen. Der Verfasser wird dem Anspruch, den er an sich stellt, indem er sich lange Zeit selbst als Wolfram ausgibt, kaum gerecht, wenn auch seine Eigenleistung durchaus beachtlich ist. Im Folgenden wird aber versucht, Wolframs Epos weitgehend aus sich selbst heraus zu verstehen. Es wird sich zeigen, dass gerade darin der – im weitesten Sinne verstanden – hohe pädagogische Wert dieser Dichtung liegt. Allerdings: Wie man im Literaturunterricht nur Ansätze für ein Verständnis erarbeiten kann und hoffen muss, dass die geistige Kraft der Wolframschen Bildsprache in den Seelen der jungen Menschen weiterleben wird, so muss sich auch die vorliegende Arbeit oft auf Hinweise beschränken. Die Tiefgründigkeit, die eigentliche spirituelle Dimension der Bilderwelt Wolframs erschließt sich vor allem dem konzentrierten, wiederholten Umgang mit ihr.

Die verflachten und verzerrten Vorstellungen von der Gestalt der Welt und vom Grund unseres Daseins, die über die Medienkanäle heute in die Gemüter der Menschen, insbesondere der Jugendlichen, einfließen, müssen in das rechte Licht gerückt werden. Sie wuchern in den Seelen weiter und schläfern sie ein, machen sie geistig unempfänglich, wenn ihnen keine tiefere Wahrheit entgegentritt. «Die Welt ist tief, und tiefer als der Tag gedacht.»9 In diesem Bewusstsein sollten die Schülerinnen und Schüler den Unterricht im Innern bewahren. Die Parzival-Epoche thematisiert damit unmittelbar etwas, das zum Wesen der Pädagogik überhaupt gehört. Deshalb ist gerade in dieser Epoche die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler besonders intensiv und sollte behutsam beachtet werden.

Die Beschäftigung mit dem Parzival ist aber auch für die Arbeit in einem Kollegium und für das Selbstverständnis der Erziehenden von unschätzbarem Wert. Die Bilder, mit denen Rudolf Steiner bei der Gründung der Waldorfschule seine pädagogischen Vorträge einleitete, offenbaren bei näherer Betrachtung ihre Verwandtschaft mit den Gralsimaginationen Wolframs. Die vorliegende Arbeit möchte dazu beitragen, dass in den Waldorfschulen das Interesse an jener spirituellen Substanz geweckt wird, die sich hinter dem Namen des «Heiligen Gral» verbirgt und die durch die Zeiten hindurch Quelle und Sinn aller Pädagogik ist.

Vom fliegenden Gleichnis

Wolfram eröffnet sein Epos mit einer Herausforderung an unsere Verständnisfähigkeit. Was gemeinhin von einem Prolog erwartet wird, etwa Angaben über den Verfasser, dessen Auftraggeber und Quellen, suchen wir hier vergebens. Chrétien de Troyes beispielsweise führt seine Erzählung mit einer Lobesrede und Danksagung an seinen fürstlichen Gönner ein und geleitet Leser oder Zuhörer freundlich und sanft zum Anfang der Geschichte hin. Anders Wolfram von Eschenbach: Der Prolog gehört sicherlich zu den schwierigsten Textpartien seines Werkes, als habe der Dichter gleich zu Anfang ein Hindernis aufbauen wollen, an dem sich die Geister scheiden. Wissenschaftlich ist jede Einzelheit endlos diskutiert worden, was in der Forschung auch zu einer kritischen Besinnung geführt hat. «Vieles von der vermeintlichen Dunkelheit geht auf das Konto der Forschung», meint Bernd Schirok, «die – um Aufklärung bemüht – manches verunklärt hat. Gerade beim Prolog ist es deshalb unerlässlich, seine Überschichtung durch die Sekundärliteratur entschieden beiseite zu räumen, ihn gewissermaßen zu ‹exhumieren›.»1

Betrachten wir nun den Text des Prologs mit unbefangenem Blick, dann kann uns zunächst auffallen, dass er durchgängig, bis in die sprachliche Form hinein, in Polaritäten aufgebaut ist. Das zweite Wort schon drückt jene Zweiheit aus, die – gewissermaßen als Urteilung – den Keimpunkt der dramatischen Entwicklung darstellt, den Zweifel (zwîvel). Der aus dem Zweifel hervorgehende Konflikt entfaltet sich zu einem zweiteiligen Bild, der Nachbarschaft von Zweifel und Herz («ist zwîvel herzen nâchgebûr»), und schließlich stehen sich erster und zweiter Vers als Bedingung und Folge gegenüber: «Ist Zweifel dem Herzen benachbart, das muss der Seele sauer werden (daz muoz der sêle werden sûr).» Denn sie droht dadurch, so können wir das Bild ergänzen, ihre individuelle – das heißt unteilbare – Wesenseinheit zu verlieren, deren Zentrum das Herz ist.

Im nun folgenden Elster-Gleichnis wird die Urpolarität von Hell und Dunkel, Licht und Finsternis ins Bild gesetzt. Damit klingt schon gleich zu Anfang jenes Grundmotiv an, das sich durch das gesamte Werk hindurchzieht und in entscheidenden Momenten in Parzivals Entwicklung in den Vordergrund tritt. So ist es das Bild von Licht und Finsternis, mit dem die Mutter dem Knaben das Wesen des Göttlichen nahebringen will und ihn so – unbeabsichtigt – an den Ausgangspunkt seines Schicksalsweges führt. Und es ist eine schwarzweiß gefleckte Gestalt, die ihm am Ende seiner Gralssuche entgegentritt und ihm das letzte Tor zum Gral erschließt.

Während die Mutter dem Knaben allerdings rät, er solle die «dunklen Furten meiden», betont der Prolog den dynamischen Aspekt, der sich daraus ergibt, dass der Mensch in die Polarität von Licht und Finsternis hineingestellt ist und sich in dieser Auseinandersetzung entwickelt. Das Licht ist ihm dabei nicht Refugium, sondern Orientierung auf dem Weg. Deshalb ist der zwîvel auch nicht etwas, das unterdrückt oder gemieden werden könnte, sondern der Schicksalsfaden führt «mitten hindurch». Wenn der Mensch handelt, hat stets beides daran teil, «Himmel» und «Hölle». Wollte er das Böse fliehen, würde er sich der Wirklichkeit entfremden. «Schmach und Schmuck» zugleich erlebt deshalb der Mensch, der mit unverzagter Seelenkraft diesen Widerspruch trägt – wie die Elster ihre Farben. Das ist ganz modern und gar nicht mittelalterlich gedacht. Die innere Dynamik des Werkes wird so im Prolog urbildlich vorweggenommen.

Wie der Zweifel aus dem Gedanken kommt, der dem Menschen die Herzenssicherheit raubt und ihn in die innere Entzweiung stürzt, so setzt auch die Kraft, die ihm die Orientierung und innere Sicherheit verleiht, am Denken an: die «stæte». Sie ist jene Beständigkeit und Dauerhaftigkeit im Wechsel der Erscheinungen, die wir benötigen, wenn wir uns um Erkenntnis bemühen, wenn wir etwas suchen, einem Gedankenfaden oder einer Spur folgen. Wenn wir eine Frage offenhalten, wenn wir vor einem Rätsel nicht verzagen. Nur der «unstæte geselle» gerät gänzlich in die Finsternis («wirt och nâch der vinster var»).

Die stæte ist dieselbe Kraft, die Wolfram mit seinem «fliegenden Gleichnis» und seinem «hakenschlagenden» Erzählen vom Hörer und Leser fordert. Dem äußeren Anschein nach ähneln seine Bilder und Gleichnisse trügerischen Spiegelungen oder «des blinden troum», sind flüchtige und wirklichkeitsfremde Schimären. Für solche Menschen, denen die stæte mangelt, geben sie nur die Oberfläche der Erscheinungen wieder («gebent antlützes roum», roum = Rahm, Schimmer). Diese «dummen (tumben) Leute» kommen deshalb auch über die Widersprüche und Sprünge – in dem Prolog – nicht hinweg, und auf deren Kritik einzugehen wäre müßig: So jemand «rupft mich da, wo mir kein Haar gewachsen ist (roufet mich dâ nie kein hâr gewuohs)».

Diesen «tumben» Menschen stellt Wolfram die «wîsen» gegenüber, die wirklich erfahren wollen, welche «gute Lehre» diese Geschichte enthält. Mithalten mit dem wechselvollen Hin und Her der Geschichte kann nur, wer sich «nicht verhockt und nicht verläuft, sondern wer sich recht versteht (der sich niht versitzet noch vergêt und sich anders wol verstêt)». Das ist keine bloße Wortspielerei. Es bedarf eben einer bewussten Seelenkraft, die bewahrt, ohne zu erstarren, und die suchend vordringt, ohne sich zu verlieren. Man kann darin die Gebärde lebendiger Entwicklung schlechthin erkennen. Um sich dies klar zu machen, versuche man einmal, die Entwicklung einer Pflanze in der inneren Anschauung zu vollziehen. Man wird bald bemerken, mit welcher Anstrengung das verbunden ist und mit welchen Kräften man es dabei zu tun hat: Gestaltwandel in Entwicklungsprozessen mitzuvollziehen verlangt eben stæte. –

Eine weitere Tugend, die Wolfram vom Leser fordert, ist Treue. Im Unterschied zur stæte enthält die «triuwe» oder «triwe» auch das Element der inneren Bindung an jemanden oder etwas. Suche ich nach dem Wesentlichen – im Leben wie im Denken –, muss ich Widersprüche aushalten. Wie will ich da Treue finden, wo im ständigen Hin und Her die Naturkräfte einander auslöschen, so wie Feuer und Wasser? «Will ich triwe vinden aldâ si kann verswinden, als viur in dem brunnen unt daz tou von der sunnen?» Das Feuer erlischt im Brunnen, und der Tau verdunstet in der Sonne – das Menschenleben jedoch unterwirft sich nicht dem Wechsel der Erscheinungen, sondern strebt danach, die Gegensätze in Einklang zu bringen. Der Kluge weiß das, er wird, um den tieferen Sinn zu ergründen, sich darauf einlassen, was diese Geschichte erfordert und wohin sie steuert («welher stiure disiu mære gernt»). Er wird der mære treu bleiben, wie einem beseelten Wesen, das «mal flieht und mal jagt, das mal entweicht und wieder umkehrt, das mal erniedrigt und mal erhebt». Wer aber die nötige Geduld und Beständigkeit nicht aufbringt, auf dessen Seele ist kein Verlass, seine Gesellschaft hat keine wahre Verbindlichkeit, sie ist falsch und «taugt nur fürs Höllenfeuer, ein Hagelschlag auf alle hohen Werte» («valsch geselleclîcher muot ist zem hellefiure guot, und ist hôher werdekeit ein hagel»). Seine Treue gleicht dem viel zu kurzen Schwanz jener Kuh – Wolfram spielt hier auf eine damals bekannte Fabel an, ohne sie ganz auszuführen –, die sich im Sommer der Bremsenstiche nicht mehr zu erwehren wusste – weil sie im Winter unfähig war, das Schmelzen des Eises abzuwarten, und sich daher den eingefrorenen Schwanz abriss.

Der Prolog möchte also die Kräfte im Hörer und Leser aufwecken, die von dem Helden der Erzählung gefordert werden. Der tieferen Wirklichkeit des menschlichen Lebens gegenüber versagen die statischen Begriffe und Vorstellungen, die wir gewohnheitsmäßig an das Geschehen herantragen. Stæte und triuwe sind es, die uns die offenkundigen Widersprüche und Ungereimtheiten zunächst ertragen lassen und unsere Fragen, unsere Suche nach dem Sinn im Wechsel der Erscheinungen wachhalten. Wolfram erwartet, dass ein wahrer Sucher sei, wer sich auf seine Geschichte einlässt. So führt er ihn durch ein Geflecht von Widersprüchen und Gegensätzen – wer darin hängen bleibt, dem mangelt es auch an Verständnisfähigkeit (witze) für das Folgende. Vom zwîvel ausgehend führt er uns durch Hell und Dunkel, stæte und unstæte, Weisheit und Tumbheit, Himmel und Hölle … Im Hintergrund zeigt sich, allem übergeordnet, die Urpolarität allen Fragens und Erkennens: Wesen und Erscheinung.

Diese bildet aber zugleich auch die geistige Brücke zu einem weiteren Abschnitt, einer anderen Perspektive, die der bisherigen Betrachtung polar gegenübersteht. Bislang hatten wir es nämlich mit dem Erkenntnisstreben des Menschen zu tun, seiner Suche nach der wahren Wirklichkeit, nach dem Wesen hinter den Erscheinungen. Der Erscheinung selbst wurde die Wirklichkeit abgesprochen, sie war «nur Schein» und diente als Ansatzpunkt für die Suchbewegung im Streben nach Wahrheit. Anders stellt sich uns die Polarität von Wesen und Erscheinung jedoch dar, wo Letztere selbst zur Geltung kommt, wo uns die Erscheinung selbst genügt. Wir bewegen uns dann auf dem Feld des Schönen, in dem das Wesen der Dinge erscheint, oder, um mit Goethe zu sprechen, wo sich uns die «geheimen Naturgesetze» als Erscheinung vor die Sinne stellen. Hier müssen wir anders fragen: Entspricht die äußere Gestalt der inneren, ist sie ein wahrhaftiger Ausdruck? Ist der schöne Schein nur Oberfläche, oder offenbart er innere Wahrheit?

Bisher wurde der Blick des Lesers und Gralssuchers – der ist letztlich hier angesprochen – auf einen Aspekt der menschlichen Wesenheit gelenkt, dem Wolfram «männliche» Qualitäten zuspricht: «unverzaget mannesmuot» und «stæte Gedanken» haben das Feld beherrscht. Es ist ihm aber wichtig zu betonen, dass seine Ausführungen nicht nur für den Mann bestimmt sind («niht gar von manne sint»). Wenn er nun dazu übergeht, auch der Frau ein Ziel zu setzen («für diu wîp stôze ich disiu zil»), dann können wir ergänzen: Auch diese Ausführungen sind nicht nur für die Frau bestimmt. Während es bisher darum ging, die Wahrheit zu «erjagen», geht es jetzt darum, sie zu verkörpern. Der Mensch, der Wahrheit sucht, muss sich ihr anverwandeln, muss zur «schönen Seele» werden, in der sich das Wesen der Dinge ausspricht. Es geht Wolfram nicht darum, den Geschlechtern ihre Rollen zuzuweisen, sondern deutlich zu machen, dass das Wesen des Menschen eine «männliche» und eine «weibliche» Seite hat. Es wird sich später noch zeigen, dass er die Polarität von männlich und weiblich in einem viel umfassenderen Sinne versteht, als wir es im Alltag, mit dem äußeren Blick auf die beiden Geschlechter, gewohnt sind. Ist doch die Zugehörigkeit des Menschen zum Weiblichen oder Männlichen die Urteilung, die grundlegendste Zweiteilung des eigentlich Unteilbaren, Individuellen, der «zwîvel» schlechthin. Dem folgt deshalb der Aufbau des Prologs.

Dass der «den Frauen gewidmete» Teil des Prologs universalen Charakter hat, geht schon aus dem Tugendkatalog hervor. «Triuwe» und «mâze» sind gleichermaßen «männliche» Tugenden, und die «scham» spielt auch in der Ritterlehre des Gurnemanz eine zentrale Rolle. Ebenso verhält es sich mit der «kiusche», der seelischen Reinheit, auch wenn sie gewöhnlich mehr dem Weiblichen vorbehalten zu sein scheint. Tatsächlich ist sie der charakteristische Wesenszug der Gralsträgerin Repanse de Schoye, aber auch Parzivals. Der aufmerksame Leser wird sicher bemerken, dass Wolfram nicht nur «die Frau» als das weibliche Geschlecht anspricht, sondern die Seele des Hörers und Lesers, wenn er «sie» dazu auffordert, auf seinen Rat zu achten, damit sie «wisse, wohin sie sich wende mit Lob und Ehre (sol wizzen war si kêre ir prîs und ir êre)» und «für wen sie dann ihre Liebe und ihre Würde bereithält (wem si dâ nâch sî bereit minne und ir werdekeit)». Im folgenden Bild, mit dem Wolfram die «Seelenkraft der rechten Frau» vergleicht («dem glîche ich rehten wîbes muot»), werden wir dann unüberhörbar auf den Gral und seine Trägerin gewiesen: «Ich halte das nicht für eine unbedeutende Sache, wenn man in schwaches Messing einen edlen Rubin mit all seinen geheimen Wundern fasst (ich enhân daz niht für lîhtiu dinc, swer in den kranken messinc verwurket edeln rubîn und al die âventiure sîn).» Den Gral kann nur eine Seele tragen, die den «kiusche sîn bewart»2. Wir werden später auf dieses Bild und diese Tugend noch ausführlich zu sprechen kommen.

Geht man davon aus, dass der Prolog-Sprecher den Hörer und Leser «zum Mitspieler machen» will, der seine Aufmerksamkeit und Fähigkeit dazu einbringt, «das Hin und Her der Erzählung mitzumachen oder sich darauf einzulassen»3, dann sollte man auch so konsequent sein und solche Lesart durchhalten: dass der Leser sich in eine seelisch «kiusche» Verfassung bringen soll, in der er die höheren Wahrheiten aufnehmen kann, die ihm im Folgenden angetragen werden. Nur diese Lesart erlaubt dann auch ohne Bruch den Übergang zum nächsten, dritten Teil, zum Schlussteil des Prologs.

Mit einem rätselhaften Vergleich leitet Wolfram zur Erzählung selbst über: «Nun lasst mein eines Wesen drei sein, und jeder der drei möge so viel Kunstfertigkeit aufbringen, dass sie meine aufwiegt: dazu bedürfte es wilder Erfindungen, wollten sie euch kundtun, was ich allein euch künden will. Sie hätten große Mühe. (nu lât mîn eines wesen drî, der ieslîcher sunder phlege daz mîner künste widerwege: dar zuo gehôrte wilder funt, op si iu gerne tæten kunt daz ich iu eine künden will. si heten arbeite vil.)» Diese Erzählung ist nicht nur ein Stück Literatur, so will Wolfram uns verdeutlichen, bloße Kunstfertigkeit und Phantasie brächten sie niemals zustande. Die Geschichte (mære), die ich euch erzähle, ist in einem viel tieferen Sinne wahr als herkömmliche Literatur. Damit schließt Wolfram an den Anfang an: Der Zweifel an der Wirklichkeit des Grals kann überwunden werden, wenn man sich auf die Geschichte ganz einlässt und die Voraussetzungen erfüllt, die in beiden Teilen des Prologs dargelegt werden. Ähnlich wie er später die Echtheit des Mittelsmannes «Meister Kyot» betont, so beteuert er schon im Prolog die Wahrhaftigkeit seiner Darstellung.

Bedenkt man zudem, wie gezielt und bewusst Wolfram mit Zahlengrößen umgeht, so darf man auch hier vermuten, dass er nicht zufällig von einer Dreiheit neben der Einheit spricht. Und zwar nicht nur im Sinne einer vagen Anspielung auf die Trinität, sondern konkret bezogen auf das gesamte Werk selbst, in dem drei «Aventüren» zu einem höheren Ganzen verbunden, in einem Wesen vereint sind. Der Prolog leitet das Epos nicht nur ein, er enthält auch dessen Aufbau schon im Keim. In dem Teil des Prologs, wo es um das hakenschlagende Erzählen geht, wo es um das «Verfolgen» der Geschichte, das Ringen um Erkenntnis und die Suche nach dem Sinn geht, herrscht ein dynamisch-kämpferischer Ton, vorwärtsstrebend und drängend. Dem entspricht die Stimmung der Parzival-Aventüren. Was in dem «weiblichen» Teil des Prologs anklingt, das Wesen der Schönheit und die Frage nach der inneren Wahrhaftigkeit des schönen Scheins, entfaltet sich später in der Welt der Gawan-Aventüren. Am Anfang und Ende aber, und das ist ein drittes Element, steht das Elster-Gleichnis als Bild für das Hell-Dunkel der menschlichen Existenz: für das Ertragen des Zweifels, für das Hineingestelltsein in die Polarität von Licht und Finsternis, Gut und Böse, für das Aufgerufensein des menschlichen Willens zur richtigen Entscheidung. Es wurde schon angesprochen, dass dieses Motiv eine zentrale Rolle in der Entwicklung Parzivals spielt. Repräsentiert wird dieser Aspekt der menschlichen Wesenheit durch eine dritte Figur neben Parzival und Gawan, deren Bedeutung leicht übersehen wird, weil sie nur einen verhältnismäßig geringen Zeitraum der Erzählung beansprucht: Parzivals Halbbruder Feirefiz. Er ist der Ältere. Er wird eine geraume Zeit vor Parzival geboren, schwarzweiß von Gestalt, und ohne dass wir mehr von ihm erfahren, tragen wir ihn während der ganzen Erzählung, gerade wegen dieser elsterähnlichen Absonderlichkeit, im Bewusstsein. Erst gegen Ende wird er erscheinen, als Dritter im Bunde, und es wird sich zeigen, dass er in einer einzigartigen existenziellen Entscheidungssituation für Parzival das Tor zur Wirklichkeit des Grals öffnet.

Wer das gesamte Werk überblickt, kann nicht umhin, über das Meisterwerk dieses Prologs zu staunen. Bei aller «hakenschlagenden» Sprunghaftigkeit offenbart er eine innere Geschlossenheit, die uns tatsächlich den Eindruck vermitteln kann, dass wir es nicht nur mit Literatur zu tun haben. Wolfram ruft Hörer und Leser dazu auf, sich als ganzen Menschen zu erfassen, als Drei in Eins, und sich als solcher mit allen seinen Wesensteilen in das Geschehen hineinzubegeben: sich als Erkenntnissuchender in stæte und triuwe an der Wahrheit zu orientieren, sich seelisch zu öffnen und in «kiuscher» Hingabe die Wirklichkeit des Grals in sich lebendig werden zu lassen – am Anfang aber steht der entschlossene Willensimpuls, sich auf den rechten Weg zu machen.

Gachmuret – Leben im Zweifel

Dem Höchsten dienen

Wie zur Bekräftigung seiner Behauptung, dass es sich hier nicht um eine bloße Phantasiegeschichte handle, macht uns Wolfram nach dem Prolog nicht gleich mit seinem Helden selbst bekannt, sondern mit der Vorgeschichte und den Umständen seiner Geburt. Die beiden Gachmuret-Aventüren gehören zu den besonderen Eigenheiten der Wolframschen Gralserzählung. Für die interessierten Leser, insbesondere auch die jugendlichen, die zunächst mit einer gewissen gespannten Erwartung an das Werk herangehen, kann das durchaus enttäuschend sein. Denn auf den ersten Blick erscheint diese ausgedehnte Vorgeschichte mit ihren endlosen Detailbeschreibungen von Verwandtschaftsbeziehungen und Kleiderszenen langatmig und unnötig. Eine solche Kritik hieße aber, die Absicht des Autors zu verkennen. Hätte Wolfram lediglich einen Eindruck vom Ambiente und von der Herkunft Parzivals vermitteln wollen, hätte er es einfacher haben können und hätte sich, zumal für seine Zeitgenossen, sicher kürzer gefasst.

Uns heutigen Lesern mag diese lange Vorgeschichte unter anderem dazu dienen, einige einleitende Betrachtungen über die Zeitumstände und Wolframs Darstellungsweise anzustellen. Dass die beiden Aventüren mit einer solchen Gründlichkeit und die väterliche Biographie mit solch liebevoller Zuwendung geschildert werden, hat indessen gewichtigere Gründe. Zum einen wird erst vor diesem Hintergrund und im Kontrast mit Gachmurets Leben und Sterben die Besonderheit und Einzigartigkeit der Biographie Parzivals deutlich. Zum anderen werden wir an die beiden geistesgeschichtlichen Strömungen herangeführt, die für die Menschheitsentwicklung von unschätzbarer Bedeutung sind und als deren Repräsentanten die Eltern Parzivals gelten können: die Artusströmung und die Gralsströmung. Schließlich ist die frühe Geburt von Parzivals Halbbruder Feirefiz – im Zusammenhang der ersten Aventüre – neben der Geburt Parzivals selbst – im Zusammenhang der zweiten Aventüre – sowohl für den inneren Aufbau des Epos wie auch für die Entwicklung des Helden von grundlegender Bedeutung, was ja schon im Prolog anklingt. Und letztlich: nehmen wir einmal an, dass eine Individualität in einen menschlichen und geschichtlichen Zusammenhang nicht zufällig eintritt, sondern schon vor ihrer Geburt an der Gestaltung der irdischen Schicksalszusammenhänge Anteil nimmt – die Wirklichkeit des Vorgeburtlichen ist eines der zentralen Grundmotive der Gralslegende –, dann können wir uns vorstellen, dass die Individualität Parzivals nicht zufällig mit einem solchermaßen ungewöhnlichen Schicksalszusammenhang konfrontiert wird, wie er sich in dem frühen Tod des Vaters und der besonderen Beziehung zur Mutter ausdrückt, dass diese Konstellation vielmehr geeignet ist, die besonderen Entwicklungsziele dieser Individualität zu ermöglichen.

Gachmuret wird uns als eine ebenso hervorragende wie widersprüchliche Persönlichkeit beschrieben, als «der kiusche und der vreche» («der Reine und der Kühne») wird er uns schon zu Anfang vorgestellt. Als sein Vater, König im Lande Anschaue (Anschouwe), stirbt und der ältere Bruder nach französischem Recht die Herrschaft antritt, lehnt Gachmuret das brüderliche Angebot ab, sich an der Macht zu beteiligen. Er will Ritter sein, nicht Herrscher, er will seine Rüstung erst noch ausfüllen. «Nichts als meine Rüstung besitze ich. Hätte ich darin mehr getan, das weithin Lob mir brächte!» Er will sich sein Ansehen selbst verdienen, er will keine Ehre aufgrund seines Standes. Zwar strebt er ganz hoch hinaus, aber nicht als Herrscher, sondern als Dienender. Die ritterliche Bereitschaft zu dienen, «diemuot» zu üben, prägt seinen Charakter. Dabei will er keinem, der eine Krone trägt, keinem König oder Kaiser dienen, «es sei denn dem, der mit höchster Hand auf Erden über alle Länder regiere (wan eines der die hœhsten hant trüege ûf erde übr elliu lant)».

In der Regel wird das mit «der mächtigste Herrscher auf der Erde» übersetzt. Dabei geht aber nicht nur die höhere Sinnebene verloren, die weitere Charakterisierung Gachmurets erscheint uns in ihrer Widersprüchlichkeit auch völlig unverständlich, geradezu unsinnig. Wolfram gibt sich nämlich alle Mühe, das bescheidene, genügsame und maßvolle Wesen Gachmurets hervorzukehren, der von sich kein Aufhebens macht und jede überschwängliche Verehrung seiner Person geradezu flieht. Zugleich erfahren wir aber, dass er äußerst prächtig ausgerüstet reist, wo immer er erscheint, prunkvoll und mit großem Stolz auftritt. Als ihn sein unstillbares Verlangen nach «dem Höchsten» schließlich ins Grab wirft, hat er sogar ein solches Ansehen erlangt, dass man ihn fast wie einen Gott verehrt. Sinn ergibt dieser merkwürdige Widerspruch zwischen Demut und Übermut nur, wenn wir ihn als Ausdruck eines zwiespältigen Charakters sehen. Auf den ersten Blick scheint Gachmuret mit sich im Reinen zu sein, die genauere Betrachtung zeigt aber bald, dass er in einem ständigen Zwiespalt zwischen dem Genuss der irdischen Existenz und der Suche nach einer göttlichen Bestimmung lebt – ein in seiner Zeit durchaus verbreitetes Lebensgefühl. Einerseits erwirbt er sich glänzende Fähigkeiten und Tugenden, die ihn an die Spitze der höfischen Gesellschaft führen, andererseits lebt er in dem steten Bewusstsein von seiner Unzulänglichkeit gegenüber dem göttlich-geistigen Grund der Dinge, woraus seine Bescheidenheit resultiert. In dem Streben nach dem «Höchsten» offenbart sich daher die rastlose Suche nach dem tieferen Sinn des Lebens und nach dem geistigen Grund, in dem die Seele Halt findet. Deshalb wählt er sich als Wappen einen Anker.

So gesehen ist auch Gachmuret ein Gralssucher. In seinem Umherirren klingt auch die spätere verzweifelte Suche Parzivals an, nur weiß Gachmuret überhaupt nicht, was er sucht. Sein Streben bleibt auf jener emotional-gemüthaften Ebene, auf der Parzival später den Weg zum Artushof beschreitet. Auffallend allerdings ist die Ähnlichkeit der schicksalhaften Verwechslung: Während Parzival als Kind ganz naiv die Ritter mit Göttern verwechselt und so zum Artushof aufbricht, den er dann später aber hinter sich lässt, endet Gachmurets Streben in der Heeresfolge des Baruchs von Bagdad, von dem er gehört hat, dass er die «höchste Hand» auf Erden sei. So erschöpft sich Gachmurets Gralssuche letztlich auch in der Knüpfung verwandtschaftlicher Beziehungen, vor allem der Artus-Anschaue-Sippe mit der Gralssippe, als er Herzeloyde heiratet. Eine individuelle Beziehung zum Gral findet er dabei nicht – deshalb reißt er sich letztlich aus der familiären Bindung wieder los und sucht geradezu den Tod. Gachmuret wird so zu einer tragischen Gestalt, weil er in seiner Vaterschaft zwar einer höheren Macht zu Diensten ist, der «höchsten Hand», diese sich ihm aber im Leben nicht offenbart.

Wie in diesem Vergleich zwischen Vater und Sohn wird im Folgenden deutlich werden, dass die Gachmuret-Aventüren nicht nur in familiärer Hinsicht die Biographie Parzivals vorbereiten. Sie zeigen uns auch die bewusstseinsgeschichtlichen Gegebenheiten und die Beschränkungen auf, aus denen Parzival später herauswächst. Vergleiche dieser Art bieten sich immer wieder an und sind von Wolfram beabsichtigt. Das Epos enthält eine Fülle von Szenen, die nach dem gleichen Muster aufgebaut sind. So weist die Begegnung Gachmurets mit Belakane ein ähnliches Grundmuster auf wie seine spätere Begegnung mit Herzeloyde oder die Begegnung Parzivals mit Kondwiramur: Der Held betritt einen Schauplatz, auf dem um eine Dame gekämpft wird, greift in die Kämpfe ein und gewinnt schließlich nicht nur die Hand der Umkämpften, sondern auch die herrenlosen Erblande, die an den Sieg geknüpft sind. Das erscheint zunächst alles ziemlich ähnlich, es wird sich aber zeigen, wie gerade in den Unterschieden das Wesentliche zu finden ist und im Vergleich das Charakteristische einer Aventüre, eines Motivs oder einer Persönlichkeit schärfer hervortreten kann. Auch die beiden Gachmuret-Aventüren selbst fordern ein solches kontrastierendes Vorgehen durch ihre auffallende Parallelität geradezu heraus.

Belakane – die Magie der Sinne

Nach vielen siegreichen Kämpfen im Dienst des Baruchs von Bagdad legt Gachmuret an der Küste des Landes Zazamank an, dessen Bewohner «schwarz wie die Nacht» sind. Als er in das belagerte Patelamunt einreitet, in einem prunkvollen Zug mit riesigem Gefolge und mit triumphaler Geste sein Heldentum zur Schau stellend, da «sah er viele dunkelhäutige Damen, die waren schwarz wie die Raben anzuschaun». Auch wenn er zunächst «wenig Lust» verspürt, «bei den Mohren zu bleiben», strebt er dann doch die Begegnung mit dem Fremden an, das sein Interesse geweckt hat. Ein wesentlicher Charakterzug Gachmurets ist eben seine Weltoffenheit, die sich auch hier über die anfängliche Befremdung hinwegsetzt. Dem entspricht auch die Art und Weise, wie im Folgenden die Kämpfe um die Königin dargestellt werden: Nicht die Hautfarbe bestimmt die Front zwischen den streitenden Parteien, auf beiden Seiten kämpfen «Weiße» und «Schwarze». Von außen bedrängen Weiße und Schwarze die Stadt von zwei Seiten, von innen verteidigen Weiße und Schwarze die Stadt gemeinsam. Wie Gachmurets Teilnahme an der Gefolgschaft des Baruchs schon erkennen lässt, ist Wolframs Weltsicht nicht von der Ablehnung fremder Kulturen, Religionen oder auch Hautfarben bestimmt.

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