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Ricochet

QUERSCHLÄGER

Addicted to You 1,5

Krista und Becca Ritchie

Aus dem Englischen von Jutta E. Reitbauer

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© 2016 Sieben Verlag, 64823 Groß-Umstadt
© 2016 Umschlaggestaltung: Andrea Gunschera
Aus dem Englischen von Jutta E. Reitbauer
Originalausgabe Ricochet (Addicted # 1,5) © Krista & Becca Ritchie 2013
Bookcase Literary Agency on behalf of Rebecca Friedman Literary Agency

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Januar

Kapitel 3

Vor 2 Jahren

Kapitel 4

Kapitel 5

6 Februar

Vor drei Jahren

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14 März

Kapitel 15

Kapitel 16

Vor dreieinhalb Jahren

Leseprobe

Danksagung

1

Ich hab Scheiße gebaut.

Das ist mein einziger Gedanke, während ich den Anblick meiner Umgebung verdaue. Ein DJ lässt Musik aus Lautsprecherboxen an der Wand erschallen, während die Leute an bunten Drinks nuckeln. Meine jüngste Schwester Daisy trinkt Bier aus einem roten Plastikbecher und checkt ihre Model-Freunde ab. Ich befürchte, dass sie einen Typen aus der Menge holt und versucht, mich mit ihm zu verkuppeln – damit ich nicht mehr an Loren Hale denke. Noch vor fünf Stunden glaubte ich, dass eine private Party eine sichere Sache sei.

Stimmt nicht.

Stimmt. Sowas. Von. Nicht.

Ich sollte mich ganz keusch unter meiner Bettdecke verkriechen und den Silvestertrubel bei mir zu Hause zusammen mit Rose verschlafen. Vor ein paar Tagen erst ist Lo – mein bester Freund, mein fester Freund, der Mann, der buchstäblich mein ganzes Leben darstellt – in eine Entzugsklinik gegangen. Rose und ich haben einen ganzen Montag damit verbracht, meine Sachen zusammenzupacken. Und ich schaute Bilder, Kleinkram und liebgewonnene Dinge durch und brach immer wieder spontan in Tränen aus. Abgesehen von Klamotten und Toilettenartikeln gehört alles was meins ist auch Lo. Ich fühlte mich, als ob ich eine Scheidung durchmache.

Und tu’s noch immer.

Nach nicht mal einer Stunde rief Rose Umzugsspezialisten an und bezahlte sie dafür, den Rest meiner Sachen in meiner alten Wohnung zusammenzupacken und sie in unserem neuen Haus wieder auszupacken. Sie hat eine Villa mit vier Schlafzimmern in der Nähe von Princeton gekauft, mit 1,25 Hektar ausgedehntem, fruchtbarem Land und einer weißen, umlaufenden Veranda, schwarzen Fensterläden und violetten Hortensien. Die Villa erinnert mich an die Südstaatenhäuser in Savannah oder an das Buch über die Ya-Ya-Schwestern. Als ich ihr das sagte, stand sie mit in die Hüfte gestemmten Händen davor und begutachtete das Anwesen mit diesen mächtigen, gelben Augen. Dann brach sie in ein Lächeln aus und sagte: „Ich schätze, du hast recht.“

Das von männlichen Körpern isoliert sein hält meinen flatternden Geist nicht davon ab, an schlimme Sachen zu denken. Meistens mache ich mir Sorgen wegen Lo. Ich wälze mich nachts im Bett herum, bis ich große Mengen an Schlaftabletten nehme, um Ruhe zu finden. Ich vermisse ihn. Bevor er wegging, habe ich mir nie eine Welt ohne Lo vorgestellt. Meine Kehle wurde bei der Vorstellung eng, mein Herz wurde schwer, und in meinem Kopf drehte sich alles. Jetzt wo der Moment gekommen ist, erkenne ich, dass er ein Stück von mir mit sich genommen hat. Als ich das Rose erzählte, klopfte sie mir auf die Schulter und sagte, ich sei irrational. Sie hat leicht reden. Sie ist intelligent, voller Selbstvertrauen und unabhängig. Alles, was ich nicht bin.

Und ich denke nicht … ich denke nicht, dass viele Menschen wirklich verstehen können, wie es ist, wenn man sich so sehr auf jemanden eingelassen hat. Jeden Augenblick miteinander zu teilen und ihn dann plötzlich zu verlieren. Wir haben eine ungesunde, co-abhängige Beziehung.

Ich weiß das.

Und ich versuche mich zu ändern, über ihn hinauszuwachsen, aber warum muss das eine Bedingung sein?

Ich will mit ihm wachsen.

Ich will mit ihm zusammen sein.

Ich will Lo lieben, ohne dass mir die Leute sagen, dass unsere Liebe zu viel ist.

Ich hoffe, dass wir eines Tages dort ankommen. Hoffnung, das ist alles, woran ich mich im Moment klammern kann. Sie treibt mich an. Sie ist buchstäblich das, was mich auf den Beinen hält.

Die ersten paar Tage auf Entzug waren die reinste Folter, aber es half, dass ich mich in meinem Zimmer versteckte. Ich weigerte mich, die echte Welt wahrzunehmen, bis ich die heftigsten Schübe von Verlangen hinter mich gebracht hatte. Bis jetzt habe ich meine sexuellen Bedürfnisse durch jede Menge Selbstbefriedigung unter Kontrolle behalten. Ich habe die Hälfte meiner Pornosammlung weggeworfen, um Rose zufriedenzustellen und mich selbst zu überzeugen, dass ich genau wie Lo auf dem Weg der Heilung bin. Aber ich bin mir nicht so sicher, ob das der Fall ist. Nicht, wenn sich mein Magen bei dem Gedanken an Sex zusammenkrampft. Aber hauptsächlich will ich Sex mit ihm haben.

Und ich bin wegen der fünfzigprozentigen Chance besorgt, dass ich einen anderen Typen in eine Toilette zerren werde, um für einen Augenblick vorzugeben, dass er Lo ist, um meinen Hunger zu stillen. Ich sollte nicht hier sein. Auf einer Party. Abstand von wilden Dingen hat bisher geholfen. Das hier ist nicht einmal in der Nähe meiner wildesten Momente, aber es ist genug, um mich in schlimme Gedanken zu stoßen.

Als Daisy anrief und mich zu einer „Privatparty“ einlud, hatte ich die Vorstellung von ein paar Leuten, die sich starke Drinks mixen und vor dem Fernseher abhängen, um sich Musikvideos anzugucken. Nicht das hier. Sicher keine Wohnung auf der Upper East Side, die vollgestopft ist mit Models … männlichen Models. Ich kann mich kaum einen Zentimeter bewegen, ohne dass ein Körper in meinen privaten Bereich dringt. Ich sehe nicht einmal hin, welche Art von Körperteil meine Haut streift.

Ich hätte Nein zu Daisy sagen sollen. Ich habe viele Ängste, seit Lo weg ist, aber meine größte Angst ist, ihn zu enttäuschen. Ich will auf Lo warten, und wenn ich nicht stark genug bin, um diese Zwänge zu unterdrücken, bevor er aus der Entziehungskur zurückkommt, wird unsere Beziehung wirklich vorbei sein. Nicht mehr Lily und Lo. Kein wir mehr. Er wird gesund sein, und ich werde allein auf einem zerstörerischen Plattenteller feststecken, der sich im Kreis dreht.

Also muss ich es versuchen. Selbst falls etwas in meinem Kopf los sagt. Ich erinnere mich immer wieder daran, was mich erwartet, wenn ich nicht auf ihn warte. Leere. Einsamkeit.

Ich werde meinen besten Freund verlieren.

Laut Roses sachkundiger Anweisung (sie hat sich gründlich über Sexsucht informiert – ebenso wie Connor, aber das ist eine andere Geschichte) sollte ich mir einen passenden Therapeuten suchen, ehe ich bei irgendwelchen sozialen Anlässen erscheine, die mich in Versuchung führen. Daisy weiß nichts von meiner Sucht – dass sie sich um die Anziehungskraft von heißen Jungs und das Hoch einer schnellen Nummer dreht. Rose ist die einzige Person in meiner Familie, die mein Problem kennt, und wenn es nach mir geht, bleibt das auch so.

Dennoch sagte ich nicht Nein zu Daisy. Selbst als ich versuchte, es zu sagen, benutzte sie das „ich seh dich nie“-Mantra, um mich zum Nachgeben zu bewegen. Als Krönung sagte sie, dass ich keine Ahnung hätte, dass sie während Thanksgiving mit Josh Schluss gemacht hatte. (Erster Fehler: in der Früh am Handy zu fragen „Wie geht’s Josh?“. Und ich dachte, ich wäre so schlau, weil ich mich an ihn und seinen Namen erinnerte.) „So wenig Anteil“ an ihrem Leben hatte ich. Also verarbeitete ich nicht nur ihren Single-Status, sondern fühlte auch einen Wolkenbruch schwesterlicher Gewissensbisse. Ich musste Ja sagen, um es wiedergutzumachen. Das ist Lily 2.0 – das Mädchen, das tatsächlich versucht, ein Teil der Welt seiner Familie zu sein.

Was bedeutet, eine schöne Zeit mit Daisy zu verbringen. Und mir Sorgen zu machen, weil sie wieder in den Dating-Pool gesprungen ist. Besonders, wo diese älteren Models ihre Haken auswerfen, um sie sich zu angeln.

Jetzt bin ich also hier. Offensichtlich nicht auf diese Art von Party vorbereitet. Obwohl ich meine Jogginghosen gegen eine schwarze Hose und eine blaue Seidenbluse ausgetauscht habe.

„Ich freu mich so, dass wir zusammen hier sind“, ruft Daisy zum dritten Mal. „Ich seh dich sonst nie.“

Ihr Arm legt sich um meine Schultern und zieht mich in eine beschwipste Umarmung. Ich bekomme fast ihr goldbraunes, beinahe blondes Haar in den Mund. Die fedrigen, geraden Strähnen reichen bis weit über ihre Brust.

Wir lösen uns voneinander, und ich ziehe eine ihrer Haarsträhnen von meinen glänzenden Lippen.

„Tut mir leid“, sagt sie und versucht, ihre Haare zurückzunehmen, aber ihre Hände sind voll. Bier in einer Hand und eine Zigarette brennt müßig zwischen zwei Fingern der anderen. „Meine Haare sind verdammt nochmal viel zu lang.“

Sie seufzt frustriert und kämpft noch immer mit den Strähnen. Es endet damit, dass sie ihre Schultern und ihren Hals in dem Versuch benutzt, die Haare von ihrer Brust zu schieben. Sie sieht dabei wie ein Spasti aus.

Mir ist aufgefallen, dass Daisy mehr flucht, wenn sie gereizt ist. Was in Ordnung ist. Aber ich bin mir sicher, dass unsere Mutter zusätzliche drei Stunden der Meditation brauchen würde, um Daisys schmutziges Mundwerk zu vergessen.

Und das ist exakt der Grund, warum es mir egal ist, ob sie viel flucht oder gar nicht. Sie soll machen, was ihr gefällt, sage ich. Daisy muss zur Abwechslung mal Daisy sein, und ich bin echt aus dem Häuschen, weil sie den neurotischen Klauen meiner Mutter entkommen ist.

Sie hört auf zu zappeln und legt mir einen Ellbogen auf die Schulter, um sich abzustützen. Ich bin klein genug, um ihre Armstütze zu sein.

„Lil“, sagt Daisy. „Ich weiß, dass Lo nicht hier ist, aber ich verspreche, dass ich dich heute Nacht auf andere Gedanken bringe. Kein Gerede über die Entziehungskur. Keine Erwähnung von Comics oder irgendwas, das dich an ihn erinnert. Nix, okay? Da sind nur du und ich und ein Haufen Freunde.“

„Du meinst, ein Haufen attraktiver Menschen.“ Ich benutze den korrekten Begriff. Ich bin umgeben von hübschen Menschen, die baywatchmäßig einen Strand entlangrennen und dabei eine Laola-Welle von Ständern erzeugen könnten. Oder sie könnten über einen Laufsteg gehen, und man würde wahrscheinlich mehr in ihr Gesicht als auf ihre Klamotten starren.

Wenigstens würde ich das. Macht mich das zur hässlichsten Person hier? Ich bin vermutlich das einzige nichtmodelmäßige Mädchen. Ich nicke. Okay. Ich habe kein Problem damit. Umgeben von Zehner-Mädels, und ich bin wahrscheinlich eine sechs. Ich kann damit umgehen.

Sie bläst Rauch aus ihrem Mund und lächelt. „So gut sehen die alle gar nicht aus. Mark sieht wie ein Hamster in schlechtem Licht aus. Seine Augen stehen zu dicht zusammen.“

„Und er wird für Aufträge gebucht?“

Sie nickt mit einem albernen Lächeln. „Manche Modelinien mögen was Verschrobenes. Du weißt schon, so ein Look mit buschigen Augenbrauen und einer Zahnlücke.“

„Hm.“ Ich versuche Mark und seine Hamsterhaftigkeit zu entdecken, aber ich sehe ihn nirgends.

„Irgendwie wünsch ich mir, dass ich ein cooleres Markenzeichen hätte.“

Markenzeichen? Klingt, als ob man einen megatollen Patronus in der Wizarding World of Harry Potter bekommt. Allerdings bin ich sicher, dass meiner auch langweilig sein würde. Wie zum Beispiel ein Eichhörnchen.

Ich versuche, ihr Markenzeichen zu erkennen, und mustere ihre schwarzen Leggings, das lange graue Shirt und die armeegrüne Jacke im Military-Style. Sie trägt kein bisschen Make-up. Ihr Teint ist glatt, frisch und perfekt wie ein samtener Pfirsich.

„Du hast tolle Haut.“ Ich nicke und glaube, das Rätsel gelöst zu haben. Ich bin so gut. Ich klopfe mir fast selbst auf die Schulter.

Ihre Brauen heben sich, und sie stößt mich spielerisch mit der Hüfte an. „Alle Models haben gute Haut.“

„Oh.“ Mir wird klar, dass ich nicht darum herumkomme zu fragen. „Was ist dein Markenzeichen?“

Sie schiebt die Zigarette zwischen ihre Lippen und greift dann nach einem Büschel Haare und hält es mir hin. „Dieses Baby hier“, sagt sie leise. Sie lässt die Strähnen auf ihre Schulter fallen und klemmt die Kippe zwischen die Finger. „Langes, langes, langes Haar wie eine Disney-Prinzessin. So nennt meine Agentur es.“ Sie zuckt mit den Achseln. „Es ist überhaupt nichts Besonderes. Mit Perücken und so einem Kram kann jeder meine Haare haben.“

Ich würde ihr gern raten, es abzuschneiden, aber das würde ihr erst recht die Tatsache bewusst machen, dass sie absolut nichts deswegen unternehmen kann. Nicht, wenn die Agentur ihr Aussehen kontrolliert. Nicht, wenn unsere Mutter einen Herzinfarkt bekommen würde.

„Du hast bessere Haare als ich“, sage ich ihr. Meine sind die meiste Zeit fettig. Ich sollte sie wahrscheinlich öfter waschen.

„Rose hat die besten Haare“, sagt Daisy. „Sie haben die perfekte Länge und sind superglänzend.“

„Ja. Aber ich denke, sie bürstet sie auch hundert Mal am Tag. Wie das gemeine Mädchen aus Die kleine Prinzessin.“

Daisys Lippen verziehen sich zu einem Lächeln. „Hast du gerade unsere Schwester mit einem Bösewicht verglichen?“

„Hey, ein Bösewicht mit schönen Haaren“, verteidige ich mich. „Sie wüsste das zu schätzen.“ Wenigstens hoffe ich das.

Daisy raucht ihre Zigarette fertig und drückt sie in einem Kristallaschenbecher auf dem Kaminsims aus. „Ich bin froh, dass du hier bist.“

„Du sagst das andauernd.“

„Weil ich es bin. Du bist immer so beschäftigt. Ich hab das Gefühl, dass wir uns kaum miteinander unterhalten haben, seit du auf dem College bist.“

Ich fühle mich noch mieser. Sie muss sich isoliert und einsam gefühlt haben, da sie so viel jünger als Poppy, Rose und ich ist. Es half nicht, dass ich süchtig bin und meine ganze Familie ausschloss.

„Ich bin auch froh, dass ich hier bin“, sage ich zu ihr mit einem breiten, ehrlichen Lächeln. Selbst falls das mein größter Test seit Los Abwesenheit ist, weiß ich jetzt wenigstens, dass ich eine Sache richtig gemacht habe. Hierherzukommen, Zeit mit Daisy zu verbringen, ist ein Fortschritt. Nur auf eine andere Art.

Plötzlich leuchten ihre Augen. „Ich habe eine Idee.“ Sie nimmt meine Hand, bevor ich protestieren kann. Wir verlassen die Wohnung und gehen den Flur entlang. Sie rennt in Richtung Treppe und zieht mich mit sich. Ich gewöhne mich gerade erst an diese neue impulsive Daisy. Die es, wie mich Rose informiert hat, anscheinend schon die letzten zwei Jahre gibt. Als wir in unser neues Haus gezogen sind, haben wir Daisy eingeladen, uns beim Einrichten zu helfen. Auf ihrer Führung durch die Villa mit den vier Schlafzimmern entdeckte sie den Pool hinter dem Haus. Ganz zu schweigen davon, dass es noch immer Winter ist. Ein hinterhältiges Lächeln zeigte sich auf ihrem Gesicht, und sie kletterte aus dem Fenster von Roses Zimmer aufs Dach hinauf und bereitete sich darauf vor, vom zweiten Stock aus in das Wasser zu springen. Ich dachte nicht, dass sie es tun würde. Ich sagte zu Rose: „Mach dir keine Sorgen. Es ist wahrscheinlich nur so eine Aufmerksamkeitssache.“

Aber sie zog sich bis auf die Unterwäsche aus, nahm Anlauf und landete mit einem Platschen im Pool. Als ihr Kopf auftauchte, trug sie das breiteste, albernste „Daisy“-Grinsen. Rose brachte sie fast um. Meine Kinnlade klappte für immer nach unten. Und sie trieb auf dem Rücken durchs Wasser und zitterte nicht mal wirklich.

Rose sagte, wenn unsere Mutter nicht in der Nähe sei, tendiere Daisy dazu, verrücktzuspielen. Und nicht die Ich werde meine Sorgen in Alkohol ertränken und etwas Koks schnupfen Rebellion. Sie macht einfach Sachen, die unsere Mutter verurteilen würde, und Daisy weiß vermutlich, dass wir ihr das eher verzeihen. Als Rose sah, dass Daisy den Sprung ohne Kratzer überlebte, nannte sie sie schlicht dumm und ließ die Sache dann auf sich beruhen. Unsere Mutter hätte eine Stunde lang herumgemeckert und jede Verletzung aufgezählt, die ihre Modelkarriere hätte ruinieren können.

Mehr als alles andere glaube ich, dass Daisy einfach frei sein will. Ich schätze, ich hatte Glück, dass ich der strengen Fuchtel unserer Mutter entkommen bin. Aber vielleicht auch nicht. Ich bin nicht perfekt geworden. Man könnte sogar sagen, dass ich total verkorkst bin.

Wir steigen die Treppe zum obersten Stockwerk hoch, und Daisy dreht am Türknauf, während die beißende Kälte über meine nackten Arme streicht. Das Dach. Sie brachte mich aufs Dach.

„Du hast nicht vor, runterzuspringen, oder?“, frage ich sofort mit großen Augen. „Hier gibt es keinen Pool, in dem du landen kannst.“

Sie schnaubt. „Nein echt?“ Sie lässt meine Hand los und stellt ihr Bier auf dem geschotterten Untergrund ab. „Hast du schon mal so eine Aussicht gesehen?“

Wolkenkratzer erhellen die Stadt, und Menschen auf anderen Gebäuden lassen Feuerwerke hochgehen, deren strahlende Farben anlässlich der Silvesterfeier am Himmel verglühen. Unten hupen Autos und übertönen mit ihrem Lärm die majestätische Atmosphäre der Nacht.

Daisy streckt ihre Arme aus und atmet tief ein. Und dann schreit sie aus Leibeskräften: „FROHES NEUES JAHR, NEW YORK CITY!“ Es ist erst zehn Uhr dreißig, also ist es eigentlich noch der Silvesterabend. Ihr Kopf dreht sich zu mir um. „Schrei, Lil.“

Ich reibe mir nervös über den heißen Hals. Vielleicht ist es der Mangel an Sex. Oder vielleicht ist Sex das Einzige, wodurch ich mich besser fühle. Also … ist der Sex die Ursache oder die Lösung? Ich weiß es nicht mehr. „Ich bin kein Schreier.“ Lo würde nicht zustimmen. Meine Wangen werden rot.

Daisy wendet sich zu mir um und sagt: „Komm schon, du wirst dich danach besser fühlen.“

Das bezweifle ich.

„Mach den Mund weit auf“, provoziert sie mich. „Komm schon, große Schwester.“

Bin ich die Einzige, die denkt, dass das pervers klingt? Ich sehe über meine Schulter. Oh ja, wir sind allein.

„Schrei mit mir.“ Sie stellt sich auf die Zehenspitzen, bereit „frohes“ zu sagen, aber sie hält inne, als ich ihren Enthusiasmus für diesen Feiertag nicht teile. „Du musst lockerer werden, Lil. Rose ist doch die Zugeknöpfte.“ Sie nimmt meine Hand. „Mach schon.“ Sie führt mich näher an die Dachkante.

Ich werfe einen Blick hinunter. Oh Gott. Wir sind superhoch oben. „Ich habe Höhenangst“, erkläre ich ihr zurückweichend.

„Seit wann?“, fragt sie.

„Seit mich Harry Cheesewater im Alter von sieben Jahren von einem Klettergerüst geschubst hat.“

„Oh genau, du hast dir den Arm gebrochen, oder?“ Sie lächelt. „Und war sein Name nicht Chesswater?“

„Lo hat den Spitznamen erfunden.“ Die guten alten Zeiten.

Sie schnippt mit den Fingern, als sie sich erinnert. „Das stimmt. Lo steckte ihm als Vergeltung einen Knallfrosch in den Rucksack.“ Ihr Lächeln verblasst. „Ich wünschte, ich hätte einen Freund wie ihn gehabt.“

Sie zuckt mit den Schultern, als ob diese Zeit für sie vorbei wäre, aber sie ist noch jung. Sie kann noch immer mit jemandem zusammenwachsen, aber andererseits hat sie vermutlich weniger Zeit für Freunde als wir anderen hatten, weil unsere Mutter sie immer mitschleift.

„Okay, genug von Lo. Er ist doch heute aus unseren Gespräche verbannt, erinnerst du dich?“

„Hab’s vergessen“, murmle ich. Die meisten meiner Kindheitsgeschichten drehen sich um ihn. Ich kann nur ein paar aufzählen, in denen er nicht vorkommt. Familienausflüge, er war dabei. Familienzusammenkünfte, er war dabei. Abendessen mit den Calloways, er war dabei. Meine Eltern hätten ihn genauso gut adoptieren können. Zum Teufel, meine Großmutter backt ihm ohne besonderen Grund ihren speziellen Früchtekuchen. Sie schickt ihm ab und zu diesen Kuchen mit der Post. Er hat sie irgendwie bezaubert. Ich glaube noch immer, dass er ihr eine Fußmassage oder etwas anderes Ekliges gegeben hat. Mich schüttelt es. Ihh.

„Lass uns ein Spiel spielen“, schlägt Daisy mit einem albernen Lächeln vor. „Wir stellen einander Fragen, und wenn wir sie falsch beantworten, dann muss die andere Person einen Schritt näher an den Rand machen.“

„Ähm … das klingt nicht spaßig.“ Mein Schicksal wird von ihrer Fähigkeit, eine Frage zu beantworten, abhängen.

„Es geht bei dem Spiel um Vertrauen“, sagt sie mit funkelnden Augen. „Außerdem will ich dich besser kennenlernen. Ist das so schlimm?“

Jetzt kann ich nicht Nein sagen. Sie testet mich, glaube ich.

„Gut.“ Ich werde die Fragen einfach gestalten, damit sie die Antwort weiß und ich nicht spüren muss, wie mir das Herz aus der Brust hüpft.

Sie bringt uns in Position, sodass wir gute zwei Meter vom Dachrand entfernt sind. Scheiße. Das wird keinen Spaß machen.

„Wann habe ich Geburtstag?“, fragt sie mich.

Meine Arme werden plötzlich heiß. Ich weiß das. Wirklich. „Im Februar …“ Denk nach, Lily. Denk nach. Benutz diese Gehirnzellen. „Am zwanzigsten.“

Ihre Lippen verziehen sich zu einem Lächeln. „Gut, du bist dran.“

„Wann habe ich Geburtstag?“

„Am ersten August“, sagt sie. Sie wartet nicht darauf, dass ich ihr sage, dass sie recht hat. Sie weiß es. „Wie viele ernsthafte Beziehungen hatte ich?“

„Definiere ernsthaft.“ Ich weiß die Antwort darauf nicht. Wirklich nicht. Mir war nicht mal klar, dass sie mit Verabredungen angefangen hatte, bis ich Joshs Namen hörte, als wir wegen der Kleider für die Wohltätigkeitsgala zu Weihnachten auf Shopping-Tour waren.

„Ich hab sie zu Hause Mom und Dad vorgestellt.“

„Eine“, sage ich mit einem wenig selbstbewussten Nicken.

„Ich hatte zwei. Erinnerst du dich nicht an Patrick?“

Ich runzle die Stirn und kratze mich am Arm. „Patrick wer?“

„Rote Haare, dürr. Irgendwie unreif. Er kniff mir immer in den Hintern, also hab ich mit ihm Schluss gemacht. Ich war vierzehn.“

Sie macht einen Schritt auf den Rand zu, da ich ganz eindeutig die schlechteste Schwester aller Zeiten bin. Ich seufze schwer, als mir klar wird, dass ich wieder dran bin. „Ähm …“ Ich versuche, mir eine gute Frage auszudenken, aber irgendwie beinhalten alle Lo. Endlich fällt mir eine halb-gute ein. „Welche Rolle spielte ich bei der Aufführung von Der Zauberer von Oz?“ Ich war erst sieben, und auf Los Bitte hin nutzte sein Vater seinen Einfluss, um seinen Sohn aus der Aufführung herauszunehmen, damit er nicht den Blechmann spielen musste. Lo war so glücklich, dass er nie mit der Klasse proben musste. Er schlief mit offenem Mund hinten im Proberaum und hatte Zeit für ein extra Nickerchen, während wir versuchten, die verkürzten, altersangepassten Zeilen auswendig zu lernen.

Ich vermisse ihn.

„Du warst ein Baum“, sagte Daisy mit einem Nicken. „Rose sagte, du hast einen Apfel nach Dorothy geworfen und ihr ein blaues Auge verpasst.“

Ich zeige auf sie. „Das war ein Unfall. Lass dir von Rose keine Lügen auftischen.“ Ich schwöre, diese Geschichte ist in ihrem Arsenal, um sie gegen mich einzusetzen.

Daisy versucht ein Lächeln, aber es ist schwach. Ich erkenne, dass meine Beziehung zu Rose etwas ist, was sie stört, also sage ich nichts weiter dazu.

Sie fragt: „Was will ich werden, wenn ich erwachsen bin?“

Ich sollte das wissen. Sollte ich doch? Aber ich habe absolut keine Ahnung. „Astronautin“, werfe ich ihr hin.

„Netter Versuch.“ Sie macht einen Schritt nach vorn. „Ich bin mir nicht sicher, was ich werden will.“

Ich gaffe sie an. „Das war eine Trickfrage. Unfair.“

Sie zuckt mit den Schultern. „Wünschst du dir, dass du zuerst daran gedacht hättest?“

Ich nehme meine Entfernung von der Mauer wahr und dann ihre. Noch zwei Schritte, und sie steht auf dem Dachrand.

„Nein, danke.“ Ich bin überglücklich, dass sie meine Fragen richtig beantwortet hat, aber ich fühle mich ein wenig schuldig, weil ich ihre versaut habe. Ich denke, sie wusste, dass ich bei diesem Spiel versagen würde. Vielleicht will sie verlieren, und auf diese Weise kann ich ihr nicht verbieten, dass sie hinunterspringen soll. Nicht wenn das alles Teil des Spiels ist. Himmel, ich hoffe, dass das nicht der Fall ist. Aber mein Magen verkrampft sich bei diesem Gedanken. Es scheint mehr und mehr der Fall zu sein.

„Wie lautet mein zweiter Vorname?“ Ich versuche eine leichte Frage.

„Martha“, sagt sie mit einem Lachen. „Lily Martha Calloway. Ist es nicht furchtbar, nach unserer Großmutter benannt zu sein?“

„Wer im Glashaus sitzt, Petunia.“ Sie ist mit einem zweiten Blumennamen geschlagen.

„Weißt du, was mich Jungs immer fragen?“

„Was?“

„Wurde deine Blume schon gepflückt?“

Den hab ich schon oft gehört. Sie sieht mir kurz in die Augen.

„Wurde sie das?“

Die Kälte beißt in meinen Hals. „Ist das meine nächste Frage?“

Sie nickt.

„Du bist noch Jungfrau“, sage ich zögernd. Richtig? Als wir das letzte Mal darüber geredet haben, spielten wir ein Spiel auf der Yacht unserer Eltern, und sowohl Daisy als auch Rose sagten, dass ihre Jungfräulichkeit noch intakt sei.

Sie macht einen Schritt nach vorn, und ihre Stiefel stoßen an die Dachkante.

Waaaas

„Du lügst“, sage ich mit riesigen, runden Augen. Wann zur Hölle hat sie ihre Jungfräulichkeit verloren? An wen?

Sie schüttelt den Kopf, und ihre Haare flattern im Wind. Sie streicht sich eine Strähne hinters Ohr.

„War es Josh?“

„Nein“, sagt sie leichthin, als sei es keine große Sache.

Vielleicht ist es das für mich nicht gewesen. Ich hab sogar versucht, die Erinnerung an mein erstes Mal zu unterdrücken. Es war merkwürdig, und es tat ein bisschen weh. Immer wenn ich daran denke, werde ich rot. Also hab ich die Erinnerung daran tief in mir vergraben.

„Wer? Wann? Bist du okay?“

„Vor ein paar Monaten. Ich weiß nicht … Andere Mädchen haben in der Schule über Sex geredet, welchen sie hatten und so ein Zeug. Ich wollte einfach wissen, wie es ist. Es war okay, schätze ich. Hat aber definitiv nicht so viel Spaß gemacht wie das hier.“ Sie wackelt spielerisch mit den Augenbrauen.

„Aber wer …?“ Meine Augen hüpfen mir buchstäblich aus den Höhlen. Bitte sei nicht wie ich, ist alles, was ich denken kann.

„Ein Model. Wir hatten ein Shooting zusammen, und er ging nach Schweden zurück, also mach dir keine Sorgen, du wirst ihn hier nicht treffen.“

In nur einer Nacht erfahre ich so viel über Daisy. Es ist schwer zu verdauen. Ich fühle mich, als ob ich mich mit Burgern und Fritten von Five Guys überfressen hätte und kurz vorm Kotzen bin.

„Wie alt ist er?“ Bitte lass es keine Verführung von Minderjährigen sein. Ich weiß nicht, ob ich dieses Geheimnis bewahren könnte.

„Siebzehn.“

Ich entspanne mich. „Weiß Rose es?“

Daisy schüttelt den Kopf. „Nein, ich hab niemandem gesagt, dass ich keine Jungfrau mehr bin. Du bist die Erste. Du wirst doch nichts sagen, oder? Mom würde mich umbringen.“

„Nein, aber … wenn du anfängst, Sex zu haben, solltest du vorsichtig sein.“

„Ich weiß.“ Sie nickt mehrmals. „Glaubst du … glaubst du, dass du mich in die Klinik fahren kannst? Ich hätte gern die Pille.“

„Klar, ich bring dich hin.“ Ein weiteres Geheimnis, das ich vor meiner Familie bewahren muss, aber eines, bei dem ich es gern tue. Ungeplante Schwangerschaften können vermieden werden, und Mädchen sollten sich nicht dafür schämen, die Pille zu nehmen. „Versprich mir nur, dass du nicht durchdrehen und mit einem Haufen unbekannter Jungs schlafen wirst.“ Weil ich das tun würde und schau nur, was Tolles aus mir geworden ist.

„Ihh, das würde ich nie machen.“

Sie kräuselt die Nase, und mein Magen sinkt nach unten. Und deshalb kann ich niemandem aus meiner Familie von meiner Sucht berichten. Rose hatte recht. Sie würden es einfach nicht verstehen.

„Werde ich aufs College gehen?“, stellt sie eine weitere Frage für unser Spiel.

Ich kann mich nicht einmal mehr erinnern, ob sie dran ist oder ich. „Ich kann die Zukunft nicht voraussagen.“

„Will ich denn überhaupt aufs College gehen?“

„Das … ist eine sehr gute Frage … auf die ich keine Antwort habe. Willst du?“

Sie schüttelt den Kopf. „Nein. Jedenfalls nicht gleich. Ich bin bereit, achtzehn zu werden und Shootings ohne Moms Anwesenheit zu machen. Ich werde allein nach Frankreich reisen und mir die Stadt anschauen können, ohne dass Mom meinen ganzen Tag verplant. Weißt du, dieses Jahr wollte sie mich nicht mal in den Louvre lassen.“

„Das ist mies.“

Daisy nickt. „Ja, voll Scheiße.“

Dann stellt sie ihren Stiefel auf die Betonumrandung. Mein Herz hüpft mir in den Hals. „Okay, das Spiel ist vorbei!“ Ich werfe meine Hände in die Luft. „Lass uns wieder reingehen.“

Daisy grinst von einem Ohr zum anderen und steht an dieser verdammten Kante, wo es zwanzig Stockwerke nach unten geht. Sie richtet sich auf und streckt die Arme aus.

„ICH BIN EIN GOLDENER GOTT!“

Oh großer Gott. Aus Almost Famous zu zitieren lässt meine Panik nicht schrumpfen. Stattdessen schreit sie aus voller Kehle, bis ein volltönendes Lachen daraus wird. Diese Schwesternzeit ging ein wenig zu weit.

„Gut jetzt, es ist vorbei. Du gewinnst. Ernsthaft, ich krieg gleich die Windpocken.“ Oder zumindest einen Ausschlag, der so ähnlich aussieht. Ich fange an, auf und ab zu laufen, und habe zu viel Angst, näher hinzugehen und sie selbst vom Rand zu ziehen. Was, wenn ich an ihr zerre und sie rückwärts fällt wie im Fernsehen? Das ist die Art und Weise, wie Menschen ums Leben kommen.

Daisy beginnt, auf der Kante wie auf einem Drahtseil entlang zu laufen. „Es ist gar nicht so furchteinflößend. Ehrlich, es ist wie …“ Ihr Lachen endet mit einem Lächeln. „Es ist, als läge dir die ganze Welt zu Füßen, verstehst du?“

Ich schüttle wiederholt den Kopf, so oft, dass mein Nacken schmerzt. „Nein, nein. Ich habe keine Ahnung, wovon du redest. Hat dich jemand auf den Kopf fallen lassen?“ Das scheint mir im Moment echt wahrscheinlich zu sein.

Und dann hüpft sie hinunter.

Auf den Schotter.

Ich atme durch. Sie hebt ihren Plastikbecher auf dem Weg zu mir auf und legt einen Arm um meine Schultern.

„Es ist möglich, dass eines der Kindermädchen das getan hat. Vielleicht erklärt das, warum ich nicht so klug bin wie Rose.“

„Niemand ist so klug wie Rose.“ Außer vielleicht Connor Cobalt.

„Stimmt“, sagt sie mit einem Lachen und geht dann zur Tür. „Jetzt lass uns mal gucken, ob wir einen heißen Typen für dich finden.“

Tja, das kann nicht gut werden.

2

Daisy versucht, mich mit einem erschreckend attraktiven blonden Model allein zu lassen. Kann es ein Gesicht wie seines wirklich ohne Photoshop geben? Perfekte Knochenstruktur, die schönsten blauen Augen, die ich je gesehen habe. Großer Gott, ich stecke in Schwierigkeiten.

„Ich werde ein bisschen Punsch holen. Ihr zwei bleibt hier und unterhaltet euch“, sagt Daisy.

Ich versuche, ihren Ellbogen zu ergreifen, ehe ich sie aus den Augen verliere. „Daisy …“ Ich werde sie umbringen.

Sie wirbelt herum und sagt lautlos Misch dich unter die Leute und setzt ein weiteres Lächeln drauf.

Ich blicke zurück. Er ragt über mir auf und trinkt aus einem Plastikbecher. Er beugt sich zu meinem Ohr, seine Hand streicht über meine Taille. Und dann tiefer. Ich schlucke.

„Du bist wie ein verstecktes Juwel“, erklärt er mir mit einem kleinen Lachen.

Ich meide diese intensiven blauen Augen, die anfangen, meinen Körper in Aufregung zu versetzen und Stellen aufheizen, die auf keinen Fall von jemand anderem als Loren Hale heiß gemacht werden sollten.

Ich streife seine Hände so hektisch ab, dass es so aussieht, als ob ich Fliegen verscheuche. Und dann murmle ich etwas Blödes, das klingt wie Ich muss pinkeln oder vielleicht Da ist ein Schinken. Auf jeden Fall löse ich mich von ihm und den Heerscharen an Models auf der Tanzfläche. Ich finde einen sicheren Platz auf der Couch neben dem mannshohen Fenster. Die glitzernde Stadt ist erleuchtet und wach voller Taxis und Fußgänger.

Daisy steckt in einer Diskussion mit einem Kerl, der in ihrem Alter zu sein scheint. Es ist schwer, das bei diesen Typen zu sagen. Er hat schwarze Haare, europäische Gesichtszüge und ist so dürr, dass er der Leadsänger einer Indie-Rockband sein könnte. Sie hat noch nicht mitbekommen, dass ich ihren tatschenden Freund losgeworden bin.

Neben mir sitzt ein Junge, der nur noch halb bei Bewusstsein ist und mit Drogen vollgepumpt an die Decke starrt. Ich folge seinem Blick und sehe nicht, was er so verdammt interessant findet, abgesehen von weißem Stuck.

Ich werfe dem Eichentisch an der Wand einen impulsiven Blick zu – dekoriert mit einer Auswahl an billigem Alkohol. Die Leute bedienen sich selbst, und unbewusst suche ich nach Lo hinter einer lockigen Brünetten. Nachdem sie ein paar Eiswürfel in ihren Drink plumpsen lässt und in die Küche geht, sehe ich ihn.

Er lehnt an der beigen Wand und hält ein Riedel-Glas mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit. Seine Wangenknochen treten scharf hervor, und sein Gesichtsausdruck schwankt zwischen leicht genervt und amüsiert. Er nimmt einen kleinen Schluck und erwidert meinen Blick, weil er weiß, dass ich ihn beobachte – als ob wir beide ein Geheimnis teilen, das sonst niemand hier mitbekommt. Einer seiner Mundwinkel hebt sich, als er einen weiteren Schluck nimmt, und ich bin wie festgenagelt auf dem Sofa. Er senkt das Glas und lehnt den Kopf an die Wand, wobei er sein Kinn ein wenig hebt. Er starrt mich an. Ich starre zurück. Und meine ganze Brust füllt sich mit Helium.

Ich will ihn.

Ich brauche ihn.

Um mich zu halten. Meine Arme um seinen Körper zu legen. Damit er mir ins Ohr flüstert, dass alles in Ordnung kommen wird. Dass wir füreinander da sein werden. Werden wir das? Werden wir uns noch immer lieben, wenn er trocken ist und ich durch die Dinge wate, die mich quälen? Wird er in mein Leben passen, wenn ich mit meiner Sucht kämpfe, während er gesund und frei von seiner ist?

Ich will in sein Leben passen. Ich hoffe nur, dass er mich auch haben will, wenn er zurückkommt.

Ich blinzle. Er ist verschwunden. Irgendwohin. Niemand sagt mir, in welche Entzugsklinik er eingecheckt ist, und so bleiben mir nur diese verstörenden Fantasien, in denen ich mir wünsche, dass er zurückkommt. Wenigstens schaffte ich es, ein paar Antworten aus Ryke zu quetschen. Er sagte, dass Lo während des ersten Monats seiner Therapie keine Kommunikation welcher Art auch immer mit draußen haben soll. Ich bin nicht sicher, ob das nicht nur auf mich zutrifft, denn ich habe das Gefühl, dass Ryke mit Lo in Verbindung steht, seitdem er ihn zu der Klinik gebracht hat.

Also bin ich vielleicht die Einzige, die ausgeschlossen und wie dreckiger Müll aus Los Leben getreten wurde. Trotzdem warte ich voller Vorfreude auf Februar. Dann sind E-Mails wieder erlaubt. Und im März bekommt er ein Upgrade aufs Telefon. Wenn ich einfach nur den Januar überstehe, werde ich okay sein. Oder wenigstens ist es das, was ich mir immer wieder sage.

Mein Handy summt, ich hole es aus meiner Tasche und wische mir mit dem Handgelenk über die Augen, während ich die SMS lese.

Ich hab meine Brieftasche bei dir vergessen. Du musst mir das Tor aufmachen – Ryke

Ich erstarre und lese die SMS noch vier Mal.

Das Tor aufmachen.

Er meint unser mit Toren gesichertes Haus, in dem ich jetzt eigentlich sein sollte – dem Haus, das Rose in einer abgeschiedenen kleinen Stadt gekauft hat. Kann ich vorgeben, dass ich die SMS nicht gelesen habe?

Lily, ich weiß, dass du da bist.

Was? Wie?

Ich werde dich nicht ficken. Lass mich einfach nur rein. Ich sollte jetzt auf dem Times Square sein.

Meine Finger schweben über dem Knopf. Wenn ich mich weigere zu antworten, kann ich so tun, als ob ich die SMS nicht bekommen hätte. Einfach. Und dann kann ich morgen lügen und sagen, dass ich mein Handy verloren habe. Das ist besser, als sich jetzt mit Ryke zu befassen.

Wir haben beide iPhones. Ich kann erkennen, wenn du meine SMS liest, also hör auf, mich zu ignorieren, und mach das verdammte Tor auf.

Ähm …

Mein Handy klingelt, und ich fahre vor Schreck zusammen. RYKE MEADOWS steht auf dem Display.

Ich stecke in Schwierigkeiten. Wir haben noch keine reden-am-Telefon-Beziehung eingerichtet. Bis jetzt haben wir uns nur SMS geschrieben. Obwohl er Los Halbbruder ist, ist er doch gerade erst in unser Leben getreten. Und während Lo alle von Rykes vergangenen Sünden vergeben haben mag – wie dass er sieben Jahre mit dem Wissen über den Aufenthaltsort seines kleinen Bruders verbracht und deshalb nichts unternommen hat (wie wenigstens Hallo zu sagen) –, halte ich Ryke auf Abstand. Es hat nichts mit seinen männlichen Körperteilen und Sex zu tun, sondern mehr mit seinen nervenden Qualitäten. Wie, dass er sich in die Angelegenheiten von anderen Leuten mischt. Wie, dass er ein Alphatier ist, wenn die Situation es nicht erfordert.

Mein Finger schwebt weiter über dem großen grünen Knopf, und ich treffe eine schnelle Entscheidung und stürze auf die Terrasse, um die Musik und das laute Stimmengemurmel zu vermeiden. Aber hier draußen wechselt der Lärm der verrückten Straßen den Krach des pumpenden Basses nur ab, während sich Menschen unten für die heutigen Feierlichkeiten versammeln. Mein Handy vibriert zornig in meiner Hand. Rasch halte ich den Lautsprecher an mein Ohr und warte darauf, dass Ryke zuerst redet. Ich werde diese Unterhaltung so was von nicht anfangen.

„Mach das verdammte Tor auf“, blafft er.

„Ich kann nicht.“

„Was meinst du damit, du kannst nicht? Schwing deinen Arsch aus dem Bett und komm hier runter.“

Ich höre, wie er am eisernen Eingang rüttelt, als ob er versucht, das Tor durch schiere brutale Gewalt zu öffnen.

„Versuchst du einzubrechen?“

„Ich ziehe es in Betracht.“ Er seufzt aufgebracht. „Es ist sieben Tage her, seit er weg ist, keine fünf verdammten Jahre. Du führst dich erbärmlich auf.“

Ich schürze meine Lippen. Deshalb mag ich ihn nicht. Seine unverblümte Ehrlichkeit ist manchmal so unhöflich. Ryke bringt den Begriff „hart, aber herzlich“ auf ein ganz neues Level.

„Das ist mir klar. Und nur damit du es weißt, ich hab mich an Tag vier aus den Jogginghosen geschält, und an Tag fünf hab ich mir die Haare gewaschen.“ Ich bin nicht erbärmlich. Ich versuche, ohne meinen besten Freund zu leben. Es ist schwer. Mein einziger Grund, um morgens aufzuwachen und ein Lächeln aufzusetzen, ist mir genommen worden.

„Gratuliere. Und jetzt mach das Tor auf.“

Und dann wird mein Glück das Klo hinuntergespült.

„FROHES NEUES JAHR, IHR MOTHERFUCKER!“, brüllt ein Kerl fünf Stockwerke weiter unten.

Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass Ryke den betrunkenen Ausruf durchs Handy gehört hat.

„Bevor du irgendetwas sagst …“ Ich spreche schnell, weil ich den heißen Zorn spüren kann, der von Ryke durchs Handy ausgeht, „Daisy hat mich angebettelt, mit zu dieser privaten Party zu kommen. Sie sah mich mit diesem großen grünen Hundeblick an. Du wurdest noch kein Opfer von Daisys Hundeblick, also kannst du dir kein Urteil erlauben. Und dann dachte ich mir – hey, das kann keine so große Sache sein. Sie ist fünfzehn. Es wird so eine nette kleine Pyjamaparty für kleine Mädchen in der Stadt sein. Nichts, worüber man sich Sorgen machen müsste.“ Ich deute wie ein Idiot auf meine Brust, obwohl er mich nicht sehen kann. „Es ist nicht meine Schuld, dass meine kleine Schwester Freunde hat, die doppelt so alt sind wie sie. Ich wusste bis heute Abend nicht einmal, dass sie außerhalb meiner Familie etwas trinkt! Also ist das hier nicht meine Schuld. Hörst du mich, Ryke? Nicht. Meine. Schuld.“ Ich beende meinen Ausbruch mit einem schweren Seufzen.

Nach einer kurzen Pause ist alles, was er sagt: „Wo zum Geier bist du?“

„Ich werde wahrscheinlich gleich nach Mitternacht nach Hause fahren.“ Ich antworte ausweichend, für den Fall, dass er vorhat, mich zu finden.

„Vertraust du dir selbst?“

Ich werde still und betrachte ein gutgebautes Model, das sich über das Geländer beugt, um die Aufmerksamkeit eines Mädchens auf der Straße zu erregen. Er hat einen nackten Oberkörper. Und er ist heiß. Aber ich schätze, dass versteht sich von selbst, wenn man seinen Job bedenkt.

Vertraue ich mir selbst? Nicht ganz. Aber ich kann nicht für alle Zeiten wie ein Einsiedler leben und mich wie eine sterbende Hyäne in meinen Laken wälzen. Ich muss tapfer sein. Ich muss versuchen, normal zu sein. Selbst wenn mein Verstand Nein kreischt.

Ryke fasst mein Schweigen als Antwort auf. „Wenn du nicht einmal Ja sagen kannst, dann solltest du auf keinen Partys sein. Such Daisy und bleib bei ihr, bis ich da bin.“

Was? Nein, nein, nein. „Du musst nicht den Babysitter für mich spielen, Ryke.“

Er atmete hörbar aus. „Hör zu, ich habe Lo versprochen, dass ich aufpassen werde, dass du von keiner verdammten Klippe springst, während er weg ist. Wenn dir zu helfen ihm hilft, dann werde ich tun, was immer nötig ist. Bin gleich da.“

Er hängt auf, und mir wird bewusst, dass ich ihm nie die Adresse von der Wohnung gesagt habe. Vielleicht blufft er und versucht, mir Angst einzujagen, damit ich nichts Dummes und Voreiliges unternehme. Wie mich mit einem männlichen Model einzulassen. Wie irgendeinen Typen zu küssen. Ich habe furchtbare Angst vor der Stelle in meinem Hirn, die los sagt – den Auslöser, der die Liebe meines Lebens für einen kurzen, erschreckenden Moment vergisst. Und dann, wenn es vorbei ist, werde ich so tief mit Scham und Abscheu erfüllt sein, dass ich nicht weiß, wie ich da wieder herauskriechen soll.

Ich atme ein und schüttle meine zitternden Hände. Ich schleiche in die Wohnung zurück und entdecke Daisy neben dem silbernen Kühlschrank, auf dem eine ganze Reihe von Buchstabenmagneten klebt. Jemand hat Komm mit mir ausgelegt. Witzig.

Daisy trinkt aus einem roten Plastikbecher, der jetzt mit Punsch gefüllt ist, und plaudert mit einem großen italienischen Model, das dichtes schokoladefarbenes Haar und ein wahnsinnig strahlendes Lächeln hat. Als ich näherkomme, verabschiedet sie sich schnell und dreht zögernd ihr Handy in ihrer Handfläche.

„Was gibt’s?“, frage ich.

„Gerade ist was Komisches passiert. Ich weiß nicht …“ Sie nimmt einen weiteren Schluck von dem Punsch und leckt sich über die Lippen. „Ryke hat mir eine SMS geschrieben.“

Oh Scheiße.

„Ich meine, ich glaub nicht, dass ich ihm bis jetzt aufgefallen bin.“

Soweit ich mich erinnere, hat Ryke Daisy einmal im Haus meiner Familie in Villanova getroffen, einem vornehmen Vorort außerhalb von Philadelphia, und das war mehr ein Winken im Vorbeigehen und weniger eine echte Begrüßung.

„Was wollte er?“

„Wissen, auf welcher Party ich bin. Ich hab ihm die Adresse gegeben.“ Sie zuckt mit den Schultern. „Glaubst du, er steht auf mich oder sowas in der Art?“

„Ich weiß nicht, Dais. Er ist zweiundzwanzig, und nicht die Sorte Mann, die eine Fünfzehnjährige anbaggern würde.“ Weil solche Kerle pervers sind.

Ihre Lippen verziehen sich zu einer nachdenklichen Miene. „Ja, schätze ich auch. Aber warum sollte er mich sonst fragen, wo ich bin? Ich meine, ich sehe älter aus, Lily. Und ich verdiene mein eigenes Geld …“

„Trotzdem bist du noch immer fünfzehn“, erkläre ich ihr. „Er ist noch immer zweiundzwanzig.“ Das muss bereits im Ansatz erstickt werden, bevor er herkommt. Ich kann nicht zulassen, dass sie glaubt, sie hätte eine Chance bei ihm. Nein, nein, nein. Mein Hals juckt. Vielleicht bekomme ich die Windpocken.

Sie ächzt. „Es ist so verdammt frustrierend. Ich fühle mich die Hälfte der Zeit älter, als ich bin. Manche Leute behandeln mich, als ob ich in meinen Zwanzigern wäre, und dann komme ich zurück auf die Schule und werde wieder wie ein Baby behandelt. Ich bekomme Respekt, und dann wird er mir wieder genommen. Wieder und wieder und wieder.“ Sie kippt den Rest ihres Getränks hinunter.

„Das tut mir leid“, sage ich, weil ich nicht weiß, was ich sonst sagen soll, damit sie sich besser fühlt. „Du bist fast sechszehn, und dann hast du nur noch zwei Jahre.“ Ich schüttle ein bisschen meine Hände, als ob ich unsichtbare Pompoms halten würde.

Sie stößt ein schwaches Lachen aus. „Du bist so lahm.“

Ich zucke mit den Achseln. „Es hat dich zum Lachen gebracht.“

„Das hat es“, sagt sie nickend.

„Woher hat Ryke überhaupt deine Nummer?“

„Ich hab sie ihm nicht gegeben. Vielleicht rief er Rose an und bat sie darum.“ Sie macht eine Pause. „Also … warum glaubst du, dass er herkommt?“

Ich atme mühsam ein, während sich meine Muskeln verkrampfen. „Ich bin nicht sicher“, lüge ich.

„Ich schätze, wir werden es bald erfahren.“ Sie starrt auf ihren leeren Becher. „Ich hole mir Nachschub. Wie wär’s, wenn du mit Bret abhängst?“ Sie neigt den Kopf zu dem erschreckend hübschen blonden Typen, dem ich ausgewichen bin.

„Versuchst du mich loszuwerden?“, scherze ich. „Bin ich keine gute Gesellschaft?“

Sie lächelt. „Ich will dich einfach nicht allein rumstehen lassen. Schließlich bin ich diejenige, die dich bat mitzukommen. Und es kann eine Weile dauern, bis ich der Punschschale entkomme.“ Sie nickt zu der großen Wanne, die mit roter Flüssigkeit und in Scheiben geschnittener Ananas gefüllt ist. „Siehst du Jack dort drüben?“

Ich entdecke den schwarzhaarigen, europäischen Kerl, der mir zuvor aufgefallen ist. „Ja?“

„Er ist ein Schwätzer. Ich komme nie von ihm los, und ich fühle mich schuldig, wenn ich es versuche. Das wird mich wahrscheinlich zehn Minuten kosten.“

„Ich kann dich retten kommen“, schlage ich vor.

Sie schüttelt den Kopf und streicht sich eine Haarsträhne hinters Ohr. „Nein, nein. Ich komme schon klar. Hab Spaß. Misch dich unter die Leute“, sagt sie mir wieder. Als ob das die Lösung sei. Was es nicht ist.

Meine Handflächen schwitzen und meine Nerven flattern, als sie verschwindet. Ich will ihr wirklich folgen, aber sie sagte im Prinzip Folge mir nicht, Lily. Hat sie doch? Ich schlucke meine Nervosität hinunter und tausche zufällig einen Blick mit einem dunkelhäutigen Model aus. Sein Bizeps spannt sich an, als er sich mit beiden Händen auf dem Tisch mit dem Alkohol abstützt. Ich kaue an meinen Nägeln und verliere langsam die Kontrolle. Vielleicht sollte ich versuchen, mich zu beruhigen. Abhauen und mein eigenes Ding durchziehen. Jemanden finden … Bret …

Nein.

Mein Körper vibriert mit dem üblichen Verlangen, das ich mir für ganze sieben Tage verweigert habe. Die einzige Sache, die meine Nerven, die Angst und alles, was in meinem schwindligen Kopf herumschwirrt, zufriedenstellen wird, ist Sex.

Sex ist die Lösung.

Aber anstatt mir ein männliches Model zu suchen, auf das ich mich stürzen kann, richte ich meinen Fokus aufs Badezimmer. Geh dorthin, und du wirst dich besser fühlen, denke ich. Wieder und wieder. Ich brauche keinen Kerl. Ich kann mir selbst helfen.

Also steuere ich auf das Badezimmer im kleinen Flur zu. Nachdem ich in einer mittellangen Schlange gewartet habe, schließe ich die Tür ab und setzte mich auf den WC-Sitz. Ich versuche mich daran zu erinnern, dass ich dieses Ritual schon an weit ekelhafteren Orten geschafft habe. Ich schiebe meine Shorts und mein Höschen zu meinen Füßen runter.

Ich hole kurz Luft und finde die pulsierende Stelle mit meinen Fingern. Mit geschlossenen Augen lasse ich meinen Geist wandern und begebe mich in Gedanken von dieser Party zu anderen, heißeren Orten. Ich stelle mir Lo vor. Ich erschaffe eine nicht allzu ferne Erinnerung erneut in meinen Gedanken, wo wir in echt zusammen waren.

Die Lichter waren gedimmt, die Filmtrailer waren zu Ende und der Vorspann fing gerade an. In der Dunkelheit versuchte ich, mich nicht auf Los schweren Atem zu konzentrieren, auf die Art, wie sich sein Arm und sein Bein fest gegen mich drückten. Seine Augen waren auf die Leinwand gerichtet, er gab durch keinen Blick in meine Richtung zu erkennen, dass er sich der schmerzhaften Spannung bewusst war. Stattdessen erkundete seine rechte Hand geschickt mein Bein und sagte mir dadurch stumm, dass ich mich auf den Film konzentrieren sollte. Selbst im leeren Kinosaal half die Abgeschiedenheit in der letzten Reihe nicht, mein Verlangen zu unterdrücken. Seine Hand rieb über mein nacktes Knie, näherte sich mit jeder Minute, die verstrich, immer weiter meinem Oberschenkel. Ich kniff meine Schenkel zusammen, während sich die Spannung mit unerträglicher Langsamkeit steigerte. Ich atmete flach und abgehackt, wartete auf das unvermeidliche Abtauchen seiner Finger und wollte so viel mehr. Er neckte mich so gern. Das hat sich nie geändert.

Seine Hand fuhr hinauf und hinunter. Unter meinen Rock, wo sie den weichen Stoff meines Slips berührte. Mein Mund klappte auf, als sein Finger die pulsierende Stelle streifte. So zart. Nicht genug Kraft oder Druck. Ich wand mich, sehnte mich und widerstand dem Verlangen, nach mehr zu rufen.

Stille. Dunkelheit. Die Angst, erwischt zu werden. Das war die verlockende Atmosphäre, mit der wir spielten. Ich schluckte hart und hielt meine Augen auf die Leinwand gerichtet, aber ich nahm die Bilder gar nicht richtig war. Ich war verloren in diesen tiefen, tiefen Empfindungen.