Über dieses Buch

Ottone und Adelaide sind ein Paar. Das Leben haben sie hinter sich. Er, Ottone, sucht nach dem Absoluten, nach der wahren Adelaide, der idealen, die sich ihm immer wieder entzieht. Sucht in der Erinnerung, die trügt. Sucht in all den anderen Adelaiden, die ihn in Liebesgeschichten verwickeln und die er in paradoxer Treue seiner einzigen Adelaide einverleibt.

«Die Adelaiden» ist ein Roman über die Introspektion, die trügerische Dimension der Erinnerung und die Spannung zwischen Leben und Tod. Und wieder ist Anna Felder auf der Suche nach einem perfekten Gleichgewicht zwischen Form und Bedeutung. Wie in der Musik folgen Klänge und Phrasen einer genauen rhythmischen Struktur. Sinn und Klang, Rhythmus und Bedeutung gehen eine unauflösbare Verschmelzung ein.

Anna Felder

Die Adelaiden

Roman

Aus dem Italienisch von Maja Pflug

Limmat Verlag

Zürich

Anna Felder, geboren 1937 in Lugano, Literaturstudium in Zürich und Paris, Promotion über Eugenio Montale, danach Tätigkeit als Italienischlehrerin und Schriftstellerin. Lebt in Aarau und Lugano. 1998 Schillerpreis für das Gesamtwerk, 2004 den Aargauer Literaturpreis und 2018 den Schweizer Grand Prix Literatur.

1.

Um die Straße zu überwachen, genügte ihm im Grunde das Fenster. Und außerdem, was kümmerte ihn die Straße? Adelaide war zu Hause.

Eine kleine Drehung hätte genügt. Lieber rührte er sich nicht: Er überlagerte lieber.

Ohne es zu wollen, überlagerte er Adelaiden mit Adelaiden, so dass er immer eine einzige vor sich hatte. Die richtige.

Wäre er einer gewesen, der reist, hätte er die Reisebilder aneinandergereiht: einen Baum nach dem anderen, einen Tunnel, eine Reisegefährtin oder einen Reisegefährten nach dem anderen. Er hätte sich umwenden können, um sie zu betrachten, zu vergleichen; er hätte nach und nach die Schritte gezählt, auch die, die vor ihm lagen. Doch er brauchte sich nicht umzuwenden: Er stand oder saß und hielt in den Augen, als ob er ewig, der ewige Ottone wäre, Adelaide, die auf dem schmalen Bett lag.

Je länger er sie ansah, umso mehr fühlte er sich beruhigt; dankbar, dass Adelaide anwesend war, ausgestreckt, weit, um die Minute aufzunehmen und anzuhalten: auch für ihn.

Er fand sie nah wie nie, an die Oberfläche gekommen, um in ihrem gemeinsamen Zuhause am Leben zu bleiben: aufgetaucht aus den unendlich vielen Adelaiden, die es schon im Haus und außer Haus gegeben hatte: glatt, perlfarben, fügsam. Über eine Adelaide geschoben, die schon unter Wasser gewesen war, waghalsig, genäschig, braungebrannt; die schon parfümiert gewesen war, mit Juwelen behängt, gepudert, unbequem; und in Uniform, auf dem Fahrrad, in der Hocke, um Kindern ein paar Münzen zu schenken, auf dem Katheder; mit der Schere in der Hand, mit einem Laken, mit einem Laken und sonst nichts.

Er deckte sie wieder zu, weil sie sich aufgedeckt hatte, lächelte sie an, sagte ja und nickte.

Wie er da stand, erinnerte der Mann Ottone auf gewisse Weise an den senkrechten Stamm des Kreuzes; die liegende Adelaide konnte den Querbalken darstellen. So gehörten sie einander über Monate und Jahreszeiten, vervielfachten sich in den Kreuzen der Häuser von Verwandten, Kindeskindern, in den Kreuzen an öffentlichen und privaten Orten, auf dem Friedhof etwa oder in dem Medaillon am Hals der Damen, die im Schichtdienst ins Haus gerufen wurden, einschließlich mir: Schwestern nannten sie sich, doch Nonnen waren sie nicht; waren wir nicht.

Als sich an jenem Nachmittag pünktlich eine von ihnen ankündigte, bedauerte Signor Ottone es wie gewöhnlich, den Platz räumen zu müssen, schweren Herzens entfernte er sich. Er sah prüfend auf die Uhr, fuhr sich mit der Hand durchs Haar, presste die Finger auf die Augen, um sich das Bild von Adelaide in all ihrem Weiß unversehrt einzuprägen, und ging der Schwester entgegen, zur Begrüßung die Stimme hebend, als wären es viele, einschließlich mir, als wären wir allesamt geschlossen gekommen, um Adelaide zu besuchen und zu versorgen. Er strahlte, als er an meinem Hals das Kreuz wiederentdeckte, das große, gesegnete Kreuz, in dem er bei schärferem Hinsehen das Kreuz seiner Adelaide erkannte, war dankbar dafür und betrachtete es versonnen im Licht. Er hieß mich und damit unausgesprochen auch Adelaide will­kommen und ließ mich eintreten: Um das Bett im Wohnzimmer lagen Bonbons und Bonbonpapiere von ges­tern verstreut, Signor Ottone bot erneut welche an und erkundigte sich nach dem Weg, dem Ausverkauf, dem Fahrrad: meinem oder dem einer anderen, an den Ahorn gelehnt, den Adelaide jung gepflanzt hatte und der neben der Haustür gewachsen war:

«Steht es da auch sicher genug?», sorgte er sich und spähte durch die Scheibe, um auch für Adelaide die Gefah­ren der Straße zu bannen.

«Ich würde dann gehen», kündigte er auf die Uhr schauend an, mit der Stimme dessen, der oben an der Trep­­pe den Mantel überzieht, und wenige Augenblicke später sah ich, wie er fast im Laufschritt die kahle Allee hinuntereilte, leichtfüßig, die Räder nachahmend:

«Da geht er», teilte ich der liegenden Adelaide mit, ich sang es ihr vor wie unser Wiegenlied und verfolgte für sie, die nicht hinschaute, den Weg des Mannes. Ich rechnete damit, dass Ottone in den Knien bremsen müsse, genau wie das Fahrrad:

«Jetzt bremst er», sang ich, «er durchschneidet die Leere.»

Ich hätte schwören können, dass er ins Zentrum unterwegs war, zu Sport und Spiele, in metallenem Tempo: Die Arme waren Uhrzeiger, die Beine in Bewegung verchromte Speichen, die er bestimmt bei einem gut geölten Fahrrad ausgeliehen hatte.

Zu Hause hatte er für die Adelaiden und ihre Pflichten, für uns Damen, die er Schwestern nannte, die aufgezogenen, nach dem Radio gestellten Standuhren zurückgelassen. In sechzig Minuten und nicht später würde er mit einem Geschenkpäckchen zurückkommen: um es Ade­laide zu überreichen, die bei seiner Rückkehr vielleicht im Liegestuhl lag, womöglich war sie sogar aufgestanden, warum nicht daran glauben, und er traf sie auf halber Treppe, wer weiß, angezogen und häuslich. Womöglich räumte sie gerade an unserer Stelle die Zimmer auf, jung und flink, es stand ihr ja frei, sich eines schönen Tages zu verjüngen; es stand ihr frei, sich überraschend das Mädchen zu erfinden, das sie gewesen war, eine barfüßige Adele, aus Buntpapier ausgeschnitten in Ottones Abwesenheit, störrisch gegenüber Huldigungen; oder Ade­laide, die Hausherrin, der es freistand, mit der geschenkten Schere zu zerschneiden und abzuschneiden, was sie wollte, wenn nötig, auch die Luft, auch Ottones Zunge.

2.

Er aber kehrte sprechend heim: Beladen mit Stimmen, die er in der Stadt aufgeschnappt hatte, kam er zurück, nicht nur heimische Stimmen, auch deutsche aus Deutschland, auch südländische, französische und englische, frisch von der Straße, verlangten eine unmittelbare Antwort.

«Oui, bien sûr», antworteten wir zu Hause Gebliebenen im Chor, während Ottone, die Einkäufe in der Hand, schon zum Tisch ging, der ihm als Abstellkammer und Regal diente: französisches Regal, wussten wir, von jeher überhäuft mit bibelots, Kerzenleuchtern, Wörterbüchern, einer hindrapierten Krawatte, Scheren und Brieföffnern; und mit Geschenkartikeln von Sport und Spiele, nein, einst lagen Broschen und Gemmen zwischen den Leuchtern, mit einem kostbaren Kreuz auf farbiger Watte, das er vor allen anderen Adelaide schenken wollte, damals Adele, einem Mädchen, das er kennen und erkennen woll­te: sofort, auf dem überladenen Tisch:

«Mit all diesen Kerzen?», hatte sich das Mädchen empört, mit achtzehn Jahren wenig erfahren in französischer Einrichtung.

«Komm, Adele, viens vite, Adelaide», hatte er gerufen, sie beim Namen nehmend, ihn wachsen, ihn zergehen lassend auf ihr, noch bevor er es wusste, «Adele, Adelai­de», hatte er stehend in ihr gerufen, die Kerzenleuchter als Zeugen, «wo sind wir, Kindchen.»

Es war an ihr gewesen zu antworten, Einzige auf dem Tisch, der ihrer geworden war mit achtzehn Jahren, Einzige und gegenwärtig bis heute und doch schon geteilt, schon unumgänglich vervielfacht in dem Wissen, die erste und in allen künftigen Adelaiden gegenwärtig zu sein, ob sie nun Margherita oder Pia hießen, Lea hieß ich, und Cristina und Assunta und weiter bis zu den braungebrannten Schwestern einschließlich Lea, mit unserem braven Kreuz um den Hals, im Schichtdienst gerufen, Schwester Tina, Schwester Betty in weißen Sandalen, um in Ottones Haus im Namen der Adelaide eine nie zu Ende gegangene Liebe lebendig zu halten.

3.

«Liebe ist ein Wort», hörten wir ihn in seinen Sprachen einwenden, er sprach für alle, für die Enkel, für die Gassenjungen, sprach mit halbgeschlossenen Augen, laut, damit wir ihn verstanden, aber er wusste nicht, hätte ich geschworen, ob es an jenem Tag Schwester Lea oder Schwester Betty war, die Adelaide beistand.

«Ein Wort, meine Gute, falls Sie weiterwissen», doch hielt er nicht inne, um zu hören, wie ich fortfuhr, «oui», sagte ich zu ihm, seine Worte nach Adelaides Gesten modulierend, da Adelaide mich vom Bett aus am Ärmel zupfte, ich sang meine Antwort für sie, für ihn, während Signor Ottone schon die immergleichen Gegenstände auf dem Tisch verschob und bald bei dem einen, bald dem anderen Gegenstand, allesamt von Wert, einen unvergesslichen Satz wiederholte, einen Satz wie aus einem Testament.

Bis er sich, ohne mich anzusehen, mit einem Leuchter in der Hand direkt an mich wandte, mich beim Namen rief, dem richtigen, und unvermittelt in der Sprache des Hauses fragte:

«Oder könnten Sie mir zufällig eine Definition liefern?»

Liebe war immer noch im Spiel.