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Impressum

www.beck.de

ISBN 978-3-406-68115-8

© 2015 Verlag C. H. Beck oHG
Wilhelmstraße 9, 80801 München

Satz: Fotosatz Buck,
Zweikirchener Str. 7, 84036 Kumhausen
Umschlaggestaltung: Ralph Zimmermann – Bureau Parapluie
Bildnachweis: © mo – fotolia.com
eBook‐Produktion: Datagroup int. SRL, www.datagroup.ro

Dieser Titel ist auch als Printausgabe beim
Verlag und im Buchhandel erhältlich.

11Inhalt

Ursachen: Warum wir viel Knigge leben und uns wenig Knigge fühlen

Symptomatische Abstiegsangst

Knigge-Report 2015: Benimm ist in

Die sieben Knigge-Feinde

Kniggefeind 1: Zunehmende Beschleunigung

Kniggefeind 2: Zunehmende Mobilität

Kniggefeind 3: Zunehmende Erreichbarkeit

Kniggefeind 4: Zunehmende Effizienz

Kniggefeind 5: Zunehmende Informationsflut

Kniggefeind 6: Zunehmende Ökonomisierung

Kniggefeind 7: Zunehmende Digitalisierung

Miese Stimmung, Stress, Burn-out: Warum Etikette krank und kaputtmachen kann

Mit Benimmregeln in die Stressfalle

Mit Benimmregeln in die Burn-out-Falle

Mobbing

Die Knigge-Kur: Welche Eigenschaften können Ihnen künftig helfen?

Warum sollten Sie eine Knigge-Kur antreten?

Bestandsaufnahme: Wie reif sind Sie für eine Knigge-Kur?

12Die neue Aufmerksamkeit

Drei Denkanstöße zum Thema „Aufmerksamkeit“

Schaden durch Ablenkung

Mehr Konzentration – weniger Ablenkung

Aufmerksamkeiten im typischen Knigge-Sinne

Die neue digitale Mündigkeit

Die Digitalisierung verändert das Berufsleben

Schnüffeln, spitzeln, spionieren

Digital aktiv und dennoch mündig sein

Toller Chef, doofer Chef: Arbeitgeberbewertungsplattformen

Twitterknigge

Netzwerken

Die neue Nachhaltigkeit

Das Ende des Wachstums

Von Vorbildern lernen

Die Nutzungsdauer macht die Nachhaltigkeit

Die neue Beziehungsqualität

Beziehungsorientiertes Business

So wird Ihr Geschäft beziehungsorientierter

Die neue Verlässlichkeit

Verlässlichkeit und Zuverlässigkeit im Berufsalltag

Digital zuverlässig

Die neue Bescheidenheit

Nachteil für Tiefstapler?

Umgang mit Lob

Das neue Interesse

Den Menschen hinter der Ressource entdecken

Drei Wege zu mehr Interesse

Die neue Pünktlichkeit

Wege zur neuen „Unpünktlichkeit“

Anspruch erzeugt Druck

13Die neue Verschwiegenheit

Gegen den Tratsch, für die Verschwiegenheit

Selfies: einarmiger Narziss

Die neue Wartezeit

Flanieren statt Hetzen

Wartezeit neu erlernen

Die neue Ehrlichkeit

Echtzeitschizophrenie

Geradlinigkeit auf dem Rückzug

Transparenz für Ehrlichkeit

Körpersprache: Ehrlichkeit statt Inszenierung

Ehrlicher Stil – das passende Business-Outfit

Das neue Miteinander

Die Kniggefeinde als Gegner der Teamarbeit

Von Auto bis Zug: das neue Miteinander in der Mobilität

Das neue Miteinander am Mittagstisch

Vive la fête: damit die Firmenfeier nicht zum Fiasko wird

Die neue Fairness

Unfairness hat viele Gesichter

Preispolitik

Verhandlungsknigge

Die neue Menschlichkeit

Mehr Menschlichkeit im Berufsleben wagen

Menschlichkeit statt Machtproben

Toleranz neu leben

Toleranz eher in der Theorie als in der Praxis

Toleranz wird im Berufsleben wichtiger

Die neue Wertschätzung

Wertschätzung durch gut vorbereitete Meetings

Wertschätzung durch gelungene Präsentationen

Wertschätzung durch Respekt

14Das neue Teilen

Wachstum für alle von allen

Teilen als Knigge-Kur

Problem: Geld statt Sharing

Das Teilen von Wissen

Die neue Originalität

Drei Stufen von Originalität

Informationen sind billig, Meinungen wertvoll

Denkanstöße für mehr Originalität

Die neue Kommunikationskultur in Office & Co.

Die Handy-Knigge-Kur

Die E-Mail-Knigge-Kur

Die Brief-Knigge-Kur

Die Telefon-Knigge-Kur

Schlusswort

Literaturverzeichnis

Internetquellen

5So nutzen Sie dieses Buch

Um Ihnen das Lesen und Arbeiten mit diesem Buch zu erleichtern, hat der Autor verschiedene Stilelemente verwendet, die Ihnen das schnellere Auffinden bestimmter Texte ermöglichen. So finden Sie die Tipps und Musterformulare sofort.

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Hier finden Sie Tipps, Aufzählungen und Checklisten.

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So sind „Merksätze“ gekennzeichnet.

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Hier finden Sie Beispiele, die das Beschriebene plastisch erläutern und verständlich machen.

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Hier finden Sie Übungen und Muster zum selber Ausfüllen und Nachrechnen.

7Vorwort

Wenn Adolph Freiherr Knigge einen Blick auf die heutige Gesellschaft und Arbeitswelt werfen könnte, wäre für ihn auf den ersten Blick wahrscheinlich vieles in Ordnung. Die Kollegen tragen das Einstecktuch am rechten Fleck, die Mitarbeiter halten sich abwechselnd die Tür auf und selbst bei einem komplizierten Business-Lunch weiß die Mehrheit, das Besteck richtig zu verwenden und Tomatensoßeflecken auf Hemd und Bluse zu vermeiden. Selbst die alles entscheidende Frage, ob man nach dem Niesen „Gesundheit“ wünschen darf oder sich der Niesende gefälligst zu entschuldigen hat, scheint im Jahr 2015 hinreichend geklärt.

Auf den zweiten Blick jedoch wäre der gute alte Knigge schockiert. Hinter der Fassade der manierlichen Arbeitswelt bröckelt es gewaltig. Nicht selten sind Benimmregeln, die heute fälschlicherweise dem Freiherrn zugeschrieben werden, einzig auf ein Ziel reduziert: Noch schneller Karriere machen. Noch mehr rauszuholen. Knigge ist in den vergangenen Jahrzehnten zurechtgestutzt worden zu einem Werkzeug im persönlichen Selbstoptimierungsbaukasten. Der neueste Trend zur Selbstvermessung und Selbstoptimierung droht diese Tendenz nochmals zu verschärfen.

Knigge, jener Autor, der zur selben Zeit wie Kant ein von den Idealen der Aufklärung beeinflusstes Werk über Umgangsformen geschrieben hat, das den Menschen dabei helfen sollte, die eigene Mündigkeit zu erlangen, ist heute ein Motor der Unhöflichkeit. Schlimmer noch: Die auf das Maß von Benimmregeln verkürzten Weisheiten sind zu einem Katalysator geworden, der die Menschen unmündig macht. Moderne Businesskasper, die marionettengleich an unsichtbaren Fäden hängen. Ferngesteuert von Terminen, Smartphones, Daten und vor allem den Erwartungen der anderen.

8Was ist passiert? Die Antwort klingt zunächst einmal unerwartet: Die Arbeitswelt ist krank – und mit ihr die Menschen. Rund jeder zehnte Fehltag am Arbeitsplatz geht mittlerweile laut AOK auf akute Erschöpfung und Depression zurück, was rund einer Verdopplung gegenüber dem Jahr 1999 entspricht. Die Weltgesundheitsorganisation hat Stress als eine der größten Gesundheitsgefahren ausgemacht.

Verantwortlich für die Misere sind mehrere Strömungen. Etwa die allgemeine Beschleunigung und Mobilität. Schlagworte wie mobiles Internet oder die dauerhafte Erreichbarkeit genügen bestimmt, um beim geneigten Leser Bilder gehetzter Menschen zu erzeugen, die auf der Bürotoilette, im 300 Kilometer pro Stunde fahrenden ICE oder im Meeting auf ihre Smartphones starren, tippen und wischen.

Ein anderer Faktor der immer rüpelhafter erscheinenden (Büro-)Welt: die Ökonomisierung, die längst das Denken und Handeln über den Arbeitsplatz hinaus bestimmt. Dieses von immer mehr Menschen verinnerlichte und gelebte Effizienzdiktat führt dazu, dass viele nicht mehr wissen, wer sie sind – und welche Werte sie wirklich leben wollen. Die oberste Maxime lautet Erfolg. Für eventuelles Scheitern ist jeder selbst verantwortlich zu machen, weil er im Wettbewerb nicht smart genug war.

Ob auf Facebook und in beruflichen Netzwerken, bei der Präsentation oder auf Geschäftsreise: Viele verkörpern scheinbare Kniggewerte, indem sie wie eingangs beschrieben auf dem Parkett eine gute Figur machen. Der Erfolg, der neue Gott im Wirtschaftshimmel, gibt ihnen Recht. Gelebt wird jedoch oftmals nicht die eigene Identität, sondern vielmehr der kniggegerechte Prototyp der beschleunigten Gesellschaft. Der Businesskasper als entmündigte Hülle des ursprünglichen Individuums. Ein Blick in die Zukunft lässt erahnen, dass wir das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht haben. Die Smartwatch prangt bereits an den ersten Handgelenken. Die Datenbrille wurde noch einmal zurückgestellt, steht jedoch ebenfalls in den Startlöchern.

Die Digitalisierung der Lebens- und Arbeitswelt stellt uns vor noch größere Herausforderungen. Das zeigt der Knigge-Report 2015, eine für dieses Buch in Auftrag gegebene Studie. Jeder Fünfte schreibt oder liest heute E-Mails im Bad – also praktisch auf dem Klo, da es unter der Dusche oder beim Zähneputzen schlecht geht. Vier von zehn hören beim Telefonieren nicht zu – weil sie gleichzeitig im Internet surfen. 80 Prozent der Deutschen sind der Meinung, dass sich die Ellenbogengesellschaft in den vergangenen Jahren verschärft 9hat. Viele Berufstätige haben sich durch karrieregetriebenen Effizienzwahn selbst entmündigt.

Dabei geht es beim Thema „Businessknigge“ heute um weit mehr, als nur darum, eine gute Figur zu machen, indem man auch bei Tempo 300 noch fehlerfrei eine E-Mail schreibt und nebenbei auf Englisch mit dem Vorstandsvorsitzenden telefoniert. Das Einhalten und Anwenden transformierter Benimmregeln darf vor dem Hintergrund von Digitalisierung, Informationsflut und Mobilität nicht weiter Maskerade sein – quasi die gute Miene zum schlechten Spiel.

Das Buch soll Ihnen helfen, trotz Ihres Alltags, zu dem die permanente Erreichbarkeit eventuell ebenso gehören wie berufliche und familiäre Stressfaktoren, wieder zu sich selbst zu finden – und aus sich selbst heraus zu handeln. Dafür lenkt das Buch im dritten Kapitel den Blick auf verschiedene Werte, Eigenschaften und Umgangsformen, die es (wieder) zu entdecken und zu leben gilt. Von Aufmerksamkeit und Konzentration über digitale Mündigkeit und Fairness bis hin zu Nachhaltigkeit oder Kommunikation: Die Knigge-Kur will Denkanreize für das Geschäftsleben im 21. Jahrhundert geben.

Businessknigge 2020 heißt nicht, der Sklave seines Smartphones zu sein. Businessknigge 2020 heißt nicht, der Gefangene einer selbst auferlegten Zeitdiktatur zu sein. Businessknigge 2020 heißt nicht, sein Handeln nur auf den kurzfristigen Erfolg auszurichten, weil Anerkennung in der Leistungsgesellschaft eine immer kürzere Halbwertszeit hat.

Businessknigge 2020 heißt vielmehr, Herr(in) über

Businessknigge 2020 heißt: wieder mündig zu sein. Und wer mündig ist, der kann getrost einmal beim Spaghettiessen kleckern oder das Sakko falsch knöpfen. Wer bei aller Mündigkeit auch in diesen Fragen auf dem Parkett eine gute Figur im klassischen Kniggesinne machen will, der wird in diesem Buch auch dazu Tipps finden.

Viel Spaß beim Lesen

Kai Oppel, München 2015

15Ursachen: Warum wir viel Knigge leben und uns wenig Knigge fühlen

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Wir befinden uns vor einem barocken Schloss in Süddeutschland. Die Sonne scheint an diesem Herbsttag schön, aber schwach vom Himmel. Die Blätter der Bäume sind bereits bunt gefärbt. Zu hören ist das Knirschen von Kieselsteinen, über die schwere Porsche Cayennes und Audis mit Vierradantrieb rollen, aus denen gut gekleidet Kinder ausgeladen werden, die sich dezent, aber höflich von ihren Eltern verabschieden. Die Maximilians und Lenas drücken ihren Mamas und Papas einen Kuss auf die Wange und formieren sich am Eingang, an dem sie von einer älteren Dame empfangen werden. Die Mädchen tragen schöne Kleider, die Jungen meist Chinohosen oder Jeans und dazu Polohemden. Höflich begrüßen sie die Dame mit Handschlag.

Was hier in wenigen Minuten beginnt, heißt „Knigge für Kids“ oder „Knigge für Kinder“ und richtet sich an Sprösslinge ambitionierter Eltern. Angepriesen werden die Seminare für die 5- bis 14-Jährigen mit Texten wie diesen: „Die Kinder erlernen durch erlebnisreiche Darstellung auf spielerische Weise die Umgangsformen und das gute Benehmen im Rahmen einer gemeinsamen Begrüßung, des gemeinsamen Tischdeckens, eines Aperitifs sowie des gemeinsamen Essens, bei dem auch kniffelige Speisen, wie z. B. Spaghetti, nicht fehlen dürfen.“ Kostenpunkt je nach Anbieter und Luxusgrad des Austragungsortes: zwischen 10 und 150 Euro.

16Symptomatische Abstiegsangst

Dieser kleine Ausflug in die Kniggewelt, die heute bereits die Kleinsten kennenlernen sollen, wirft unweigerlich eine Frage auf: Geht es hier wirklich um kulturelle Werte? Um jenen Knigge, der helfen soll, sich selbst zu finden? Natürlich nicht. Viele Eltern, die ihre Kinder zu solchen Seminaren schicken, treibt vielmehr die Abstiegsangst. Es ist die Sorge, dass ihre Kinder später einmal aus der (oberen) Mittelschicht abrutschen. Möglicherweise ist es auch die Hoffnung, dass die Sprösslinge in die Oberschicht aufsteigen. Die Kinder sollen also, wie sie selbst, fit gemacht werden für den global entfesselten Wettbewerb. Die Eltern möchten um jeden Preis vermeiden, dass ihre Kinder später einmal, nachdem sie als humane Ressource bereits die wichtigsten Aufnahmetests bestanden haben, ihren Traumjob ausgerechnet deswegen nicht erhalten, weil sie den Hummer nicht fachgerecht zerlegen können.

Und da auch die Eltern selbst, und jene, die keine Kinder haben, ihre bisher erklommene Position halten müssen, wird mit Kniggeseminaren und Büchern am eigenen Vorsprung gearbeitet. Immer eine Nasenlänge voraus. Im Rahmen dieses Buches wurde ein Knigge-Report 2015 in Auftrag gegeben: eine bevölkerungsrepräsentativ quotierte Befragung unter 500 Deutschen, die zusammen mit dem Berliner Meinungsforschungsinstitut Gapfish durchgeführt wurde. Die Ergebnisse dieses Reports zeigen: Neun von zehn Studienteilnehmern halten gutes Benehmen heute für wichtig, um erfolgreich im Beruf zu sein.

17Knigge-Report 2015: Benimm ist in

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Gutes Benehmen wird nicht nur für wichtig im Beruf erachtet. Es wird vor allem für immer wichtiger angesehen. 81 Prozent vertreten die Meinung, dass Umgangsformen wichtiger sind denn je. Gegen diesen Befund an sich ist nichts einzuwenden. Die Frage aller Fragen lautet jedoch: Was verstehen wir heute eigentlich unter gutem Benehmen und Umgangsformen? Denken wir bei Umgangsformen wirklich an Umgangsformen oder vielmehr an Etikette? Wo liegt der Unterscheid? Und tun uns diese Umgangsformen oder die Etikette im Alltags- und Berufsleben wirklich gut – oder denken wir das bloß? Oder sind sie am Ende nicht vor allem alle Verhaltensweisen, die uns vor wirtschaftlichem Misserfolg bewahren sollen?

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Tipp!

Vorsicht: Es geht beim Thema „Knigge“ oft schon längst nicht mehr um kulturelle und gesellschaftliche Werte – weil diejenigen, die solche Rituale zelebrieren, in den seltensten Fällen in einer solchen Kultur gelebt haben.

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Etwas läuft falsch, wenn es nur darum geht, durch Knigge im bestehenden System so erfolgreich wie möglich zu sein.

19Die sieben Knigge-Feinde

Um zu verstehen, warum Eltern ihre Kinder zu Kursen wie den oben erwähnten schicken und warum Sie Bücher wie das vorliegende lesen, wollen wir in diesem Kapitel einen kurzen Blick auf das heutige Leben werfen. Wir wollen sehen, in welchem Rahmen wir uns bewegen, von welchen Faktoren die Geschäftswelt im Besonderen geprägt ist, wie sich die Geschäftswelt in den vergangenen Jahren verändert hat und wie sie sich in Zukunft verändern wird. In dieser kurzen Bestandsaufnahme möchte ich den Blick auf sieben treibende Kräfte lenken, die meiner Meinung nach einen gehörigen Einfluss darauf haben, warum wir heute alle von Knigge reden und doch so wenig Knigge sind.

Sieben aktuelle Tendenzen – die Knigge-Feinde:

  1. Zunehmende Beschleunigung
  2. Zunehmende Mobilität
  3. Zunehmende Erreichbarkeit
  4. Zunehmende Effizienz
  5. Zunehmende Informationsflut
  6. Zunehmende Ökonomisierung
  7. Zunehmende Digitalisierung

Immer mehr Menschen spüren instinktiv, dass uns diese und natürlich auch andere Faktoren der Möglichkeit berauben, wirklich mündig zu handeln. Wenn Eltern ihre Kinder zu oben beschriebenen Seminaren bringen, lenkt dies die Aufmerksamkeit vor allem 20auf eines: auf uns selbst. Wir alle wissen, dass Kinder wie auch Erwachsene in ihrer Entwicklung vor allem das Verhalten der Umwelt spiegeln. Welches Vorbild wir dabei abgeben, ist offensichtlich. Am Frühstückstisch ruft Papa noch einmal schnell die E-Mails ab. Im Auto telefoniert Mama auf dem Weg in den Kindergarten oder in die Schule bereits mit Geschäftspartnern und schminkt sich nebenbei, da am Morgen wegen all des Stresses keine Zeit geblieben ist. Studien haben gezeigt, dass viele Kinder längst eifersüchtig auf die Umwelt ihrer Eltern sind. Weil die Eltern ihrer Umwelt, also dem Smartphone, der Apple-Watch und den Geschäftspartnern mehr Zeit einräumen als ihnen. Die Gedanken sind überall, nur nicht im Augenblick. Wenn wir eine solche Welt vorleben, ist es mehr als wahrscheinlich, dass unsere Kinder dies für normal halten – und es später einmal genauso handhaben.

Der größte Widerspruch: Wir machen bei all dem eine gute Figur. Wir haben Kniggetipps zum Thema Erreichbarkeit, kluge Kniggeratschläge für den Umgang mit der Informationsflut und Knigge soll uns sogar bei der Beschleunigung helfen. Die Effizienz selbst wird mittlerweile sogar als Kniggewert verstanden und gelebt. Im Augenblick leben wir äußerlich so viel Knigge wie nie. Es gibt sogar Knigge fürs Bett. Innerlich fühlen wir uns aber kniggeleer. Unfrei. Nachfolgend möchte ich sieben Knigge-Feinde und unsere Haltung ihnen gegenüber vorstellen. Dies soll uns helfen, das Knigge-Paradoxon zu verstehen.

Kniggefeind 1: Zunehmende Beschleunigung

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Leben auf der Überholspur

Wer regelmäßig an deutschen Bahnhöfen unterwegs ist, hat keine Zweifel: Es gibt keine Zeit zu verlieren. Schnell noch eine Zeitung kaufen. Schnell mit dem Kollegen in der Bahnhofshalle sprechen. Schnell eine Semmel verdrücken. Schnell in den Zug oder die U-Bahn springen. Fast consuming. Fast food. Speed dating. Speed reading. Wenn sich das Leben beschleunigt, muss der Mensch auch einen Gang höher schalten. Schneller essen. Schneller lesen. Schneller leben. Schneller arbeiten. Der Eindruck trügt nicht. Die Menschen bewegen sich sogar immer schneller. Berlin liegt bereits auf Platz sieben der schnellsten Metropolen. Die Bewohner der europäischen Hauptstädte Kopenhagen, Madrid und Dublin (Plätze zwei, drei und fünf) schreiten noch flinker. Wie Wissenschaftler 21herausgefunden haben, hat sich die durchschnittliche Laufgeschwindigkeit in den Städten seit 1994 um mehr als zehn Prozent erhöht. Wie enorm die Unterschiede sind, zeigt ein Städtevergleich. In Singapur rennen die Menschen regelrecht. Sie brauchen für knapp 20 Meter 10,55 Sekunden. In Blantyre im afrikanischen Malawi lassen sich die Menschen mit mehr als 30 Sekunden deutlich mehr Zeit für dieselbe Distanz.

Wir bilden uns also nicht nur ein, beschleunigter zu leben. Wir leben auf der Überholspur. „Diese Erfahrung der Beschleunigung der uns umgebenden Welt ist in Wahrheit ein ständiger Begleiter des modernen Menschen“, schreibt Zeitforscher Hartmut Rosa. Er macht mehrere Dinge für die Beschleunigung verantwortlich, die ich an dieser Stelle nur kurz erwähnen möchte, weil es wie gesagt keine Knigge-Kur geben kann, wenn wir uns in der Berufswelt nicht als Teil des Ganzen sehen, als Rädchen im System.

Die Technik gibt den Takt vor

Schnellere Computer, schnellerer Datenaustausch, schnellere Verarbeitungsprozesse durch Technik, schnellere Reisemöglichkeiten, die Überwindung von Raum und Zeit durch Videokonferenzen: Gerade in der Arbeitswelt sind die Auswirkungen der Beschleunigung unmittelbar zu spüren. Bisher haben wir versucht, mit der höheren Geschwindigkeit klarzukommen, indem wir uns selbst anpassen und optimieren. Ob für die schnellere Kommunikation in sozialen Netzwerken und via E-Mail, für immer häufiger stattfindende Auslandsgeschäftsreisen oder immer kurzfristiger einberufene Meetings: Es gibt unzählige Kniggetipps, die uns dabei helfen sollen, diese technische Beschleunigung so zu meistern, dass wir sie bestmöglich nutzen.

Die Idee dahinter klingt logisch: Wenn wir E-Mails richtig abarbeiten oder Besprechungen nur gut genug strukturieren, können wir mit der neuen Geschwindigkeit mithalten. Heute, im Jahr 2015, müssen wir jedoch feststellen, dass die Arbeitswelt 2.0 dadurch alles andere als besser geworden ist. Je mehr wir uns den Möglichkeiten der Technik anpassen, desto mehr überrennt sie uns. Mit täglichen To-do-Listen zum Abhaken wollen wir den Überblick behalten. Eine Illusion. Die Aufgaben diktieren wir uns schon lange nicht mehr selbst. Sie kommen auch immer seltener von Vorgesetzten, Kollegen oder Geschäftspartnern, mit denen wir einst sogar über das Pensum 22und die Machbarkeit verhandeln durften. Ausgeliefert werden die Aufgaben heute vielmehr von der uns umgebenden Technik. Es sind im Minutentakt eingehende E-Mails und wie von Geisterhand erstellte Termine anderer, die ständig aufblinken und in Wahrheit den Takt vorgeben. Widerspruch zwecklos. Entsprechend entmündigt fühlen wir uns.

Die Werte von gestern gelten heute als veraltet

Auch der Faktor „Wertewandel“ wirkt unmittelbar auf unsere Berufswelt und muss kurz erläutert werden, wollen wir das Thema „Knigge“ verstehen. Einstellungen und Werte wandeln sich immer schneller. Und wie die Umwelt ist, so werden auch wir. Vor gar nicht allzu langer Zeit wurden Berufe vom Vater an den Sohn weitergegeben. Heute werden Berufe in einer Geschwindigkeit gewechselt wie das Fahrzeug, mit dem wir ins Büro fahren. Früher war es ein Zeichen von Ausdauer, Konsequenz und Ernsthaftigkeit, den Job oder eine Aufgabe im Job lang und gewissenhaft auszuhalten. Heute ist das Gegenteil der Fall.

Wer nicht regelmäßig den Auftraggeber, das Aufgabenfeld oder zumindest die Position in die richtige Richtung verändert (nach oben), der gilt als nicht anpassungsfähig, nicht leistungsorientiert und faul. Kurzum: Ein mustergültiger Karriereknabe von heute wäre mit den Augen von 1960 betrachtet sprunghaft, unzuverlässig und wankelmütig. „Es ist noch nicht lange her, da galten (…) Eigenschaften als Tugenden, nämlich Achtsamkeit, Gerechtigkeit, Selbstbeherrschung, Standhaftigkeit, Nächstenliebe (…)“, erklärt der Psychoanalytiker Paul Verhaege. Für ihn ist die ständige Verschiebung der Normen und Werte ein wichtiger Schlüssel, um den aktuellen Zustand der Gesellschaft zu beschreiben und zu verstehen. „Die heutige gesellschaftliche Debatte über Normen und Wertvorstellungen ist nichts anderes als eine Debatte über Identität“, erklärt er. Und damit schließt sich abermals der Kreis zu Freiherrn Knigge. In seinem Werk „Über den Umgang mit Menschen“ postulierte er Gedanken zur Position des Einzelnen und war damit gewissermaßen identitätsstiftend. In den vergangenen Jahren sind Werte jedoch zu Benimmregeln verkommen, die heute losgelöst von der Identität auf sich veränderte Normen angewandt werden.

23Die Beschleunigung des Lebenstempos

Im Zuge des Schreibens an diesem Buch fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Ein zentraler Bestandteil der damaligen und heutigen Kniggewelt in Beruf und Alltag ist die Zeit. Die Zeit ist eine zentrale Währung, wenn es darum geht, sich selbst oder jemand anderem Aufmerksamkeit zu schenken. Die Zeit ist es auch, in der kluge Gedanken geboren werden. Nun: Die Zeit an sich ist zwar gleich geblieben. Der Tag hatte früher wie heute 24 Stunden und die Stunde 60 Minuten. Aber die Zeiten haben sich gewissermaßen geändert. Seit Jahren haben die Menschen immer mehr das Gefühl, dass ihnen die Zeit davonläuft, was im Job besonders dann der Fall ist, wenn es viel zu tun gibt. Alle sprechen daher von „Zeitknappheit“.

Im Leben und Job muss man sich für oder gegen etwas oder jemanden entscheiden, um das Pensum zu schaffen. Prioritäten setzen, heißt bei Menschen jedoch gegebenenfalls auch Prioritäten verletzen, hintanstellen, herunterstufen. Jemandem Zeit einzuräumen heißt, ihn wertzuschätzen. Das knappe Gut Zeit ist damit mehr denn je eine Kniggewährung. Kein Wunder, dass Pünktlichkeit laut aktuellem Knigge-Report die drittwichtigste Tugend ist – nach Verlässlichkeit und Vertrauen.

24Die Zeit als Kniggewährung

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Auf einer Skala von null bis zehn Punkten wird Pünktlichkeit mit knapp neun Punkten bewertet. Gleichzeitig ist jeder Zweite (49 %) der Meinung, dass Pünktlichkeit heute weniger gelebt wird als früher. Dies kann im Umkehrschluss nur bedeuten, dass die zunehmend gefühlte Unpünktlichkeit von Versetzten als Geringschätzung empfunden wird.

25Mit knappen Gütern geht man natürlich sorgsam um. Weil Trüffel teuer ist, hobele ich nur ein bisschen auf die Pasta. Doch auf die Zeit übertragen funktioniert dies im Arbeitsleben nicht wirklich. Weil Zeit teuer ist, kann ich nicht hier und da einfach ein bisschen weniger Zeit aufwenden. Wenn das Anfertigen einer Präsentation zwölf Stunden dauert, kann es nicht in fünf Stunden erledigt werden. Wenn das Lesen eines Gesetzestextes 70 Minuten dauert, ist es nicht in 20 Minuten zu schaffen.

Dennoch versuchen wir es natürlich! Etwa indem wir Speed-Reading-Kurse besuchen, um flinker zu lesen. Oder indem wir schnellere Rechner und bessere Software einsetzen. Eine weitere, scheinbare Lösung, mit der Zeitknappheit trotz steigender Belastung umzugehen, lautet Multitasking. Laut Knigge-Studie surfen mittlerweile rund 40 Prozent nebenbei im Internet oder lesen E-Mails, wenn sie telefonieren. Dass ausgerechnet jenes Multitasking uns jedoch in die Unmündigkeit stürzt und uns kniggeleer fühlen lässt, darauf kommen wir später noch. Im nächsten Kapitel wollen wir zunächst einen Blick auf den Faktor Mobilität werfen. Denn auch die Reisemöglichkeiten haben einen großen Einfluss darauf, wie wir im Geschäftsleben miteinander umgehen. Schauen wir uns also den zweiten Kniggefeind einmal genauer an, die zunehmende Mobilität.

Kniggefeind 2: Zunehmende Mobilität

Ein guter Freund von mir sagte schon vor Jahren: „Wenn wir problemlos zum Mond fliegen könnten, hätten wir auch dort Beziehungen und Arbeit – und würden pendeln.“ Es scheint, er könne Recht behalten. Noch können wir zwar nicht zum Mond fliegen. Aber Elon Musk, der Erfinder von Paypal und der Elektroautomarke Tesla, arbeitet daran. Bis es so weit ist, will er auf Erden die Mobilität mit einem Fortbewegungsmittel namens Hyperloop revolutionieren. Reisende sollen mit Überschallgeschwindigkeit durch eine Röhre geschossen werden. Derzeit fliegen wir zwar weder in der Umlaufbahn noch mit einem Gasprojektil zum nächsten Projekt. Doch schon heute lösen sich Distanzen für immer mehr Arbeitnehmer in Deutschland auf. Selbst ein normaler Angestellter kann sich regelmäßig Flüge leisten. Und der Ausbau des Hochgeschwindigkeitsnetzes der Bahn macht es möglich, dass Menschen heute beispielsweise in Nürnberg leben und in München arbeiten. Nicht wenige von ihnen sind täglich im ICE anzutreffen. Das macht pro Tag knapp 400 Kilometer Wegstrecke und drei Stunden Reisedauer.

26Die Pendelwege nehmen zu und damit die Pendelzeit. Konnten Deutsche vor einigen Jahren ihren Kopf nur über Japaner schütteln, die morgens und abends zwei Stunden ins Office pendeln, tun es ihnen heute nicht wenige gleich. Sechs von zehn Arbeitnehmern arbeiten heute außerhalb der Gemeindegrenze – das macht 17 Millionen Pendler. 8,5 Millionen Beschäftigte sind mittlerweile täglich länger als eine Stunde lang unterwegs. Eine Million pendeln am Wochenende zwischen Arbeit und zu Hause.

Das war nicht immer so. Früher haben sich die Menschen ihre Arbeit dort gesucht, wo sie gelebt haben. Warum? Weil es ihnen eben nicht möglich war, sich schnell zu bewegen. Im Jahr 1900 verließ gerade einmal jeder Zehnte auf dem Weg zur Arbeit seinen Wohnort. Zu Zeiten des Wirtschaftswunders war es jeder Vierte. In den EU-Ländern hat der Personenverkehr zwischen 1990 und 2010 um rund ein Drittel zugelegt – auf etwa 6,5 Billionen Personenkilometer pro Jahr. Bis 2030 soll die Mobilität nochmals um rund 30 Prozent zunehmen.

Mobil sein, heißt nur in der Theorie frei zu sein

Zunächst einmal ist gegen Mobilität nichts einzuwenden. Mobil zu sein bedeutet, frei zu sein. Sich zu entscheiden, wo man arbeitet, ist sogar ein großes Stück Mündigkeit. Mobilität löst lokale Schranken und Grenzen auf. „Mobilität ist weltweit zum Ausdruck von Freiheit, Unabhängigkeit, Wohlstand, Individualität und Selbstbestimmung geworden“, heißt es in einer Studie des Zukunftsinstituts zum Megatrend Mobilität. Und weiter: „Ob berufliches Pendeln, Schulwege, Familien- oder Arztbesuche, Shopping und Freizeitaktivitäten, Urlaubs- und Geschäftsreisen, Smartphones und Tablets, mobiles Internet, Video- und Telefonkonferenzen, wir sind – immer, überall und gleichzeitig – unterwegs, zu mehr Orten als je zuvor. Das führt in der Konsequenz zu einer Multi-Mobilität. Unser Leben in der 24/7-Gesellschaft spielt sich künftig vor allem im ,Dazwischen‘ ab.“

Niemand käme auf die Idee, diese Mobilität infrage zu stellen. Stattdessen versuchen wir, die Mobilität zu verbessern, indem wir verschiedene Mobilitätsarten miteinander verbinden. Mit dem Fahrradsharing zum Bahnhof, mit dem ICE in die nächste Stadt, mit Carsharing ins Gewerbegebiet. Die Mobilität unterliegt demselben Effektivitätsgedanken wie unser übriges Leben. Theoretisch würde sich die Mobilität dadurch sogar verbessern – wenn wir nur den mobilen Status quo konservieren würden. Doch mit jedem Effizienzschritt erschließen wir uns neue Räume. Gestern pendelten wir 27zwischen Städten in Deutschland. Heute pendeln wir zwischen Metropolen in Europa. Morgen pendeln wir vielleicht schon zwischen den Planeten. Der erlangte Vorteil erübrigt sich. Dadurch steigt der Mobilitätsaufwand. Schneller werden wir natürlich nicht wirklich. Wir sind lediglich mehr unterwegs. Dieses Paradoxon gilt mittlerweile als belegt und lässt sich auch in anderen Bereichen beweisen. Die Waschmaschine hat uns nicht etwa Zeit geschenkt, weil wir weniger waschen müssen. Vielmehr wechseln wir unsere Kleidung öfter und müssen noch mehr waschen. Auch durch E-Mails haben wir im Vergleich zum Brief keine Zeitressourcen gewonnen, weil wir schneller schreiben können und nicht erst Briefmarken kaufen und einen Briefkasten ansteuern müssen. Heute schreiben wir mehr als je zuvor. Jeder Durchschnittsangestellte kann es in puncto Schreibintensität locker mit Thomas Mann aufnehmen.

Zurück zur Mobilität. Sie geht gewissermaßen mit der Beschleunigung Hand in Hand. Wir müssen lernen zu erkennen, dass die Mobilität uns gerade im Berufsleben möglicherweise mehr Möglichkeiten beraubt als sie uns schenkt. Es handelt sich also nur vordergründig um Freiheit. Mobilität als Gefängnis mit immer mehr Bewegungsraum. Knigge 2020 heißt daher sicher auch, Mobilität wieder einzuschränken. Dasselbe gilt für die dauerhafte Erreichbarkeit. Ähnlich wie ihre beiden Brüder Beschleunigung und Mobilität vermag uns die uneingeschränkte Erreichbarkeit einige Vorteile bringen. Aktuell jedoch überwiegen die Nachteile und deshalb ist sie der Kniggefeind Nummer drei:

Kniggefeind 3: Zunehmende Erreichbarkeit

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Professor Peter Vorderer von der Universität Mannheim ist in Deutschland einer der führenden Wissenschaftler zum Thema „Dauererreichbarkeit“. Die Geschichte, wie ich ihn erreiche, spricht bereits Bände. Meine E-Mail, die ich ihm vormittags geschrieben habe, beantwortet er um 21.31 Uhr und bittet um ein Telefonat am Folgetag gegen Mittag. Ich rufe ihn an. Er fährt gerade in der Straßenbahn. „Die Zahlen sind dramatisch“, eröffnet er das Telefonat und fügt hinzu, „und ich beobachte das seit 20 Jahren.“ Er scheint sich nicht zu täuschen. Laut der aktuellsten Erhebung des Branchenverbandes Bitkom verfügen mittlerweile 33,9 Millionen Deutsche über ein internetfähiges Handy oder Smartphone. Neun von zehn Menschen telefonieren mittlerweile mobil. Mit Blick auf Asien prophezeit Vorderer: „Es wird noch schlimmer.“

28Doch selbst der aktuelle Status quo ist laut Knigge-Report 2015 beeindruckend. 57 Prozent der Deutschen lesen oder beantworten demnach im Jahr 2015 in öffentlichen Verkehrsmitteln E-Mails. Im Auto sind es rund 47 Prozent, beim Essen lesen und tippen 21 Prozent, im Badezimmer rund 20 Prozent. Bei den Männern sieht es noch etwas dramatischer aus. Hier lesen und schreiben sogar 5 Prozent Mails, während sie Auto fahren. Nicht als Beifahrer, sondern als Fahrer direkt am Steuer.

Zukünftig wird diese Zahl sicher weiter ansteigen. Denn die nächste große Technikrevolution klopft bereits an die Tür – und man hört sie im wahrsten Sinne des Wortes: Es ist die Spracherkennung. Sie wird, weil wir künftig nicht mehr tippen müssen, die Kommunikation mit anderen Menschen noch stärker in Situationen vordringen lassen, die heute noch kommunikationsleer sind. Eine E-Mail unter der Dusche zu schreiben ist noch nicht möglich. Mit Spracherkennung wird es möglich sein. Und bevor die Menschen in der Lebens- und Arbeitswelt diesen Schritt verdaut haben, wird die Datenbrille kommen. Google hat seine Datenbrille zwar noch einmal vom Markt genommen, aber andere Hersteller präsentieren ständig neue Modelle. Dasselbe gilt für Minihörgeräte, die uns E-Mails vorlesen werden. Ausgestattet mit Hörhilfen und Datenbrillen werden wir schon bald 24 Stunden senden und empfangen können. Im Moment befinden wir uns in der Evolution der Erreichbarkeit gerade einmal auf einer Zwischenstufe.

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Viele fühlen sich durch Dauerkommunikation gestört

29Die Mehrheit will schon jetzt erreichbarer sein. Laut einer Bitkom-Studie wollen heute zwei Drittel gerne im Flugzeug telefonieren. Drei Jahre zuvor hatte die Mehrheit die Plauderei über den Wolken noch klar abgelehnt. „Die Smartphone-Sklaven“ titelte Spiegel Online 2011 und monierte, dass selbst Reisende durch das Handy mit allem Möglichen in Kontakt seien – nur nicht mit sich selbst. Das Paradoxe an der Situation: Viele sind von der dauerhaften Erreichbarkeit genervt, befeuern aber das System selbst. Laut Knigge-Report erwarten rund 19 Prozent, dass Geschäftspartner und Kollegen dauerhaft erreichbar sind. Knapp 37 Prozent erwarten dies zumindest teilweise, womit die Fraktion bereits die Mehrheit bildet. Vor dieser Erwartungshaltung scheint es nur legitim, das Smartphone überall ans Ohr beziehungsweise in die Hand zu nehmen. Laut Studie telefonieren lediglich rund acht Prozent selbst in öffentlichen Verkehrsmitteln. Ebenso fühlen sich zugleich rund 35 Prozent, und damit jeder Dritte gestört, wenn andere in öffentlichen Verkehrsmitteln telefonieren.

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Gesucht: Kompetenz für den Umgang mit Erreichbarkeit

30Die Folgen der Dauererreichbarkeit sind nach Vorderers Worten noch gar nicht abschätzbar – aber kurzfristig überwiegen die negativen Nebenwirkungen. Die Kommunikation etwa sei weniger exklusiv und habe weniger Tiefe. Wenn sich zwei Menschen unterhalten und das Telefon klingelt, werde dem Handy meist der Vorrang gegeben. „Das Handy hat Prio. Nicht selten sind andere Kollegen oder auch Kinder deswegen mittlerweile eifersüchtig auf die Geräte“, erklärt er. Ein Hauptproblem neben den vielen Funktionen, weshalb Smartphones fortlaufend gezückt werden (Wie spät ist es gleich? Wie ist das Wetter heute Nachmittag? Wie hieß gleich noch mal der Regisseur von „Taxi Driver“? Welchen Weg muss ich gehen, damit ich pünktlich beim Geschäftstermin erscheine?) ist die erwartete Belohnung. Der Körper schüttet jedes Mal, wenn man das Handy zur Hand nimmt, das Glückshormon Dopamin aus. Ähnlich wie bei einem Glücksspielautomaten. Allein die Möglichkeit, positiv überrascht zu werden, macht uns also abhängig. „Irgendwas vermeldet das Handy immer. Eine neue WhatsApp-Nachricht oder eine neue E-Mail ist fast immer dabei“, erklärt Vorderer.

31Das Problem: Wir haben noch keine Kompetenzen entwickelt, mit der neuen Erreichbarkeit umzugehen. Aktuellen Studien zufolge schaut der durchschnittliche Handynutzer mittlerweile rund 90 Mal pro Tag auf sein Smartphone. Oder anders gesagt: Alle zehn Minuten lässt er sich unterbrechen, weil es entweder vibriert oder weil der Körper mehr Dopamin braucht.

Kniggefeind 4: Zunehmende Effizienz

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Christian, kurze schwarze Haare, modische schwarze Ray-Ban-Klarglasbrille, ist 35 und arbeitet in einem deutschlandweit erfolgreichen Start-up. Da er geschäftstüchtig ist, entwickelt er seit geraumer Zeit zudem seine eigene Geschäftsidee. „Es ist verrückt. Ich bin eine Ein-Mann-Bude und arbeite mit einem Entwicklerteam aus Indien. Der Vorteil ist, dass ich die Aufgaben durchgeben und das Team diese zeitversetzt umsetzen kann. Während ich schlafe, wird das Projekt also weiter vorangetrieben“, erklärt Christian. Damit ist er nicht allein. Längst geben Unternehmensberatungen Präsentationen über Nacht in andere Länder, um sie zeitversetzt bearbeiten zu lassen. Doch die Effizienz wird auch dort gelebt, wo wir sie gar nicht vermuten. Früher suchten Büroangestellte nicht selten Ewigkeiten nach Daten und Fakten, heute werden von Anfang an effiziente Ordnerstrukturen angelegt, sodass wir die Informationen trotz der Flut schneller finden. Früher haben wir auf der Zugfahrt zum Geschäftstermin aus dem Fenster geschaut. Heute wird erwartet, dass wir in dieser Zeit effizient am Laptop arbeiten. Früher konnten wir an bestimmten Projekten nicht arbeiten, weil wir nicht 100 Kilogramm Papier auf die Geschäftsreise mitnehmen konnten. Heute lesen wir in diesen und anderen Projektunterlagen in der Bahn. Der elektronische Reader oder das Tablet fasst mehr digitale PDFs, als wir im Laufe unseres Berufslebens zu konsumieren imstande wären.

Effizienz als Waffe gegen zunehmende Herausforderungen

Warum wir der Effizienz nachhecheln wie ein Hund dem Würstchen, ist klar. Wir preisen die Effizienz ganz ähnlich wie Knigge. Effizienz verspricht Erfolg, wie auch Knigge Erfolg verspricht. Ganz konkret sehen wir in der Effizienz so etwas wie eine Waffe gegen die zunehmende Mobilität, gegen die Informationsflut oder gegen die 32Beschleunigung überhaupt. So stapeln sich in den Buchhandlungen Bücher mit Titeln wie „Alles im Griff – Effiziente Tagesplanung“, „Effizienz im Studium – Das Potenzial von Software und Computer richtig nutzen“, „Erfolg durch Effizienz“ oder „Für immer aufgeräumt – auch digital“. Dass Effizienz heute als Kniggewert verstanden wird, liegt sicher nicht zuletzt im Code der Effizienz, in der Effizienz-DNA.

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Die Effizienz-DNA: Bei Effizienz geht es um die bestmöglich gleichzeitig gelebte Kombination aus Fleiß, Kontrolle, Ordnung, Sauberkeit und Sparsamkeit.

Wie der Knigge-Report 2015 zeigt, bewerten viele Deutsche die Effizienz heute höher als Zurückhaltung oder Bescheidenheit. Mehr noch: Die Effizienz wird als der Wert schlechthin gesehen, der mehr gelebt wird als früher. 42 Prozent sind der Meinung, dass Effizienz heute eine wichtigere Rolle spielt als früher. Zum Vergleich: Nur 8 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass Menschlichkeit heute einen größeren Stellenwert einnimmt als in der Vergangenheit.

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33Wo Effizienz herrscht, fehlt oft der Faktor Mensch

Dass sich unser Leben immer effizienter gestalten lässt, dazu trägt nicht zuletzt die Technik bei. Immer mehr Prozesse werden durch Technik unterstützt oder ganz und gar von der Technik übernommen. Denken Sie nur an ganz banale Dinge: die Paketstation, der Fahrkartenautomat, die Digitalkamera.

Vor nicht allzu langer Zeit mussten wir zur Post gehen, um ein Paket abzuholen oder aufzugeben. Heute können wir unsere Pakete 24 Stunden am Tag und sieben Tage in der Woche selbst empfangen und versenden. Sogar die dazugehörigen Briefmarken lassen sich über den heimischen Drucker erstellen. Beim Fahrkartenkauf verhält es sich ganz ähnlich. Was müssen das für Zeiten gewesen sein, als Flug- oder Bahntickets allein schon deshalb einen Wert hatten, weil sie auf Papier mit einem gewissen Vorlauf postalisch zu uns kamen? Heute beraten wir uns beim Fahrkartenkauf nicht nur selbst, wir wickeln den Gesamtprozess bis zum Ausdruck selbst ab. Im besten Fall erhalten wir die Reiseerlaubnis via QR-Code auf das Smartphone. Diesen QR-Code halten wir dann am Flughafen vor diverse Lichtschranken, um zur Maschine zu kommen. Laut einer Studie aus dem Jahr 2013 nutzt am Flughafen Frankfurt bereits jeder fünfte Reisende eine solche digitale Bordkarte.

Beispiel Digitalfotografie: Früher brauchten wir Filme. Diese mussten entwickelt werden. Die Bilder holten wir dann ab. Heute können wir mit jedem Smartphone fotografieren und diese Fotos in Sekundenschnelle versenden.

Aber das ist doch alles prima, werden Sie jetzt vielleicht rufen. Stimmt. Laut Knigge-Report 2015 nutzen 38,6 Prozent der Menschen gerne Automaten. In diesem Buch will ich auch keinen Feldzug gegen effiziente Technik anzetteln. Natürlich hilft uns die effiziente Technik dabei, viel Arbeit, Zeit und manchmal auch Geld zu sparen. Sie ermöglicht es uns, innerhalb kurzer Zeit Entscheidungen zu treffen und auszuführen. Vor 20 Jahren wäre es noch gar nicht möglich gewesen, so kurzfristig und flexibel Dinge zu versenden – einschließlich sich selbst via Flugzeug oder Digitalfoto.

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Es muss jedoch ebenso darauf hingewiesen werden, dass diese technologiebasierte Effizienz einen entschiedenen Nachteil hat: Es fehlt der Faktor Mensch.

34Computer auf dem Vormarsch

Im Berufs- und Alltagsleben agieren wir immer öfter mit Computern. Wieder werden Sie vielleicht einwenden, dass Ihnen jede Paketstation selbst bei Nebel und Regen lieber ist als eine Stunde während der Mittagspause im Postamt Schlange zu stehen oder auf einen mürrischen Postbeamten zu treffen oder dass die Fahrkartenverkäuferin der Deutschen Bahn zu jenen Personen gehört, die Ihnen am wenigsten fehlt. Aber kann es nicht am Flughafen schon ganz schnell anders aussehen? Dann, wenn ein freundlicher Herr oder eine freundliche Dame in Uniform Ihr Gepäck entgegennimmt? Wenn es ein Mensch ist, der Ihnen dabei hilft, sich zurechtzufinden?

So geht es laut Knigge-Report 2015 vielen Menschen. Insgesamt 46 Prozent beklagen, dass ihnen durch Automaten oder effizient gestaltete Anrufermenüs in der Telefonschlange der Kontakt mit Menschen und Mitarbeitern fehlt. Ich wage noch ein Schritt weiterzugehen: Es ist davon auszugehen, dass die wenigen Menschen, auf die wir nach all den auf Effizienz getrimmten Prozessen stoßen, unseren geballten Frust abbekommen, weil es mit der Automatisierung naturgemäß doch noch nicht so ganz klappt, wie wir uns das vorstellen.

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35Menschen leben Werte, die wir spiegeln