Über dieses Buch

Eine Kindheit in den Vierzigerjahren des letzten Jahrhunderts auf der Orenplatte bei Braunwald: Der Vater will nicht länger im engen Tal der Linth bleiben, das geprägt ist von Fabrikarbeit, Armut und Hoffnungslosigkeit. Er gibt das Hotel auf, das seit Generationen von der Familie Zweifel geführt wurde, und kauft ein altes Bauernhaus auf dem Berg. Hier will er seinen Traum ver­­wirklichen, bald wird dort ein Hotel stehen, auch eine Seilbahn hinaufführen. Die Tochter bewundert ihn.

Aber das Kind ahnt, dass dies nicht nur ein wunderschöner Ort ist, sondern auch ein Ort des Unheils, denn zum Le­ben auf dem Berg gehören auch die Wand, eine Schlucht, die alles verschluckt, die Kälte, die Dunkelheit, der Schnee und die immer gegenwärtige Lawine. Eine seltsame, nicht fassbare Bedrohung liegt über allem.

Viele Jahre, ein ganzes Leben später, nach Stationen in Lausanne, London, Bergamo und Zürich, durchgeht die Erzählerin noch einmal die Wege. In einer kunstvollen Sprache erinnert sie sich an diese Stimmung, an die Menschen auf dem Berg und die Menschen im Tal. Sie beginnen zu leben, zu streiten. Wie war das? Trauer, Vertrautheit und gleich­zeitiges Fremdsein fliessen ineinander.

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Foto AdS, M.F.Schorro

Elsbeth Zweifel, 1938 geboren in Diesbach ­(Glarus Süd), als Halbnomadin zwischen Berg und Tal aufgewachsen, später Abwanderung nach Zürich. Nach dem Abschluss ihrer beruflichen Tätigkeit als Berufsschullehrerin in Krankenpflege besuchte sie ­verschiedene Schreibkurse. Sie gehört einer Zürcher Lyrikgruppe an, schreibt Gedichte und ­lyrische Erzählungen.

Elsbeth Zweifel

Das Bündel Zeit

Erinnerungen an eine Kindheit am Berg

Limmat Verlag

Zürich

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Die Autorin verwendet die offizielle Schreibweise «Orenplatte», die Schreibweise mit h, die auf ­allen Drucksachen und am Gasthaus zu sehen ist, war eine Eigenheit ihres Vaters.

Geboren

Das Bündel
Unbeholfen
Seine Beine, die Füsse schwach

Es bei Grossmutter
Im Tal gelassen
Dort sei sein Platz und
Milch von derselbigen Kuh
mit Wasser

In Grossmutters Stube sei es warm
Später sollen die Sonne auf dem Berg
Und die Grobenschuhe die krummen
Beine gerade machen

Prolog

Meine Eltern waren Halbnomaden. Blieb der erste Schnee, hiess es, ins Tal, zum Fluss, dort ist das Bett warm, sind Grossmutters Geschichten wahr. Wenn in der Gartenlaube die Vögel laut wurden, der Tag heiter, dann trieb ein Fieber uns auf den Berg. Kinder, Hund und Katzen tapsten durch den lahmen Schnee. Die jungen Hühner, die Schweine schon bestellt. Hinter dem Haus die ersten Mehlprimeln zart.

In den ersten Texten gibt es Schnee, immer diesen Schnee, und ich, das Kind, spielte mit der Macht des Schnees. «Der Schnee ist nicht weiss, er ist rot, er ist schwarz wie der Tod», sagte es.

An vielen Tagen war sein Schulweg ein Drama mit persönlichem Personal. Der Winterweg mit Mutter, seine Skier auf ihren Schultern, und Albert mit der Schaufel, in der Mitte das Kind und ein Licht, das bei heftigem Sturm immer wieder erlosch. Noch weit entfernt von der Schule setzte das Kind sich in den Schnee und schrie: «Ich bleibe hier.» Und so sah man mitten im Hang einen Lichtpunkt am Berg.

Der Schnee war auch für Vater eine Sorge, auf dem Tragseil seiner Luftseilbahn lag die weisse Masse wie ein gefrorener Rollkragen. Für die kleinen Räder und das Kind, das in der kleinen Kiste sass, zur Schule musste, war dies eine Feuerprobe. Aber Vater stand oben und schaute zum Guten.

Die Primarschule besuchte das Kind bis zum Winter mit Vaters Luftseilbahn im Tal unten. Als seine Beine lang genug waren, durfte es auf dem Berg nach Braunwald zur Schule gehen.

Wie im Paradies war der Sommerweg auf dem Berg, wenn die kleinsten Blumen blühten, der Thymian und der Kümmel ihre Düfte mit einer feinen Bise dem Kind in die Nase wehten und die kleinen Käfer und Spinnen ihm über seine Finger krochen, auch das Konzert der Grillen liebte es.

Im Tal stand das Hotel Diesbach, in diesem grossen Haus wurde auch ich, Amalia, das jüngste der drei Mädchen, geboren. Wir Kinder mussten wie Prinzessinnen essen, durften nicht schlürfen, den Mund beim Kauen nicht öffnen, sprechen nur mit leerem Mund.

Im Haus nebenan wohnten Nänni und Anna, zwei Fabriklerinnen. Nänni war eine Frau wie aus einem «Staub»-Kinderbuch, sie nahm das schreiende Bündel, wickelte es behutsam in ein Tuch, legte einen Zettel mit «Nänni» ins Bettchen und verschwand nach nebenan. Die Mutter im Restaurant ahnte es, weil es im oberen Stock ruhig wurde.

Die Menschen im Tal wie auf dem Berg hatten ihre eigene Sprache, diesen singenden Klang, auf und ab, Buchstaben verschwanden, und die Sätze bestanden aus zwei oder drei Wörtern. «Jä schuu, morä dä, tüüf underem Schnee, zunderscht undä und im Gwürz, weisch.»

Im Tal geschah es, dass jemand sich einen Stein um den Bauch band und in der Linth im nächstliegenden Fabrikrechen hängen blieb. Oder dass sich ein Bauer im Tenn einen Strick um den Hals legte und dass ihn am nächsten Morgen seine Frau noch hängend fand. Erzählungen, bei denen die Toten in der Nacht als Gespenster erschienen, hörte ich nur aus den katholischen Dörfern. Niemand sprach mit uns Kindern darüber, aber wir wussten es und wollten nachts nicht mehr schlafen.

Im Tal der Linth lebte auch die Grossmutter in ihrem Haus am Bach, sie erzählte stundenlange Geschichten über ihre Kindheit und Jugend in Höngg und über ihren Vater, der für die Post und für eine Weinstube der Studenten aus Zürich zuständig war. Dass Grossmutter verheiratet war und vier Söhne hatte, dass einer davon mein Vater war, daran dachte ich nicht, es gab den Höngger Vater und es gab die Grossmutter.

Der liebste war mir Sepp auf dem Berg. Er sah mich, das Kind, auf meinem Schulweg, grüsste mich und lächelte. Er kam als Knabe mit seinem Vater aus dem Schächental zu einem Bauern und blieb dort sein Leben lang. Sepp war oft da, wenn das Kind rot und schwarz sah und seine Eltern vor lauter Arbeit im Restaurant keine Zeit für kleine Kinderschmerzen hatten.

An einem Septembermontag lagen Blutspuren auf den Steinen, und Sepp erklärte. «Weisst du, wie so eine Nase bluten kann?», sagte er. Das Kind und Sepp lachten, denn sie wussten …

Und dann Albert, ein Grossvater, alt, es hiess, er sei verheiratet und seine Frau im Tal. «Es oder miis», sagte er jeweils verschmitzt, auch er war immer da. Am Tisch sass er neben Vater und Mutter, er durfte das Brot in die Suppe schneiden, laut schlürfen, und seine Unterarme lagen bequem auf dem Holztisch.

Albert spaltete Holz, fütterte die Schweine, im Sommer trug er das Wildheu die Leiter hinauf. Im Winter schaufelte er den Weg frei. Am Abend sass er mit der Familie im Stübli, las die Zeitung oder erzählte vom Tag. Wenn Albert zu seiner Frau ins Tal ging, kam er kurz vor dem Melken zurück, suchte meine Mutter, meldete ihr, dass er da sei und melken gehe. Sein Hut, alles sass dann schief, und schon lag er auf dem Boden. Wie ein kleines Kind rollte er sich hin und her, fluchte und schimpfte. Mutter ging zu ihm, brachte ihm einen heissen Kaffee und half ihm auf die Füsse.

«Martha, jetzt geht es wieder, kannst ja einmal schauen kommen, wie es mir beim Melken geht.»

Auch Fini war immer da, sie war Mutters linke Hand. Fini war kein Kindermädchen, nur im Notfall. Und das Kind schuf sich immer wieder solche Fälle. Wo sind meine Grobenschuhe? Im Strumpf das Loch und in den Haaren diese kleinen Tiere!

Aber dann kamen die Schuhe und die sauberen Strümpfe über meinen Kopf geflogen, und Fini schrie: «Du Zaupf …» Und schon war Mutter in der Tür und schrie mit ihrem Sopran die zweite Stimme. Ich rannte und verkroch mich, weinte aus Wut und Verlassenheit. Die zwei Frauen begannen mich zu suchen, später brachten sie mir das Essen.

Je nach Saison kamen noch andere Frauen wie Alba, Gretel und Giuseppina aus Italien, Österreich und Jugoslawien. In Deutschland war Krieg.

Die Eltern, der Lehrer und der Pfarrer im Tal fanden es nicht gut, wenn man den Kindern immer alles erklärte. «Sie erfahren es noch früh genug», war ihr Satz. Während des Krieges war dieses Schweigen gross, gross wie die Hürbi in der Allmend, und der aufsteigende Rauch stach in die Nase.

Auch wir Kinder sagten den Eltern nicht alles: Dass wir im Tal unten ein Ohr auf das Bahngleis legten und auf das Rauschen und Klopfen des nahenden Zuges warteten. Ein Lokomotivführer von der sbb beklagte sich, und meine Eltern wurden per Telefon gewarnt.

Auch das Rauchen von Nielen und Zigis blieb unsere Sache, manchmal sah man auf dem alten Dach ein Räuchlein aufsteigen.

Dies war im Tal der Linth und auf dem Orenberg in den Vierziger- und Fünfziger-jahren des letzten Jahrhunderts.

Dreissig Jahre später, nach einer Durchgehung dieser mir vertrauten Landschaft, empfand ich eine mir nicht erklärbare Trauer, Vertrautheit und gleichzeitiges Fremdsein. Ist dies ein Zustand des Erinnerns?

Welche Sprache spricht die Erinnerung? Was passiert in mir, wenn sich die zwei Welten treffen, damals, heute?

Bilder, Worte, Stimmungen beginnen zu sprechen, suchen einen Ort der Vertrautheit. Das Blühen der Erikas und der Duft der grünen Minze.

Die Landschaft verändert, die Figuren die gleichen. Während des Erzählens stiegen der Autorin immer neue Figuren auf, Figuren, die sprechen wollten. Sie beginnt mit ihnen zu spielen, auch zu streiten. Wie die Farben sein sollen, hell oder dunkel, wie ihr Denken, ihre Sprache oder ihr Handeln sein sollen.

Ich nehme die Fäden in meine Hände, manchmal lasse ich sie gehen, bis mir mein Körper ein Signal gibt. Ob das Rot auf dem Stein Blut war oder im Regenwasser vermoderte rote Blütenblätter, dies erfahren wir später.

Was geschieht, wenn da einfach nichts, Leere ist?

Das Kind
und der Schnee
auf dem Oren

Lieber Vater

Heute war ich wieder einmal auf dem Oren, dort wo Du so gerne warst, dort, wo unser Haus stand, dort wo die Wand war.

Ich weiss nicht, wie lange diese Pläne in Deinem Kopf brodelten, mit dem heimlichen Wissen, dass dies ein wunderschöner Ort ist, mit dem unheimlichen Wissen, dass dies ein Ort des Unheils werden könnte.

Als ich im Hotel unten, im Tal des silbergrauen Flusses, auf die Welt kam, warst Du traurig, dass ich kein Bub war. Ich war das dritte Mädchen.

«Gut so», sagte Mutter, «was willst Du noch mehr, es ist schön, hat alle Glieder, und es ist gesund.»

Damit das Kind dort oben auf dem Berg, in diesem alten Bauernhaus, nicht erfrieren müsse, befahlst Du Mutter, ihre Brüste mit Kampfer einzustreichen, sie einzuschnüren. Dem Kind Kuhmilch mit Wasser, immer von der gleichen Kuh, zu geben und es für ein Jahr bei Deiner Mutter, meiner Grossmutter, im Tal des silbergrauen Flusses zu lassen.

Ich war eine junge Frau, als Mutter mir dies eines Tages erzählte. Nach diesem Jahr habe sie mich kaum mehr erkannt, ich sei still und ruhig im Bettchen gelegen, und als sie sich über mich neigen und mich küssen wollte, hätte ich geschrien, kaum mehr geatmet.

Stundenlang hielt sie mich in ihren Armen, sei mit mir herumspaziert und hätte die Dinge im Haus laut beim Namen genannt. Jetzt bleiben Mutters Worte in meinem Hals stecken, ich weine. Mutter weint, Trost finden wir keinen.

Nun bin ich alt und wandere auf dem Oren herum. Ich könnte die Augen schliessen, und mein Herz würde jedem Ort die richtigen Farben zuteilen.

Vater, hier auf dem schmalen Strässchen blicke ich zum Schluchen hinunter, ein schmaler, steiler Abhang mit Wildheu, und ich weiss, dass hier Dein erster Versuch war, aus einem kleinen Bach Elektrizität in unsere Stube zu bringen.