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Dora Stettler, geboren 1927 in Bern. Technische Zeichnerin während 36 Jahren bei Hasler AG und PTT. Nach der Pensionierung begann sie, ihre Geschichte als Verdingkind aufzuschreiben. Dora Stettler lebt in Muri bei Bern.

Dora Stettler

Im Stillen klagte ich die Welt an

Als «Pflegekind» im Emmental

Mit einem Nachwort von Jacqueline Fehr

Limmat Verlag

Zürich

Das elterliche Heim

Meine ersten Erinnerungen stammen aus einer Wohnung im Beundenfeldquartier in Bern. Ich war vier Jahre alt, damals im Jahr 1931.

Es muss im späten Frühling gewesen sein. Mama hatte mir eine frische Schürze angezogen, mich zur Türe begleitet und gesagt: «Nun, Kätheli, kannst draussen spielen gehen.»

Ich lief durch den Vorgarten zum Tor. Eine Hauptstrasse führte an unserem Hause vorbei. Nebst den Personenwagen, die an einer Hand abgezählt werden konnten, verkehrten noch der Verkaufswagen der Migros, der Milchwagen sowie der Strassenspritzwagen, dem zur Sommerszeit die Buben in den Badehosen johlend nachsprangen, um sich an einer kühlen Dusche zu erfrischen. Als Verkehrsmittel hatten wir das Tram, das jeweils einen unverkennbar singenden Ton erzeugte, wenn es bei der nahen Haltestelle anhielt oder wegfuhr.

Da stand ich nun am Gartentor und schaute auf die Wiese, die sich uns gegenüber wie ein Teppich ausbreitete. Sie war nicht grün, sondern leuchtete in einem satten Gelb. Der Löwenzahn stand in voller Blüte.

Diese schöne Blumenwiese wollte ich mir näher ansehen. Hüpfend überquerte ich die Strasse und stand am Rande des Feldes. So etwas Strahlendes hatte ich in meinem kleinen Leben noch nie gesehen. Die Wiese kam mir unendlich gross vor.

Voll Begeisterung pflückte ich etliche von diesen gelben Blumen in meine Schürze und brachte sie nach Hause. Mama zeigte sich erfreut darüber, die verfleckte Schürze zog sie mir augenrollend aus und drückte sie in den hölzernen Wasch­zuber.

Unsere Mutter war eine zierliche Person. Sie hatte dunkelbraunes, krauses Haar, das ihr anmutiges Gesicht harmonisch umrahmte.

Am häufigsten hielten wir uns in der grossen Wohnküche auf. Links vom Eingang stand der Holz-Kochherd, der vorwiegend im Winter gebraucht wurde, in der übrigen Zeit benutzten wir den Gasherd.

Der Esstisch stand in einer eigens dafür ausgesparten Nische. Der Wand entlang zog sich eine lange Bank. Dort war der Platz für meine Schwester Elsbeth und für mich. Papa sass gleich neben mir am Tischende, Mama mir gegenüber, und mein Bruder Markus nahm den Platz am andern Ende ein. Diese Tischordnung hat sich mir nachhaltig eingeprägt, weil wir dort die schönen und glücklichen Stunden verbrachten, die bald einmal abrupt beendet wurden und nie mehr wiederkehrten.

Papa war mit seiner beträchtlichen Körpergrösse eine dominierende Erscheinung. Er war der grösste Mann in unserer Umgebung. Er war recht impulsiv, und um seinen Reden Nachdruck zu verschaffen, schlug er ab und zu kräftig auf den Tisch. Dann wusste man, wo es lang ging. Wir mochten und liebten jedoch einander, jedes auf seine Weise. In späteren Jahren dachte ich oft mit Wehmut an die gemeinsamen Mahlzeiten am Familientisch.

Oft beschäftigte sich Papa in seiner Werkstatt im Keller, wo er eine Hobelbank aufgestellt hatte. Von seinen Arbeiten ist mir ein wunderschöner Vogelkäfig aus rotem Kirschbaumholz in Erinnerung geblieben, den ich gerne als Spielzeug benutzt hätte.

Mit meinem um vier Jahre älteren Bruder verstand ich mich besser als mit der Schwester, die nur sechzehn Monate mehr zählte als ich. Elsbeth hatte, ähnlich wie Mama, dunkle, gewellte Haare, die ihrem hübschen Gesicht noch ein besonders gewinnendes Aussehen verliehen.

Einen kleinen Knopf nannte mich mein Bruder oft ne­ckisch. Darauf betrachtete ich aufmerksam die Knöpfe an meiner Weste und widersprach: «So klein kann ich doch gar nicht sein. Ich kann ja schon seit geraumer Zeit über den Tisch blicken und den Lichtschalter drehen.»

Wie mein Bruder damals ausgesehen hat, hab ich nur noch nebelhaft in Erinnerung. Natürlich war er viel grösser als ich. Er hatte hellere Haare als wir Mädchen und ein freundliches rundliches Gesicht. Auf der Strasse vergnügte er sich mit einem Reif oder einem Zwirbel. Mit gleichaltrigen Knaben spielte er Versteckspiel, wobei sie das ganze Quartier beanspruchten. Wenn sie im Suchen erfolgreich waren, schrien sie aus vollen Kehlen «Tschuepp, tschuepp, tschuepp» in den Gassen herum, dass es an den Hauswänden widerhallte. Die Namen, die sie sich zuriefen, erinnerten kaum mehr an die richtigen: «Äschu», «Käru», «Housi» und «Pesche», was Ernst, Karl, Hans und Peter heissen sollte. Oft stand ich am Gartentor und beobachtete mit Stolz meinen Bruder, der zu den Grossen gehörte und mit ihnen spielen durfte.

In meiner frühen Kinderzeit gab es einmal einen grossen Aufruhr. Sämtliche Kinder und etliche Erwachsene aus der Nachbarschaft strömten in unsere Strasse. Die Leute streck­ten ihre Hälse und fuchtelten mit den Armen nach oben. Ein Schatten huschte wie eine dicke Wolke über die Gebäude. Darauf folgte kaum hörbar ein silbern glänzendes Riesending.

«Der Zeppelin, der Zeppelin kommt», schrien die Leute.

Nah und gigantisch glitt er über unser Quartier. Er fuhr so tief, weil er die nahe Allmend angepeilt hatte. Jedermann wollte dabei sein, wenn das imposante Luftgefährt auf Berns Boden niederging. Markus und ich wollten diese Sensation auch nicht verpassen. Damit ich in der Menschenmenge nicht verloren ging, führte er mich an der Hand. Aus den hinteren Reihen konnten wir den Zeppelin betrachten, der sich langsam dem Boden näherte. Zum Greifen nahe schwebte er über unseren Köpfen dahin.

«Warum hat er denn ein Tram angehängt», wollte ich wissen.

«Ach wo, das ist doch kein Tram», grinste Markus, «sondern die Passagierkabine. Die Leute können doch nicht im Gasballon sitzen.»

Völlig überwältigt erzählten wir am Abend den Eltern, wir hätten den Zeppelin gesehen, wie er nah über den Wohnblöcken geschwebt und beinahe die Kamine gestreift habe.

Der Breitenrain und das Beundenfeld waren unser Spielrevier. Wir streiften kaum über den Breitenrainplatz hinaus. Aber einmal unternahm ich mit zwei gleichaltrigen Mädchen, Myrtha und Rita, an einem schönen Sommertag einen Spaziergang. Wir führten unsere Puppen aus wie die Mütter, die sich mit ihren Kindern in den Park begaben, um sie dort, während sie strickten, zu überwachen.

Mit unseren Vehikeln steuerten wir der kleinen Promenade bei der Johanneskirche zu. Dort belegten wir eine Bank, setzten unsere Puppen darauf und betteten indessen die Wagen neu ein. Bei all dem Spielen vergassen wir gänzlich die vorgerückte Zeit. Als gleich drei Kinder aus unserem Wohnblock nicht zum Nachtessen erschienen, kamen die Mütter in grosse Aufregung. Mama lief auf den Polizeiposten und meldete die Mädchen als vermisst. Ein Polizist schwang sich auf das Fahrrad und fuhr die Quartierstrassen ab.

Eine Weile später meldete er den verängstigten Müttern, es kämen da drei Nöggeli plaudernd und gestikulierend den Breitenrainstutz herauf. Um die Kinder nicht zu erschrecken, habe er sie nicht angesprochen, sie jedoch eine Weile im Auge behalten. Diese Puppenmütter würden demnächst in unsere Strasse einbiegen.

Als man uns vor dem Gartentor in Empfang nahm, konnte ich die Aufregung gar nicht begreifen. Angehörige und Fremde hatten sich aus Anteilnahme oder aus Neugier vor dem Haus versammelt. Unsere Mütter reagierten unterschiedlich. Rita verspürte gleich Mutters Handfläche auf dem Sitzteil, und Myrtha wurde von ihrer ältesten Schwester unzimperlich die Treppe hochgezerrt. Mama tat nichts dergleichen. Sie half mir den Wagen die Treppe hinauftragen. Ich war ihr dankbar, dass sie mich nicht vor allen Leuten gemassregelt hatte. Erst oben in der Küche warnte sie mich mit erhobenem Finger: «Lauf nie mehr so weit von zu Hause weg, sonst wirds dir wie der Rita ergehen.»

Es bedeutete mir immer besonders viel, wenn Mama mich mit zur Stadt nahm, um «Kommissionen zu machen». Ich fühlte mich geborgen, ihr zugehörig, wenn ich an ihrer Hand durchs Quartier und über die Kornhausbrücke trippelte. Der Kindlifresser auf dem Brunnensockel am Stadteingang zog mich stets von neuem in den Bann. Die furchterregende Gestalt machte einen ungeheuren Eindruck auf alle Kinder.

Die Innerstadt mit ihren gemütlichen, schützenden Lauben, der Zytglogge sowie der Bärengraben waren für mich der Inbegriff meiner geliebten Stadt Bern.

Wir legten meist erstaunlich lange Strecken zu Fuss zurück. Tramfahrten waren damals nicht üblich. Sie passten schon gar nicht in unser Budget. So hatten wir eben einen erheblichen Schuhverschleiss. Wir Mädchen trugen vorwiegend die traditionellen schwarzen Spangenschuhe mit dem kniffligen Knopfverschluss, der nur mit einem speziellen Häkchen und etlichem Aufwand geschlossen werden konnte.

Im Schuhgeschäft an der Marktgasse erhielt ich jeweils einen bunten Ballon, den mir die Verkäuferin ans Handgelenk band. An dieser fliegenden Kugel konnte ich mich enorm begeistern. Alle meine Bewegungen machte sie in leichter Verzögerung mit. Zu Hause knüpfte ich den Ballon an meinem Puppenwagen fest und rannte damit auf dem Trottoir hin und her. Abends im Zimmer beschäftigte ich mich immer noch mit diesem Wunderding.

Immer wenn Weihnachten näher rückte, nahm Mama im Warenhaus Loeb an der Spitalgasse eine Stelle an. Sie arbeitete dort als Verkäuferin während der Wintersaison. Das ergab einen geschätzten Zustupf in die Haushaltkasse. Diese Zeit verbrachten wir noch nicht schulpflichtigen Kinder im städtischen Jugendheim im Mattenhofquartier. Dort seien wir gut aufgehoben, versuchten uns die Eltern verständlich zu machen.

In diesem Heim herrschte eine strikte Tagesordnung. Zum Frühstück gab es regelmässig den kernigen, verhassten Haferbrei. Auf harten Bänken sassen wir an langen Tischen und schauten zu, wie die «Tanten» uns einen Schöpflöffel voller Brei auf die Teller klatschten. Eine andere Tante band uns den Esslatz um. Sie schnürte ihn so eng, dass man kaum noch Luft holen konnte. Gelang es uns nicht, im richtigen Moment den Finger zwischen Latz und Hals zu schieben, wurden wir fast stranguliert, und der Haferbrei rutschte nur mühsam die Kehle runter.

Tag für Tag trugen alle Kinder die selben karierten Ärmelschürzen. Blaue für die Mädchen und rote für die Knaben. Zum Schutz gegen Wind und Kälte wurden wir für den täglichen Spaziergang in dicke schwarze Pelerinen gehüllt. Den Rest des Tages verbrachten wir vorwiegend im Hause beim Spielen. Einmal im Zimmer, durften wir diesen Raum ohne Abmeldung nicht mehr verlassen. Etwa wöchentlich einmal erschien die Vorsteherin im Spielzimmer, klatschte in die Hände, sang ein Lied und hüpfte mit uns im Kreise herum. Danach war ihr Kontakt-Soll erfüllt, und sie überliess uns wieder den Tanten, die sich mehr oder weniger gefühlvoll mit uns abgaben.

Nachts wurden wir an den Füssen ans Gitterbett gefesselt, weil die Tanten nicht mochten, dass wir die Decke wegstrampelten. Umdrehen im Bett war somit unmöglich. Wir muss­ten die ganze Nacht in der selben Position verbringen. Ich ­bewunderte meinen Bettnachbarn, dem es gelang, die Fussbänder zu lösen. Das Kopfkissen, in dem wir uns verkuscheln wollten, wurde uns unter dem Kopf weggerissen. Ein Kissen sei ungesund und führe zu einem Buckel.

Diese Umplatzierung ins Heim hatte zur Folge, dass uns eine Weihnachtsfeier im Kreise der Familie nicht beschieden war. Ein Christfest zu Hause habe ich ein einziges Mal bewusst erlebt, als ich sechs Jahre alt war. Elsbeth war wie Markus schulpflichtig geworden und musste nicht mehr ins Heim. Dadurch hatte ich das Glück, dass ich nicht allein dorthin abgeschoben wurde. Wir hatten mindestens drei lange, freudlose und trübe Winter in diesem Kinderheim verbracht. Erst als sich der Frühling ankündete, wurden wir von den Eltern dort wieder herausgeholt.

An gewissen Tagen machte der Migros-Verkaufswagen im Nord-Quartier die Runde. Soeben hatte er in unserer Strasse Halt gemacht. Der Fahrer, der zugleich als Verkäufer amtierte, liess eine Glocke erklingen, dann erschienen aus allen Hauseingängen kurz darauf Frauen in langen Röcken und bunten Rüschenschürzen. Mit und ohne Kinder strebten sie zum mobilen Warenladen.

Mama hatte uns, meine sechsjährige Schwester und mich, beauftragt, dort am Stand Gemüse und Käse einzukaufen. Mit einem Küchengefäss in der einen, einem Zweifrankenstück in der andern Hand und mich als Fünfjährige im Schlepptau näherte sich Elsbeth dem Gerangel.

Die ganze Käuferschaft drängte sich wie ein Knäuel um den Verkaufsstand. Schubsen war an der Tagesordnung, diszipliniertes Anstehen kannte man zu jener Zeit noch nicht. Kinder wurden meist rücksichtslos zur Seite geschoben.

Die korpulente Frau Zuber aus dem Nachbarhaus hatte keine Mühe, ihren Platz in der Menge zu behaupten. Schritt um Schritt rückte sie wie eine Walze vor. Mit anderer Taktik kam die schlanke Frau Eberhard an ihr Ziel. Sie machte sich jede zufällige Lücke zu Nutze, um nach vorne zu kommen und die schönsten Äpfel und den frischesten Salat zu erwischen.

Wir standen hinter der dicht gedrängten Menschenansammlung und schauten dem Treiben unfreiwillig von unten zu. Neu eintreffende Käuferinnen stiessen uns immer wieder weg. Dies wollte schliesslich meine Schwester nicht mehr länger hinnehmen und versuchte, sich zwischen den Leuten durchzuschlängeln. Dabei wurde sie von einer Frau heftig angestossen, und ihr fiel das Geldstück aus der Hand. Es rollte zwischen den Schuhen der Wartenden davon und verschwand. Die langen Röcke der Käuferinnen wirkten wie ein dichter Vorhang.

Als die Leute begriffen hatten, warum wir vordrängen wollten, war die Münze nirgends mehr zu sehen. Sie konnte in die Abwasserrinne gerollt sein. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich jemand schnell danach gebückt hatte, lag wohl näher. Aber niemand hatte etwas gesehen oder gehört. Elsbeth war fassungslos; sie konnte sich der Tränen nicht erwehren, ich schluchzte mit. Was sollten wir bloss tun? Mama wartete bestimmt schon ungeduldig auf das Gemüse.

Die Hausfrauen hatten ihre Einkäufe erledigt und waren gegangen. Ratlos verweilten wir neben dem Stand und konnten uns nicht entschliessen, nach Hause zu gehen. Zu unserem Leidwesen begann der Verkäufer, die Ware für die Weiterfahrt einzuräumen. Da nahm mich Elsbeth an der Hand und sagte resigniert: «Komm, wir gehen.»

Sie musste mich mit Gewalt vom Wagen wegziehen. Den Blick auf die Ware gerichtet, lief ich beinah rückwärts. Elsbeth reagierte ungehalten, sie schüttelte mich am Arm und sagte: «Beweg dich endlich, sonst lass ich dich stehen.»

Der Wagenführer hatte seine Aufräumarbeiten beendet. Er beobachtete uns nachdenklich und zog seine Mütze zurecht. Gleich würde er mit dem noch vollgestopften Wagen wegfahren, während wir mit unserem leeren kleinen Gefäss abziehen mussten. Da winkte er uns zu und rief: «Hallo, ihr Mädchen, kommt doch mal zurück.»

Wir blieben stehen. Der Mann kam uns entgegen, nahm meiner Schwester das verbeulte Löcherbecken aus der Hand und fragte aufmunternd: «Nun, ihr Kinder, was hättet ihr denn haben sollen?»

Elsbeth wischte sich mit dem Handrücken die Tränenspuren weg und zählte auf: «Ein Kilogramm Kartoffeln, vier oder fünf Karotten und dann noch etwas Käse fürs Geld – aber wir haben ja keines mehr», fügte sie erschrocken hinzu.

«Keine Bange, sicher hat jemand euer Geld eingesteckt», erwiderte er, deckte die Gemüseharasse noch einmal ab, füllte das Aluminiumbecken mit Kartoffeln und Karotten und überreichte es meiner Schwester. Dann holte er ein abgeschnittenes Käsestück, das offenbar einer Kundin nicht genügt hatte, unter der Glasglocke hervor, wickelte es ein und drückte mir das Päcklein in die Hand. «Das darfst du deinem Vater bringen. Und nun beeilt euch, bevor euch die Mutti suchen kommt.»

Elsbeth trug das Gemüsegefäss wie ein kostbares Gut behutsam vor sich her, während ich das Käsestück fest umklammert in meinen Händen hielt. Voll Freude und Dankbarkeit strebten wir leichtfüssig unserer Wohnung zu. Vor dem Gartentor hielt Elsbeth kurz inne und sagte leise: «Sag zu Hause nicht, dass ich das Geld verloren habe!»

In der Küche wartete Mama schon ungeduldig auf die Karotten. Wir stellten die Ware wortlos auf den Tisch und entzogen uns Mamas möglichen Fragen!

Papa hatte am Stadtrand auf einem Familiengarten-Areal ein Stück Pflanzland gepachtet. Das Gartenhäuschen mit den Kaninchenställen – ein Prachtsexemplar unter den übrigen Freizeitgebäuden – hatte er sich in den Abendstunden selbst zusammengezimmert. Der Ertrag aus der Pflanzung war eine willkommene Bereicherung für den Vorratsraum. So gelang es Mama, trotz des schmalen Haushaltungsbudgets täglich eine nahrhafte Mahlzeit auf den Tisch zu bringen.

Als gelernte Schneiderin nähte Mama für uns hübsche Kleider. Oft sah ich ihr zu, wie sie auf der alten Singer-Tretnähmaschine Naht um Naht zusammenfügte. Dabei sang sie uns mit ihrer hellen Stimme Lieder vor; Lieder, die man heute kaum mehr kennt. Wie etwa das Lied vom Blümchen Ig ha am ene Ort es Blüemli gseh oder «Das Laub fällt von den Bäumen».

Einmal legte sie die Arme um Elsbeth und um mich, spazierte mit uns durch Zimmer und Korridor und sang das Lied:

Dür ds Oberland uf,
dür ds Oberland ab,
da han i zwöi Schätzli,
wär chouft mir eis ab.

Sofort reagierten wir beide und flehten Mama an: «Bitte Mama, verkauf uns nicht.»

«Nein, wie sollte ich auch», tröstete sie uns.

Dass dieser Text aber in nicht allzu ferner Zeit für uns in gewisser Weise Wirklichkeit werden sollte, hätte niemand von uns je für möglich gehalten.

Mamas Eltern besassen im Sulgenbachquartier ein altes Fünffamilienhaus, in dem sie das unterste Geschoss selbst bewohnten. Die Grossmutter pflegte mit Hingabe ihre Rosen, die sie im grossen Garten angepflanzt hatte, während der Grossvater als Schuhmacher auf dem Beschlagfuss herumhämmerte. Hinter dem Hause sprudelte der alte Brunnen, den wir oft und zu Mamas Leidwesen in unser Spiel mit einbezogen.

Um ins Sulgenbachquartier zu gelangen, benutzten wir die gedeckte rote Brücke, die den unteren Breitenrain mit der Stadt verband. Diese Brücke hatte ihre Tücken. Auf dem Dach dieser Aareüberquerung fuhren die Züge vom und zum nahen Bahnhof. Wenn nun gleichzeitig mit den lärmenden ­Zügen die Bereiter von der nahen Reithalle auf ihren Pferden kamen und über diese Brücke gingen, bäumten sich die erschreck­ten Tiere wild auf und tanzten und stampften auf zwei Beinen in der ganzen Passage herum.

Niemand wollte diesen wildgewordenen Pferden begegnen. Bevor wir jeweils diesen tunnelähnlichen Übergang benutzten, setzte Mama uns Mädchen in den hochrädrigen Kinderwagen, wartete eine günstige Zeit ab und rannte dann, was Lunge und Beine hergaben, durch die Passage, begleitet von Markus, der Mamas Tempo mühelos mithalten konnte. Oft fand ein regelrechtes Kinderwagenrennen in dieser gedeck­ten Aarebrücke statt.

Papas Vater, seit etwa zwei Jahren verwitwet, wohnte ganz in unserer Nähe, ebenfalls in seinem eigenen Haus. Er besass wie der Sulgenbach-Grossvater eine Schuhmacher-Werkstatt. Dazu beschäftigte er noch einen Gehilfen.

Unserem Grossvater war Mama nicht genehm. Er hatte sich für seinen einzigen Sohn eine andere Schwiegertochter vorgestellt. Das liess in der Ehe meiner Eltern eine gewisse Disharmonie keimen. Dazu kam die Arbeitslosigkeit, die ganze Berufsschichten zum Stempeln zwang. Papa musste manchmal auch mit der Arbeit auf dem Bau aussetzen. Dann arbeitete Mama wieder als Verkäuferin im Warenhaus Loeb. Damit gelang es, die Familie einigermassen über Wasser zu halten.

Es war schon herbstlich kalt, als wir in eine andere Wohnung zügelten. Sie lag nicht weit vom alten Wohnort entfernt. Der Wohnblock stand auf dem einstigen goldenen Blumenfeld, Papa machte beim Umzug widerwillig mit. Er fand, dass ein Wohnungswechsel in dieser schweren Zeit nicht das Nötigste gewesen wäre. Mama setzte sich aber durch. Sie wünschte sich begreiflicherweise etwas mehr Komfort. Die neue Wohnung war grösser und heller als die bisherige, verfügte über eine Veranda, ein modernes Badezimmer und eine Mansarde.

Das Verhältnis meiner Eltern wurde immer angespannter. Eines Tages erschien Papa nicht mehr zu Hause, sein Platz am Tisch blieb leer. Mama erklärte uns, wir würden von nun an ohne Papa in diesem Haushalt leben müssen.

Sie holte den geflochtenen Reisekoffer vom Estrich, füllte ihn mit Papas Kleider und Effekten und stellte ihn im Korridor zum Abholen bereit. Am folgenden Morgen war dieses Gepäck nicht mehr da. Dies alles schien mir so hart, so endgültig.

Papa fehlte mir sehr. Nun hatte ich niemanden mehr, dem ich auf die Knie klettern konnte, der mit mir «Käse kehren» spielte, mir Tierbücher zeigte und den Atlas erklärte. Jeweils am Sonntagvormittag holte Papa mich zum Spaziergang ab. Dann wanderten wir durch die langen Alleen, die in Bern-Ost aufs Land hinausführten. Papa konnte bei seinem Vater in einer Dachstube wohnen, wo ich ihn oft besuchte.

Meine Schwester konnte sich nach einer längeren Diphterieerkrankung nicht mehr problemlos an eine neue Klasse gewöhnen. Sie blieb oft der Schule fern. Das ging so weit, bis sie im Unterricht nicht mehr geduldet wurde. Man brachte sie in ein Kinderheim nach Kirchlindach.

Unsere neue Wohnung musste auch gepflegt und gereinigt werden. Da Mama ganztägig arbeitete, blieb ihr dafür wenig Zeit. Nun dachte sie an die Anschaffung eines Staubsaugers. Tatsächlich erschien bald darauf ein Reisender mit einem solchen Luxusgerät und führte es Mama und uns staunenden Kindern vor.

Mama benahm sich seltsam, wie ich sie nicht kannte. Zudem war mir sofort klar, dass mir dieser Mann schon einmal begegnet war! Es blieb nicht beim einzigen Besuch, mehrmals kam der Vertreter vorbei, bis der Staubsauger endlich gekauft wurde. Als dann dieser Mann einmal mit lederner Motorradmütze und einer Schutzbrille bei uns erschien, erinnerte ich mich. Ich erkannte den Mann, den Mama vor mehr als einem Jahr «zufällig» beim Spitalacker-Schulhaus getroffen hatte, als wir Elsbeth von der Schule abholen wollten. Mama hatte den Blick nicht aufs Schulhausportal gerichtet, wo Elsbeth hätte erscheinen sollen, sie schaute auffallend nervös gegen die Strasse hin. Bald kam ein Fahrer angebraust und hielt exakt neben Mama an. Der Mann trug eben diese Ledermütze, plauderte vertraulich mit Mama, ignorierte mich und löste dadurch bei mir Eifersucht aus. Auf dem Nachhauseweg erhielt ich von Mama Schelte, weil ich mich trotzig benommen hätte.

Wozu sollte ich einem Fremden gegenüber freundlich gesinnt sein, von dem ich fühlte, dass er zu meinem Nachteil im Begriff war, die Gunst meiner Mutter zu erlangen – oder schon erlangt hatte! Ich vergass diese Begegnung, bis dieser Fremde in erwähnter Montur in unserer Wohnung auftrat.

Er war Mamas Freund. Papas verschiedentliche Versuche, zu uns zurückzukommen, scheiterten, weil sich dieser Karl, wie er hiess, nicht mehr aus Mamas Leben verdrängen liess. Ein gerichtlicher Entscheid verfügte, dass wir Kinder, einem damaligen Vorrecht der Mütter entsprechend, der Mama ­zugesprochen wurden. Das war ein schicksalsträchtiger Beschluss.

Im folgenden Frühling begann nun auch für mich die Schulzeit. Ich wurde ins imposante Spitalacker-Schulhaus eingewiesen. Einen neuen Schulsack erhielt ich nicht. Irgend­wo konnte Mama eine alte abgewetzte Segeltuchtasche mit den entsprechenden Tragriemen auftreiben, die ich dann in der Schule neben die nigelnagelneuen Taschen meiner Mitschülerinnen hängen musste.

Karl ging jetzt ungehindert in unserem Haushalt ein und aus, durfte aber noch nicht bei uns wohnen. Nach einer Intervention Papas hatte er die Schlafstätte in unserer Wohnung verlassen müssen. Papa hatte unserer Mutter erklärt, er weigere sich, ihr den monatlichen Mietzins zu bezahlen, solange sich dieser Eindringling in unserer Wohnung eingenistet habe. Demzufolge musste Karl das Feld räumen und sich mit der Dachkammer im Nebenhaus begnügen, die ihm Mama mit Kleinmöbeln und Wäsche aus unserer Haushaltung wohnlich eingerichtet hatte. Markus und ich fühlten, dass wir verdrängt wurden. Platz Nummer eins hatte Karl eingenommen.

An einem Sonntag besuchten wir Elsbeth im Kinderheim. Markus war nicht dabei. An der Postautohaltestelle am Bollwerk liessen Mama und Karl mich draussen warten, während sie das Billett lösen gingen. Plötzlich wurde ich von hinten hochgehoben und ins Postauto gestellt. Vor Schreck schrie ich laut auf, ich sah nicht, wer mich kidnappte. Der Chauffeur höhnte: «Wer wird jetzt dermassen schreien, wenn man schon Postauto fahren darf.»

Als der Schreck nachliess, hörte ich Papas Stimme und erkannte seine Hände, die mich immer noch umfasst hielten. Er sprach beruhigend auf mich ein und setzte mich auf einen Sitz am Fenster, nahm Platz neben mir, als wollte er damit demonstrieren: «Meine Tochter holt hier niemand weg.»

Papa wollte ebenfalls Elsbeth besuchen und konnte es nicht mitansehen, dass Mamas Freund in meiner Nähe war.

Mama und Karl bestiegen auch dieses Postauto. Sie setzten sich hinten auf die Bank. Wohlweislich liessen sie mich neben Papa sitzen. Während der Fahrt drehte ich mich um und wollte die Atmosphäre auf der hinteren Bank erkunden, da flüsterte Papa mir zu: «Schau nicht nach hinten, diese Leute gehen uns nichts an.»

Die Zeit der Sommerferien begann, in welcher wir zwei Kinder nicht recht wussten, wo wir uns aufhalten sollten. Wir strichen gemeinsam durchs Quartier, hielten uns im Kaser­nen­areal unter den schattigen Kastanienbäumen auf oder schlenderten stillschweigend durch den Rosengarten. Ins Aarebad Lorraine konnten wir ohne Mama nicht mehr problemlos gehen. Als Schulmädchen hatte ich nicht mehr Zutritt in den Bueber wie vor Jahresfrist, als mich Markus dorthin mitnahm. Und allein mochte ich mich auch nicht im Frauenbad aufhalten. Es war ein heisser Sommer, in den Strassen war der Asphalt flüssig. Wir mieden diese Strecken und schlichen am Abend im Schatten der Häuserreihen müde und freudlos unserer Wohnstrasse zu.

Der geheimnisvolle Ausflug

Mama versprach uns – Markus und mir –, man würde im Laufe der Sommerferien eine Reise ins Grüne unternehmen. Wir freuten uns darauf, wunderten uns aber, dass sie diesen Ausflug immer wieder verschob. Auch aus Karl war nichts herauszukriegen.

Dann endlich, am Ende unserer Ferien im August im Jahre 1934, schien ihr der Termin zu passen. Es war ein denkwürdiger Tag, ein Tag, der unserem Leben eine unglaubliche Wende gab.

Mama betrat unser Zimmer und sagte: «Wir machen heute eine Reise ins Oberland. Beeilt euch, zieht die Sonntagskleider an. Wir müssen gleich zur Bahn.»

Schnell machten wir uns reisefertig und standen bald erwartungsvoll bei Mama in der Küche. Karl war auch schon da, er durfte natürlich bei diesem Ausflug nicht fehlen.

Der Zug führte uns über Land, Richtung Süden, den Bergen entgegen. Nach etlichen Stationen wechselten wir auf eine kleinere Bahn, dann wartete schon das Postauto auf uns. In unzähligen Kurven tuckerte das Gefährt einen Hügel empor. Wir durchfuhren einen Tannenwald, bevor das Auto die Kuppe eines langgestreckten Höhenzuges erreichte, von welchem wir eine freie Sicht in Berge und Täler hatten. Noch nie zuvor hatte ich die imposanten Felswände so greifbar nah zu Gesicht bekommen. In gehobener Stimmung verliessen wir das Postauto und bewunderten das Panorama.

Im Osten reichte der Blick bis hin zu den schroffen Wänden des Hohgant. Das Jungfraumassiv liess sich hinter einem bewaldeten Hügelzug leicht erahnen. Der weisse Gipfel des bekannten Berges ragte hinter den dunklen Tannenspitzen empor. Die trotzige Niesenpyramide dominierte am westlichen Horizont.