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Foto Ayşe Yavaş

Alberto Nessi, geboren 1940 in Mendrisio, studierte an der Universität Freiburg Literaturwissenschaft und Philosophie. Er ist verheiratet und hat zwei Töchter. Er unterrichtete italienische Literatur in Mendrisio, schrieb für Zeitungen und verfasste Hörspiele. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Schweizer Grand Prix Literatur für sein Lebenswerk. Alberto Nessi lebt in Bruzella. Im Limmat Verlag sind von ihm lieferbar: «Nächste Woche, vielleicht», «Terra matta», «Schattenblüten», «Die Wohnwagenfrau», «Mit zärtlichem Wahnsinn / Con tenera follia» und «Abendzug».

Terra matta

Alberto Nessi

Terra matta

Drei Erzählungen

Aus dem Italienischen von Karin Reiner

Nachwort von Fabio Soldini

Limmat Verlag

Zürich


Luigi Pagani

Luigi Pagani, Mattirolo genannt

1

Im Jahre 1843 fiel Mariä Heimsuchung auf einen Sonntag. Es wurde ein grosses Fest. Nachdem sie die ersten Glocken losgebunden hatten, die Maultiere und Esel aus Moltrasio, Cernobbio, Rovenna und Piazza Santo Stefano bepackt waren, verliessen die Teilnehmer der Prozession ihre Dörfer auf Wegen, die zu dieser Stunde und Anfang Juli noch ganz finster waren.

In der Morgendämmerung begannen die Figuren deutlicher Gestalt anzunehmen: die Kapuzen rot und weiss die Kutten der Amtsbrüder, leichter trug sich der Baumwollstoff auf den Schultern der jungen Mädchen, aus den geblümten Kopftüchern tauchten die Gesichter der Bäuerinnen hervor. Der Vollmond und die Sterne, die noch am Himmel verharrten, kündigten eine schöne Kirch­weih an.

Als die Vögel die Stille der Berge über dem Comer See brachen, fing auch der Pfarrer inmitten laubiger Zweige zu psalmodieren an. Die Gesänge waren jedoch matt und erlaubten jedem, seine persönlichen Angelegenheiten zu überdenken, die, aus den Nebelschleiern des Schlafes aufgestiegen, sich mit all ihren frischen Wunden den Blicken darboten.

Man konnte die Bauern sehen, die an der pellagra litten, da sie nur Polenta, Kastanien, Kleiebrot, Gersten- und Hirse­suppe, die mit Nussöl gewürzt war, zu essen hatten; die Papiermacher aus Piazza und Maslianico, die Tag für Tag in den Betrieben entlang der Breggia mit Lumpen hantierten und nun ihre Klarinetten und Flügelhörner an die Lippen setzten, die Coconwäscherinnen, Aufputzerinnen und die Anreisserinnen, die ihre grobe Arbeitsschürze gegen eine bestickte Festtagsschürze eingetauscht hatten.

Das Licht der Morgensonne fiel weniger auf Lucias von bescheidener Schönheit als auf Mädchen, die abgearbeitet und mitgenommen waren von den langen Stunden, die sie in der Spinnerei beim Haspeln und beim Einheizen des Ofens zugebracht hatten. Unter ihnen waren Mädchen, deren Los es war, vorzeitig zu altern, um den Seidenherren zu ermöglichen, sich ihre Landhäuser in der Brianza zu halten, Kinder, die in den Spinnereien mit ihren feinen ­Fingerchen die Seidenfäden wieder verknüpften und die manchmal mit dem Gewicht ihres Körpers nachhalfen, dass sich die Spulmaschine drehte.

Auch auf Schweizer Seite stieg man den Monte Bisbino hinauf, mit Umhängetaschen, Armkörben, Tragkörben, grossen und kleinen Flaschen. Mitten unter den Kindern, die schon recht lärmten, schritt ein Maultier mit einem Fass Wein auf dem Rücken.

Einige waren bereits kurz nach Mitternacht aufgebrochen, um den Sonnenaufgang zu sehen, ihre Sünden zu beichten und in der Wallfahrtskirche einen Platz zu ergattern – denn, fällt Kirchweih auf einen Sonntag, gibt es so viele Leute, dass man meinen könnte, man sei am Gründonnerstag in Como, um das Kruzifix in der Kirche der Annunciata zu küssen.

Zwischen den Buchen, Eichen und Kastanien hindurch sah man im ersten Tageslicht die Gewänder der Pfarrer vorbeiziehen, die Barchentkleider der Bauern, die Samtkittel und die blumenbestickten Gilets der Burschen, die Schleier und die Röcke der Frauen und die kurzen Hosen der Buben. Sie kamen von Sagno, Morbio, Vacallo, Mendrisio, Caneggio und aus anderen Dörfern des Mendrisiotto.

Nachdem sie aus dem schattigen Dunkel des Waldes hinaus auf die grasbewachsenen Kuppen gelangt waren, hielten sie inne, um die Wallfahrtskirche auf der Höhe zu bewundern. Sie war wie eine kleine Festung umschlossen von einer mächtigen Mauer, diese Stätte der Wundertätigkeit, die der Blitz vor zwanzig Jahren als Zielscheibe benutzt hatte, wobei er einen Jagdhund verkohlen, siebenundzwanzig Wallfahrer, beschützt durch die Heilige Maria vom Bisbino, jedoch unversehrt liess.

Die Breva, die aus der Ebene heraufblies, fegte über die lange gewellte Kruppe der Rücken hinweg, liess die Filzhüte und die Mützen der Männer fliegen. Sie standen eng in einer Gruppe zusammen, um mit ein paar Pfarrherren zu diskutieren, die sich Heuschrecken von der Soutane schüttelten unter den Eschen mit ihrem bedrohlichen Laubwerk und den Vogelbeerbäumen, deren rote Trauben sich bewegten. Augen und Schnurrbärte glänzten in der Morgensonne.

Die Breva trug auch ihre Gespräche über den Pfad zur Wallfahrtskirche hin, die zum Anfassen nah scheint und bei der man doch nie anlangt. Immer taucht da noch eine weitere grüne Welle auf.

«Nun, wie machen wir es heute?»

«Also, an mir soll’s nicht fehlen. An mir nicht.»

«Denk daran, dass es einen sicheren Schlag und gute Beine braucht, weil …»

«Oh, meine Beine lassen mich nicht im Stich.»

Der grosse Platz vor der Wallfahrtskirche, geschmückt mit Girlanden, Blumengewinden und scharlachroten Tü­chern, wimmelte von Menschen.

Alle wollten sie die Füsse der Jungfrau Maria aus Marmor küssen und hatten ihr irgendetwas anzuvertrauen – ein Sohn, fern von zu Hause, eine verwachsene Tochter oder auch einfach die Mühsal, auf dieser Welt zu leben –, ihr konnten sie es sagen, dieser Trösterin der Bedrängten und Gnadenspenderin.

An den Wänden der Kirche berichteten Hunderte und Aberhunderte von Täfelchen und Exvotos von ihrem wunderbaren Wirken: von besiegter Pest und Cholera, von abgewendeter Dürre, gebändigter Feuersbrunst, aufgerichteten Krüppeln, vom Gelähmten, der wieder gehen kann, von der jungen Frau am Seeufer, die von ihrem Vorhaben, sich in den See zu werfen, abgehalten wird, vom Verbrecher, der seinen Revolver wegwirft und ein neues Leben beginnt, vom Kind, das vor dem Ertrinken gerettet wird, vom Bergknappen, der lebend inmitten der Trümmer einer Mine aufgefunden wird, vom Maurer, der im Fallen aufgefangen wird, als das Baugerüst einstürzt, den Schiffern, die mitten in einem Seesturm vom wundertätigen Arm der Stella del Mare gerettet werden.

Die andere Madonna, dieses Bauernmädchen aus Holz, zwei Spann hoch und rot und blau angemalt, mit dem weissen Kind auf dem Knie, erschien, als das Hochamt zu Ende war, über und über behangen mit Schmuck, Halsketten, Armbändern, Kreuzen und Medaillons, inmitten der Kruzifixe und Litaneien der Gläubigen auf der Schwelle der Kirche, getragen von den Mitgliedern der Bruderschaft aus Moltrasio. Und wenngleich sie von der bergamasca bedrohlich angeweht wurde, spiegelte ihr Blick himmelblau den Comer See, betrachtete sie, ohne Bewegung, die Berge über Brunate; und wie sie nach und nach unter dem Flügelschlag der Steinschwalben auf den Vorplatz hinausschritten, richteten sich ihre Augen beinahe sehnsüchtig auf die Dinge dieser Erde: auf die Berge um Lecco, die gewaltige Kette der Alpen, den Generoso, auf das Muggiotal, das Mendrisiotto tief unten und auf die Brianza, unter dem Schleier der grossen Hitze, und die lombardische Ebene mit dem Flecken Mailand. Sie hielten einen Augenblick inne an der Stelle, wo sie einst – oder war es am Ende die marmorne Frau? – den Glockendieb hatte abstürzen lassen, den man in gewissen Nächten stöhnen hört aus der Tiefe des Abgrunds. Schliesslich war der Gang zur Wallfahrtskirche beendet. Alle knieten nieder vor diesem Glanz; die Kühe auf der Alp wendeten ihren Kopf.

Nach den innigen Gebeten begaben sich die Leute in die Osteria der Wallfahrtskirche. Unter dem Vordach packten sie Salami und Fladenbrot aus, setzten sich gegen die Mauer, um sich vor dem Wind zu schützen, und die Kinder auf der Mauer oder auf dem Vorplatz plärrten auf dem Trompetchen vom Bauchladenhändler oder rollten die Böschungen hinunter und suchten Sauerampfer zwischen dem zerzausten Gras. Andere zerstreuten sich unter den Buschhecken in den schweizerischen und italienischen Wäldchen, stellten ihre Körbe auf den Boden; die Frauen breiteten ein Tuch aus und verteilten die Esswaren; die Männer sicherten den fiasco, die grosse Korbflasche, mit einem Stein, und dann setzten sie ihn sich an die Lippen, die noch feucht waren vom Kuss, den sie den Füssen der Jungfrau aufgedrückt hatten und so die Worte des Psalmis­ten bestätigten, wie der Pfarrer aus Moltrasio gesagt hatte in seiner Predigt: «Dienet dem Herrn in heiliger Fröhlichkeit!» Ob es wohl so ist, das Paradies, mit einem fiasco, Brot mit etwas darauf und einer Frau unterm Haselstrauch?

Auf der Tessiner Seite gingen die Gespräche vom frühen Morgen weiter unter den Männern, die im Gras ausgestreckt dalagen und die Fliegen vom Schnurrbart verscheuchten, während die Kinder in ihre Pfeifchen bliesen.

Die Frauen waren die Ersten, die sich wieder auf den Weg hinunter machten, das Messbuch in den Händen, in welches sie das Bildchen der Madonna gesteckt hatten; sie wollten es über das Bett hängen oder in den Stall, um die Kuh zu beschützen, oder in die Seidenraupenzucht, damit die Raupen nicht den Kalkbrand erwischten und zu klebrig-faulem Brei würden durch den Donner.

Nachdem das Fass des Pfarrers Maderni – er war der Pfarrer von Morbio Sopra, bei dem zu Hause sich zweimal pro Woche der Spezereihändler aus Balerna, der Arzt aus Castello und zwei Pfarrherren aus Caneggio trafen, «um die Gegenrevolution zu planen» – geleert war, stimmte einer von den Frommen das Lied vom Spazzacamino, vom Kaminfeger, an. Der Sohn des Professore blies zur Begleitung das Kornett.

Es bildete sich eine Gruppe von etwa vierzig Personen. Innocenzo, der Kirchendiener, ein Bruder des Kornettspielers, hatte sich auf den Rücken des Maultieres geschwungen.

Betrunken machten sie sich auf den Weg über die hohen Alpweiden voller Sonne. Dann teilten sie sich in zwei Kolonnen auf, und einer begann zu rufen:

«Nieder mit den Liberalen! Zu Tode!»

Es war einer von den Schwarzen aus Caneggio, von denen, die vor ein paar Jahren vom Kirchturm herunter auf die Liberalen geschossen hatten, die sich versammelt hatten, um den Wahlsieg zu feiern, bevor sie die verräterische Urne verschleppten und sie in die Schluchten der Breggia warfen.

Jetzt gab es ein wildes Singen und Lärmen:

«Hoch die Schwarzen – sie sind die Besten!»

Die Camponovo aus Torre ob Mendrisio stimmten ein Lied an, das lautete: «Du kannst mir das Leben, die Ehre wieder geben», und bei der zweiten Strophe war Gamba­rón bereits zu Boden gesackt, völlig betrunken. In diesem Moment aber zogen ein Papiermacher aus Chiasso, Barbee genannt, und ein Pächter aus Mezzana, der auf einem Auge fast blind war, ihre schwarzen Halstücher aus und banden sie an ihre Stöcke. Die Menge setzte sich wieder in Bewegung, hinter den beiden her, die stöckeschwingend riefen:

«Es lebe unsere Fahne!»

Doktor Catenazzi stimmte mit voller Stimme an:

«Unsere Fahne flattert nicht umsonst …»

Und Barbee, mit glühendem Blick:

«Du bist schwarz, bald wirst du blutrot sein.»

Bei Sella waren der Hauptmann Bulla aus Cabbio, der mit seiner Frau von der Kirchweih kam, der Pfarrer von Vacallo und einer, der den Herrschaften den Proviant trug. Als sie die Kampfrufe und Gesänge hörten, hielten sie an.

Wie nun die Bande die Lichtung erreicht hatte, erteilte Bulla den Rädelsführern den Befehl, die Fahne zu senken, doch sie schwenkten sie ihm direkt vor der Nase herum, ihm, dem Hauptmann und seiner teuren Verfassung.

Da stürzte er sich auf den Camponovo und entriss ihm den Stock samt dem schwarzen Tuch.

Es begann Stockschläge zu hageln, alle schrien und rannten herbei und schlugen drauflos. Im Gemenge zückte Batarèll, ein Pächter mit einer tiefen Narbe auf der Wange, sein Stellmesser und rammte es dem Pfarrer von Vacallo in den Bauch. Darauf machte er sich in Richtung San Martino aus dem Staube: der liberale Pfarrer brach blutüberströmt zusammen.

Zwei, die herbeigeeilt waren, um ihm zu helfen, bekamen ein paar weitere Messerstiche ab und blieben, sich vor Schmerzen windend, auf dem Wege zurück, während Mene­ghino Barbón gesehen wurde, wie er eine Messerklinge im Gras putzte und dann floh.

«O wir Armen! Sie streiten schon wieder …», schluchzten die Frauen.

Andere dagegen antworteten denen, die nach dem niedergestreckten Pfarrer fragten:

«Soll er sich aufhängen, der Don Antonio! Soll er verrecken, der Don Antonio!»

Weiter unten, auf dem Hügel von San Martino, lag der Landjäger Carlo Casartelli aus Chiasso, genannt Balín, in Hemdsärmeln und mit dem Gesicht auf dem Boden im Unterholz, die Füsse auf dem Saumpfad, voller Blut.

An seiner Seite versuchten ein paar Frauen, die von der Kirchweih heruntergestiegen waren, seine Wunden mit Taschentüchern zu stopfen und ihn zum Sprechen zu bringen. Doch Balín sagte gar nichts mehr. Eine hob seinen weissen Hut auf, der ins Farnkraut gefallen war.

Nach den Tätlichkeiten bei Sella, die mit der Verwundung der drei Liberalen geendet hatten, war Balín den ausser Rand und Band Geratenen nachgelaufen, hatte sich an den alten Camponovo herangemacht und ihn mit dem Stock herausgefordert:

«Los, auf mich, wenn es noch richtige Schwarze gibt!»

Die beiden hatten miteinander gerungen und sich zwischen den Baumstämmen gewälzt. Man hatte Hilferufe vernommen und gehört, wie die Töchter des Camponovo jammerten: «Jesses, mein Vater …!», währenddem einige weitere aus der Schar atemlos und betroffen hinzutraten. Nachdem die Messer und Rebsicheln gezückt worden waren, hatte hinten jemand gehetzt: «Gib’s ihm! Gib’s ihm!», bis man dann Balín mehrmals hatte schreien hören und Camponovos Leute entgeistert mit ihren Frauen in Richtung Morbio auf und davon gestürzt waren.

Am Abend wurde Balíns Leiche auf einer Leiter in die Kirche von Sant’Anna gebracht.

Als die Nachricht von den Vorfällen am Monte Bisbino durch die Dörfer gegangen war, beeilten sich die Liberalen, ihr Gewehr zu holen: in Mendrisio überfielen sie das Haus der Camponovo und richteten den Alten übel zu, indes die vier Brüder schon auf der Flucht in Richtung Grenze waren, um sich in Sicherheit zu bringen. In Vacallo banden die Brüder Luigi und Antonio Pagani, die man Mattirolo nannte, sich ihre Stoffschuhe um die Füsse, schulterten das Gewehr, riefen ihre Getreuesten zusammen und machten sich davon, auf die Suche nach den Pfarrern des Muggiotals.

Der Pfarrer von Bruzella, Don Clericetti, der vor dem Mittag in seiner Küche überrascht wurde, versuchte, sich zu verteidigen, doch wurde er von Luigi Pagani mit einem Gewehrschuss niedergestreckt. Er starb noch in derselben Nacht.

Die Pfarrer von Caneggio und von Morbio hielten es für ratsam, sich im freien Feld zu verstecken, wurden jedoch aufgestöbert und nach Chiasso verbracht, wo die Menge, die auf den Platz geströmt war, ihnen das Fell über die Ohren ziehen wollte, und Balíns Witwe, von ihren fünf Söhnen umringt, gestikulierte völlig ausser sich und wollte sich auf die Pfarrer werfen, wobei sie schrie, man solle sie ihr überlassen; sie werde ihnen schon das Herz aus dem Leibe reissen, um es ihren Kindern zum Essen zu geben:

«Tod den Schwarzröcken von Morbio!»

Tags darauf machten sich die Brüder Mattirolo, nachdem sie Balín das letzte Geleit zum Friedhof gegeben hatten, auf nach Morbio, fest entschlossen, ihren Rachezug fortzusetzen.

Sie hatten die Schlucht des Ghitello passiert, da stiessen sie völlig ausser sich auf die ersten Häuser von Morbio Sotto, wo bei der Kirche von San Rocco die Liniensoldaten einquartiert waren, die die Regierung abgeordnet hatte, um die Ordnung aufrechtzuerhalten, setzten über eine Hecke und sahen eine Gestalt die Strasse überqueren, einen, der gegangen war, den Soldaten einen Korb Brot zu bringen.

«Da ist er, da ist er!» Antonio Pagani legte blitzschnell seine Doppellaufbüchse an und liess den Schuss knallen, als wäre er beim Scheibenschiessen. Der Verletzte liess den leeren Korb in dem sonnenbeschienenen Engpass zu Boden fallen, tat, die Hände auf die Brust gepresst, noch ein paar Schritte, torkelte in die Spinnerei Peverelli und brach zwischen den Seidenraupen zusammen.

Hauptmann Demarchi, der alles mit angesehen hatte, fasste den Schützen und gab seinen Soldaten Order, ihn ins Gefängnis von Mendrisio zu bringen. Er aber hatte auf Ferrari geschossen, weil er einer war, den er nur zu gut kannte, den da – einer von der Bande vom Monte Bisbino, der vor Jahren seinen Vater hatte töten wollen, der da!

Also intervenierten die bewaffneten Patrioten, die Verteidiger der liberalen Revolution von 1830:

«Recht hatte er, auf ihn zu schiessen, auf diesen Schwar­zen!»

«Lasst ihn laufen. Er ist einer von uns!»

In diesem Augenblick, so erklärte der Bürgermeister von Morbio während des Prozesses, der erst gut fünf Jahre nach der Tat stattfand – so funktionierte die Rechtsprechung von Republik und Kanton Tessin –, in diesem Augenblick erschien der Pfarrer des Dorfes, etwas verrückt und fast ständig betrunken, und rief auf Deutsch: «Raus!»

Die Soldaten, die dieses «Raus!» als Alarmruf missdeuteten, wollten sogleich auf den Reaktionär schiessen, und um sie davon abzuhalten, liess der Hauptmann Antonio Pagani los, der sich mit seinem Bruder in Richtung heimatliche Kastanienbäume verdrückte.

2

In jenem gärenden und elenden Mendrisiotto, wo die Bauern, grossenteils Analphabeten, in Pacht auf den Gütern der Herren arbeiteten, wo die Steinmetze und Maurer in die Lombardei und den Piemont auswanderten, um dort während der Saison zu arbeiten, während die Frauen sich in Haus und Feld und in der Spinnerei abrackerten, in diesem Mendrisiotto, wo jedes Jahr neunzig unehelich Geborene auf die Schwellen von Kirchen und Klöster hingelegt wurden und dort die Krätze auflasen, nur um darauf zu warten, ob jemand sie hinüberschmuggle auf die andere Seite der Grenze in ein Krankenhaus, wo sie, kaum geboren, starben, da also hatte sich Luigi Pagani, genannt Mattirolo, den Ruf eines Verteidigers der Armen erworben.

Er und sein Bruder Antonio wohnten in einem Häus­chen, versteckt im Wald über Vacallo, ein Auge in Italien und eines in der Schweiz. Mit dem italienischen Auge sah Mattirolo dort unten die Papierfabriken von Maslianico längs der Breggia, und oben, auf halber Höhe, Piazza und Rovenna, die Dörfer seiner Schmuggler- und Waldarbeiterfreunde. Mit dem schweizerischen Auge sah er das weite Grün der Hügel des Mendrisiotto und das Braunrosa der Dörfer.

Auch auf der hiesigen Seite kannte er alle: Besitzer, Patrizier, Pächter, arme Hutzelweiblein, Schmarotzer, die von Dorf zu Dorf die Runde machten und die niemand haben wollte.

Genau unter seinem Kirschbaum konnte er den Kirchturm von Vacallo mit dem eisernen Fähnchen auf der Spitze sehen; er nehme es zuweilen ins Visier seines Gewehrs, hiess es. Er sah die Villa des Bürgermeisters, die Behausungen der Maurer, wie er einer war, der Spinnereiarbeiterinnen, ferner das Brücklein, das den Palast der Adeligen mit dem Garten verband, in dem an den Sommernachmittagen der Bischof von Como, der da in der Sommerfrische weilte, unter der Pergola spazieren ging, die kleine Schule, wo der Lehrer die «Erbauliche Lektüre für die Kinder vom Lande» des Abts Antonio Fontana vor­las.

Wenn er unter dem Fenster der Schule vorbeikam, kon­n­te es passieren, dass er die Stimme eines Kindes vernahm, das Silbe für Silbe die Ermahnung an all die, welche Landbau treiben und sich beklagen, buchstabierte: «Zufolge der Sünde des Menschen wurde die Erde vom Herrn verflucht, weshalb es grosser und unablässiger Mühe bedarf, damit sie nicht unfruchtbar wird und Drang­sal und Dornen hervorbringt», oder etwa den Leitsatz Nummer 24: «Der Arme, der böse ist, verdient, getadelt zu werden», oder der 25.: «Der stolze Arme ist unerträglich für alle und allen verhasst». Also musste aus Sicht jenes Abtes und all jener, die in dem von einem weissen Pferd­chen gezogenen Wagen fuhren, der arme Mann für andere rackern und an pellagra erkranken und ausserdem lieb sein und Gott danken dafür, dass er auf der Welt war und nicht als Kind schon starb. Er durfte sich niemals beklagen, nie den Kopf erheben, sonst liefe er Gefahr, so zu enden wie Paoletto aus der ersten «Kleinen Geschichte» der «Er­bau­lichen Lektüre».

Dieser Paoletto nämlich, von seinem Vater ausgeschickt, das Vieh auf der Weide zu hüten, begab sich auf die nahe Strasse, um mit Nüssen zu spielen. Er überliess die Ochsen einfach sich selbst auf der Weide, während sein braver Bruder die Schafe im Auge behielt und gleichzeitig die abc-Fibel aus der Tasche zog, um keine Zeit zu verlieren, und ganz alleine lernte. Filippino war gewaschen, gekämmt, herausgeputzt, und in der Schule war er mäus­chenstill und sass wie ein Engelchen auf dem Ehrenbänkchen, und bei den Prüfungen bekam er eine Auszeichnung. Paoletto, schmutzig und mit Haaren wie ein Dorn­busch, warf den alten Leuten Steine nach, konnte weder Kirsche noch Pfirsich, weder Birne noch Nuss sehen, ohne sie zu pflücken. Er prügelte das Engelchen; anstatt zu arbeiten, fing er Eidechsen und Grillen. In der Schule bekleckste er den Kleinen Katechismus mit Tinte und liess die Bank knarren. Am Schwarzen Brett war er unter den Nachlässigen aufgeführt, er wurde aufs Schandbänklein verwiesen und musste seine Strafe mitten in der Schule und stehend verbüssen – doch alles nützte nichts: eines Tages schlug er einen seiner Kameraden zusammen und wurde von der Schule verwiesen. Ein kurzes Achselzucken bei der Strafpredigt des Vaters, zwei Brote, die er heimlich mitlaufen liess, und weg war er in der weiten Welt, ein Vagabund auf gut Glück; so liess er Filippino in Tränen zurück.

Mit Betteln und Stehlen fing er an, und zum Schluss überfiel er Reisende auf der Strasse, bis der lange Arm der Gerechtigkeit ihn auf frischer Tat ertappte und zum Tode verurteilte: aufgeknüpft an einem Baum am Strassenrand!

Doch wer nicht das Glück gehabt hatte, die Schule zu besuchen und sich dort die «Kleinen Geschichten» des Abts Fontana zu Gemüte zu führen und sich zu bemühen, dem braven Filippino nachzueifern, welcher Jahr für Jahr den ersten Preis gewann und sich mit grösstem Fleiss der Pflege der Fluren hingab und so das Land in einen Garten verwandelte – wer weder Land noch wollige Schafe noch milchtragende Kühe hatte, sondern nur die eigenen Kinder und den eigenen Hunger, wer nicht mehr wusste, wo ihm der Kopf stand, der ging, statt sein Unglück einfach hinzunehmen, zu Mattirolo, der, die Doppelflinte geschultert und die Pistole im Hüftgurt, einem der Herren der Umgebung ein Besüchlein abstattete und diesem mit angelegter Waffe befahl, einen Sack mit Mehl zu füllen.

Die Reichen liessen den Mais und das Korn fahren und schwiegen dazu, denn sonst – ein Flintenschuss des Mattirolo, und nicht einmal der Bischof von Como hätte sie davor bewahren können.

Am ersten Tag der Fastenzeit im Jahre 1847 machte sich Mattirolo auf nach Mendrisio, auf Wegen, die quer durch die noch verschlafenen Felder liefen. Es war ein heller Morgen; die Äste glänzten kahl in der Landschaft.

Er war 34 Jahre alt, trug ein Gewand aus Barchent, hatte einen raschen Schritt und den Kopf voller Aufruhr: eh die Natur erwacht, ist es am Menschen aufzuwachen, grübelte er, aufzuwachen aus seiner Tatenlosigkeit.

Tags zuvor hatten sie die Grenze geschlossen vorgefunden, er und seine Gefährten, Maurer aus Vacallo und Sagno, die in jenen Wintermonaten in der Villa des Grafen Bellinzaghi in Cernobbio arbeiteten:

«Kein Durchlass!»

«Was heisst da: Kein Durchlass?»

«Geht doch und fragt eure Regierung, die die Revoluzzer beschützt!»

«Aber es ist doch Zahltag!»

«Wir haben Order, euch zurückzuweisen.»

panettone