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Robert Barry

Die Musik der Zukunft

Aus dem Englischen von

Robert Zwarg

 

  

 

 

 

 

 

FUEGO

- Über dieses Buch -

Für Charles Fourier gab es keine Utopie ohne Musik. Der französische Dramatiker und Saint-Simonist Charles Duveyrier träumte von einer Stadt als Klangkörper, einem im Zentrum gelegenen Soundtempel. Hugo Gernsback ersann eine telematische Oper. Bertold Brecht wollte das Publikum singen lassen, die Futuristen eine neue Geräuschkunst erfinden und John Cage den Klang befreien. Doch was ist heute die Musik der Zukunft?

Die Streamingdienste sorgen dafür, dass der Einzelne immer von Musik umgeben ist, und versuchen, sich auf technischem Wege an das Individuum zu assimilieren. Begonnen hat diese Art des Generierens von Playlisten 1994 mit einem Programm namens »Ringo«: die erste Software, um Musik dem Geschmack des Hörers anzupassen, zu filtern, zu steuern. Das funktionierte zunächst simpel mit Bewertungen, die der Nutzer abgibt. Der Weg bis zur heutigen Nutzung von Spotify, Deezer, Tidal & Co war aber noch weit: Heute sollen Algorithmen sich der körperlichen Aktivität, der Psyche des Hörers anpassen.

 

 

»Es geht Robert Barry gar nicht so sehr um die Musik selbst, sondern um das Denken über Musik und wie dieses Denken Musik verändern kann. Er sucht nach musikalischen Utopien, durch die Musik ein zukunftsweisendes Potential entfalten kann, das offenbar verloren gegangen ist. Und um diese futuristischen Qualitäten wiederzufinden, lohnt es sich, in die Vergangenheit zu blicken… Die Musik der Zukunft ist äußerst lesenswert, gut recherchiert und unterhaltsam geschrieben.« (Raphael Smarzoch, Deutschlandfunk)

 

»Die Geschichte wiederholt sich nicht, sie wird neu geschrieben. Robert Barry zeigt sich als stiller Realist, der die utopischen Visionen der Vergangenheit zusammenfasst und damit auch indirekt die Frage stellt, wie und vor allem wieso dieser ehemalige Drang nach Veränderung, dieses Potenzial der imaginierten Zukunft heute abhandengekommen ist.« (Christoph Benkeser, fixpoetry)

 

 

 

 

Für Thanh Mai

Präludium: 2016

Es ist der 3. Mai 2016, ungefähr Viertel vor elf, und ich bin in einer Bar des Studentenzentrums Zagreb. Das Gebäude stammt aus den Dreißigerjahren und wurde ursprünglich für eine internationale Handelsmesse gebaut. Seit der Gründung des Zentrums 1957 ist der Ort ein kul­tureller Knotenpunkt der Universität. Vor achtzig Jah­ren waren das Atrium, in dem ich stehe, sowie das sich anschließende &TD Theater, Teil des italienischen Pavillons der Messe. Entworfen wurde das aus brutalistischen Betonblöcken bestehende modernistische Gebäude von dem florentinischen Architekten Dante Petroni. Heute fin­det hier eine andere Art Festival statt: der Showroom of Contemporary Sound (Izlog Suvremenogs Zvuka), ein einwöchiges Festival mit Konzerten, Kunst­installationen und Vorträgen, das moderne, zeitgenössische Komponis­ten und Improvisationsmusiker aus der ganzen Welt zusammenbringt.

In den kommenden Tagen sehe und höre ich Künstler, die kompromisslos aus jeder erdenklichen Richtung an die Grenzen der Musik gehen. Glühbirnen werden in einer flackernden Choreographie arrangiert, zwei surrende, zischende Taser verwandeln sich in ein schief tanzendes Winkeralphabet und wie in einer Collage werden die Alltagsgeräusche der Stadt Teil einer treibenden Klang­landschaft, verzaubert durch die verwandelnden Kräfte digi­taler Bearbeitung. In einer Pause zwischen zwei Konzerten spreche mit einem hiesigen Programmierer und Doktoranden namens Antonio Pošćić. Inspiriert von dem Konzert, das gerade zu Ende gegangen war, vertieften wir uns in eine Unterhaltung über das Schreiben, Musik und Codes. Er ist hier, um das Festival für einen Free-Jazz-Blog zu besprechen; ich bin hier, weil ich am Nachmittag einen einstündigen, eher ausschweifenden und nur zum Teil kohärenten Vortrag über »Die Musik der Zukunft« gehalten habe.

In meinem Vortrag an der Akademie der Musik am anderen Ende der Stadt hatte ich versucht, eine Linie von einem Artikel aus dem Jahr 1852, worin Robert Schumann, Hector Berlioz, Franz Liszt und Richard Wagner als »literarische Musiker« beschrieben werden – also Musiker, die sowohl kritische Texte über Musik geschrieben als auch Musik komponiert haben – hin zu zeitgenössischen Musikerinnen wie Holly Herndon und Jennifer Walshe zu ziehen, die sich mit dem transformativen Potenzial des Internets auseinandersetzen, nicht nur in ihrer Musik, sondern auch in ihren Aussagen über diese Musik. Ich war auf der Suche nach Wegmarken eines gleichsam spekulativ erdachten Kontinuums, in dem das Nachdenken über Musik in und durch die wichtigsten Medien der jeweiligen Zeit (angefangen vom explodierenden Zeitungswesen bis hin zum Internet) zu einem Werkzeug wurde, um die musikalische Praxis als solche zu verändern und den Weg in die Zukunft der Kunstform freizumachen.

Allerdings hatte ich die vielleicht unüberlegte Entscheidung getroffen, den Vortrag frei zu halten, ohne Vorlage oder auch nur ein paar Notizen. Außerdem war ich etwas nervös, in einem akademischen Kontext zu sprechen, fernab meiner gewohnten Umgebung von popkulturellen Webseiten und Hochglanzmagazinen. Am Ende sprang ich in meinem Vortrag chaotisch von einer Idee zur nächsten, erging mich in langen Abschweifungen und spulte dann wieder zurück zu Aspekten, die ich vorher vergessen hatte. Danach erzählten mir die Leute, es sei »interessant« gewesen, wenn auch nicht immer vollkommen verständlich.

Auf die Diskussion im Anschluss war ich noch weniger vorbereitet. Nicht so sehr, was die Fragen aus dem Publikum betraf. Das war okay. Die Fragen waren schlau, interessant, herausfordernd, engagiert und überschaubar. Was mich aus der Fassung brachte, waren die – in der Rückschau vielleicht unvermeidlichen – Fragen jener Leute, denen es weniger um den Vortrag als solchen ging, sondern um den Titel, den sie für bare Münze genommen hatten.

Bald befand ich mich mitten in einem Interview mit einer kroatischen Reporterin, die mir ein Mikrofon vor das Gesicht hielt und entwaffnend höflich mit einem Lächeln fragte: »Was wird denn die Musik der Zukunft sein?«

»Ich bin kein Wahrsager«, verteidigte ich mich. »Was mich eigentlich interessiert hat, ist die Art und Weise, wie Komponisten der Vergangenheit mit der Idee der Zukunft Veränderungen in unserem Verständnis von Musik bewirkt haben, die wir bis heute spüren.« Und schon sehe ich einen gewissen ratlosen Blick bei meiner Gesprächspartnerin, ein Blick, den ich als Journalist sehr gut kenne: Wie soll ich daraus eine verdammte Überschrift machen?

Doch in dem Gespräch mit Antonio am Abend nach dem Vortrag, voller Selbstbewusstsein durch die zweite (oder dritte?) Flasche Ožujsko, fällt mir plötzlich ein, wie ich den Gedanken, den ich in meinem Vortrag vermitteln wollte, besser ausdrücken kann. Fast schon unhöflich unterbreche ich meinen neuen Freund mitten im Satz und beginne, ohne Punkt und Komma zu reden.

»Ich glaube, worum es mir vorhin ging«, setze ich an, »ist eine Idee von Musik, die ausreichend selbstbewusst ist, um zugleich Kritik zu sein – und umgekehrt, eine Art von Kritik, die zumindest darauf hoffen kann, Eigenschaften der Musik anzunehmen.«

Antonio runzelt ein wenig die Stirn. Ich spreche einfach weiter. »Das Wichtige an Komponisten wie Wagner oder Liszt ist nicht nur ihre Musik, sondern all die Geschichten drumherum. Diese Dinge sind kein Hindernis auf dem Weg zu einem richtigen Verständnis des angeblich echten oder authentischen Wagners, sondern sie führen selbst in ganz unterschiedliche, interessante Richtungen. Wir brauchen Leute – egal ob Kritiker, Komponisten oder andere Künstler –, um diese Geschichten und Märchen zu erfinden, um Fehler zu machen und Dinge falsch zu verstehen. Die Leute sollten ihre Werke gegenseitig missbrauchen, sie mit Dingen in Verbindung bringen, in deren Nähe sie niemals kommen sollten, genauso wie wir von Künstlern erwarten, dass sie die Technologie auf eine Weise nutzen, für die sie nicht vorgesehen war, gegen die Intention ihres Erfinders; denn genau dort kommen neue Ideen und neue Wege her, aus Fehlern und Missbrauch und allgemeinen Missverständnissen.«

Am nächsten Tag schickt mir Antonio ein Zitat aus Tom Arthurs Doktorarbeit The Secret Gardeners: An Ethnography of Improvised Music in Berlin (2012-13): »Abgesehen von ein paar engagierten Blogs und Spezialpublikationen«, schreibt Arthur, »gab es nur sehr wenig Musikkritik und viele Künstler beklagten sich über das ›miserable Niveau des Journalismus‹ (...), kaum ein Musiker holte sich seinen Input aus der Kritik, wenige verfolgten die Berichterstattung und die meisten nahmen die Meinung ihrer Kollegen ernster als die Artikel.«

»Na ja«, antworte ich leicht ironisch, »nicht jeder Kritiker kann auch ein großer Künstler sein … andererseits, vielleicht hatten die Musiker auch unrecht. Sie mochten die Journalisten deswegen nicht, weil sie ihre Arbeiten nicht verstanden. Aber vielleicht ist am Ende Fiktion wichtiger als Wirklichkeit.«

Es gibt eine Kurzgeschichte von Ray Bradbury mit dem Titel »Der Toynbee-Konvektor«. Erstmals veröffentlicht im Playboy im Januar 1984, handelt die Geschichte von einem eifrigen, jungen Reporter, der als einziger einen 130jährigen Mann interviewen darf, der als »der Zeitreisende« bekannt ist. Vor hundert Jahren ist dieser Mann offenbar aus der Zukunft zurückgekehrt – und zwar aus der Gegenwart, in der die Geschichte spielt. Er habe die Zukunft gesehen, behauptete er, und sie sei wunderbar. Als Beweis für das goldene Morgen, in das er mit seiner selbstgebauten Zeitmaschine gereist war, brachte er sogar ein paar Proben mit: »Tonbänder und Schallplatten, Filme und Tonkassetten«.

Von seinen Beweisen inspiriert, schufen die Menschen dieser Erde eben jene Zukunft, die er versprochen hatte. Es wurden die »Städte umgebaut, die Dörfer erneuert, Seen und Flüsse gesäubert, die Luft gereinigt, die Delphine gerettet, die Wale vermehrt, die Kriege beendet, Sonnenstationen im All verteilt, um die Erde zu erhellen, den Mond kolonisiert und uns weiter auf den Mars begeben, dann nach Alpha Centauri.«

An dem Tag des Besuchs bei dem alten Mann jährt sich dessen verheißungsvolle Reise in die Zukunft zum hundertsten Mal. Während sich die Menge draußen versammelt und darauf wartet, dass am Himmel das jüngere Selbst des Zeitreisenden erscheint, sagt der alte Mann endlich die Wahrheit: »Ich habe geschwindelt.«

»Ja«, sagt Antonio, als ich die Erzählung von Bradbury erwähne, »ich verstehe, was du meinst. Es ist wichtig, den Glauben nicht zu verlieren und weiter über diese Ideen zu sprechen. Sonst geraten wir in eine negative Rückkopplungsschleife, eine Art selbsterfüllende Prophezeiung. Mit anderen Worten, eine utopische Vision der Musikkritik muss existieren, bevor sie anfangen kann, die Musik zu verändern.«

Ich habe mich oft gefragt, wie sich Bradbury die angeblich aus der Zukunft stammenden »Tonbänder und Schallplatten« seines Zeitreisenden eigentlich vorgestellt hat. Womit wären sie bespielt gewesen? Welche Materialien aus seiner Gegenwart oder Vergangenheit hätte er nutzen können, um sie irgendwie wie ein Produkt der Zukunft klingen zu lassen? Bilder oder sogar Filme zu fälschen, das konnte er sich sicherlich vorstellen. Bradbury kannte Hollywood. Als Teenager besuchte er Mitte der 1930er Jahre die Los Angeles High School; in der Hoffnung, einen Star zu treffen, fuhr er auf Rollschuhen in der Gegend um Melrose Place, Figueroa Street oder North La Brea Avenue herum, in der Nähe der Filmstudios.

Als Bradbury The Toynbee Convector schrieb, war er immerhin noch zwanzig Jahre von seinem eigenen Stern auf dem Hollywood Boulevard entfernt. Aber mehr als ein halbes Dutzend seiner Erzählungen waren schon ins Kino gekommen, noch viel mehr ins Fernsehen; für John Huston adaptierte Bradbury sogar Moby Dick. Er wusste genug über Spezialeffekte, genug darüber, dass das Kino aus nichts als Lügen bestand, 24 Bilder pro Sekunde. Doch wie schwindelt eine LP?

Als Bradbury Anfang der 1980er an seinem Schreibtisch in den Cheviot Hills saß, vielleicht mit dem Gefühl seines Zeitreisenden, dass überall »professionelle Verzweiflung, intellektuelle Langeweile« und »politischer Zynismus herrschten«, was hat er da gehört, das ihn denken ließ, jemand könne die Musik der Zukunft fälschen?

Obwohl ich mich während des Interviews in Zagreb dagegen gewehrt hatte: Die Musik hat in ihrer Geschichte mehr als einmal in die Kristallkugel geschaut. In seinem Buch Noise: The Political Economy of Music konstatiert Jacques Attali, dass die Musik seit frühesten Zeiten eng mit Formen des Rituals verbunden war, in denen sie gleichsam als Botin und Versprechen der Möglichkeit einer zukünftigen, neuen Gesellschaft fungierte. Für den Anthropologen Claude Lévi-Strauss ist die Musik selbst eine Form des Mythos, wenngleich anders verschlüsselt als die Sprache. In der westlich-christlichen Tradition konzentriert sich die vorherrschende Form der Mythologisierung vornehmlich auf die Vergangenheit. Der Mythos erzählt vom Ursprung der Dinge und legitimiert die anhaltende Macht der Priesterschaft und des Adels.

In den italienischen Opern des 17. und 18. Jahrhunderts geschieht diese Form der mythischen Legitimierung mit und durch Musik: Im Auftrag des Souveräns komponierte Werke kleiden den Monarchen zwangsläufig in traditionelle Gewänder und stellen ihn auf der Bühne als eine Art halbgöttliches Wesen oder klassischen Held dar. Während des Karnevals jedoch konnte die gesellschaftliche Ordnung umgekehrt werden. Und die Musik inszeniert diese Aufhebung der üblichen Hierarchien. Daher dramatisieren Werke wie Joseph Haydn Il mondo della luna oder Mozarts Le nozze di Figaro, deren Stoff aus der karnevalesken Tradition der Commedia dell’Arte stammt, direkt die Auflösung gesellschaftlicher Normen. Diener triumphieren über ihre Herren, die Jugend über das Alter.

Die Mitglieder der Florentiner Camerata, die Ende des 16. Jahrhunderts die ersten Opern komponierten, gehörten auch zu den ersten Autoren musikalischer Manifeste, die sich explizit auf ihre Modernität beriefen. Dennoch gelang es Giulio Caccinis Le nuove musiche und Vincenzo Galileis Dialogo della musica antica et della moderne irgendwie, ihre Innovationen als Rekonstruktion antiker Praktiken darzustellen. Beispiele, auf die sich ihre »Rekonstruktionen« hätten berufen können, gab es nicht. Keines hatte die Jahrhunderte überlebt. In Abwesenheit eines antiken Vorbilds erfand die Camerata ihre eigene Geschichte und schuf unter der Hand die ersten modernen Kunstwerke, unbelastet von historischen Vorläufern. Sie erfanden die Mythen zu ihrer eigenen Musik.

In den sogenannten Intermezzi, die die Camerata für die Heirat von Ferdinando I. de’ Medici und Christine von Lothringen schrieben und aufführten, besteht der Mythos aus einer Reihe dramatischer Szenen, die von der »Harmonie der Sphären«, »Apollos Kampf gegen Python«, dem »Reich der Geister«, der »Rettung des Arion« und so weiter handelten. Mit den sechs kurzen, pantomimischen Stücken mit Orchesterbegleitung, elaborierten Bühneneffekten und Bühnenmaschinerie, Tanzeinlagen, einem Chor und Soloarien, ebneten Caccini, Galilei und ihre Kollegen den Weg für die ersten Opern ein Jahrzehnt später; sie inszenierten den Mythos als Musik und die Musik als Mythos. Möglicherweise hat Vicenzos Sohn, Galileo Galilei – der vielleicht mehr als jeder andere für unser Verständnis des Kosmos verantwortlich ist – gelernt, das Universum als organische Totalität zu begreifen, während er bei diesen Intermezzi als junger Mann die Laute spielte. Das erste Mal in die Galaxie schaute er aus dem Orchestergraben.

Zur Zeit der Französischen Revolution vollzog sich eine merkwürdige Verkehrung. Obwohl die Architekten der Guillotine keine Gelegenheit ausließen, sich rhetorisch in die Gewänder des alten Griechenlands oder Roms zu kleiden, bezog sich der Kern ihres Appells an das französische Volk nicht auf die Vergangenheit, sondern auf die Zukunft. So erklärte Robespierre am Vorabend des terreur 1793: »Die Zeit ist gekommen, jeden zu seiner wahren Bestimmung aufzurufen. Der Fortschritt der menschlichen Vernunft hat diese große Revolution vorbereitet, und gerade Ihr seid es, denen die besondere Pflicht auferlegt ist, sie zu beschleunigen.« In den Worten des Historikers Reinhart Koselleck: »Für Robespierre ist die Beschleunigung der Zeit eine Aufgabe der Menschen, das Zeitalter der Freiheit und des Glücks, die goldene Zukunft herbeizuführen.«

Kaum ein Zeitgenosse von Robespierres Frankreich hat das Bild der goldenen Zukunft in so lebendigen Farben gemalt wie Charles Fourier. Seine Schriften, die abrupt vom erhellend Kritischen zum vollkommen Surrealen wechseln, bieten einen direkten Zugang zum mythischen Unbewussten Europas an der Schwelle zur Moderne.

Fourier griff Robespierres Versprechen der Selbstbestimmung begeistert auf. Während der 1790er Jahre schrieb er Hunderte Briefe an verschiedene Abteilungen der neuen Regierung und formulierte Vorschläge zur Verbesserung dieser oder jener Einrichtung. Da seine Bemühungen jedoch regelmäßig ins Leere liefen, gab er schließlich auf, die Welt nach seinem Bilde zu formen und beschloss, selbst eine Welt zu erfinden. Das Phalanstère, das Fourier in einer Reihe von utopischen Texten und Traktaten zwischen 1808 und seinem Tod 1837 entworfen hatte, war ein Eden der Zukunft, ein Paradies auf Erden: Einerseits war es weit entfernt, handelte es sich doch für Fourier um die achte von ganzen 32 Phasen einer 8000 Jahre dauernden Zukunftsgeschichte; andererseits war es längst überfällig, weil verwirrenderweise immer zum Greifen nah. Fouriers Texte lesen sich wie eine Philosophie aus einer anderen Zeit, so als wäre man über das politische Traktat einer erfundenen Figur aus einer Fantasiewelt gestolpert. Nachdem man dem scheinbar strengen wissenschaftlichen Diskurs eine Weile gefolgt ist, wird man plötzlich – wie in einem guten
Science-Fiction-Roman – einen Abhang hinabgestoßen und befindet sich auf einem unbekannten Planeten, in Gegenwart von Anti-Krokodilen und einem Limonadenmeer, tief in einer Diskussion über das erotische Leben des Sonnensystems. Erst allmählich wird allerdings klar, dass dasjenige, was das ganze Projekt strukturiert, die Musik ist.

Für Fourier war das Entscheidende, sich niemals auf die »edle Natur« des Menschen zu verlassen, sondern die menschlichen Leidenschaften in all ihrer singulären Unordnung zu akzeptieren. In Fouriers Phalanstère gab es Platz für jede Perversion, eine passende Aufgabe für jeden Geschmack, sodass jeder Bürger Freude an der Arbeit haben konnte, was wiederum dem Wohl der Gemeinschaft zu Gute kommen sollte. Das erforderte einen phänomenalen Organisationsaufwand. Doch Fourier wusste, dass eine solche Koordination möglich war, denn er hatte sie Nacht für Nacht im Orchestergraben der Oper gesehen. Die Leidenschaften, so seine Überzeugung, konnten harmonisiert werden, ganz wie die Töne einer Tonleiter.

Fourier liebte die Oper und besuchte sie, so oft er konn­te. Angesichts der häufigen Lobreden auf die »fahrenden Ritter« und amouröse Intrigen könnte man meinen, seine Utopie stamme direkt aus einem Libretto, voll von Trios, Chören und Solisten, in feinen Gewändern bei der Arbeit, perfekt choreographiert wie ein niemals endendes Corps de ballet. Anhand des disziplinierten Gleichklangs von Tänzern und Orchestermusikern könne ein Kind lernen, so Fourier, »seine Bewegungen einer maßvollen Einheit zu unterwerfen«. Daher handelte es sich bei der Oper in Fouriers neuer Welt um mehr als Unterhaltung, es ging um eine »materielle Schule«, eine Institution, in der alle Anlagen gleichermaßen durch aktive Teilnahme an der »materialen Kultur« der Gemeinschaft entwickelt würden. Für den Alltag des Phalanstère, behauptete Fourier, sei die Oper so wichtig wie »ihre Pflüge und ihre Vieh­herden.«

Doch Fouriers Beharren auf der musikalischen Dimension der Utopie blieb unbeachtet. In den 1830er Jahren zeigten kleine Kinder auf der Straße mit dem Finger auf ihn und riefen »Voila! Le fou!« Nachdem er verkündet hatte, dass das Schmelzen der Polkappen eine reinigende Flüssigkeit in die Ozeane fließen lassen und das Wasser in »eine Art Limonade« verwandeln würde, stand es schlecht um seinen Ruf. Zwar hatte er sowohl in Frankreich als auch im Ausland einige Anhänger. In den Jahren nach seinem Tod versuchte man in Amerika mehrere Fourier’sche Phalanstères zu gründen – in Utopia, Ohio; La Reunion, Texas; Red Bank, New Jersey; und Brook Farm in Massachusetts. Aber keine existierte länger als ein paar Jahre. Und jede von ihnen vernachlässigte, was Fourier gerade hervorgehoben hatte: das musikalische Fundament der neuen Welt.

Um sich von den eher exzentrischen Seiten ihres Meis­ters zu distanzieren, betonten die amerikanischen Fourieristen seine Kapitalismuskritik und seine Idee sozialer Gleichheit statt das Limonadenmeer, die Musikspiele und die komplexe Unterteilung seiner Oktave der Leidenschaft. Erst viel später erkannten die Surrealisten, André Breton und Georges Bataille, dass diese beiden Seiten von Fourier untrennbar waren. »Wenn es möglich ist, zu bereuen, dass ihr keine positiveren Ergebnisse beschert waren«, schrieb Bataille über die utopische Hoffnung, die von Fourier ausgeht, »wie kann man dann nicht erkennen, dass einzig die Poesie sie initiieren könnte?«

Fouriers Poesie mag auf taube Ohren gestoßen sein, und doch finden sich hier und da Spuren, die wie ein Rinn­sal durch die Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus führen. In Berlioz’ futuristisch-fantastischer Musikstadt Euphonia wird jede Minute des Tages mit der Vorbereitung des jährlichen Opernfestivals verbracht. Und die sehr realen Festspiele, die Wagner in Bayreuth ins Leben rief, verwandeln die kleine fränkische Stadt jedes Jahr in einen säkularen, der Musik gewidmeten Tempel. Etwas von Fouriers Zukunftsbegeisterung ist auch spürbar, wenn sich eine größere Zahl an Menschen an einem Ort trifft – nicht ganz Stadt, nicht ganz Land –, um die üblichen Regeln, die den gesellschaftlichen Umgang strukturieren, außer Kraft zu setzen und sich stattdessen der Musik zu widmen. Egal, ob bewusst oder nicht, all diese Momente atmen ein Stück vom Geist des Phalanstère – selbst wenn es statt einem Limonadenmeer einen Fluss aus Schlamm und Bier gibt. Mit diesen Gedanken im Hinterkopf war ich ein bisschen besser vorbereitet, als ich in Zagreb wieder interviewt und nach der Musik der Zukunft gefragt wurde.

»Festivals wie dieses«, sagte ich nun, »könnten der Beginn einer Musik der Zukunft sein. Festivals, die weder von den kommerziellen Interessen von Plattenfirmen und Talentagenturen regiert werden, noch von den Gebietsstreitigkeiten der Akademie, eröffnen einen Raum für Musiker, in einer Art freier Assoziation zusammenzukommen, ihre Arbeit und Ideen zu präsentieren und quer durch die Disziplinen überraschende Verbindungen einzugehen. In gewisser Weise geht es weniger um die einzelnen Aufführungen, sondern um die Gespräche unter den Künstlern zwischen den Konzerten, um die Fiktionen und Risse, die sich aus der Differenz der Genres und Zugänge ergeben. Ereignisse wie dieses sind vielleicht das Vorbild für eine Art von Gemeinschaft, ein Versprechen, dass Gesellschaft möglich ist.«

Anders als Ray Bradburys Zeitreisender liefere ich auf den folgenden Seiten keine Anleitung, wie sich die Musik im nächsten Jahrhundert entwickeln und verändern soll. Was ich tun möchte, ist vielmehr, eine Geschichte des Scheiterns vorzustellen – ein Scheitern bei dem unmöglichen Versuch einer Musik der Zukunft, dem Versuch, die ganze Welt in einen Vers oder ein Lied zu packen. Und dennoch hat die Abfolge dieser Niederlagen ihre Spuren in der Art und Weise hinterlassen, wie wir über Musik nachdenken und sie erfahren. Sie hat Möglichkeitsräume eröffnet, durch Reflexion, Dialog, neue Werke und neue Ideen. Und vielleicht liegt darin eine Herausforderung verborgen; in den Worten Samuel Becketts: »Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.«

Erster Akt: 1913

1.1 Ballast

Am 1. November 2010 war ich bei einer Diskussionsveranstaltung mit Terry Riley im Café Oto in London. Während des langen Gesprächs auf der Bühne beantwortete der Komponist von In C und A Rainbow in Curved Air Fragen zu seinen frühen Arbeiten mit Magnetbändern, seinen Freundschaften zu Musikern wie La Monte Young und Pandit Pran Nath – und nach seiner Lieblingsfarbe.

Gegen Ende der Veranstaltung nahm ich endlich allen Mut zusammen und stellte die Frage, die mich schon die ganze Zeit beschäftigte. »Man hat sie einen ›visionären‹ Komponisten genannt«, begann ich mit vielen »Hms« und »Ähs«. »Also wie stellen Sie sich die Musik der Zukunft vor?«

Meine Frage rief eine Menge Lacher hervor, die sowohl von der Bühne als auch aus dem Publikum kamen und die mir spöttisch erschienen. »Sie setzen mir die Pistole auf die Brust!«, erwiderte Riley lachend. Ich stellte mir vor, wie er heimlich die Sicherheitsleute heranwinkte.

Doch das tat er natürlich nicht. Jeder, der schon einmal im selben Raum wie Terry Riley gewesen ist, kennt ihn als einen sehr warmherzigen Mann. Er ist die Sorte Mensch, mit dem man gerne Weihnachten verbringen möchte. Man kann ihn sich als jemanden vorstellen, der am Ende eines Films dem Helden auf die Schulter klopft; Gott sei Dank ist alles wieder in Ordnung. »Alles, was ich sagen kann«, antwortete er schließlich, »ist, dass ich hoffe, dass es überhaupt eine Zukunft gibt.« Der Moderator lenkte das Gespräch dann schnell auf andere Themen.

Wer kann es ihm verübeln? Wie lässt sich so eine Frage beantworten? Bereits sie zu stellen war mir peinlich. Doch zugleich machte ich mir Sorgen.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts schien »die Zukunft der Musik« in aller Munde zu sein. Alle paar Monate erschien ein Buch oder ein Artikel mit diesem oder einem ähnlichen Titel. In den meisten Fällen kamen diese Texte nicht von Musikern. Zumindest wirkte es so. Es schien, als ob die Zukunft der Musik nicht in den Händen von Musikern lag, sondern von Technikern: Entrepreneure aus dem Dot-Com-Milieu, Gurus des Digital Marketing, Social-Media-Ninjas und Dauergäste bei Technik- und Innovationspräsentationen. Selbst wenn sich Musiker einmal zu Wort meldeten, wurde die Diskussion so sehr vom Rauschen aus dem Silicon Valley übertönt, dass ihnen wenig anderes übrigblieb, als zustimmend zu ni­cken oder als verrückte Maschinenstürmer zu erscheinen, die voller Nostalgie versuchen, den Phonographen zurückzubringen.

Ich versuchte, jemanden mit einer anderen Perspektive zu finden, jemanden, der mehr wusste als wie sich mit Torrents Geld verdienen lässt oder wie man ein YouTube-Imperium aufbaut. Die Musiker selbst schienen mir da eine gute Anlaufstelle.

Immerhin gibt es eine weit zurückreichende, originäre Tradition des Nachdenkens über die Zukunft in der Musik. Lange bevor amerikanische Militäringenieure von der Symbiose aus Mensch und Maschine träumten, stellte sich Hector Berlioz das Orchester als kybernetischen Organismus vor, eine lebende, atmende Fabrik. Und lange bevor sich Hippies auf dem Weg »zurück zur Natur« mit der Welt der profitorientierten Forschung zusammentaten, um den Computer zu einem Werkzeug globaler Kommunikation zu machen, imaginierte Richard Wagner schon eine Vereinigung von Zukunftsmusikern und hielt die Oper für ein Mittel, um sie zu verwirklichen. Tatsächlich galt die Oper lange als das bevorzugte Vehikel in die Zukunft, angefangen beim Wagner’schen Gesamtkunstwerk bis zu den russischen Futuristen. Die Oper versprach eine Welt auf der Bühne, eine Zeit jenseits der Uhr.

Unverzagt setzte ich meine Suche fort und ungefähr fünf Jahre später hatte ich die Möglichkeit, es noch einmal zu versuchen.

Ich verbrachte das Wochenende auf einem Musikfestival namens Borealis in der norwegischen Stadt Bergen. Ich kam am Donnerstagnachmittag an und verbrachte den Rest des Tages damit, mich in den verschlungenen, kopfsteingepflasterten Straßen der Stadt zu verlaufen. Vor allem erinnere ich mich daran, wie ich auf der Suche nach einem Konzerthaus im Hafenviertel, nördlich des Stadtzentrums, orientierungslos und von Nordseewinden geplagt, aufgab – nur um dann direkt in die Halle zu stolpern, den ich gesucht hat. Ich schlüpfte in den hinteren Teil des Veranstaltungsraums und war mitten in einer mucksmäuschenstillen Vorführung des lokalen Kammerorches­ters. Später am Abend gelang es mir zum Glück, von jemandem zum Cornerteatret gefahren zu werden, wo die amerikanische Gruppe Object Collection ihre neue Oper It’s all true aufführte.

Ich kam ein bisschen zu früh und merkte schnell, dass es nirgends in der Nähe etwas zu essen gab. Den ganzen Tag war ich ahnungs- und orientierungslos herumgelaufen und hatte verzweifelt versucht, nichts vom Programm zu verpassen und war inzwischen am Verhungern. Meine Möglichkeiten waren beschränkt. Ich bestellte eine Schale Erdnüsse und ein paar Oliven an der Bar. Mit einem Salz-und-Essig-Geschmack im Mund nahm ich meinen Platz ein, sehr unvorbereitet für das, was nun passieren sollte.

It’s all true war das komplette Gegenteil eines Abends in der Semperoper. Die beiden Autoren des Stücks, Kara Feely und Travis Just, hatten ihre Komposition damit begonnen, dass sie sich mehr als 1000 Stunden Amateuraufnahmen der amerikanischen Post-Hardcore-Band Fugazi aus den Jahren 1986 bis 2002 ansahen. Sorgfältig orchestrierten und notierten sie jedes gesprochene, gesungene oder gerufene Wort, jede zufällig oder absichtlich gespielte Note – sie verwendeten alles, außer den eigentlichen Songs der Band. Das Ergebnis, ein Stück für vier elektrische Gitarren, zwei Schlagzeuge und vier Schauspieler-Sänger, ist eine zusammenhangslose Collage aus akkumulierten Outtakes, eine epische Tragikkomödie über eine Band, die sich selbst viel zu ernst nahm, ein lautstarker Angriff auf die Politik im Amerika der Clinton-Bush-Jahre und nicht zuletzt auf die Ohren des Publikums. Es handelt sich um ein kompromissloses Werk, eine Kakophonie aus gleichzeitig ausgeführten Aktionen, die während der gesamten zwei Stunden dasselbe fiebrige Level an Intensität hält. Als das Publikum aufstand, sah es im positiven Sinne verstört aus. Hatte ich Schäden davongetragen? Ich war mir nicht sicher.

In den nächsten Tagen wurde klar, dass das Publikum die Oper äußerst unterschiedlich bewertete. Viele waren begeistert, andere verwirrt oder sogar irritiert. Ich hörte mehrere Leute sagen, dass das Stück zu lang gewesen sei oder dass ihm die Trennung zwischen den Teilen fehlte. Doch in jedem Fall war die Oper das Thema, über das alle sprachen. Besucher, die das Theater geradezu wütend verlassen hatten, diskutierten noch drei Tage später über das Stück und begannen dann ihre eigene Reaktion infrage zu stellen. Erst später habe ich begriffen, wie treu It’s all true sich an die ästhetischen Vorstellungen von Richard Foreman hielt, die er in den frühen 1970er Jahren in seinen »ontologisch-hysterischen« Manifesten niedergelegt hatte.

Foreman, dem sowohl Feely als auch Just bei Produktionen in New York assistiert hatten, wollte die Bühne »zerstören«, aber »vorsichtig, nicht mit Mühe«, wie er sagte, »sondern mit delikaten Manövern«. Foreman hatte Ende der 1950er einen Abschluss an der Brown University gemacht und dort die Theatergruppe The Production Workshop gegründet. Als er in seine Heimatstadt New York zurückkehrte, mischte er sich unter die Experimentalmusiker und Filmemacher wie La Monte Young und Jack Smith, die damals gerade dabei waren, alles Mögliche in ihren jeweiligen Kunstformen über den Haufen werfen.

1967 schließlich begann Foreman das Theater in seiner zeitgenössischen Form für »lächerlich in all seinen Manifestationen« zu halten. Er wollte wieder ein Gefühl für Gefahr auf die Bühne bringen und das Publikum mit einem »Perpetuum mobile« aus gleichzeitigen und doch widersprüchlichen Handlungen konfrontieren. »Die künstlerische Erfahrung«, schrieb er 1971, »muss eine Tortur sein, der man sich unterzieht.« Ja, dachte ich, als ich das las, genau so war It’s all true.

Am Freitagmorgen veranstaltete die Kunsthalle Bergen eine Diskussion über die »große Zukunft der Oper«. Just und Freely saßen mit anderen Teilnehmern des Festivals – Lore Lixenberg, Jennifer Walshe, Lars Petter Hagen – auf dem Podium, um zu diskutieren, »was die Zukunft für die Oper bereithält«. Über weite Strecken unterhielten sich die Sprecher allerdings über die Vergangenheit der Oper, klagten über den »Ballast«, der auf dem Wort laste und ergingen sich in verschiedenen Ausweichstrategien.

»Die Geschichte der Oper«, sagte Lixenberg, »ist in gewisser Weise ein Fluch.« Die berühmte Mezzosopra­nis­tin gab zu, dass es manchmal ein »Hindernis« sei, in einem Gespräch auf der Straße die Oper zu erwähnen. »Doch eigentlich ist die Oper immer noch wunderbar, relevant und eine zauberhafte Sache«, fuhr sie fort. »Nehmen wir die Aufführung von Object Collection ges­tern Abend: Das Spannende war die perfekte Verschmelzung von Bild, Musik und Text und es entstand etwas, das größer ist als die Summe seiner Teile.«

Nach ungefähr einer dreiviertel Stunde öffneten sie die Diskussion für das Publikum. In Anspielung auf den Titel des Panels fragte ich: »Warum treten die beiden Worte – Oper und Zukunft – zusammen auf? Was ist die Verbindung zwischen Oper und Zukunft?«

Dieses Mal gab es kein Gelächter. Nur Schweigen. Eine schmerzhafte Stille tat sich auf zwischen den Menschen auf dem Podium, sitzend und mit Mikrofon, und mir, im Schneidersitz, schwitzend im Publikum. Schließlich antwortete Travis Just, wenn auch eher kurz.

Gut ein Jahr zuvor hatte Just einen Aufsatz namens »After Opera« im siebten Band der von John Zorn herausgegeben Reihe Arcana geschrieben. Dort stritt Just für eine tiefgreifende Neubewertung des Genres. Jedes Element aus der Standarddefinition der Oper – die Musik, der Text, das Schauspiel –, alles sei inzwischen so oft durcheinandergeworfen worden, dass die Definition eigentlich nutzlos sei. Besser wäre es, nach dem zu streben, was er eine »Antisynthese« quasi-autonomer Elemente nannte, die um ein abwesendes Zentrum kreisen. Die Oper, so argumentierte er, sei ein paradoxes, absolut »unvollständiges Kunstwerk« und gerade deswegen voll von Möglichkeiten. Als ich ihn nach der Verbindung der Oper zur Zukunft fragte, sagte er: »Ich würde gern in der Zeit zurückreisen. Aber das ist keine Option.«

Noch mehr Stille.

Nach dem Vortrag stand ich vor der Kunsthalle und rauchte eine selbstgedrehte Zigarette. Mary Miller, die Direktorin der städtischen Oper, trat aus dem Haupteingang. Ich hatte sie während des Vortrages im Publikum gesehen. Im Vorbeigehen warf sie mir einen merkwürdig fragenden Blick zu, aber sie lief trotzdem weiter. Dann, nach ein paar Schritten, hielt sie an und machte kehrt. Als sie zurück an die Stelle kam, wo ich stand, sah sie aus, wie jemand, der angestrengt über etwas nachdenkt. »Das ist wirklich eine interessante Frage«, sagte sie. »Ich meine, nach der Zukunft der Literatur hat noch niemand gefragt…«

Sie hatte recht. Die Veranstaltung, die wir besucht hatten, stand im Kontext einer ganzen Reihe von Artikeln über die Zukunft der Oper, von denen keiner optimistisch war. 2013 hatte die New Yorker Oper Insolvenz angemeldet. Die Hälfte aller Opernhäuser in Italien sind angeblich pleite. Auch der englischen Nationaloper in London ging es nicht besser. »Wer kümmert sich um die Zukunft der Oper?«, fragte The Daily Telegraph am 1. September 2015. Bei dem Battle-of-Ideas-Festival im Barbican Centre einen Monat später hieß ein Panel »Eine sterbende Kunst? Die Zukunft der Oper«.

In vielen anderen Artikeln jener Zeit zeigten sich alle, von der Verwaltung bis zu weltberühmten Tenören, besorgt darüber, ob die »Zukunft der Oper in Gefahr« sei. In den meisten dieser Debatten verbargen sich eine Reihe alter Vorurteile: dass die Oper ein altmodisches, elitäres, steifes, unnatürliches Genre sei, eine Verschwendung von Steuergeldern, verhätschelt und zahnlos, hoffnungslos irrelevant für junge Leute und ohne Verbindung zur modernen Welt. All diese Dinge wurden seit dreihundert Jahren behauptet; und alles wurde widerlegt von der Aufführung von It’s all true am Abend zuvor.

 

 

1.2 Tropenfisch-Oper

Bei der Lektüre der Texte, die sich über den Zustand der Oper den Kopf zerbrechen, bekommt man den Eindruck, dass es sich bei der Kunstform um eine geschlossene Welt bizarrer Rituale handelt, als sei sie absichtlich verschlüsselt, damit die von Lore Lixenberg erwähnten einfachen Leute sie nicht verstehen. Das Gegenteil ist der Fall.

»Der Begriff der Oper ist im Moment vollkommen offen«, hatte Lars Peter Hagen irgendwann am Anfang des Gesprächs in Bergen gesagt. Hagen hat selbst eine Reihe faszinierender Opern komponiert, einschließlich einer »Dokumentar-Oper«, die er mit dem Künstlerduo Goksøyr & Martens produziert hat; geschrieben und aufgeführt wurde sie mit Schülern der Barnato Park High School in Johannesburg, basierend auf Materialien aus ihren eigenen Träumen. Seit 2009 ist er außerdem der künstlerische Direktor von Ultima, Norwegens größtem Festival für zeitgenössische Musik.

Im Herbst 2015 hatte ich das Glück, das Festival zu seinem 25. Jubiläum in Oslo zu besuchen. Es war inspirierend, einen solchen Aufwand für die neue Musik zu sehen. In Zusammenarbeit mit Gruppen aus Kulturrat und der Stadtregierung brachte Ultima Künstler aus der ganzen Welt zusammen, um mit den besten Ensembles des Landes zusammenzuarbeiten und neue, experimentelle Stücke in der städtischen Konzerthalle, einigen der besten Musiktheater und sogar dem nationalen Opernhaus aufzuführen. Das Konzert jedoch, das mich am meisten beeindruckte, fand an keinem dieser Orte statt. Aufgeführt wurde es draußen auf der Straße.

Es begann am Mittag auf einem Parkplatz mit acht jungen Männern in schwarzen Jeans, schwarzen Jacken und weißen Ohrstöpseln, die auf einem großen Stahltor trommelten. Mehrere Minuten lang standen sie in einer Reihe und schlugen immer und immer wieder mit Stäben auf das Metall. Jeder der Perkussionisten erhielt jedoch über seinen Kopfhörer seinen eigenen Takt, wodurch die Rhythmen wie Wellen pulsierten, ganz wie in einem der Tonbandstücke von Steve Reich.

Kurz darauf rannten sie los, durch das Tor, die Straße hinauf, schlugen mit ihren Stöcken auf den Asphalt, die Wände, Schilder, was auch immer, den verborgenen Resonanzen der Stadt auf der Spur. Sie rannten durch enge Seitenstraßen und folgten dabei einer gesprochenen Choreographie, die über Mobiltelefone direkt an ihre Kopfhörer übermittelt wurde. Manchmal hielten sie alle bis auf einen Künstler an, der ein paar Takte lang seinen eigenen Rhythmus weiterklopfte, bevor die anderen wieder einstimmten. Je weiter sie in die belebteren Teile der Stadt gelangten, umso mehr schien es, als ob all die Geräusche, die wir hören konnten, zu einem Teil des Konzerts wurden, eingerahmt von einem sich ständig verändernden Rhythmus, verwandelt in Musik: Das Aufheulen eines Autos, das Piepen einer Ampel und das Singen der Vögel in den Bäumen wurden zu Basslinie, Ostinato und Führungsstimme eines polyrhythmischen Stücks.

Irgendwann, nach gut 45 Minuten endete Sound Stencil 0.1 von Koka Nikoladze damit, dass alle acht Trommler auf einem großen Mast in der Mitte der Stadt spielten. Ich weiß nicht, wie sich das Ganze für all die Menschen angefühlt haben muss, die einfach nur einen Samstag verbrachten und hier und da etwas von dem Spektakel mitbekamen. Doch der Reise von Anfang bis Ende zu folgen, erweckte jeden Teil der Stadt zum Leben.

Nikoladzes Komposition brachte fast alle Elemente zusammen, die wir normalerweise mit dem Opernhaus verbinden: Musik, Tanz, ein ausgreifendes Bühnenbild, sogar eine Art Narrativ, insofern als sich die Gruppe von dem jüngst wiederaufgebauten Stadtviertel Grünerløkka im Norden, durch verschiedene Wohn- und Shoppingviertel zu Oslos zentralem Platz bewegte, der nach dem einst reichsten Bewohner der Stadt benannt ist. Mit Blick auf die Definition der Oper als »Möglichkeitshorizont von Wirkungs- und Wahrnehmungsweisen« von dem österreichischen Komponisten Peter Ablinger, eine Bestimmung, die Klanginstallationen, Instrumentaltheater und interaktive Musikformen einschließt, ist Nikoladzes Werk besonders eindrücklich. Was Ablinger über diejenigen zeitgenössischen Opern sagt, denen sein größtes Interesse gilt, gilt auch für Sound Stencil 0.1: Der Zuhörer wird in das Werk gezogen, damit er »sich selbst beim Wahrnehmen wahrnimmt.«

Ablinger gibt zu, dass diese Definition vom »historischen« Verständnis der Oper abweicht. Doch er ist sich auch bewusst, dass es für solche Abweichungen selbst ausreichend historische Beispiele gibt. La Monte Youngs Poem, a Chamber Opera in One Act vom Mai 1960 kombinierte gesprochenen Text mit Einsprengseln von Beethoven, elektronischer Musik, Menschen, die sich sprechend und singend durch das Publikum bewegen und einigen anderen Darstellern, die auf der Bühne ein Frühstück zubereiten.

Bei dem letzten Konzert aus der Sonics-Reihe, das Pauline Oliveros und Ramon Sender 1962 am Konservatorium San Francisco organisierten, wurde eine Smell Opera Tropical Fish Opera