Über dieses Buch

Die drei Romane «Daskind», «Brandzauber» und «Ange­klagt» bilden gemeinsam eine Trilogie, die in ihrer Radi­kalität in der Schweizer Literatur einzigartig ist. Erstmals erschienen zwischen 1995 und 2002, verhandeln sie die exis­tenzielle Dimension der Gewalt.

Neben Mariella Mehrs reichem lyrischem Werk ist die «Gewalt­-Trilogie» ihr Hauptwerk. Während in «Daskind» die Thematik der Ge­walt durch das Brechen einer Identität aufgegriffen wird und die Gewalt im sozialen Rahmen der Dorfgemeinschaft stattfindet, widmet sich «Brandzauber» dem paralysierten Leben einer bereits zerbrochenen Identität, es geht um die in der Geschichte gespeicherte und weitergegebene Gewalt. Der letzte Band «Angeklagt» zeugt von einer beängstigen­den Neuformierung von Identitätsbruchstücken, die nack­te Gewalt, der Trieb sind die zentralen Motive des Romans.

Mariella Mehrs Erzählkunst ist von einer archaischen Kraft, die auch in der Sprache spürbar wird. Dabei haben ihre Werke nichts von ihrer Aktualität ein­gebüsst: Im Kontext der laufenden Aufarbeitung der Ge­schichte der Fremdplatzierungen und Zwangsmassnah­men in der Schweiz sind sie hochaktuell. Brisant ist aber auch das Thema der Gewalt gegen «Andersartige» und der problematische Umgang mit Aussenseitern.

Mariella Mehr

Daskind

Brandzauber

Angeklagt

Romantrilogie

Limmat Verlag

Zürich

Foto Ayşe Yavaş

Mariella Mehr, 1947 in Zürich geboren. Als Angehörige der Jenischen war sie seit frühester Kindheit von der Aktion «Kinder der Landstrasse» betroffen. Sie wurde von der Mutter getrennt und wuchs in Heimen, bei Pflegeeltern und in Erziehungsanstalten auf.

Seit 1975 ist sie als Journalistin und Schriftstellerin tätig. Bereits ihr erster Roman Steinzeit (1981) fand grosse Beachtung und wurde vom Kanton Zürich ausgezeichnet. Als ihr Hauptwerk gilt die sogenannte Trilogie der Gewalt, mit Daskind (1995), Brandzauber (1998) und Angeklagt (2002).

1998 wurde ihr die Ehrendoktorwürde der Universität Basel für ihr publizistisches Engagement für unterdrückte Minderheiten verliehen. Für ihr literarisches Werk erhielt sie zahlreiche Preise, darunter den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung (1996), den ProLitteris-Preis (2012), den Bündner Literaturpreis (2016) und eine Anerkennungs­­gabe der Stadt Zürich für ihr Gesamtwerk (2017).

Daskind

Für Erica Brühlmann-Jecklin

1

Hat keinen Namen, Daskind. Wird Daskind genannt. Oder Kleiner­bub, obwohl es ein Mädchen ist. Wenn den Frauen im Dorf danach zumute ist, wird es Kleinerbub genannt, oder Kleinerfratz, zärtlich. Auch Frecherfratz, wenn Daskind Bedürfnisse hat, oder Saumädchen, Härchen, Dreckigerbalg.

Hat keinen Namen, Daskind. Darf nicht heißen. Darf niemals heißen, denn dann könnte keine der Frauen im Dorf, der danach zumute ist, Daskind Kleinerbub nennen oder Frecherfratz, zärtlich, gierig. Oder Saumädchen, Hürchen oder Dreckigerbalg, wenn Daskind Bedürfnisse hat. Wer sagt schon Saumarie, Hurenvreni, Dreckrosi. Gewiss könnte man das sagen, aber es ist zu aufwendig, zu umständlich, sich des Namens des Kindes zu erinnern.

Also, Daskind.

Daskind spricht nicht, hat nie gesprochen. Schweigt düster. Schreit und tobt gelegentlich, anstatt zu sprechen. Hat nur eine Luftsprache, die Dörfler Dörfler nennt oder Frauen, Männer, Nähe­rin, Schwestern, wenn es Nonnen sind, Herrpfarrer, Sigrist. Totengräber, Coiffeur, Po­lizist, Gemeindepräsident, Abdecker, Pflege­vater, Pflegemutter und den Pensionisten im Pflegeelternhaus:

Denpensionisten. Ein Knecht. Beim Großbauern ganz in der Nähe verdingt. Mit immergrünem Gesicht im Grünenzimmer, so nennt die Pflegemutter den Raum neben der Kammer des Kindes, weil dort im Winter die Geranien lagern und die Wände des Zimmers lindgrün gestrichen sind.

Daskind jetzt auf dem roten Sofa im Wohnzimmer. Über dem Scheitel des Kindes der leidende Christus am Kreuz. Silbern leuchtend auf dunklem Holz. Das lange Silberhaar um den silbernen Kopf und einrahmend das silberne Lächeln, den silbernen Tod. Silberblut quillt aus dem silbernen Herzen, Silberherz stirbt. Stirbt immerzu. Wie kann einer, denkt Daskind, immerzu sterben. Ohne Groll. So ist das Leben des Kindes im Hause Idaho, umsorgt von Derfrau und Dem­mann – Pflegemutter und Pflegevater –, ein Silbertodimmerzu. Im Beisein der Silbereltern, des Silbervaters, der Silbermutter: Die winken dem Sterben des Kindes zu, lachen es an und strafen es silbern, wenn nicht der Kleinefratz, zärtlich, sondern Daskind, Derfreche­fratz, Dassaumädchen, Hürchendreckiger­balg Bedürfnisse äußert, die der Kleinefratz, zärtlich, nicht äußert.

Dass zum Beispiel nachts die Tür der Kammer des Kindes offen stehe, damit sich Daskind nicht so ganz alleine fühlt. Dass das Licht brenne im Korridor, bis Daskind schläft. Dass man ihm die Angst nimmt vor der Nacht und dem Immergrünen im Grünenzimmer. Dass kein Silberpfahl wachse ins kindliche Herz und keiner eindringe in jene Bereiche, die kein Grün kennen, nur kindlichen Schlaf.

Dass Fritz, der Kater, sich nicht auf die Brust des Kindes legen darf, wenn es schläft und zu Tode erschrickt, wenn die Brust keinen Atem mehr hat und Fritz, der Hauskater, wie eine frevelnde Hand, eine schwere, auf der Brust des Kindes ruht.

Dass endlich Vergeltung einbräche in diese Dunkelwelt, denkt Das­kind, um alle Schuld zu sühnen, die des Kindes und die der an­dern. Daskind will wissen, dass es schuldig ist, ein Silberleben lang. Weshalb sonst stürbe der andere, der Silberleib am dunklen Holz, seinen Silbertod immerzu.

Daskind jetzt auf dem roten Sofa im Wohnzimmer, tagsüber Nähstube, Café, Klatschraum. Daskind, Kindfüralle. Winterkind. Win­ter­balg.

Winterkind spricht nicht. Tobt auch nicht und schreit nicht. Sitzt still auf dem roten Sofa. Starrt auf den grauen Haarknoten der Pflegemutter Frieda Kenel, geborene Rüegg. Die singt, singt Fernimsüddas­schönespanien. Singt mit brüchiger Stimme das Lied von den Trauben, der Sonne und einer einsamen Liebe, die keine Erfüllung findet. Singt, den Rücken dem Kind zugekehrt, singt und denkt an den Stoff in ihren Händen, der ein Kleid für die Freudenstau werden soll. Fernimsüddasschönespanien. Denkt nicht an Daskind, hat Daskind vergessen wie alle Nachmittage zuvor, wenn Daskind auf dem Sofa saß und rot der samtene Überzug und Daskind ein Warten.

Warten. Auf was denn?

Vielleicht einmal anders.

Ohne Angst.

Einmal zuschlagen.

Bescheiden, verstohlen, vorsichtig.

Zum Beispiel die Freudenstau.

Daskind vor der Freudenstau. Hört den Wind in den Tannen pfeifen. Ein hoher, schriller Ruf. Muss das Hören anhalten, Daskind. Muss schreien, Daskind, mit weit offenem Mund im wild wiegenden Kopf. Hin und her, auch das Schreien wild wiegend, hinauf zum orgelnden Locken in den Tannen.

Der weiße Speichel in den Mundwinkeln der Kundin Freudenstau. Die auf dem Berg wohnt. Auf dem Tannsberg. Teilt den Berg mit zwei roten Hunden. Höllenhunden. Auch sie träumen vom Zuschlagen.

Daskind ist in seiner blauen Windjacke, eine ungenaue Adresse. Immerhin, eine Adresse.

Und mit seinen nackten Füßen. Immerhin.

Die Freudenstau. Die den Berg mit zwei roten Hunden teilt. Den Höllenhunden. Fressen täglich zwei Kilo rohes Fleisch, saufen Milch aus einer silbernen Gelte.

Wöchentlich einmal wird dem Kind befohlen, das rohe Fleisch auf den Berg zu bringen.

Schleppt den Rucksack voller Fleisch auf den Berg, Daskind. Atmet schwer.

Liegt auf der Lauer, Daskind, oben am Berg, am Tannsberg, den Blick fest auf das Haus gerichtet. Starrt auf die Tür und flüstert den Bannreim. Kann nur hoffen: Zuerst die Freudenstau, dann die Hunde. Wenn der Bannreim nichts taugt, preschen die zwei Hunde mit fürch­terlichem Gebell vor, stieben in den Steingarten, zertrampeln die Steinnelken, die roten, die violetten und weißen, rasen auf Daskind zu, bleiben geifernd stehen, knurren. Es sind die weißen Reißzähne zu sehen.

Keine Zugeständnisse in den Augen, keine Kompromissbereitschaft im federnden Schritt der Tiere.

Dann die Freudenstau. Zwei Pfiffe. Scharf. Gellend. Der Pfiff der Frau eine Salve Bosheit. Kein Laut mehr. Kein Knurren.

Das Lächeln des speichelverschmierten Mundes. Die hagere Gestalt in schwarze, spitzenverzierte Gewänder gehüllt, ohne Ring am Finger. Hinter dem schwarzen Umriss der Frau mit dem strengen Scheitel im schwarzen Haar der schwarze Berg.

Sagt nichts, Daskind. Hat sich lange vorher ausgeschrien vorm dunklen Auge der Frau mit dem geifernden Mund. Spricht nicht, Das­kind.

Angewidert starrt es auf die Speicheltropfen in den Mundwinkeln der Frau. Und auf die Höllenhunde unterm freien Himmel. Eingerahmt von den Hunden, die Freudenstau, Tannsbergkönigin.

Sieht ein wild taumelndes Ungeheuer über dem schimmernden Scheitel der Frau. Ein Taumeln, grad so wie das Wildwiegen der Angst vor den Wildhöhen, den Wildbildern, den Wildworten oben am Berg. Im wild wiegenden Kinderhirn.

Zwängt sich Daskind aus den Rucksackträgern. Fühlt, vom Gewicht befreit, die angenehme Kühle unter dem verschwitzten Hemd. Öffnet den Rucksack, zerrt am Fleischpaket. Zittern die Flanken der Höllenhunde. Die Hände der Freudenstau auf den zitternden Flanken der Hunde. Überträgt sich das Zittern auf den Körper der Frau mit dem leicht geöffneten Mund und den starren Augen. Der Blick ist aufs Kind gerichtet. Das nicht zittert. Das mechanisch nach dem Fleisch greift im Packpapier und sich zwei Schritte vorwagt. Blut tropft durch das Packpapier, die Schnauzen der Hunde nah, ganz nah. Das Hecheln der Hunde, ein Wildwort, wie die Salve im Kopf, wenn die Frau pfeift und die Tiere strammstehen, strammwilden, gehorchen.

So ist das, denkt Daskind, wenn Bannsprüche nichts nützen, dann sind die Hunde nah mit ihren Schnauzen und Reißzähnen und ihren zitternden Leibern. So ist es, Kind Selberschuld, und ein Grollen tief drinnen im Kind.

Hecheln sich Kühlung zu, die Hunde, nach all dem ungebändigten Zorn und den Wildworten; und weil die Frau pfiff, herrscht eine kurze Waffenruhe rund ums unbewaffnete Kind.

Lächelt die Freudenstau, winkt mit einem weißen Finger dem Kind. Es soll näher treten.

Tritt näher Daskind, vorsichtig, langsam, ohne die Frau aus den Augen zu lassen, die starrt, Krieg in den Augen.

Stolpert beinahe, fängt sich auf und wagt noch einen Schritt, atmet kaum. Zittert nicht, Daskind. Wird von der Macht des Fingers weitergezogen und vom Blick der Frau. Vom gierigen Hecheln der Hunde unterm stillen Himmel über dem Tannsberg. Kniet nieder, Daskind, in die scharfen Kieselsteine. Kniet nieder, legt der Frau das Fleischpaket vor die Füße in den spitzen, eleganten Schuhen. Schuhe, die sonst keine trägt im Dorf. Nicht im Bauerndorf. Da tragen die Frauen Wetterfestes mit dicken Sohlen. Unvorteilhaft für die Form der Füße, aber praktisch. Die nicht, die trägt spitze Lackschuhe, schwarz wie das Haar. Können Daskind erreichen, es berühren am Kopf und treten.

Treten.

Ballt Daskind vorsichtig die Fäuste. Dass es niemand sieht, nicht die Freudenstau, nicht die Höllenhunde.

Denkt daran, es einmal anders zu haben. Träumt vom Zuschlagen, vom verstohlenen, vorsichtigen, bescheidenen. Fast ein Glück.

So war es gestern, an einem Montag, so war es alle Montage zuvor. Sinnlos, sich des Beginns dieser Berggänge erinnern zu wollen. Andere werden folgen.

Daskind kehrt aus dem Traum zurück, die Fäuste geballt im Schoß, vor sich den Rücken der Frau. Die singt nicht mehr. Nicht sie und nicht die Nähmaschine. Hat beide Hände am Hals der Kundin Freudenstau. Nimmt Maß vom schmalen Hals der Freudenstau, dann von der Brust im Büstenhalter. Unter der schwarzen Spitze sind die ­Warzen sichtbar. Starrt Daskind auf diese Warzen, denkt Hass, riecht Schweiß, gesäuerte Milch, ein ganzes Aufbäumen im Bauch vor Ekel. Schmal wagen Kindaugen sich vor zum leicht bedeckten Haargestrüpp im Schritt der Freudenstau, die plaudernd Bestes von sich gibt und sich mit Bestem bedienen lässt von der Frau, die vorher sang oder gestern. Ohfernimsüdundsindaufineinebleichenwangenheißetränenhin­gerollt. Der Mund der Frau jetzt fest verschlossen, hält die Nadeln mit den bunten Köpfen zwischen den Lippen, zischt ab und zu ein Wort an den Nadeln vorbei ins Gesicht der Kundin Freudenstau. Wortschlangen beiderseits am Kind vorbei, jede ins Gesicht der andern. Ganz nah, und dass dem Kind geholfen werden müsse. Dem Teufel ab dem Karren.

So wird geredet, wenn nicht der Kleinefratz zärtlich gefragt ist. Meist die Nadeln im Mund der Frau, Frieda Kenel, geborene Rüegg. Am Kind vorbei die Wortschlangen von Gesicht zu Gesicht, mit Gelächter verwoben. Daskind stumm, starrt auf die nackten Leiber der Kundinnen, versucht, sich in dem Gelächter zurechtzufinden, nicht abzutauchen in Bereiche, die dem Hass verschlossen bleiben. Kennt einer jeden geheimste Stelle, Daskind. Weiß in den Falten der Frauen­häute Bescheid. Weiß von dem Fressen und Saufen, das die Haut entstellt. Weiß von den Schlägen der Männer, kennt sich aus in den Verfärbungen auf Hinterbacken und Bäuchen, kann auf den Tag genau erraten, wann sie entstanden. Kennt das Knistern von Seide auf nackter Haut, weiß von der schmierigen Farbe des Frauenfleisches und vom sanften Kringeln des Haars im Schritt der Kundinnen. Starrt Daskind. Weiß sich im Hass vorm Gelächter geschützt, vor den Wortschlangen, den grauen Ausdünstungen der Körper. Der Seelen. Zumindest jetzt, heute, am hellen Tag.

Wenn der Pensionist Armin Lacher spätnachts das Wirtshaus verlässt, weiß er Daskind bereit. Bedächtig finden Aug’ und Füße nachtgewohnt den Weg und streben zielsicher zur Dorfmitte, wo zu dieser Stunde eine Straßenlaterne die Vorderfront des Chalets Idaho hell ­beleuchtet. Die Rückseite des Hauses und der Garten liegen im Dunkeln. Auch die blühenden Rosen vor dem Schlafzimmerfenster seiner Wirtsleute, dem Ehepaar Kari und Frieda Kenel. Dass er Frieda Kenel Elend seines Lebens nennt, hat Gründe, für die sich Armin Lacher nicht zu schämen braucht, nicht er, den die junge Störschneiderin Frieda Rüegg schnöde von sich stieß. Manch andere, weiß der Lacher, hätt’ ihm aus der Hand gefressen, die da, die Rüegg, hatte halt Höheres im Sinn. Umsonst, glücklich ist sie nicht geworden, nicht mit Kari, dem schwerblütigen Trottel, und das Haus mit dem fremdländischen Namen hat daran auch nichts ändern können. Ein Heimkehrerhaus, das Chalet Idaho. Über den Namen lachte das ganze Dorf. Das bewies, dass einer wie Kari nicht wirklich heimkehren konnte nach all den Jahren drüben, um wieder einer der Ihren zu werden.

Bei der Sennhütte neben dem Chalet macht Armin Lacher halt und kühlt den verschwitzten Männerkörper am Gestein der Mauer. Den süßlichen Duft der Schotte in der Nase, wandert sein Blick zum Fenster unter der weißen Inschrift «Idaho». Gleich wird’s ihm noch wärmer werden, dem Knecht, die breite Hand wühlt sich durch den Hosensack, an Münzen, Schnurresten und Tabakkrumen vorbei zum ganzen Mann.

Daskind schläft nicht.

Weiß vom Pensionisten.

Und von der Hand.

Will nicht, schweigt in die Nacht mit angehaltenem Atem.

2

Seit der abgeschnittene Kopf des Lambrettafahrers über die Straße vor dem Chalet Idaho gerollt war, hatte Daskind beschlossen, nicht mehr zu staunen. Daskind hatte den Aufprall gehört, sich weit aus dem Fenster der Kammer gelehnt, den Kopf rollen sehen. Jetzt lag der Kopf vor dem Gartentor, beschattet von den blühenden Rosen. Daskind hätte lachen mögen. Vorbei die Kraft der Nervenstränge, die das Gehirn mit dem Geschlecht verbinden, das sich ans Kind wagen würde wie jedes andere Geschlecht, wenn ihm Heimlichkeit und Zeit ­geboten wird. Aber das sähen die Dörfler nicht gern, wenn Daskind laut lachen oder gar tanzen würde, obwohl sie Daskind ohne Gefühl wähnen und dem Teufel ab dem Karren gefallen. Dem Teufel ab dem Karren. So nennen sie es. Daskind lacht leise.

Der Rumpf des Lambrettafahrers liegt unter der Maschine. Die Windschutzscheibe bedeckt das Gesäß, ein durchsichtiger Sargdeckel, auf dem sich Schmeißfliegen niederlassen. Blut fließt noch immer aus Kopf und Rumpf. Das Blut benetzt den Randstein, der die Fahrt des Mannes bremste, benetzt das sonnendürre Gras des Weidelands neben der Sennhütte, die zu dieser Nachmittagsstunde nicht benützt wird. Daskind kann das Blut riechen, vermischt mit dem all­gegen­wär­tigen Geruch der Schotte und dem Viehgeruch aus Gotthold Schättis Stall. Die Kreissäge, vor dem Aufprall hörbar, ist verstummt. Die ­Nüstern des Kindes blähen sich vor Glück. Das hat es geahnt, dass da ein Glück ist, wenn sich der Duft der Schotte mit dem Geruch des Bluts vermischt und einer daliegt, von Kari Kenels Rosen beschattet.

Jetzt eilen die Dörfler hastig herbei, bilden einen Kreis um Kopf und Rumpf des Toten.

Kellers vom Dorfladen telefonieren ins Nachbardorf, wo der Landarzt Mächler wohnt. Daskind hört die kreischende Stimme der telefonierenden Frau. Bereits ist Alois Janser, der Dorfpolizist, zur Stelle. Mürrisch streicht er um die Leichenteile, nachdem er die Menge angewiesen hat, Abstand zu halten. Die lässt sich nicht einfach verscheuchen. Will hautnah teilhaben an der Sensation, die so ein Unfall ist, mitten im Dorf, dem nachmittagsträgen. Die Sommerhitze heizt die Gemüter an, keiner beachtet das lachende Kind.

Männer zerren die Lambretta vom Rumpf des Toten. Ein Schwarm schillernder Schmeißfliegen flieht. Der Kopf des Toten liegt noch immer unter den Rosen. Hat seine Reinheit verloren, seit ein schmutziges Grau das Gesicht überzog und die Stille nach dem Aufprall vom Lärm der Menge verschluckt wurde. Noch stieren die Augen voller Entsetzen, noch scheint der Mund den Atem anzuhalten, aber das Ereignis hat seine Unschuld verloren. Ein Schmerz macht sich spürbar, auch im Kind.

Ruft die Pflegemutter zum dritten Mal aus der Küche, Daskind solle endlich kommen und Kartoffeln schälen. Es sei Zeit, sich nützlich zu machen, und was es denn da oben in der Kammer treibe. Derfratz müsse nicht meinen, sie lasse zu, dass dem Herrgott auch nur ein Nachmittag gestohlen werde. Man habe Daskind nicht zum Faulenzen ins Haus geholt.

Ins Haus geholt? Daskind erinnert sich nicht. Wirft einen Blick in die Kammer, auf das große Bett mit den schweren Decken, auf den Guten Hirten an der Wand mit dem rosaroten Lamm auf den Schultern und dem sanften Hirtenblick. Unter diesem Blick bringt der Immergrüne das Hergelaufene in seine Gewalt, Daskind, das nicht zum Faulenzen ins Haus geholt wurde.

Stumm verlässt Daskind die Kammer, die eine Festung sein könnte, wäre da nicht der Immergrüne. Vorsichtig vermeidet es jede Berührung mit dem Bett, gleitet geschmeidig daran vorbei zur Tür. Aus dem Grünenzimmer ist zu dieser Tageszeit kein Laut zu hören.

Die Treppe knarrt, obwohl Daskind leise auftritt. Manchmal krab­beln Ohrwürmer die Treppe rauf und runter. Wenn sie ein Menschenohr erwischen, dringen sie in die Muschel ein und spucken ihre Brut aus, grad wie der Immergrüne seinen Schleim. Das hat Daskind von andern Kindern gehört. Jetzt sind keine Ohrwürmer zu sehen.

In der Küche liegen die Kartoffeln bereit. Schaben, sagt die Pflege­mutter, es wird nichts vergeudet in diesem Haus.

Wenn wir groß sind, sagt Daskind zu sich und sich, werden wir einen von ihnen töten.

Nach solchen oder ähnlichen Tiraden der Pflegemutter haben weder Daskind noch Kari Kenel zu lachen. Da hört man das unan­genehme Kauen der drei am Küchentisch, so still und sprachlos ist’s im Haus und doch ein Lärm, ein anderer, innerer, in den Nahrung zu sich nehmenden Körpern gefangener. Kari Kenels breites Bauern­gesicht, ein Bauer ist er geblieben, trotz der Jahre in den Zechen von Idaho, verkrampft sich vor Anstrengung beim Anblick des mahlenden Mundes seiner Frau. Von der Sennhütte sind das Scheppern der Milchkannen und scherzende Männerstimmen zu hören. Das dunkle Lachen der Hüttenmarie hallt über die Straße, so unverschämt, dass Frieda Kenel aufstehen muss, an den Herd tritt und laut mit den Pfannen hantiert. Dieses Lachen, das keine Verbitterung kennt, das sich ausbreitet wie der willige Leib einer brünstigen Frau. Wenn das Lachen verklungen ist, kehrt Frieda Kenel an den Tisch zurück, streicht über den hageren Hüften die Schürze glatt mit einem rätselvollen Blick hin zum Kind. Dann zum Mann, der geräuschvoll kaut und den Blick der Frau nicht erträgt.

Am steinernen Waschtrog taucht Daskind die Hände ins heiße Wasser. Wie jedes Mal schreckt es kurz und verstohlen zurück. Sie tut es absichtlich, denken Daskind und der Mann, sagen nichts, sind im Schweigen Geschwister. Gnadenlos. Gnaden Los. Daskind hat das Wort in der Kirche gehört, da war von Menschen ohne Gnade die Rede, denen, die gnadenlos ohne Gnade leben müssen, wenn sie können. Einige landen hinter der Kirchenmauer, in einer dunklen Ecke, im Selbstmördergrab, sagen die Kundinnen der Schneiderin Kenel, sie sagen es verschämt und mit Tadel in den Stimmen. Daskind glaubt ihnen nicht. Sie feiern Feste, wenn sich einer in den Tod leidet, weiß Daskind, werden feucht und begehrlich, wenn es ein junges Mädchen ist. Sie tragen, das hat es während all den Nachmittagen auf dem Sofa gelernt, Gewänder voller Zurechtweisungen, Untersagungen, aber darunter, auf der Haut, blüht das Gift.

Rasch zerbricht Daskind einen Becher, damit die Nacht einen Sinn bekommt. Täglich muss es etwas tun, damit die Nacht einen Sinn bekommt. Frieda Kenel schweigt auch dazu, sie weiß von den langen, sinnlosen Nächten, den spröden Hoffnungen, dem erbärmlichen Hunger im Leib.

Während Daskind sich mit dem Lappen übers Gesicht fährt und die Zähne putzt, begibt sich die Schneiderin an ihre Nähmaschine, Kari Kenel legt sich mit der Zeitung auf das rote Sofa, über ihm der leidende Jesus am Kreuz. Bald wird Daskind, für die Nacht hergerichtet, vor dem Sofa knien, vaterunserbetend die Hände falten. Dem Kind ist nie klar, wem dieses Vaterunser und die gefalteten Hände gelten, dem Silbertod über dem ausgestreckten Mann oder dem Mann selbst, der nun bald aufstehen wird, ohne die Zeitung gelesen zu haben. Der die Stube verlassen und dem Kind in den oberen Stock ins Grünezimmer folgen wird. Aber vorerst betet Daskind und weiß nicht, wem das Gebet gilt. Dann drückt es dem Mann die Hand zum Gutenachtgruß, wie man es ihm beibrachte, damals als sie das Hergelaufene ins Haus geholt haben. Auch die Hand der Frau an der Nähmaschine.

Wenn der letzte Treppenabsatz knarrt, steht Kari Kenel im Türrahmen der Stube. Im oberen Stock wird vom Kind das Grünezimmer betreten, wo der Immergrüne, zu dieser Zeit Gast im Schwanen, wie jeden Morgen ein Durcheinander an Kleidern, Gerüchen und ein ungemachtes Bett zurückgelassen hat. Daskind schaut sich um, findet den Stuhl, mit schmutzigen Wäschestücken übersät, beim Fenster, das den Blick auf den Gemüsegarten und Kenels Rosen hinter dem Haus freigibt. Auch auf den jungen Feigenbaum, von dem noch die Rede sein wird. Mit einer kleinen Handbewegung fegt Daskind die Wäsche vom Stuhl. Trägt den Stuhl in die Zimmermitte. Zieht das Nachtgewand übers Gesäß und legt sich bäuchlings auf die Sitzfläche. Lauscht den Schritten Kari Kenels. Jetzt nützt kein Bannspruch, weiß Daskind. Hört das zögernde Herausziehen des Ledergurtes aus den Hosenschlaufen, dann das Zischen des Leders in der Luft. Wenn der erste Schlag fällt, schließt Daskind die Augen. Sieht regenbogenfarbene Ornamente. Wartet, bis der Schmerz in sein Fleisch eingeht, dass es sich verwandle. Eine Schande, aus der Züchtigung unverwandelt hervorzugehen, denkt Daskind. Kind Selberschuld. Winterkind, Silberfresserin. Schmiegt sich das nackte Kind an das harte Holz. Flattervögelchen, wildes. Fallen Kari Kenels Tränen aufs gemarterte Kind. Trost in den Tränen des Züchtigers. Wer sein Fleisch liebt, züchtigt es. Wer sein Fleisch liebt, benetzt es mit Tränen. Sanft rinnen sie zwischen den Schlägen übers Gesäß des Kindes, das sich allein fühlt mit dem Flattern, mit dem verwandelten Fleisch.

Ach, Kind Selberschuld, dem Flattern gib Raum, den zitternden Flanken, kleines Tier, gib Raum, murmelt der weinende Kari, Silbergott, der jetzt zum letzten Schlag ausholt.

Nachts hört Daskind die Schritte des Immergrünen. Fluchend schiebt der den Stuhl aus der Mitte des Zimmers zum Fenster mit dem Blick auf den jungen Feigenbaum. Hastig nimmt sich Daskind vor, später eine Amsel zu schlachten. Nicht immer ist Rechtzeitigkeit möglich. Manchmal bleibt es den Tribut für den Sinn der Nächte schuldig.

Ein solcher schuldig gebliebener Tribut hatte Kari Kenel unlängst das Leben gerettet. Daskind fror und lebte in einer andern Zeit auf einem andern Stern. Da kann schon einmal ein Wunder geschehen, wenn Zeit und Raum stillstehen, sodass kein Augenblick bleibt, in der richtigen Reihenfolge zu leben. Da kann sich das Wunder aus­toben und totlachen ob dem vergeblichen Bemühen eines Kindes, Ordnung zu schaffen. Ordnung herrschte keine, als Kari Kenel Daskind mit in den Wald nahm und mit ihm den Liedern lauschte, die Bäume statt unnützer Worte gebrauchen, um ihre Angelegenheiten zu regeln. Es kam nicht oft vor, dass sich Kari Kenel ohne Säge, Draht und Zange zum Vorderberg aufmachte, wo das Dorf sein Holz für den Winter hernahm. Doch wenn der Pflegevater ohne Werkzeug in den Wald ging, so wusste Daskind, war es das Heimweh, das ihn trieb und seine Füße mit Flügeln versah. Eine Krankheit, nannte er dieses Weh, von dem Daskind keine Ahnung hatte, da es seine unbefriedeten Örtlichkeiten, in die man es hineinzwang, als etwas Gegebenes verstand, in dem man sich einzurichten hatte. Dort sein zu wollen, wo man gerade nicht war, hätte für Daskind den sichern Tod bedeutet, denn in seiner Welt hieß träumen einen Augenblick vergessen, dass man sich immer und überall vorzusehen hat, weil immer und überall Gefahr droht. Kari Kenel aber hatte Heimweh und gab damit zu verstehen, dass er sich in seiner Welt nicht vorzusehen hatte. Er konnte sich eine Zeitreise nach Idaho leisten, Daskind an seiner Seite vergessen. In sich gekehrt schritt er dem Vorderberg zu, dessen Waldgürtel unterhalb des breiten Bergrückens ihm die Illusion verschaffte, in den Wäldern Idahos zu wandern.

Daskind war verwirrt. Die Hände auf dem Rücken, wie es Erwach­sene tun, versuchte es, mit dem Pflegevater Schritt zu halten. Der da neben ihm lief, war nicht der Mann, der weinende Gott, dessen Tränen seinen nackten Körper benetzten, wenn er mit bedächtigem Zorn auf es einschlug, oft bis Blut floss. Der hier glich jenem melancholischen, jungen Mann mit dem großen, breitrandigen Hut, von dem die Waldfrau, zu der sich Daskind ab und zu flüchtete, behauptete, dass er ihr Bruder sei. Dann leuchteten ihre Augen, und liebevoll glitten ihre Hände über die leicht vergilbten Fotografien und Ansichtskarten in der Schuhschachtel, die griffbereit in der Küche, auf einem hohen Stapel alter Zeitungen aufbewahrt wurde. Auf dem Deckel war eine Landschaftsansicht aufgeklebt, die aus einer Zeitschrift stammen musste. Im Vordergrund waren düstere Gebäude zu sehen, die sich wie verlassene Katzen aneinanderschmiegten. Sie schienen dem Kind bedrohlich und fremd. An einem Brunnen wuschen sich Männer mit nackten Oberkörpern. Ihre lachenden Gesichter glänzten schwarz, und aus diesem Schwarz leuchteten weiße, gefährliche Raubtierzähne. So jedenfalls empfand es Daskind. Wie Neger, schmunzelte die Waldfrau, aber einer von ihnen sei Kari, der da, sie zeigte auf einen der lachenden Männer; der hochgewachsene, der schöne Kari, so habe man ihn in seiner Jugend genannt. Daskind, das nicht spricht, denkt an den weinenden Silbergott, dem das Blut nicht aus dem Herzen fließt wie dem Silberleider über dem Sofa.

Ein Kind wie Daskind ist leicht zu verwirren, wenn keine Ordnung herrscht. An jenem Tag, einem hellen Frühsommertag, trottet das Kind neben dem Mann her, der es verwirrt. Sie haben die Häuser hinter sich gelassen, in der ersten Steigung wird ihr Schritt langsamer. Weil Daskind auf dem nassen Laub ausrutscht, versucht es, die Hand des Mannes zu fassen, der, weit entfernt, zwischen sich und dem Kind ein Ozean, einen andern Weg geht und dem Kind die Hand nicht reichen kann. Also hält sich Daskind an die Gerüche des Waldes. Und an das Zwitschern, Zirpen und Trillern der Vögel. Manchmal flieht ein Hase ins niedrige Gebüsch, ein Eichhörnchen auf den nächsten Baum. Eichhörnchen, sagt der Mann, oder Hase, ein Wind streicht ihm das graue Haar aus dem Gesicht, sodass die gefurchte Stirn zu sehen ist. Und die Augen, grau wie das Haar. Der Wind hält den Himmel in Bewegung. Das heisere Bellen eines Fuchses ist zu ­hören. Kari Kenel berührt Baumstämme, betrachtet ihren Wuchs, runzelt ab und zu unwillig die Stirn. Daskind tut es ihm nach, bleibt ihm auf den Fersen, stumm. Die Bäume singen ihre Lieder; Buchen, Birken, hohe, schlanke Tannen miteinander im Gespräch, das jedenfalls behauptet Kari Kenel, wenn er dem Kind den Wald erklärt. Der bewundert das helle Grün der jungen Buchenblätter, ohne, vom Gedanken ans Grünezimmer aufgeschreckt wie Daskind, wegschauen zu müssen. Der sieht ein anderes Grün, einen andern Wald, weit entfernt im fremden Land.

Sie erreichen die Lichtung. Das Weiberfeld. Vor vielen Jahren, erzählen sich die Dörfler, habe sich hier eine am eigenen Fleisch und Blut versündigt, das Gesetz Gottes verachtend. Da sei der Teufel in die Lichtung eingebrochen und habe die Mächler Olga geholt. Noch heute, bei klarer Vollmondnacht, höre man das brünstige Geschrei der Hure.

Den Sohn habe keiner im Haus gewollt. Als Knecht habe er nichts getaugt, nicht richtig im Kopf sei er gewesen. Irgendwann nachdem sich der Mächler Marti zu Tode gesoffen habe, sei auch der Sohn verschwunden.

Daskind setzt sich ins Gras, rupft am blühenden Thymian, atmet den bittersüßen Duft, denkt ans Geschick der Hure. Es muss das Grün sein, denkt Daskind, Kind Selberschuld, das Grün. Ein Wolkenschatten zerlöchert die Grasfläche. Schweigend kauen Kind und Mann.

An wuchernden Berberitzen und Sanddorn vorbei nehmen sie den Abstieg. Den schwierigeren Weg, sagt Kari Kenel, der sei ihm lieber. Der Weg führt einer Schlucht entlang. Aus dieser Schlucht soll der Teufel gekommen sein, um die sündige Mächlerin zu holen. Tief unten im Gestein orgelt der Bach, schleift sich durch den Fels dem Dorf zu, wo er, seiner Gewalt beraubt, die Bewohner mit seinem reichen Fischbestand erfreut.

Langsam setzt Kari Kenel Fuß vor Fuß. Hier im Schattloch bleibt der Saumpfad den ganzen Sommer über nass und glitschig. Es ist also trotz der genagelten Militärschuhe Vorsicht geboten. Leichtfüßig hinter ihm Daskind. Macht sich ein Spiel daraus, möglichst nah am Abgrund zu gehen. Hört das Orgeln des Bachs als ein grünes Gebet. Lästergebet, Lichtfressergebet. Hört die Brunstschreie der Mächlerin und die des Entsetzens. Greift nach dem Rücken des Mannes vor ihm, der, auf den Stoß nicht gefasst, auf dem nassen Waldschlick ausgleitet, stolpert und schwer in die Zweige über dem Abgrund fällt. Eine Ewigkeit Erschrecken in den Augen Kari Kenels, der – von den Zweigen aufgehalten – erst in den Abgrund unter ihm und dann ins Gesicht des Kindes starrt. Dunkel ist das Grau vom Erschrecken. Schaut Daskind durch die Angst hindurch mit festem Blick bis zum jubelnden Schrei der Mächlerin, zum Schrei, der ein Tier ist in eisiger Nacht. Kind Ohnegrund. Kann den jetzt unbewegten Himmel über sich einatmen. Und die Angst des Mannes im Gezweig. Könnte zutreten, die Hand, ins Holz verkrampft, zertreten. Müsste fallen, in jene Nächte zurückfallen, aus denen es emporgestiegen ist, in jene eisigen Nächte, die Daskind bewohnt und schon immer bewohnt hat. Wäre Ordnung für lange im Kind.

Aber einer wie Kari Kenel ist ein Widergänger. Bannt den Blick des Kindes trotz der Angst, überrascht das Kind mit stiller Ergebung. Schon löst sich das Bild auf, wird zum Schatten, als der Mann die Hand ausstreckt und dann wieder auf festem Boden steht. Neben dem Kind. Die Hand des Kindes in der Hand des Mannes. Das weint jetzt, Daskind. Hat einen neuen Schmerz gefunden.

3

Aufmerksam betrachtet Daskind die Kiesel. Der Dorfbach macht hier keine großen Sprünge, sanft umspült er Stein um Stein. Umsichtig beleckt er die Wurzeln der Butterblume, sättigt großzügig das blühende Moos. Bunt leuchten die Kiesel im Bach, vom Wasser zurechtgeschliffene Werkzeuge, deren das Kind bald bedarf.

Im Rücken des Kindes das Haus der Waldfrau. Unter dem Giebel haben wie jedes Jahr Schwalben genistet. Daskind weiß nicht, wann die jungen Schwalben verschwanden, aber das aufgeregte Flattern und Jammern des Vogelpaars war tagelang zu hören. So ist’s im Wald, sagt die Waldfrau, frisst jeder jeden, je nach Bedarf. Sie greift ins Innere des Hasen, tastet nach Lungen und Herz. Legt das stumme ­Hasenherz zu den zierlichen Nierchen auf einen Bakelitteller. Füllt den nun leeren Hasenbauch mit Kräutern und Knoblauch, streicht ihm sanft über die prallen Schenkel, ehe das Tier im Ofen verschwindet. Die Lunge landet hinter dem Haus im Brombeergestrüpp. Für den Waldschrat, lacht die Waldfrau. Daskind will nichts hören vom Schrat, denkt, wenn die Frau lacht, dass sie den Wald mit dem Waldschrat teilt und ihn mit der Lunge des Hasen zufrieden stimmt, damit er unsichtbar bleibt. Grad so wie der Immergrüne im nächtlichen Dunkel verschwindet, wenn er mit dem Gewicht seines Körpers die Lungen des Kindes zerquetscht und den Schleim zwischen die magern Schenkel des Kindes gespuckt hat.

Daskind könnte auf das Hausdach der Waldfrau klettern, sich einfach und heiter hinunterfallen lassen. Das wäre ein Staunen im Auge des Immergrünen, sähe er die gebrochenen Schenkel, die zerfetzte Haut. Könnte Daskind auflachen, jubeln vor Freude. Hätte Daskind eine Frist zu nutzen. Doch Gott sieht alles, sagen sie im Dorf, wenn eines der Kinder Schlechtes treibt, und dass ihnen der Leib von Gott gegeben, der allein ihn zurücknehmen darf. Am Herzen Jesu bergen. Das Herz Jesu will keine gebrochenen Schenkel, keine zerfetzte Haut, keinen besudelten Leib. Lacht da der Immergrüne und jubelt.

Endlich findet Daskind den Stein. Der graue Kiesel liegt gut in der Hand. Zärtlich betrachtet Daskind die Maserung, misst mit geübtem Blick die Rundung des Funds. Mit Schleuder, Stein und Ziel zu verwachsen, hat es gelernt, dann verwittert das Herz nicht beim Schuss. Und dass das Ziel eines ganz bestimmten Steins bedarf.

Daskind wandert mit dem Stein und der Schleuder in den Wald. Ums Kind wimmelt’s von Absicht. Da ist ein Leben und Leben im Wald, das zueinanderdrängt und findet. Dornige Ranken zerkratzen die nackten Beine des Kindes. Vögel schrecken auf und fliegen hoch aus dem Niedergehölz. Das Beben der Luft will überall sein, ein Überallbeben berührt Daskind. Das ist nun im Wald aufgehoben, mit sich und mit dem Stein in der Hand.

Das klare Gesicht des Waldes verdunkelt sich zur Waldmitte. Hier stehen sie, Stamm an Stamm, die hohen, schlanken Tannen. Das kräftige Wurzelwerk ist unter dem Nadelteppich zu sehen. Eine feuchte, dunkle Weiblichkeit erfüllt diesen Teil des Waldes, den Daskind Nimmerwald nennt, im Gegensatz zu den andern Waldgegenden, die fürs Kind keine Namen haben. Die Waldfrau hingegen nennt den Ort Feenrausch, weil die Waldfeen an dieser Stelle vor langer Zeit ihre ­Feste gefeiert haben sollen. Trunken vom Nektar, hätten sie sich im Reigen gewiegt und gesungen. Die Tannen, bei Festen immer zugegen, hätten sie mit ihrem Rauschen begleitet. Doch einmal seien die Feen vom Tanz in die Ekstase nicht mehr zurückgekommen, obwohl die Tannen zur Rückkehr mahnten. Seither habe niemand mehr die Feen gesehen. Traurig seien die Tannen allein in den Wald zurück­gekehrt. Seither herrsche der Schrat im Wald, mit dem sei nicht zu spaßen. Die Bäume aber seien zum Himmel gewachsen, um ab und zu einen Glanz auf den Flügeln der Feen zu erhaschen.

Daskind umarmt den traurigen Baum. Das kann es verstehen, dass da eine Trauer ist, die nie mehr vergeht, wenn keine Feen im Feenrausch tanzen. Das kann es verstehen, Daskind, dass da keine Freude ist, wo die Feen fehlen und der Schrat sein Unwesen treibt. Es ist an der Zeit, flüstert Daskind. Da ist der Stein in der Hand und die Schleuder. Daskind hat sein Geschick, kann nicht aus der Haut. Jetzt hört es die Amsel im Gezweig des Baums, hört im Gezweig das Necken und Rufen. Nimmt still die Schleuder zur Hand. Fühlt die Kraft im Arm, als es langsam den roten Gummi spannt. Denkt, dass es verwachsen muss mit dem Stein und der Schleuder, dem Ziel. Tut es probeweise, hält inne, nimmt sich Zeit. Moosbewachsene Zeit zieht ins Kind ein, in den Bauch, macht ihn weich und fügsam. Warm.

Fest Jetzt Die Hand Ums Gegabelte Holz Spannt Jetzt Den Schlauch Fühlt Ziel In Der Hand Im Stein Liegt Gut In Der Hand Im Leder Der Schleuder Spannt Fester Noch Fester Fühlt Stein Fühlt Hand Die Schleuder Das Ziel Kann Jetzt Das Sirren Des Steins Und Zugleich Das Locken Der Amsel Kann Das Hören Fühlen Schwarz ­Explodiert Sonne Im Bauch Und Ein Ziehen Das Sirren Lauter Dann Dumpf Und Schneller Der Fall Still Liegt Vogel Tot Kann Nicht Fragen Kein Vogelfragen Hat Stille Daskind Hat Stille Im Wald Daskind Kehrt Zurück Moosgrüne Zeit.

Kind Ohneschuld, eingesponnen in eine feuchte Träumerei, beachtet den Vogel nicht, braucht den nutzlosen Kadaver nicht, um das Träumen in Schwung zu halten. Sitzt unter den Tannen, die Hände im Schoß gefaltet, lauscht es dem fernen Gesang der Feen, weiß sich vorm Schrat beschützt. In seinem Traum sind alle Vögel unterwegs, trennen mit ihren Schnäbeln die Welt vom Rumpf der Nacht.

Im Chalet sah man die Spaziergänge des Kindes zur Waldfrau nicht gern. Eigentlich waren sie verboten, aber dem Kind wurde nie gesagt, weshalb. Über die Waldfrau, Kari Kenels ledige Schwester, wurde ohnehin nicht mehr gesprochen, seit sie die Eltern verließ und in den Wald zog. Das war nach der Zeit, als Kari Kenel, den der Krieg in die Heimat zurückrief, die Störschneiderin Frieda Rüegg ehelichte und ihr das Chalet Idaho baute. Die Eltern starben kurz nach seiner Heirat, gramgebeugt, wussten die Dörfler, weil ihnen die Tochter die geschuldete Treue verweigerte. Das hatte es im Dorf noch nie gegeben, dass eine unverheiratete Tochter Haus und Herd verließ, um ­allein in einer alten Holzerhütte zu leben. Doch die Waldfrau, die Leni, habe ja vom Schaffen nie viel gehalten. Die habe beizeiten vom Schaffen nicht viel gehalten. Oft habe man sie am Waldrand sitzen ­sehen, gefaulenzt habe sie, obwohl das Gras hochgestanden sei und die Säue in den Koben vor Hunger schrien. Umso mehr hätten die betagten Eltern zugepackt, auf den Sohn sei ja auch kein Verlass mehr gewesen. Der mit seiner Auswanderei und den teuren Postkarten, die er von drüben schickte. Der Hof ging an Neuzuzüger, an Ambachs aus dem Nachbardorf, weil die Leni nicht zu bewegen gewesen sei, ihn wenigstens an einen Einheimischen zu verpachten. Auch der Kari habe seine Stelle als Vorarbeiter in der Aluminiumfabrik nicht aufgeben und den Hof nicht bewirtschaften wollen. So sei der Leni ein stattlicher Batzen ausbezahlt worden, mit dem sich’s gut leben lasse. Aber dass da eine dem Herrgott die Zeit stehle, das sei ein Ärgernis. Die hause im Wald, als sei sie vom Bessern.

Andere wussten von den Spaziergängen der Waldfrau zu berichten. Kraut um Kraut nehme sie zur Hand, einige trage sie gebündelt nach Hause. Man könne nur ahnen, was daraus zusammengebraut werde. Gescheites könne es nicht sein, bei so einer.

Andere wollten sie bei Vollmond im Wald gesehen haben. Oft mit nackten Füßen und nur in ein weißes Hemd gekleidet. In so einem Dorf wird halt viel geredet, wer weiß schon, was an den Geschichten wahr ist, die sich die Frauen beim Warten aufs Anprobieren in Frieda Kenels Nähstube erzählen.

Daskind wusste von den Erzählungen. Ging hin, auch wenn es verboten war.

Das erste Mal hatte sich Daskind verirrt. Es war aufgebrochen, die Puppe zu suchen, seine Puppe, die Frieda Kenel in den Dorfbach geworfen hatte. Die Puppe war ein Geschenk der Kellers nebenan. Ei­gent­lich kein Geschenk, eher ein Lohn, denn für die Stoffpuppe musste Daskind der Keller Marie wöchentlich dreimal das lange, wirre Haar bürsten. Vorsichtig hatte es durch das Haar zu fahren, vorsichtig Knoten um Knoten zu lösen, bis das Haar glatt und glänzend über die Schultern des Mädchens floss. Das Haar roch nach Kakao und Kuchen. Wenn Daskind unvorsichtig wurde und an den hellen Haaren riss, schlug Marie es ins Gesicht oder – noch schlimmer – Marie weinte so lange, bis die Keller vom Laden hochkam und Daskind laut schimpfend aus dem Haus jagte. Oder Anton Keller selbst kam und nahm Marie in den Arm. Nach dem Bürsten besah sich Daskind seine Hände. Nie hatte das Gold des Haars Spuren hinterlassen, die Handteller blieben weiß.

Einmal hatte es das Haar der Keller Marie besonders vorsichtig gebürstet. Seidenweich war es anzufühlen. Marie ließ sich und ihre Haarpracht kokett bewundern. Da griff die Keller in eine Spielzeugtruhe und holte die Puppe hervor. Da nimm, armes Ding, und dass du morgen wiederkommst.

Die Stoffpuppe wurde in die Überlebensstrategie des Kindes eingebaut. Von allem Überflüssigen befreit, schien sie dem Licht zu­gehörig, in das die Tannen getaucht waren, wenn sie dem Glanz der Feenflügel nachtrauerten. Dann war auch jenes dunkle Rauschen zu hören, das jetzt Daskind beim Anblick der Puppe zu hören glaubte. Vorsichtig löste es den schwarzen Faden aus dem Stoff, an dem vermutlich das eine Auge befestigt war. Dann kratzte es die rote Farbe weg, die einmal ein Lippenpaar markierte. Der Mund, nur noch eine zarte, kaum sichtbare Kerbe in der unteren Hälfte der runden Gesichtsscheibe, lächelte weltentleert.

Die Hände und Füße der Puppe zeigten Zerfallserscheinungen. Finger und Zehen fehlten ganz. Wolle quoll aus den Wunden hervor, Daskind stopfte sie in die Öffnungen zurück. Der Rumpf war in ein Tuch von undefinierbarer Farbe eingenäht. Lose baumelten die Beine am Rumpf. Daskind schwang die Puppe im Kreis, bis es im Schultergelenk knackte. Dann riss es der Puppe die baumelnden Beine in den Spagat und bohrte mit dem Zeigefinger ein Loch in den brüchigen Stoff. Schließlich fand es einen geeigneten Knebel, um Kellers ­Geschenk aufzuspießen, und lief, die Trophäe hoch erhoben, nach Hause.

Wenn mich die Keller Marie jetzt schlägt, werde ich der Puppe Nadeln ins Gesicht stecken, dort, wo die Augen waren. Und ins Herz, in den Bauch. Ich werde keine Stelle auslassen, denkt Daskind. Keine Stelle, auch nicht die Stelle mit dem Loch.

Und auf dem Stuhl im Grünenzimmer werde ich an die Puppe denken, denkt Daskind, und nachts, wenn der Immergrüne … Dann auch.

Aber nun war die Puppe weg, und Daskind machte sich auf, sie zu suchen. Nachts zuvor war wieder der Immergrüne ins Kind eingebrochen. Daskind hatte lange die Puppe gequält und sie schließlich an einen Nagel gehängt, dass der Stoff im Rücken riss.

Weggeworfen. In den Bach, hatte die Pflegemutter gesagt. Also lief das Kind zum Bach. Es war ein schwieriges Suchen, denn Daskind wusste nicht, an welcher Stelle Frieda Kenel die Puppe in den Bach geworfen hatte. Auch konnte der Bach die Puppe mitgenommen haben, davongetragen wie die Äste und Steine, die er nach Gewittern auf die Dorfstraße spülte.

Daskind trottet dem Bach entlang dem Wald zu. Es weiß, wo die Pflegemutter die wilden Beeren holt, die sie für den Winter zu Kompott verarbeitet. Im Keller stehen die Gläser auf den rohen Holzbrettern. Nach einiger Zeit sind sie von klebrigem Staub überzogen, dann sieht man die Schrift nicht mehr und muss an der Farbe des Eingemachten erraten, was man auf Geheiß der Pflegemutter in die Küche hochschleppt. Ist es das Falsche, muss Daskind wieder in den Keller steigen, obwohl es sich fürchtet vor dem Dunkel und den großen Spinnen. Oft glaubt es, die Spinnen auf dem Gesicht zu spüren oder Spinngewebe, das von der Decke hängt. Dann schreit es laut im Dunkel des Kellers, weil es den Lichtschalter nicht berühren darf. Das hat die Pflegemutter verboten, dass Daskind Licht macht, wenn es in den Keller hinuntersteigt. Das hat sie verboten, und dass Daskind schreit. Aber Daskind kann nicht aufhören zu schreien, obwohl es Angst hat, dass ihm eine Spinne in den Mund klettert und dort ein Netz spannt, an dem Daskind ersticken muss.

Jetzt hat es die Stelle erreicht. Hier ist der Bach ein friedliches Ge­murmel, schön anzuschauen mit den bunten Steinen und den Blu­men, die am Bachrand blühen: Dotterblumen, weiße Waldanemo­nen und Engelwurz. Ein gelbes Licht verzaubert das Gebüsch, Frieda Kenels Gebüsch, Frieda Kenels Beeren, die sie in kleinen Körben nach Hause trägt. Daskind muss die Puppe finden. Starrt angestrengt in den Bach. Sucht mit weiten Augen das Wasser ab, das Ufer. Im Moos liegt die Puppe, der Bach hat sie nicht fortgetragen, hat sie achtlos ans Ufer gespült, wo sie sich in abgebrochenen Zweigen verfing. Von den Zweigen gehalten, liegt sie im Moos, sanft gleiten kleine Wellen über ihren Stoffkörper, manchmal verschwindet der Kopf in den Wellen. Daskind klettert vorsichtig die Böschung hinunter, greift nach der nassen Puppe, zieht sich wieder hoch. Mustert die Puppe, schüttelt sie und schwingt sie in der Luft. In den Wassertropfen bricht sich das Licht, kleine, regenbogenfarbene Kugeln, ein lebendiger Kreis um Daskind und die Puppe.

Aber Daskind verlässt den Kreis, will nicht vom Regenbogen, nicht vom Licht und den Farben gefangen werden. Nimmt einen dicken Prügel und die Puppe, läuft hastig in den Wald. Dort, weitab vom Bach, haut Daskind auf die Puppe ein, langsam, entschlossen. Blind. Findet den Rücken der Puppe blind. Schreit und haut. Jedem Schrei folgt ein tiefes Knurren aus dem Innern des Kindes. Prügelt die Puppe in den weichen Waldboden. Kann nicht aufhören, muss und muss. Schreit und knurrt. Das hat es von den Wölfen gelernt, dass da kein Erbarmen ist, wo Blut fließt. Schlägt jetzt schneller, Daskind, verbeißt sich im Stoff, zerreißt den Fetzen Stoffleib, bis nicht mehr zu sehen ist, was es war.

Pocht das Herz rasend.

Ist ein Zorn im Kind.

Zittert Daskind.

Schreit weiter, Daskind.

Bis eine Hand es streift und seine schreiende Stimme in der ruhigen Stimme der fremden Waldfrau verschwindet.

Starren sich an, die Frau und Daskind. Fremdlinge im Wald, der ein Tor ist zu den Gesängen der Fee. Führt eine Einsamkeit die andre durchs Tor, ein Fremdling den andern, eine Not die andere Not, führt eine Hand die andere tief in den Wald, wo das Holzhaus steht. Jetzt beide stumm.

Kocht die Waldfrau Kakao. Stellt Kuchen auf den Tisch. Bittet das Kind zuzugreifen. Nie hat jemand Daskind um eine Gefälligkeit ­gebeten, nicht am Tisch und nicht in der Nacht ohne Sinn. Daskind stopft sich den Kuchen ins Maul. Schluckt süß und süß, will wiederkommen. Bald.

4

Ein Frostflaum auf den Lippen des Kindes. Auf der Suche nach dem ordentlichen Leben wandert es zum Friedhof, der hinter der Michaels­kirche liegt. Kann sich selbst nicht gelingen, wenn es die Toten zu lange meidet. Der Friedhof, für Daskind die siebente Tür, hinter der das Paradies sich befindet. Von der Welt abgenabelt, liegen sie unter der Erde, harren geduldig der Zersetzung durchs Gewürm. Das muss das Paradies sein, diese passive Art, sich des lästigen Körpers zu ent­ledigen. Die einzige Möglichkeit, dem Herrn die Macht über das ge­wesene Fleisch zu stehlen, sich zurückzuholen, was ihm angeblich gehört. Weil keine Maden zur Hand sind, legt sich Daskind rote Re­gen­würmer auf die nackten Beine, hofft es auf die Gier der roten Fresser und bietet ihnen seine Haut bedingungslos zum Fraß. Aber die wollen nichts vom Kind, fallen vom Bein, verschwinden in der Erde. Bedauernd verfolgt Daskind ihren Rückzug.

Im hintern Teil des Friedhofs, unweit der Friedhofsmauer, die alte Eibe. Der Baum wächst in den Himmel wie die Tannen. Daskind weiß nicht, was für ein Schmerz so hoch hinauf zwingt, wie viel Glanz man ihm genommen oder welchem Gesang er sich so verzweifelt entgegenstreckt. Jedenfalls scheint er ein trauriger Baum zu sein. Daskind streicht mit den Händen über die rötlich braune Rinde, umfasst den Stamm, um das Herz schlagen zu hören. Mit den Bäumen kennt es sich aus. Und die Bäume mit dem Kind. Dieser hier ist nicht nur ein trauriger Baum, in der Blüte wird er ausgesprochen freundlich, wenn sich ein Mensch in seinen Schatten legt. Das tut Daskind im Frühling, wann immer es kann, denn auch für die Friedhofspaziergänge muss man sich davonschleichen, Frieda Kenel überlisten, das Haus unge­sehen verlassen und dafür sorgen, dass die Gartentür nicht knarrt. Bleibt der Weg durchs Dorf, an Kellers Laden vorbei zum Italiener, der in seinem Schaufenster Kämme, hübsche Frauenfrisuren, Scheren, Rasiermesser, Seifen und dicke Pinsel aus Dachshaar feilbietet. Dann der Hauptstraße entlang zur alten Schule, wo jetzt im Dach­geschoss die zwei Lehrerinnen wohnen, Nonnen in schwarzen Gewändern und Schleiern. Schwester Guido Maria betreut die erste Klasse, Schwester Eva die zweite und dritte, die höheren Klassen werden von Lehrern unterrichtet.