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Nicola Vollkommer

Am Rande der gefrorenen Welt

Die Geschichte von John Sperry,
Bischof der Arktis

SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

Bestell-Nr. 395.307

ISBN 978-3-7751-7083-3 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-5983-8 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:
Satz & Medien Wieser, Stolberg

Dieser Titel erschien zuvor unter der ISBN 978-3-7751-5307-2.

1. aktualisierte Auflage 2019 (3. Gesamtauflage)

© 2019 SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbH
Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de · E-Mail: info@scm-haenssler.de

Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen:
Elberfelder Bibel 2006, © 2006 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH Witten/Holzgerlingen.

Umschlaggestaltung: Erik Pabst, www.erikpabst.de
Titelbild: J. Sperry, privat
Satz: Satz & Medien Wieser, Stolberg

Vorwort

In meiner Kindheitsbiografie »Unter dem Flammenbaum« habe ich die abenteuerliche Geschichte meiner eigenen Eltern erzählt. Doch in der Familie meines Vaters gibt es noch jemanden, dessen Geschichte auf keinen Fall verloren gehen darf: Onkel »Jack« Sperry, Pionier und Missionar in der Arktis. Schon als Kind hörte ich fasziniert zu, wenn er von seinem Leben »am Rande der gefrorenen Welt« erzählte.

Hier ist also seine Geschichte, die Geschichte des Bruders.

In der Welt der Kirchenprominenz, in der mein Onkel als dritter »Bischof der Arktis« und Leiter der größten Diözese der anglikanischen Kirche weltweit wirkte, hießen er und seine Frau »the Right Reverend and Mrs John Reginald Sperry«. Für mich waren sie »Uncle Jack and Auntie Betty«. Der Lebensweg meines Vaters, Roy Sperry, der jüngere Bruder von Jack, hätte schon im Blick auf das Klima nicht kontrastreicher sein können als der seines Bruders. Während die »Sperry Family« des Älteren in der Eiseskälte unter der Mitternachtssonne fror, schwitzte die »Sperry Family« des Jüngeren in den heißen Steppen Nordnigerias, wo Roy als Geschäftsmann arbeitete. Lange Trennungen taten dem Familienzusammenhalt und der Freundschaft zwischen den beiden Brüdern wie auch zwischen deren Kindern keinen Abbruch. Heimaturlaube wurden so organisiert, dass wir uns immer wieder in der Heimatstadt der Familie Sperry, in Leicester in Mittelengland, trafen, wo »Uncle Jack« die kleine Kinderschar mit seinen Geschichten über die Eskimos in seinen Bann zog.

Im heutigen Sprachgebrauch ist der Begriff »Eskimo« eher verpönt, ist er doch ein Fremdausdruck, der von manchen arktischen Völkern als diskriminierend abgelehnt wird. Offiziell bezeichnen sich manche Völker heute als »Inuit«. Ich habe mich aber entschlossen, die Bewohner der Arktis bewusst mit dem zum Zeitpunkt der Geschichte üblichen Begriff »Eskimo« zu bezeichnen, um die Authentizität zu wahren. Und »Eskimo« ist außerdem der einzige Begriff, der alle Völker der Arktis einschließt. Erst gegen Ende des Buchs passe ich mich semantischen und politischen Entwicklungen der sich ändernden Zeiten an.

In seiner ursprünglichen Form ist das Wort »Inuit« ein allgemeiner Begriff für »lebendige Menschen«. Als Jack die Bibel in den Dialekt seiner Gemeindemitglieder übersetzte, verwendete er das Wort »Inuit« für »Menschenmengen«. Bei der Brotvermehrung wurden deshalb zwar 5 000 »Inuit« satt, diese saßen aber nicht nach einer harten Jagd im Robbenrevier in Karibufellen auf dem Berg.

»Die Eskimos heißen die Eskimos«, ist Jacks trockener Kommentar zu der Kontroverse um Bezeichnungen, »genauso wie die Deutschen Deutsche heißen. Ich kenne keinen Eskimo, der ein Problem damit hat.« Die junge Generation der Kanadier hat wohl eine andere Einstellung zu dieser heiklen Frage.

Mein Dank gilt meinem Cousin John Sperry Junior, der mit seinen Briefen seine außergewöhnliche Kindheit am Polarkreis direkt auf meinen Schreibtisch transportierte. Mein Vater Roy Sperry lieferte Details über die Kindheit der beiden Brüder im Arbeiterviertel der Großstadt Leicester und über den Kriegsalltag im England der Vierzigerjahre. Weggefährten meines Onkels wie die Reverends Geoffrey Dixon, Mike Gardener und Terry Buckle standen willig und humorvoll mit Informationen über die Kultur und Sprache der Inuit als auch über ihre Begegnungen und Zusammenarbeit mit Uncle Jack während seines Bischofsamts bereit. Meine Cousine Angela Friesen, Tochter von Jack, saß stundenlang mit einem Aufnahmegerät bei ihrem betagten Vater, inzwischen von Blindheit und einem Schlaganfall geschwächt, und bewegte ihn, seine Erinnerungen für zukünftige Generationen festzuhalten. Die vereinten Mühen all dieser lieben Menschen lieferten das Material für diese Geschichte.

Die Briefe meines Onkels sind zum Teil nicht wörtlich zitiert, sondern aus Protokollen unserer Gespräche rekonstruiert. Ebenso wie bei den Tagebucheinträgen war ich manchmal auf seine Erinnerungen angewiesen. Viele beschriebenen Erlebnisse und Abenteuer sind aus verschiedenen Quellen zusammengetragen und bündeln Ereignisse, die zu verschiedenen Zeitpunkten stattfanden. Als Hauptquelle diente mir das Buch »Igloo Dwellers were my Church« (Bayeux Arts Inc., 2001) meines Onkels sowie die Titel »Echoes from a Frozen Land« (Hurtig Publishers, 1987) von Donald B. Marsh und »Archibald the Arctic« von Archibald Lang Fleming (Hodder & Stoughton, 1957), besonders was die Beschreibungen des Klimas, der Flora und Fauna der Arktis betrifft. Ich habe außerdem einige Namen von Einheimischen und anderen Freunden geändert, um ihre Identität zu schützen.

Uncle Jack kann sich nicht mehr an jedes Detail, das in diesem Buch beschrieben ist, erinnern. In diesen Fällen habe ich nach bestem Wissen und Gewissen aus den Erinnerungen anderer geschöpft. Ich danke allen Familienmitgliedern und Freunden, die mir dabei geholfen haben.

Vor allem aber danke ich meinem Uncle Jack selbst und seiner inzwischen verstorbenen Frau Betty, die für mich schon immer nichts Geringeres als Helden waren.

Nicola Vollkommer
Reutlingen
März 2011

Vorwort zur Neuauflage 2019

Als ich am 12. Februar 2012 die Nachricht erhielt, dass mein Onkel gestorben war, war ich außer mir vor Trauer. Am Tag danach setzte ich mich an meinen Schreibtisch, um endlich den Tränen nachzugeben, die sich im Laufe des Vormittags während mehrerer Unterrichtsstunden an meiner Schule aufgestaut hatten. Plötzlich klingelte das Telefon. Eine vornehme englische Stimme meldete sich. Ob ich die Nichte vom gerade verstorbenen Bischof der Arktis sei, die ein Buch über sein Leben unter den Inuit geschrieben habe. Vor lauter Kummer fiel mir nicht ein, den Mann am anderen Ende der Leitung zu fragen, wer er eigentlich sei. Er hatte sich als Zeitungsredakteur vorgestellt, der einen Nachruf für meinen Onkel schreiben wollte. Mein Cousin hatte mich als Informationsquelle empfohlen, da ich das gesamte Bildmaterial und die Tagebücher der Familie für mein gerade erschienenes Buch »Am Rande der gefrorenen Welt« an mich genommen hatte.

»Wissen Sie, für Sie war er der Right Reverend John Reginald Sperry, Bischof der Arktis«, fing ich an, »für mich war er Uncle Jack.« Der Redakteur drückte sein Beileid aus und wir unterhielten uns lange und ausführlich. Ich erzählte von den unvergesslichen Urlauben in unserer Heimatstadt Leicester, England, die wir alle drei Jahre unternommen hatten. Damals lebten wir in Nigeria und mein Vater und sein Bruder legten ihre jeweiligen Heimataufenthalte so, dass sie sich treffen konnten. Uncle Jack zog uns Kinder mit seinen Geschichten über die Eskimos stundenlang in seinen Bann. Obwohl Ozeane uns trennten und wir ihn selten zu Gesicht bekamen, liebten wir ihn heiß und innig. Egal, wo er auftauchte, bald gab es überall etwas zu lachen – seine lustigen Tischgebete waren legendär. Von den albernen Witzen, die er erzählte, konnten wir nie genug bekommen. Er neckte uns und seine eigenen Kinder unaufhörlich, ohne jemals verletzend zu sein.

Das Interview war irgendwann zu Ende und ich fragte meinen Gesprächspartner beiläufig: »Übrigens, mit wem spreche ich?« Das hätte ich eigentlich zu Beginn schon fragen sollen, dachte ich.

Er nannte seinen Namen und erzählte mir in bescheidenem Ton, dass er bei der Zeitung »Daily Telegraph« für die Nachrufe von Mitgliedern der königlichen Familie und der sonstigen Prominenz zuständig sei. Ich schluckte. Und sagte meiner Schwester später am Telefon: »Ich wusste, dass Uncle Jack toll ist, aber dass er so toll ist?« Das Ergebnis des Interviews ist hier zu finden:
https://www.telegraph.co.uk/news/obituaries/religion-obituaries/9096780/The-Right-Reverend-John-Sperry.html

In den Jahren nach seinem Tod war es für mich ein Vorrecht, sein Vermächtnis durch dieses Buch lebendig zu halten.

Nicola Vollkommer
Reutlingen
Januar 2019

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Prolog

»Wenn du einem Kind etwas über Gott beibringen möchtest, dann liest du ihm Bibelgeschichten vor oder nimmst es in einen Kindergottesdienst mit«, sagt John Sperry Junior, wenn er nach den prägendsten Erinnerungen an seine Kindheit in der Arktis gefragt wird. »Wenn du ihm die Größe Gottes sichtbar demonstrieren möchtest, erlebe mit ihm zusammen den magischen Moment, wenn die arktische Sonne in ihrer betörenden Farbenpracht unter den Horizont sinkt. Erzähle ihm, dass Gott sich für seine Sonnenuntergänge in der Arktis besonders viele Gedanken macht. Zeige ihm, wie die Wolken, die sich über den ganzen Himmel hinstrecken, lichterloh zu brennen scheinen, wie sich dieses vielfarbige Schauspiel in ausgedehnten, glatt gefrorenen Wasserflächen widerspiegelt, die so still sind, dass sie wie riesige Glasscheiben aussehen.«

Der Polarkreis, in dessen Nähe John und seine Schwester Angela ihre ersten Lebensjahre verbrachten, liegt bei 66° 30' nördlicher Breite. Auf dieser unsichtbaren Linie bleibt die Sonne am kürzesten Tag des Jahres, dem 21. Dezember, komplett unter dem Horizont, und umgekehrt, am 21. Juni, dem längsten Tag des Jahres, 24 Stunden lang über dem Horizont. Wegen der Neigung der Erdachse erlebt das Land oberhalb des Polarkreises permanentes Tageslicht im Sommer und permanente Dunkelheit im Winter.

Die sogenannte »Arktis« lässt sich geografisch nicht genau definieren. Sie umfasst die Polarregion nördlich des Nördlichen Polarkreises, schließt aber auch Yukon, Südgrönland und Teile Alaskas ein, die südlich vom Polarkreis liegen. Diese riesigen Schneeflächen, nicht ohne Grund als »Barrenlands« (»unfruchtbare Länder«) bezeichnet, liegen nördlich der Baumgrenze, südlich derer dicht bewaldete Gegenden den oberen Rand der sogenannten »nemoralen Zone« (»temperate zone«) wie einen Mantel einhüllen und sich von Alaska bis Quebec erstrecken. Diese inoffizielle Zickzack-Grenze verläuft vom nordwestlichen Rand des Mackenzie-Deltas nach Osten bis zur südlichen Küste der Hudson Bay. Für den Reisenden, der das Glück hat, diesen entlegenen Teil der Erde zu besuchen, entfaltet sich ein atemberaubendes und majestätisches Panorama, das auf den ersten Blick alles andere als unfruchtbar wirkt. Anschwellende Kurven von Bergketten wechseln sich mit gewaltigen Gletschern ab und werfen ihre Schatten auf die grenzenlosen Flächen an den Arktis- und Hudson-Bay-Küsten. Im Sommer schneiden brausende Flüsse und rauschende Wasserfälle tiefe Gräben in die felsige Landschaft. Im Winter verwandelt sich alles in ein regungsloses, aber bezauberndes Kunstwerk in verschiedenen Schattierungen von Weiß und Blau.

Ein einziger Blick auf diese Landschaft aus Eis und Schnee genügt, um dem Betrachter das Gefühl zu geben, dass hier selbst Zeit und Geschichte eingefroren sind. Er spürt aber nicht die apathische, vom Tod umschlungene Schweigsamkeit eines Friedhofs, sondern die Magie einer hellwachen, brütenden, aggressiven Stille. Als ob alle Uhren stehen geblieben wären, aber jeden Augenblick wieder anfangen würden zu ticken. Die schneidende Kälte ist mehr als nur ein Wert auf einem Thermometer. Sie lebt und lauert. Sie wacht erbarmungslos über Spielregeln, denen sich zu widersetzen den sofortigen Tod bedeuten kann. Sie beißt um sich, ihre unsichtbaren, eisigen Finger auf der unerbittlichen Suche nach Beute, die sie innerhalb von Sekunden in einen erstarrten Kadaver verwandeln kann. Dass Tiere oder Menschen hier leben können, scheint unvorstellbar. Aber dass die Menschen, die tatsächlich jahrhundertelang in dieser grausamen Kälte ausgeharrt haben, von einer panischen Angst vor feindseligen Göttern getrieben sind, ist nachvollziehbar: Götter, die ihrer Vorstellung nach hochragende Eisberge, wilde Schneestürme und tiefgefrorene Gewässer bewohnen. Der traditionelle Abschiedsgruß in dieser Umgebung war in früheren Zeiten nicht »Auf Wiedersehen«, sondern »Falls wir uns wiedersehen«.

Namen auf der Landkarte sind dort nicht bloß Navigationshilfen für wilde Abenteurer, die verrückt genug waren, sich auf diese barbarische Einöde einzulassen. Sie erzählen endlose Geschichten unvorstellbaren menschlichen Leides: »Starvation Cove« (Hunger-Bucht), »Desolation Island« (Insel der Trostlosigkeit), »Bay of Hollow Cheeks« (Hafen der Hohlen Wangen). Und am schauerlichsten: »Place of Eating Human Flesh« (Ort, an dem man Menschenfleisch isst).

Dieses Buch erzählt von außerordentlichen Menschen, den Eskimos, wie man sie lange nannte. In der Unbewohnbarkeit des hohen Nordens Kanadas und großen Widrigkeiten zum Trotz bauten sie sich ein Zuhause. Nicht weil sie es so wollten, sondern weil sie keine andere Möglichkeit hatten. Dieses Buch ist auch die Geschichte eines ebenso außerordentlichen Ehepaares, das sich entschied, ihr Leben mit diesen Menschen zu teilen, ihre Sprache zu lernen, ihre eigene Familie mitten in der Eiswüste zu gründen, Teil dieser zu Eis gefrorenen Erdgeschichte zu werden, und hier alt zu werden. Dieses Leben war gleichzeitig der Versuch, ein Denkmal für eine Welt zu setzen, die es nicht mehr gibt. Denn Schneehäuser gehören inzwischen der Vergangenheit an und sind nur noch Stoff für Nostalgie. Als John Sperry dem Lockruf der Arktis nicht mehr widerstehen konnte und sich dorthin aufmachte, ahnte er, dass er auch den Untergang genau jener Kultur miterleben würde, die er so sehr ins Herz geschlossen hatte. Das Inuitvolk blieb aber seine große Liebe, auch als er es als dritter »Bishop of the Arctic« zu großem Ansehen gebracht hatte und sich mit der höchsten Prominenz Kanadas auf Augenhöhe befand.

Einer seiner Vorgänger im Bischofsamt sagte einmal: »Auch wenn die Arktis eine kalte und grausame Welt ist, gibt es nichts Wärmeres als den Handschlag eines Eskimos.« Diese Worte machte John Sperry zu seinem Leitbild.

Ein Interview; ein Jubiläum und ein geheimnisvolles Land

Es war im Frühsommer des Jahres 2006. Die Reporterin der Canadian Broadcasting Company hatte ihr Skript bestens geprobt.

»Die Stadt Kugluktuk ist im Vergleich zu den Fünfzigerjahren kaum wiederzuerkennen. Sie hatte damals sogar einen anderen Namen: Coppermine. Ein halbes Dutzend Familien, Polizisten, die nichts zu tun hatten: Das waren ihre Bewohner. Es war eine ganz andere Welt als die Großstadt in England, in der John Sperry aufwuchs. Und ganz anders als die Stadt Kugluktuk heute.«

Professionell und mit einer ausdrucksstarken Stimme trug sie ihren Text vor. Jubiläen und Festtage für die kanadische Bevölkerung zu kommentieren war für sie Routine. Es war nicht ihr erstes Interview mit dem Bischof der Arktis, John Reginald Sperry. Sein Leben und Wirken faszinierte sie seit Jahren.

»John Sperry, der später Bischof der Arktis wurde, kam im Jahr 1950 als Missionar nach Kugluktuk. Allein der Flug kostete ihn fast sein Leben. Er blieb ganze 19 Jahre. Am kommenden Wochenende fliegt er dorthin zurück, wo alles anfing. Denn die Stadt feiert ihren 80. Geburtstag. Bischof Sperry und sein Sohn John sind als Ehrengäste eingeladen. Gestern hatte ich das Vorrecht, mit dem Bischof zu reden.«

Auch für den Bischof waren solche Interviews Routine. Es ging schließlich um ein Thema, über das er stundenlang erzählen konnte. In den 20 kurzen Minuten des Gesprächs streifte er die wichtigsten Eckpunkte seines ereignisreichen Lebens und knüpfte zwischen den großen Unterschieden von damals und heute faszinierende Verbindungen.

Erst wenige Tage davor war er 82 Jahre alt geworden. Diese Gelegenheit, auf eine Kultur zurückzublicken, die es in der ihm vertrauten Form nicht mehr gab, erweckte in ihm gemischte Gefühle.

»Und wie geht es Ihnen dabei, Bischof?«, fragte die Reporterin gegen Ende des Interviews. »Sie sehen den gleichen Fluss, den gleichen Ozean, aber eine völlig andere Ortschaft, von Menschen bewohnt, die auf Motorschlitten herumfahren, in Büros arbeiten und in modernen Häusern leben!«

»Der damalige Lebensstil ist zwar verschwunden«, antwortete der Bischof nachdenklich, »aber die Menschen leben und gedeihen. Und es ist meine Überzeugung, dass Gott in erster Linie mit Menschen Geschichte schreibt und nicht mit Kulturen oder geografischen Ortschaften.«

»Haben Sie Ihre Entscheidung, die besten Jahre Ihres Lebens sozusagen am äußersten Rand der Welt zu verbringen, jemals bereut, Bischof?«

»Niemals!«, war die Antwort, die er auf diese Frage immer gab. »Es wäre für mich eine Strafe gewesen, irgendwo anders auf dieser Welt zu leben.«

»Und was erwartet Sie als Ehrengast bei den Feierlichkeiten am Wochenende?«

»Ich werde Bilder aus der alten Zeit zeigen, eine Unmenge von Fragen beantworten, und die jungen Inuit werden auf jeden Fall ganz genau wissen wollen, wie ihre Großeltern gelebt haben und was mich als jungen Berufsanfänger einer britischen Großstadt dazu bewegte, einer von ihnen zu werden!«

»Und sie werden Ihnen sicher dafür danken, Bischof Sperry. Auch ich danke Ihnen herzlich für das Gespräch.«

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»Und jetzt zu unserem neuen Thema, Jungs. Wer kann mir sagen, warum unser King George der Fünfte auch ›Kaiser von Indien‹ genannt wird? Etwa weil er gerne auf Elefanten reitet?«

Mr Grattidge lachte laut und herzlich. Ein eher verhaltenes Gekicher ging durch die Reihen der 10-jährigen Jungs, die vor ihm saßen, auf Schulbänken sauber aufgereiht. Mr Grattidges Versuche, unterhaltsam zu sein, gingen immer wieder auf tragische Weise in die Hose.

»Weil Indien zum British Empire gehört. Folglich ist King George auch König über Indien.«

»Absolut korrekt, Mason.«

Robert Mason, Klassenbester und Meisterstreber der Medway Junior School, lieferte immer die gewünschte Antwort.

»Und über welche Teile der Welt herrschen wir Briten?«

»Über alle, Sir!«

Dieses Mal ging ein lautes Gekicher durch die Reihen.

»Das war eine äußerst arrogante, hochmütige Antwort, Sperry. Und auf keinen Fall lustig.«

»Es war nur ein Scherz, Sir. Meinen Sie nicht, dass es einfacher wäre, die Länder zu lernen, die nicht zum British Empire gehören?«

Mr Grattidge war nicht beeindruckt.

»Bin ich oder bist du hier der Lehrer, Sperry? So, Mason? Du wolltest etwas sagen.«

»Das British Empire, Sir, umfasst die Kolonien, Protektorate, Reiche und Mandate wie auch weitere Territorien, die von Großbritannien beherrscht werden. Es ist das größte Imperium aller Zeiten und auch zum jetzigen Zeitpunkt die vorherrschende globale Macht. Bis zum Jahr 1922 prägte es das Leben von über 459 Millionen Menschen weltweit, das heißt, einem Viertel der Weltbevölkerung. Mit Recht, Sir, ist von den Dichtern behauptet worden, dass ›die Sonne nie über dem Britischen Imperium untergeht‹. Jede andere Macht, die sich diesem weltweiten Einfluss widersetzte, ist bisher gescheitert. Auch die ehrgeizigen Ambitionen eines Mr Adolf Hitler in Deutschland werden mit Sicherheit scheitern, Sir.«

Mason hielt kurz an, um Luft zu holen. Er war voll in Fahrt geraten und ereiferte sich zusehends. Sein Gesicht wurde ganz rot.

»Ausgezeichnet, Mason, ausgezeichnet! Mr Adolf Hitler lassen wir aber erst mal beiseite. Sperry, wolltest du etwas hinzufügen?«

»Ja, Sir. Mason hat nicht ganz recht. Es gibt einen Teil des British Empire, in dem die Sonne sehr wohl untergeht. Um genau zu sagen, in dem die Sonne lange gar nicht wieder aufgeht.«

Der Lehrer zuckte empört zusammen.

»Machst du wieder Späße, Sperry? Und wo im British Empire geht die Sonne nicht auf, Sperry?«

»Im Eskimoland, Sir. Am Nordpol. Da ist es die ganze Zeit dunkel, den ganzen Winter hindurch.«

Das Gesicht von Mr Grattidge hellte sich plötzlich auf.

»Du bist zwar ein Faulpelz und Kasper, Sperry, aber gelegentlich setzt du dein Gehirn tatsächlich zu nützlichen Zwecken ein. Gut aufgepasst. Und da haben wir es. Selbst die fernen Eskimos, die in ihren Schneehäusern am Endpunkt dieser Welt leben, sind Untertanen Seiner Majestät.«

»Die Armen wissen wahrscheinlich nichts von ihrem großen Glück, vermute ich, Sir«, ergänzte John Sperry, von seinen Freunden und der Familie Jack genannt, schelmisch.

»Wie bitte, Sperry?« Das Gesicht von Mr Grattidge verdunkelte sich wieder.

»Ich … ich meine, die Eskimos müssen sehr glücklich sein, so einen wunderbaren Regenten zu haben wie King George, Sir!«

»Du scheinst ein ausgesprochen gut entwickeltes Talent für verbale Missgeschicke zu besitzen, Sperry. Ironische, unverschämte, unangemessene …«

»Habe ich von meinem Vater geerbt, Sir.«

»Für die grenzwertigen Bemerkungen, die du in dieser Unterrichtsstunde von dir gegeben hast, darfst du ein Igludorf entwerfen und malen und mir morgen zeigen, Sperry. Und eine Geschichte dazu erzählen.«

Kein Problem. Das Talent zum Geschichtenerzählen hatte John ebenfalls von seinem Vater geerbt. Es hatte schon schärfere Strafen gegeben in der Medway Junior School in Leicester.

Die Schule, einen zweiminütigen Spaziergang von der Straße entfernt, in der die Familie Sperry lebte, war alles andere als eine Kaderschmiede für gesellschaftliche Aufsteiger. Aber die Lehrer waren engagiert und interessierten sich für ihre jungen Schützlinge. Qualitäten wie Fleiß und Disziplin, die auch in dieser Innenstadt-Schule gefordert wurden, gehörten nicht unbedingt zu John Sperrys Lieblingstugenden. Er schlug sich aber tapfer durch und verließ die Schule mit einem Gefühl der Befreiung im zarten Alter von 14. Ein paar Fakten hatte er sich auf jeden Fall gut gemerkt. Dank des »British Empires« waren auch Kinder der Unterschicht damals in Erdkunde und Weltgeschichte bestens geschult. Zum Beispiel wusste er, dass große Gebiete nördlich von Amerika zu diesem Empire gehörten, die von einer Dauerschicht aus Schnee und Eis verhüllt waren, und dass sogar Menschen dort lebten. Diese Vorstellung strahlte einen Hauch Romantik aus und das ferne Volk, dessen Schneehäuser sie als schwarz-weiße Zeichnungen in Bilderbüchern abgebildet fanden, erweckte in John und seinem jüngeren Bruder Roy eine endlose Faszination. Manch einen trüben Winterabend verbrachten sie damit vor dem Kamin ihrer winzigen, aber behaglichen Wohnstube und bauten aus den damals für die Haushalte handelsüblichen Salzblöcken »Iglus«.

John bekam nach Abschluss seiner Schulzeit einen Job in der Filiale einer Supermarktkette, wo er »Junge für alles« spielte, Vorräte per Fahrrad überall in der Stadt auslieferte und sich freuen durfte, fürs Erste eine Arbeitsstelle auf Lebzeiten zu haben.

Kindheit in Mittelengland

Durchschnittlicher und unspektakulärer ging es nicht. Die Kulisse: das »Highfields« genannte Viertel, eine eintönige Serie von einfachen Backsteinhäusern, aneinandergereiht, die alle gleich aussahen. Das Einzige, was sich farblich von dem allgegenwärtigen Grau abhob, waren die Schornsteine der Textilfabriken, die emporragten wie ein Wald von Dominosteinen und unablässig dunklen Rauch in die Luft spuckten. Das malerische Rot der typisch englischen Backsteinfassaden hatte sich schon längst in verschiedene Schwarz- und Grautöne verwandelt, dank allgegenwärtiger Rußwolken.

Die Stadt: Leicester, industrielles Mittelengland. Nicht gerade die Gegend, in die man Touristen aus dem Ausland führen würde, um gesunde Luft einzuatmen und die Reize Großbritanniens zu besichtigen.

Selbst die paar Sonnenstrahlen, die sich ab und zu einen Weg durch den Dunst bahnten, hatten einen gräulichen Anstrich. Die kleinen Rasenvierecke hinter den Häusern, durch hohe Mauern voneinander getrennt, waren wie durch nebelige Schleier hindurch gerade noch als Grün erkennbar. Die flache, farblose Landschaft schien niedergedrückt von einem bleiernen Himmel. Erst außerhalb der Stadt stieß man nach und nach auf kleine malerische Dörfer, die typisch englisch anmuteten.

William Sperry, geboren 1902 in Leicester, hatte nur indirekt mit den Textilien zu tun, von denen diese betriebsame Metropole lebte. Nach einer Ausbildung als Schuhmacher war er eine Zeit lang arbeitslos, dann bekam er eine provisorische Anstellung als Putzkraft.

Während dieser mageren Jahre stopfte seine Frau Elsie Strümpfe für wohlhabende Familien. Ihre beiden Söhne saßen zu ihren Füßen und krempelten die Strümpfe um, bevor Elsie sich mit Nadel und Faden über sie hermachte. Auf diesem mühsamen Weg legte die Familie nach einiger Zeit die stolze Summe von 100 Pfund beiseite. Weitere 100 wurden von den wohlwollenden Großeltern ausgeliehen. Ausgestattet mit einem Schuss Ehrgeiz und einer gehörigen Portion Hartnäckigkeit machte sich William Sperry an die riskante Aufgabe, eine Schuhfabrik zu gründen. Ein Schritt, der in seiner familiären Umgebung befremdlich wirkte und bei vielen Kopfschütteln auslöste.

William und Elsie Sperry, mittellos und mit gerade einmal 22 Jahren verheiratet, hatten die ungewöhnliche Gabe, mit dem wenigen zufrieden zu sein, das sie besaßen, und dennoch für die Möglichkeit offen zu sein, dass das Leben mehr bieten konnte. Bald nach der Heirat waren ihnen zwei kleine Jungs geschenkt worden, John Reginald, der 1924 auf die Welt kam, und Roy Edward, anderthalb Jahre später geboren, im gleichen Jahr wie die spätere Queen. Damals war es üblich, dass Eltern ihren Kindern durch die Namen einen königlichen Hauch verpassten. Der damalige Prinz von Wales war Edward, vor allem in der Arbeiterklasse verehrt, der berüchtigte Thronfolger, der 1936 wegen der amerikanischen Society-Lady Wallis Simpson abdanken und damit einen ungeheuerlichen Skandal auslösen würde. Mitte der Zwanzigerjahre wussten die Eltern, die gerne einen »Edward« in der Reihe ihrer Sprösslinge unterbrachten, davon noch nichts.

Mit dem kindlichen Einfallsreichtum, der nicht ahnt, dass es irgendwelche Welten außerhalb der eigenen grauen und ärmlichen Grenzen gibt, entdeckten die Jungs ein fröhliches Spielreich zwischen den grauen Steinmauern von Highfields. Eine einzige nennenswerte Grünfläche gab es: den nahe gelegenen Viktoria-Park, für Kricketspiele und Seifenkistenrennen wie geschaffen. In einer Zeit, in der Autos eine Seltenheit waren und tagsüber nur das Poltern des Kohlekarrens die Ruhe der Straßen störte, konnte man auf dem Kopfsteinpflaster gemütlich sitzen und stundenlang mit Murmeln und Kastanien spielen, bis der »Lamplighter« bei Einbruch der Dunkelheit mit seinem langen Stab vorbeikam und die Gaslaternen anzündete.

Das Zentrum ihrer kleinen Welt war das kleine, dunkle Wohnzimmer, das einzige Zimmer im Hause, in dem es einen Kamin gab. Auch im Sommer war die wichtigste Pflicht am Tagesanfang, ein Feuer zu schüren, danach spielte sich alles im Bereich dieser Wärme ab. Backsteinmauern sind kalt wie Eis und schlucken im Nu jeden Wärmestrahl.

Wie bei allen Reihenhäusern in Highfields befand sich die Toilette draußen am Ende des Gartens. Gebadet wurde in einer Metallwanne vor dem Kamin, alle nacheinander im gleichen Wasser.

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»Die Nacht wird nicht ewig dauern. Es wird nicht finster bleiben. Die Tage, von denen wir sagen, sie gefallen uns nicht, werden nicht die letzten Tage sein. Wir schauen durch sie hindurch, vorwärts auf ein Licht, zu dem wir jetzt schon gehören und das uns nicht loslassen wird …«

Die Stimme des Pfarrers dröhnte durch das riesige Kirchenschiff.

»Ist das schon der Abschlusssegen oder predigt er noch, Roy?«

Roy musste von der Kirchenbank halb aufstehen, um einen Blick in das Gebetsbuch zu werfen, das auf der Ablage vor ihm lag.

»Pech, Jack«, flüsterte er, »das ist leider erst die Predigt. Das Apostolische Dingsbums hatten wir schon, oder? Es kommt noch eine Lesung, ein Text zum Nachdenken, ein Gebet, ein Lied, der Segen. Oh, und heute ist ja Abendmahl.«

Jack stöhnte leise.

»Kannst du so sitzen, Roy, dass Großmutter mich von ihrem Platz aus nicht sieht?«

Großmutter Sperry saß kerzengerade am anderen Ende der Kirchenbank und starrte regungslos auf den Glatzkopf des Gentlemans, der ebenso regungslos direkt vor ihr saß. »Wenn du erwischt wirst, kriegst du keine Erdbeeren, Jack.«

»Ist mir doch egal. Stups mich, wenn wir wieder aufstehen oder knien müssen.«

Roy rutschte leise nach vorne, Jack beugte sich über ein kleines Kreuzworträtselheft, das er aus seiner Hosentasche herausgeholt hatte.

»So ist es gut, du siehst aus, als ob du betest.«

»Der Gott der Hoffnung erfülle uns nun mit Freude und Frieden …«

»Das klingt wie der Segen!«, flüsterte Jack und stopfte seine Kreuzworträtsel zurück in die Hosentasche.

Der Pfarrer klang genauso erleichtert wie die zwei kleinen Zuhörer, die hinter den hohen Kirchenbänken von vorne kaum sichtbar waren.

»Zu Hause spielen wir unsere Schachpartie zu Ende, Roy. Was hältst du davon?«, fragte Jack, nachdem sie dem Pfarrer am Kircheneingang höflich die Hand geschüttelt hatten und Großmutter Sperry sich für die erbauliche Predigt bedankt hatte.

»Wie kannst du überhaupt fragen, Jack? Heute ist doch Sonntag. Mutter wird es nicht erlauben, das weißt du.«

»Ach Mann, muss Sonntag immer der langweiligste Tag der Woche sein?«

»Bei Großmutter Priest werden wir wenigstens dafür bezahlt, dass wir den Gottesdienst aushalten!«, kommentierte Roy.

In der Tat war ein Besuch in der Kirche der zweiten Großmutter für Jack und Roy ein lukratives Geschäft. Elsies Eltern, die die junge Familie jeden zweiten Sonntag zum »Afternoon Tea« einluden, waren überzeugte Methodisten. Die heiß begehrten Pennys als Belohnung für den durchgestandenen Gottesdienst waren eine willkommene Ergänzung des mageren Taschengelds.

Zum Leben in vorbildlicher Frömmigkeit gehörte für die Priest-Großeltern nicht nur der regelmäßige Gottesdienstbesuch, sondern auch absolute Abstinenz. Dass ein anständiger Christ keinen Tropfen Alkohol über die Lippen gleiten lassen durfte, stand für sie außer Frage. Für William Sperry war diese Strenge eine unwiderstehliche Einladung, gerade im Hause seiner Schwiegereltern von seinem neuesten Abstecher in das örtliche Pub zu erzählen. Zu allem Übel war er sein Leben lang auch noch ein stolzer Kettenraucher und erntete dafür in der Familie Priest manch einen bösen Blick und schneidenden Kommentar. Zu jeder Zeit ganz die feine, gepflegte englische Dame, duldete Elsie die rauen Manieren ihres Mannes mit Milde.

An den anderen Sonntagen wurden die Sperry-Großeltern besucht. Williams Pubbesuche waren harmlos im Vergleich zu denen seines Vaters, dem ein gelegentlicher Besuch beim Männerstammtisch längst nicht mehr genügte. Er war Gewohnheitstrinker.

Von Großmutter Sperry, die die Ausschweifungen ihres Mannes mit ihren übereifrigen Kirchgängen wiedergutzumachen versuchte, bekamen die Jungs ebenfalls eine kräftige Dosis Frömmigkeit mit auf den Weg, ohne jedoch einen Penny dafür zu bekommen. Sie zitierte nämlich aus ihrem Gebetbuch so inbrünstig, wie ihr Mann seine Kneipenlieder schmetterte. Unter ihren scharfen Augen machten die zwei Enkelsöhne ihre erste Bekanntschaft mit der anglikanischen Sonntagsliturgie, lernten das Apostolische Glaubensbekenntnis auswendig und rezitierten Psalmen im Wechselchor. Während Jack mit aller Macht versuchte, in der Kirche still zu sitzen und keinen Quatsch zu machen, kam ihm nie der Gedanke, er könne eines Tages diese ehrwürdigen Texte in eine der kompliziertesten Sprachen der Welt übersetzen. Er war der Extrovertierte der beiden Brüder. Sein lebenslanges Markenzeichen: ein schelmisches Funkeln in den Augenwinkeln, wenn er mal wieder in irgendeinen Streich verwickelt war. Roy war das sensible und nachdenkliche Gegenstück, der Schatz seiner Mutter, die ihn liebevoll »Roy-Boy« nannte.

Es war eine Kindheit der betonten Bescheidenheit, in der sich die rabiaten Töne einer derben Kneipenkultur aus den hintersten Gassen mit einem Schuss Eleganz und geerbter Religiosität mischten, die eher von den Damen der Familie kam. Diese bizarre Mischung mit ihrer Heuchelei fiel den Jungs nicht negativ auf. Etwas anderes kannten sie nicht.

Die gesellschaftlichen Schichten in Großbritannien hatten damals ihre eigenen eisernen Regeln. Kein Kind aus Highfields wäre jemals auf die Idee gekommen, einen Universitätsabschluss machen zu wollen. Die groben Klänge des Leicester-Dialekts, damals schon als hässlichster aller britischen Akzente berüchtigt, stigmatisierte auf Anhieb jeden, der ihn sprach, als Bewohner der Arbeiterstadt. So ergaben sich Bildung und gute Manieren bei Jack und Roy eher als Begleitumstände und zufällig, und der spätere soziale Aufstieg der Sperry Family war alles andere als angestrebt. Bei alledem besaß William Sperry eine sprachliche Spritzigkeit, die jeden Gegner in Staub und Asche verwandeln konnte. Seine stechenden blauen Augen sprühten vor Neugier und Witz, er war auch in seiner äußeren Erscheinung auffällig. Sein blonder Lockenschopf machte ihn stattlicher als er in Wirklichkeit war, und sein unwiderstehlicher Blick konnte Wut und Strenge mit der gleichen Schlagkraft ausstrahlen wie Esprit und Lebenslust. Seine Mitarbeiter in der Schuhfabrik fürchteten ihn, seine Söhne verehrten ihn. Die reife Variante seiner verspielten Art machte ihn Jahre später zum beliebtesten aller Großväter.

Elsie mit ihren sanften und dunklen Rehaugen war seine perfekte Ergänzung. Sie ließ sich nie aus der Ruhe bringen. Die kombinierte Liebe dieser zwei für ihre Söhne war das wertvollste Geschenk, das sie den beiden jungen Männern auf ihren Lebensweg hatten mitgeben können.

Kriegssirenen und Marschbefehle

Mr Adolf Hitler konnte man, entgegen der Hoffnung von Mr Grattidge, leider nicht allzu lange »beiseitelassen«. Hätten die sorglosen Schüler der Medway School gewusst, wie viele von ihnen das Erwachsensein nie erleben würden, hätten sie ihren Mr Grattidges und Co. sicher mehr Wertschätzung entgegengebracht.

»Jack, Roy, quick! Sirens! To the air raid shelter!«

Leicester mit seinen Textilmanufakturen war nicht das Hauptziel der deutschen Luftwaffe. Strategisch wichtiger waren militärische Stützpunkte in Coventry, Birmingham, Liverpool, Sheffield und natürlich London. Aber ab und zu wurde auch Leicester, direkt in der Fluglinie zwischen Ärmelkanal und Liverpool gelegen, von einer willkürlich abgeworfenen Bombe getroffen.

»Ach, nicht schon wieder!«, war Jacks Antwort. Der Ruf »To the air raid shelter!« bedeutete stundenlanges Sitzen in der Dunkelheit auf einer harten Bank, Däumchen drehen und hoffen, dass es bald vorbei war. Still sitzen war für Jack eine Qual. William Sperry hatte seinen Hut geschnappt und war schon unterwegs. Als Fabrikbesitzer hatte er das Glück, nicht zum Kriegsdienst eingezogen zu werden. Stattdessen hatte er das Amt eines sogenannten »Air raid wardens« (Luftalarmwächter) inne und musste bei jedem Alarm dafür sorgen, dass die örtliche Bevölkerung in Sicherheit kam.

»Das bringt doch nichts, Mutter! Wir sind zu Hause genauso sicher wie in dem Schutzraum, vielleicht sogar sicherer«, stöhnte Jack.

Eigentlich hatte er recht. Ein richtiger Bunker war der Schutzraum nicht, sondern eine schnell errichtete Backsteinhütte an der Straße, die statt der üblichen Einzelschicht Backsteine zwei Schichten hatte. Einen direkten Treffer hätte darin niemand überlebt.

Ohne die scharfe Überwachung seines Vaters war Jack aufsässiger als sonst, und an diesem Tag ging ihm das mühsame Warten auf die nicht eintreffende deutsche Bombe einfach zu weit.

»Ich gehe mir kurz die Füße vertreten, Mutter! Hier ist es unerträglich muffig.«

»Bloß nicht, komm aber gleich zurück, Jack …«

Es war zu spät. Draußen auf der menschenleeren Straße holte Jack tief Luft, genoss die neu gewonnene Bewegungsfreiheit, überlegte sich, ob er nicht, wenn er schon draußen war, gleich nach Hause laufen sollte. Plötzlich schreckte er auf, als das charakteristische Pfeifen einer sich nähernden Bombe seine Ohren erreichte.

»Nein, ausgerechnet jetzt …!« Keine Zeit für Flucht. Eine ohrenbetäubende Explosion, er flog in die Luft, sein Körper drehte sich, während die Wucht der Detonation ihn direkt durch den Eingang des Luftschutzraums schleuderte. Dann landete er unverletzt und auf beiden Füßen direkt vor seiner überraschten Mutter und seinem Bruder.

»Wenn du unbedingt rausgehen und dich in Gefahr bringen musst, dann komm wenigstens anständig wieder herein«, schimpfte Elsie scherzhaft, erleichtert, ihren Sohn nach der Explosion draußen unversehrt wiederzusehen.

Wenige Minuten später standen die Jungs vor einer Ruine, die ein paar Stunden vorher ein Familienreihenhaus gewesen war.

»Schau, Roy«, kommentierte Jack, »das Haus ist komplett demoliert, aber da hängt der Spiegel an der Wand, schnurgerade, als ob nichts geschehen sei, und die Blumenvase steht unversehrt auf dem Tisch, als ob der Nachmittagstee gleich hereingebracht wird.«

»Gut, dass die Bombe auch dich unversehrt gelassen hat«, war die einzige Bemerkung seines Bruders.

Der einzige Teil von Jacks Anatomie, der dem Krieg tatsächlich fast zum Opfer gefallen wäre, waren seine falschen Zähne. Einige Jahre vor Kriegsbeginn war er an einem eisigen Wintertag beim Herumtoben auf dem Schulgelände hingestürzt und verlor dabei zwei Schneidezähne, für die er zu seinem ewigen Bedauern eine Zahnprothese bekam. Damals war der Unterschied zwischen echten und künstlichen Zähnen um einiges spürbarer als heute, ganz abgesehen davon, dass das Ersatzteil die peinliche Angewohnheit hatte, zu ungelegenen Zeiten aus seinem Mund zu purzeln. So auch an einem Samstagabend nach einem Pfadfinderausflug in den Stadtpark.

»Jack, wo bist du bloß?«, rief Roy, der sich auf den Weg nach Hause machen wollte und seinen Bruder nirgendwo finden konnte. Abends war die Stadt stockdunkel. Wegen der Gefahr feindlicher Luftangriffe waren alle Fenster abgedunkelt, keine einzige Straßenlaterne leuchtete.

»Hier unten!«, ertönte eine gedämpfte Stimme aus dem Gebüsch am Rande des Parks. Roy lenkte das Licht seiner Taschenlampe in die Richtung, aus der die Stimme kam. Und tatsächlich, da waren Jacks Beine gerade noch sichtbar, der Rest von ihm lag unter den Sträuchern.

»Meine Zähne!«, lispelte Jack verzweifelt.

Roy verdrückte ein lautes Lachen und schloss sich der verzweifelten Suche an. Mit der Hilfe der Taschenlampe fanden sie die Zähne bald und atmeten erleichtert auf.

»Wie kamen sie ausgerechnet unter die Büsche?«, wagte Roy zu fragen, nachdem er sichergestellt hatte, dass sein Bruder wieder zu Scherzen aufgelegt war.

»Keine Ahnung«, antwortete Jack, »sie haben irgendwie ein Eigenleben.«

Dies sollte nicht das letzte Mal sein, dass Jack wegen seiner Zahnprothese in Verlegenheit kam.

Beide Jungs waren im besten Alter, um einer Nation, die sich im Krieg befand, als Kanonenfutter zu dienen. Jack war 15, Roy gerade 14, als Winston Churchill zwei Tage nach dem deutschen Überfall auf Polen Nazideutschland den Krieg erklärte. Mit 18 wurde man eingezogen. Sich zu weigern galt in anständigen Kreisen als Hochverrat am Vaterland. Pazifisten waren als Feiglinge verpönt. Als Jack sich im Jahr 1942 mit seinen 18 Jahren bei der »Royal Navy« zum Dienst meldete und Roy ein Jahr später als Infanterist eingezogen wurde, war der Krieg schon weit fortgeschritten. An die Möglichkeit, dass sie eventuell nicht mehr zurückkommen würden, erlaubte sich keiner zu denken. Nach dem Abschied von seinen Eltern wartete Roy in der Stadtmitte von Leicester auf den Militärbus, der die neuen Rekruten zu ihrer Ausbildungsstätte bringen sollte. Zufällig befand sich die Haltestelle gegenüber seiner alten Schule.

»Na, wärst du nicht lieber dort auf dem Pausenhof wie in guten alten Zeiten?«, fragte ihn ein ehemaliger Schulfreund, der sich ebenfalls auf die Abenteuerreise in den Krieg aufmachte.

»Nicht im Leben! Mach mich jederzeit zum Soldaten!«, lachte Roy.

Ziel der Ausbildung war die Reise nach Fernost, wo die jungen Soldaten noch im Sommer 1945, als der Krieg in Europa schon vorbei war, helfen sollten, den unaufhaltsamen Vormarsch der Japaner im Südpazifik zu stoppen. Die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki im August dieses Jahres bildeten den grausamen Schlusspunkt eines noch grausameren Kriegs. Roy landete als Teil der britischen Militäraufsicht in Malaysia, wo er als Militärverwalter, inzwischen von »Private Sperry« zu »Sergeant Sperry« befördert, nach eigenen Angaben »einen sehr gemütlichen Militärdienst« verbrachte.

Jacks Militärdienst war nicht ganz so gemütlich. Nach einer kurzen Trainingseinheit auf dem Ausbildungsschiff »HMS Gangees« auf der Themse, auf der sie nicht viel mehr lernten als einen Mast hochzuklettern und das Schiffsdeck zu putzen, galten die jungen Soldaten als seetüchtig. Jacks erster Kriegsposten sollte der Zerstörer »HMS Verdun« sein, ein zählebiges Kriegsschiff aus dem Ersten Weltkrieg, so genannt, um dem Sieg der alliierten Streitkräfte bei Verdun zu gedenken.

Die »HMS Verdun« hatte sich einen Namen als schwimmender Sarg für den »unbekannten Soldaten« gemacht, dessen Überreste am Eingang von Westminster Abbey unter einer schwarzen Gedenkplatte ruhen: »The Tomb of the Unknown Warrior«. Der bedrohlich anmutende Leitsatz »on ne passe pas« (»hier werden sie nicht durchkommen«) diente dem Schiff als mahnende Parole gegen potenzielle Feinde. Jetzt sollte die eindrucksvolle »Lady« in den Gewässern der Nordsee nach feindlichen Schiffen und U-Booten Ausschau halten.

Ornament

»Unser Thema lautet heute: Wie lebt man als Christ und Soldat und in einer Umgebung, die alles andere als christlich ist?« Eine nachdenkliche Stille füllte den Raum.

Es war der letzte Bibelabend vor Jacks Abschied und vor seiner ersten Seefahrt auf der »Verdun«. Die Tage waren vorbei, in denen der Kirchgang eine Pflicht mit finanzieller Gegenleistung war. Liturgische Texte, die dem kindlichen Gemüt lediglich als Begleitmusik für die neuesten Kreuzworträtsel dienten, hatten in beiden Brüdern Spuren hinterlassen. Dieses Vermächtnis fiel einem jungen Pastor auf, der nach Highfields gezogen war und anfing, Jungs von der Straße in seine Pfadfindergruppe einzuladen und mit ihnen Bibelarbeiten zu machen. Der Krieg würde die erste wirkliche Belastungsprobe für einen neu entdeckten christlichen Glauben werden, der bis dahin nur im geschützten Rahmen der Heimatgemeinde sein Wirkungsfeld gehabt hatte.

Der Pastor räusperte sich und setzte wieder an.

»Ich drücke mich etwas klarer aus. Stellt euch vor, Jungs: Ihr lebt wochenlang auf engstem Raum in Gefahr, Not und Verzicht. Vielleicht habt ihr blutige und traumatische Szenen an der Front miterlebt, die euch an die Grenzen eurer emotionalen Kraft getrieben haben, vielleicht sogar Freunde verloren. Und plötzlich gibt es einen freien Abend, Geld in der Tasche, und ihr dürft in irgendeiner Großstadt der Welt Party machen. Ihr wisst genau, auf welche Weise eure Kameraden diese Zeit verbringen wollen. Und jetzt wollt ihr ihnen zeigen, dass es eine bessere Art zu leben gibt.«

Immer noch nachdenkliche Stille, dieses Mal mit einem Hauch Ratlosigkeit.

»Jack, was denkst du? Nimmst du deine Bibel und legst mit einer donnernden Predigt über das Laster der Sünde los und warnst deine müden, erschöpften, leidgeprüften Freunde vor dem göttlichen Gericht, das sie erwartet, falls sie sich zu viel Spaß erlauben?«

»Nein, Sir. Ich würde hoffen, ich meine, versuchen, schon im Vorfeld …« Jacks Stimme, sonst voll von Zuversicht bei jedem Thema, war plötzlich unsicher.

»… schon im Vorfeld das Vertrauen der Männer zu gewinnen, ihnen Freund zu sein. Sir, wenn unser Christsein echt ist und nicht die spießige, weltfremde Religion ist, für die viele Menschen es halten, dann …« Seine Stimme war jetzt klar und feurig. »Dann muss es in solchen widrigen Umständen erst recht sichtbar sein, ohne dass wir Menschen mit der Bibel über den Kopf hauen. Wenn Jesus uns dort nicht hilft, wo wir dem Tod ins Gesicht schauen, wo sonst? Sie haben selbst gesagt: ›Predige, und wenn es sein muss, mit Worten.‹«

»Gute Gedanken. Aber du hast die Frage nicht beantwortet. Was machst du mit dem freien Abend, Jack?«

»Ich würde hoffen, dass ich bestimmen darf, was wir an diesem Abend machen. Weil es ohne mich ohnehin keinen Spaß machen würde!«

Keine nachdenkliche Stille mehr, nur Lachsalven. Er hatte es nur im Spaß gesagt, fast nur im Spaß.

»Bei Jesus kam zuerst der Lebensstil, erst danach die Predigt«, schrieb er in seine Notizen nach diesem Abend. »›Und Jesus nahm zu an Weisheit und Alter und Gunst bei Gott und Menschen.‹ Klingt sehr religiös, bedeutet aber einfach, dass die Leute ihn mochten. Zumindest diejenigen, die nicht neidisch auf ihn waren. Und weil das der Fall war, wollten sie hören, was er zu sagen hatte.«

Im Auftrag Seiner Majestät

Erst im Nachhinein kann man locker von Zeiten erzählen, in denen jeden Tag das eigene Leben auf dem Spiel stand. Als sie Tag und Nacht in den Kriegsgewässern der Nordsee Wache hielt, wusste die Mannschaft des Zerstörers »HMS Verdun« noch nicht, dass sie, abgesehen von den für die Nordsee typischen Stürmen, unversehrt davonkommen würde.

Das Schiff geriet zu keinem Zeitpunkt in feindliches Feuer, aber die Erwartung ebendieses war eine elementare Rund-um-die-Uhr-Strapaze auf engstem Raum. Manche der jungen Männer waren zum ersten Mal von zu Hause weg. Mit jedem Nerv des Körpers unter Daueranspannung zu leben, dafür war rigorose Disziplin erforderlich, ob an Deck auf der Wache nach feindlichen Angriffen oder unter dem Wasserpegel, wo unablässig nach nicht registrierten U-Booten geortet wurde. Nur ein kleiner Lapsus konnte den Untergang des Schiffs bedeuten.

Die kräfteraubende Anspannung, die sich in den Seelen der jungen Männer anstaute, war enorm. Einzige Gelegenheit für eine Atempause war ein Kurzurlaub alle paar Monate, abhängig allerdings von den Launen und Bewegungen der deutschen Kriegsflotte. Oder ein Kurzaufenthalt in einer kleinen Raucherecke an Bord des Schiffs, in der die Matrosen, die gerade keinen Dienst hatten, ihre hoch geschätzten Tabakrationen verrauchen durften. Soldaten, die über 18 waren, bekamen auch gelegentliche Rumrationen. Mehr als diese dürftigen Vergnügungen hatte das Leben auf dem Schiff nicht zu bieten.

»Darfst du als Christ nicht rauchen oder willst du nicht rauchen?«, wurde Jack einmal von Sam O’Brien gefragt, einem irischen Matrosen, der unter den rauen Bedingungen auf dem Kriegsschiff und der Trennung von seiner Familie schwer zu leiden hatte. Er und Jack machten gemeinsam Pause auf der Raucherbank an Deck. Es war windstill und das Schiff lief auf ruhigen Wellen. Anstatt seine neue Ration Tabak zu inhalieren, war Jack dabei, sie sorgsam in ein Tuch einzuschnüren.

»Ich kenne jemanden, der den Tabak mehr schätzt als ich«, grinste Jack. »Meine Mutter arbeitet in einer Strumpffabrik, und ihr Chef liebt diesen Tabak über alles. Er bekommt all meine Rationen zu Weihnachten.«

»Obwohl es so eine schlechte Billigmarke ist?«, fragte Sam verwundert.

»Ach, irgendwie gefällt er ihm. Er stopft den Tabak in seine Pfeife, meint, er würde ganz lecker schmecken. Mein Vater ist auch Kettenraucher, aber für ihn ist das Zeug nicht gut genug. Und ich rauche in der Tat nicht: Der Hauptgrund ist, dass ich nicht süchtig werden möchte wie mein Vater! Ich beiße mich lieber mit viel Lesen durch, ja, und stell dir vor, sogar mit Beten und Singen.«

»Hast du Zeit für mich?«, fragte Sam und warf einen kurzen Blick um sich, um sicherzustellen, dass sie alleine waren.

Jack war nicht entgangen, dass seinem Freund etwas auf den Nägeln brannte.

»Ja, sicher. Was ist mit dir, Sam?«

Sam rang kurz um Fassung.

»Sie schreibt, dass sie einen netten amerikanischen Soldaten kennengelernt hat.«

»Sie? Wer ist sie?«

»Meine Frau.« Sam, die muskelbepackte Sportskanone der Schiffsmannschaft, fing an zu schluchzen wie ein Kind. »Jack, ich will sie nicht verlieren. Was soll ich tun? Mir brennen alle Sicherungen durch.«

»Nur mit der Ruhe, Sam. Woher weißt du, dass zwischen den beiden was läuft?«

»Sie schwärmt davon, dass er ihr Strümpfe und Unterwäsche aus den Staaten schickt. Da kann ich nie und nimmer mithalten. Wenn sie fremdgeht, will ich nicht mehr leben. Im Ernst, Jack!«

Jack blickte mitleidsvoll auf den kräftigen, abgehärteten Seemann, der neben ihm saß, gebeugt und mit den Händen über dem Gesicht.

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