cover
Brigitte Schorr – Hochsensible Mütter – SCM Hänssler

Imagelogo

Inhalt

Vorwort

Ein Dienstagnachmittag im November

I. Grundsätzliche Gedanken zur Hochsensibilität

1.  Von der Widerstandskraft der Mimosen

2.  Vier Kriterien

3.  Der Einfluss des Umfelds

4.  Fragebogen zur Selbsteinschätzung

5.  Überstimulation als hilfreiches Werkzeug

6.  Sie wissen, dass Sie hochsensibel sind – und jetzt?

7.  Über die hochsensible Wahrnehmung

8.  Intuition

9.  Wie Ihre Werte Ihr Handeln beeinflussen

II. Wenn eine hochsensible Frau Mutter wird

1.  Das Dilemma der Mutterrolle

2.  Zwischen Langeweile und Überforderung

Die eigenen Bedürfnisse kennen

Präsent sein

3.  Fremdbestimmung contra Freiheitsstreben

4.  Zwischen Anpassung und Rebellion

5.  Gas- und Bremspedal

6.  Von guten Grenzen, Abgrenzung, Entgrenzungen und der Weite des Horizonts

Die Bedeutung von Grenzen

Grenzerweiterung

Selbstwirksamkeit

Grenzverletzungen

7.  Über Nähe und Distanz

8.  Über den Umgang mit Kritik

Unterscheiden können

Souveränität entwickeln

Distanz zum Geschehen bekommen

III. Hochsensibilität und Nicht-Hochsensibilität in der Familie

1.  Hochsensible Mutter und hochsensibles Kind

2.  Hochsensible Mutter und nicht-hochsensibles Kind

3.  Noch einmal: Distanz üben

4.  Ein paar Gedanken zur Ernährung

5.  Und da sind ja noch die Männer

6.  Von anderen Formen des Zusammenlebens

Gedanken für alleinerziehende Mütter

Hochsensible Mütter in Patchworkfamilien

IV. Von Schuld, Verantwortung, Therapeuten, Lehrern und der Überquerung des Rubikon

Literatur

Anmerkungen

image Für meine Mutter image

Vorwort

Jedes Buch hat seine ganz eigene, unverwechselbare und individuelle Entstehungsgeschichte. Ich denke, dass ich am Inhalt dieses Buches gearbeitet habe, seit ich selbst Mutter bin, also seit 17 Jahren. Damals wusste ich noch nicht, dass ich hochsensibel bin und dass ich mich eines Tages beruflich ausschließlich mit hochsensiblen Menschen beschäftigen würde. Aber die täglichen Erfahrungen, die mir zeigten, dass ich immer ein wenig anders war als andere Mütter, gleichzeitig empfindlicher und empfindsamer, unsicherer und überforderter, suchender und empathischer, verdichteten sich in mir zu einem Knäuel von merkwürdigen Zuständen, in denen ich mich selbst nicht mehr wiedererkannte. Ich hatte damals keine Ahnung, dass es anderen Müttern auch so ging. Seit 2004 gibt es deutschsprachige Bücher zum Thema Hochsensibilität. Die Mutterschaft wird darin stets nur am Rande erwähnt. Die eigene Suche nach hilfreicher Literatur für hochsensible Mütter brachte mich zu der Erkenntnis, dass hier dringender Bedarf besteht. So nahm der Gedanke zu diesem Buch Gestalt an. Und ich durfte noch einmal Mutter werden, indem ich dieses Projekt gebar. In den Monaten der Arbeit daran habe ich mit sehr vielen Menschen, vor allem Müttern, gesprochen. Die Ideen, die Sie in diesem Buch wiederfinden, fanden Eingang in meine Vorträge und Seminare, boten Anlass zu Diskussionen im Familien- und Freundeskreis, zeigten sich manchmal widerspenstig, manchmal verlockend und entwickelten sich unter der sorgfältigen Beobachtung des Verlages und mir selbst zu der hier vorliegenden Form. Immerwährend habe ich nach Verknüpfungen Ausschau gehalten, habe in der Soziologie, der Psychologie, der Kunst und Kultur sowie christlichen Quellen nach möglichen Verbindungen gesucht. Diesen Inspirationen bin ich zu tiefer Dankbarkeit verpflichtet. Meine eigenen Erfahrungen und diejenigen meiner Gesprächspartnerinnen sind in dieses Buch eingeflossen. In einer perfekten Welt würde ich alle namentlich und ausführlich erwähnen. So aber kann ich Ihnen nur versichern, dass diese Quellen sowie die vielen hochsensiblen Menschen, die mir ihre Geschichten anvertraut haben, in diesem Buch gegenwärtig sind. Ich hoffe, dass sie zu einem vertieften Verständnis für die hochsensible Wesensart beitragen werden.

Dennoch gibt es Menschen, die ich hier besonders erwähnen möchte. Allen voran meine eigene Mutter, die ihr hochsensibles Kind als Bürde betrachtete und sich nicht anders als mit Härte zu helfen wusste. Heute bin ich mir nicht sicher, ob sie nicht auch hochsensibel gewesen sein könnte. Hätte ich eine liebevollere Kindheit gehabt, so wäre dieses Buch wahrscheinlich nie entstanden.

Meinen hochsensiblen Kindern Raphael und Stella verdanke ich, dass sie mir deutlich die Grenzen meiner Belastbarkeit aufgezeigt haben. Das hat mir ermöglicht, nach Wegen zu suchen, unser Zusammenleben hochsensiblengerecht zu gestalten sowie meine Mutterschaft als Entwicklungsprozess zu betrachten.

Meinen Freundinnen Ulli und Gabriele, die eine nicht-hochsensibel, die andere aber wohl, verdanke ich gute Diskussionen und ich bin gerührt über die nahezu ständig offenen Ohren, die sie für meine Sorgen und Nöte bei diesem Projekt hatten, sowie für manches Brainstorming bei einem Glas Wein und umsorgt von Ullis Kochkünsten.

Meiner Freundin Judith bin ich zutiefst verbunden durch dieselbe hochsensible Wahrnehmung und Differenziertheit, die mir viele Impulse für dieses Buch beschert hat. Mit ihr zu sprechen, nährt meine Seele. Ich wünsche jedem Menschen, jemanden wie Judith zu kennen.

Und natürlich gebührt der Cheflektorin des Hänssler-Verlages, Uta Müller, großer Dank und Anerkennung dafür, dass sie an dieses Projekt geglaubt und mir immer wieder richtungsweisende Inputs gegeben hat, wenn ich mich in der Komplexität zu verlieren drohte. Meiner Lektorin Beate Tumat danke ich sehr für ihre sorgfältige, wertschätzende und sensible Art, mit meinem Manuskript und meinen Gedanken umzugehen.

Sie können sich dieses Buch auf zweierlei Weise nutzbar machen: zum einen als Informations- und Wissenswerk zum Nachlesen und Verstehen, zum anderen als Arbeitsbuch, denn am Ende jedes Kapitels werden Sie Fragen oder Inputs finden, die Sie zu vertiefter Beschäftigung mit den behandelten Themen anregen können.

Altstätten, im Herbst 2012
Brigitte Schorr

Ein Dienstagnachmittag im November

Die junge Frau sitzt auf der Bettkante. Sie beobachtet ihren kleinen Sohn, wie er sich daranmacht, die Welt des kleinen Ein-Zimmer- Appartements zu entdecken und in eine leere Schublade des Kleiderschrankes krabbelt. Danach klettert er wieder hinaus. Hinein, hinaus, immer wieder. Dabei sieht er seine Mutter erwartungsvoll an. Die Frau sieht den Blick ihres Sohnes und seine Aktivitäten. Kurz huscht ihr durch den Sinn, dass er sich seine Fingerchen einklemmen könnte, wenn die Schrankschublade sich zu schnell schließt. Draußen herrscht strahlender Sonnenschein und sie weiß, eigentlich sollte sie sich und ihn warm einpacken und die spätherbstliche Sonne genießen. Doch etwas in ihr hemmt sie. Deshalb bleibt sie sitzen und schaut ihrem Sohn weiterhin zu, der immer unruhiger wird. Es widerstrebt ihr, nach draußen zu gehen. Sie ist fremd in dieser Gegend und in diesem Land. Ihr Mann arbeitet. Er hat gerade eine Anstellung in einer großen Firma gefunden und der Umzug in dieses Land ist geplant. Der jungen Frau erscheint die Welt außerhalb dieses Zimmers fremd und bedrohlich. Und sie fühlt sich den Situationen, die ihr auf einem Spaziergang begegnen können, nicht gewachsen. Es bedeutet eine Herausforderung für sie, den Kinderwagen zurechtzumachen, die Wickeltasche zu packen (irgendwie quillt ihre immer über, während die von anderen Müttern stets ordentlich und leer zu sein scheinen), den Kleinen anzuziehen (schon das braucht so viel Zeit und Energie, vor allem im Winter) und das Zimmer zu verlassen. Eigentlich ist ihr nach Ruhe und Einsamkeit zumute, aber sofort meldet sich das schlechte Gewissen, ihr ständiger Begleiter: Das Kind braucht doch Anregung und Abwechslung, sie ist doch dafür verantwortlich, dass er sich gesund entwickelt und sie hat gerade gelesen, wie wichtig der tägliche Spaziergang in Verbindung mit sozialen Kontakten ist. Aber alles in ihr sträubt sich dagegen. Zu unsicher fühlt sie sich in dieser Gegend, die Blicke der Menschen, die ihr begegnen, erscheinen ihr aufdringlich und neugierig. Seit sie Mutter ist, hat sie schockiert festgestellt, dass wildfremde Menschen ihr Ratschläge erteilen, das Kind und sie beobachten und Vermutungen darüber anstellen, wie sie sich als Mutter macht. Manchmal kann sie die Gedanken der anderen förmlich hören. In Sekundenbruchteilen analysiert sie die Mimik und die Ausstrahlung des Gegenübers. Meistens fällt ihre Beobachtung nicht zu ihren Gunsten aus. Sie fühlt sich einsam und unverstanden und verhält sich gezwungen und unecht. Im Kontakt mit ihrem Kind versucht sie sich freundlich zu verhalten, obwohl sie eigentlich ständig müde und überreizt ist. Konsequenz in der Erziehung ist ein Problem für sie.

Die junge Frau hat an diesem Nachmittag das Zimmer nicht mehr verlassen. Jedoch folgten auch viele Tage, an denen sie sich dazu zwang. Oft verstand sie sich selbst nicht mehr. Sie wollte das Kind und sie hatte den Kleinen gern, was war nur los mit ihr? Die Frau war nicht nur Mutter, sie war auch hochsensibel.

Beides, Mutterschaft und Hochsensibilität, beeinflussen die erlebte Lebensqualität. Mutter zu sein, bestimmt das Leben jeder Frau in einzigartiger Weise. Die Herausforderungen, die auch heute noch an jede Mutter gestellt werden, sind nicht einfach zu bestehen: Die Entscheidung zur Mutterschaft fordert Konsequenzen – in der Regel wird die werdende Mutter ihre Karriere nicht in der gleichen Weise weiterverfolgen können wie bisher. Selbst wenn sie es möchte, wird doch früher oder später ein Vorgesetzter oder die eigene Familie sie daran erinnern, dass sie nicht beides haben kann. Andererseits, sollte sie sich für ein Leben als Mutter entscheiden und zu Hause bei ihren Kindern bleiben, wird sie schnell als »Heimchen am Herd« abqualifiziert1 und muss mit mangelnder Akzeptanz, finanzieller Abhängigkeit und weitgehender Unselbständigkeit rechnen. Trotz der wertvollen Verdienste, welche die Frauenbewegung für das Leben von Frauen erreicht hat, ist aber auch dies ein Ergebnis der feministischen Bewegung: dass es heute jeder Frau (und im Übrigen auch jedem Mann) bewusst ist, dass Selbständigkeit und finanzielle Unabhängigkeit erstrebenswerte Ziele darstellen, die man durch Mutterschaft aufs Spiel setzt.

Hochsensibel zu sein heißt, innere und äußere Reize stärker wahrzunehmen als Nicht-Hochsensible. Wer mit dieser Veranlagung geboren wird, reagiert stark auf Gerüche, Geräusche, Stimmungen, Befindlichkeiten anderer Menschen, unausgesprochene Erwartungen und macht sich sehr viele Gedanken (oftmals sorgenvolle) über das eigene Sein und den Umgang mit anderen. Das Leben selbst fühlt sich für diese Menschen oft sehr anstrengend an, weil sie nahezu keinen Filter zwischen ihren Wahrnehmungen und der Umwelt (dem Innen und dem Außen) haben. Einschneidende Lebensereignisse, die für alle Menschen lebensbestimmend sind, wie zum Beispiel die Geburt eines Kindes, werden für hochsensible Menschen noch zusätzlich zu einer Flut von Reizen, Gefühlen und Gedanken, die so intensiv ist, dass es sich manchmal so anfühlen mag, als würden die Betroffenen von ihr einfach wie von einer Tsunami-Welle überschwemmt werden.

Wird eine hochsensible Frau Mutter, fließt ihre Veranlagung mit dem gesellschaftlichen Rollenbild zusammen. Das fühlt sich dann mitunter schwer, zerrissen und auf vielfältige Weise unsicher an. Viele hochsensible Mütter bleiben mit diesen Empfindungen allein, da sie sich entweder nicht mitteilen können oder wollen oder sie sich durch ihr Umfeld unter Druck gesetzt fühlen.

Was in einem Menschen angelegt ist, wird mitunter erst durch ein äußeres Ereignis sichtbar. Im Grunde genommen können wir alle nicht wissen, wie wir im Falle eines schweren Unfalls oder einer schicksalhaften Krankheit, eines Todesfalls oder eben der Geburt eines Kindes reagieren werden. Hält sich jemand für geduldig, muss er oder sie vielleicht feststellen, dass ihre Geduld doch engere Grenzen hat als vermutet. Hielt man sich für großzügig, stellt sich vielleicht heraus, dass sich im eigenen Verhalten mitunter eine Kleinlichkeit Bahn bricht, die man nicht an sich vermutet hätte. Die menschliche Persönlichkeit ist lebenslang wandelbar und entwicklungsfähig. Dabei gibt es Persönlichkeitsmerkmale, welche mehr oder weniger gleich bleiben und die Persönlichkeit ihres Besitzers wie ein roter Faden kennzeichnen.2 Es kann vorkommen, dass sich Freunde nach Jahrzehnten wiedertreffen und feststellen, dass sie immer noch im Wesentlichen die Gleichen sind. Eigenschaften können zwar stabil sein, je nach Lebensphase und Situation aber unterschiedlichen Aus druck finden. Nehmen wir zum Beispiel die Fähigkeit, innere und äußere Vorgänge zu reflektieren. Wenn ein Kind mit dieser Eigenschaft geboren wird, so kann sie sich im Kindes- und Schulalter in einer stillen Beobachtungshaltung widerspiegeln, in der Pubertät dagegen kann die gleiche Fähigkeit sich in Rebellion und kompromissloser Wahrheitssuche äußern, während der erwachsene Mensch vielleicht eine Affinität zu tiefen Gesprächen entwickelt.

Wie verhält es sich nun mit der Sensibilität? Sensibilität ist, von außen betrachtet, nicht immer gleich als solche zu erkennen. In meinem Beispiel von oben könnte ein Beobachter möglicherweise annehmen, dass die junge Frau vielleicht zu müde ist, um das Zimmer zu verlassen oder auch schlichtweg zu faul. Erst bei näherer Betrachtung und eingehender Erforschung wird deutlich, dass es sich bei dem beobachtbaren Verhalten vielmehr um einen Ausdruck von hoher Wahrnehmungsfähigkeit, eben Hochsensibilität, handelt. Die junge Frau ist vielleicht immer schon sensibel gewesen, aber bislang ist diese Eigenschaft nie in besonderer Weise hervorgetreten oder gar als störend und beeinträchtigend erlebt worden. Nun ist sie Mutter und auf einmal, scheinbar wie aus heiterem Himmel, reagiert sie überempfindlich auf ganz normales Alltagsgeschehen. Sie ist überreizt oder, wie die Fachwelt es bezeichnet, »emotional ansprechbar«, das Gegenteil von stabil.

Es ist bereits viel über das Zusammenleben mit Kindern aller Altersstufen geschrieben worden. Die Ratgeberliteratur zu Kindererziehung füllt meterweise die Regale der Buchhandlungen. Dabei steht stets das Kindeswohl im Mittelpunkt. Selbstverständlich ist es wichtig, dass es Kindern gut geht. Wir leben in einer Zeit wohlwollender Erziehender. Noch niemals zuvor wurde den Kindern so viel Aufmerksamkeit geschenkt wie heutzutage. Daneben ist das Mütterwohl etwas aus dem Blick geraten. Was brauchen Mütter? Und was hilft besonders sensiblen Frauen, ihr Muttersein als positiv zu erleben? Wie können Mütter auf eine lebensfreundliche Weise sowohl für sich als auch für ihre Kinder sorgen? Diesen Fragen soll in diesem Buch Raum gegeben werden. Außerdem sollen die Mechanismen aufgezeigt werden, auf die empfängliche Frauen besonders sensibel reagieren. Hochsensibilität und Muttersein – es kann sich sehr erfüllend und bereichernd anfühlen, aber meistens erst, wenn die hochsensible Veranlagung gut in die eigene Persönlichkeit integriert wurde und im Alltag ihren angemessenen Ausdruck findet. Dieses Buch soll dabei behilflich sein. Ich denke, dass auf der Ebene des Verstandes es sich bereits entlastend anfühlen kann, wenn Sie aus diesem Buch Erkenntnisse gewinnen. Der konstruktive und lebensfreundliche Umgang mit Ihrer Hochsensibilität geschieht dann aber durch die Seele und den Körper. Deshalb enthält dieses Buch auch Anleitungen und Impulse für gezielte Übungen.

Die junge Frau in der Eingangsszene ist übrigens keine erfundene Figur. Diese junge Mutter war ich, dies ist eine Szene, an die ich mich noch lebhaft erinnere. Hätte ich damals schon gewusst, dass ich hochsensibel bin, wäre manches in meinem Leben und in der Beziehung zu meinen Kindern für mich besser einzuordnen gewesen und das Wissen um meine Veranlagung hätte mir früher die Tür zu mehr Gelassenheit geöffnet. Nun hoffe ich, dass dieses Buch dazu beitragen kann, dass andere hochsensible Mütter zu mehr Zufriedenheit und Ausgeglichenheit finden.

I. Grundsätzliche Gedanken zur Hochsensibilität image

Man soll niemandes Sensibilität verachten – eines jeden Sensibilität ist sein Genie.

Charles Baudelaire

image1.   Von der Widerstandskraft der Mimosen

Die Natur liefert uns zahlreiche Beispiele für körperliche und seelische Prozesse. Wenn wir uns hier mit dem Thema Hochsensibilität beschäftigen, dann liegt der Vergleich mit einer Pflanze nahe, die für ihre Empfindlichkeit bekannt ist: der Mimose. Sie werden vielleicht auch schon die Erfahrung gemacht haben, als »Mimose« bezeichnet zu werden. Beschäftigt man sich mit der Pflanze, so fällt einem auf, dass die Mimose zwar sehr berührungsempfindlich ist, stark auf Licht- und Temperaturschwankungen reagiert und Erschütterungen übel nimmt, dass sie aber gleichzeitig nur den betroffenen Pflanzenteil »einklappt«, der Rest der Pflanze bleibt unbeeindruckt. Nach einer Weile öffnet sich die Pflanze wieder und regeneriert sich.

Mir scheint, so verhält es sich auch bei hochsensiblen Menschen. Hochsensibel zu sein, bedeutet, stark auf innere und äußere Reize wie durch einen Verstärker zu reagieren.

Wodurch diese erhöhte Wahrnehmungsfähigkeit zustande kommt, ist noch nicht erwiesen. Möglicherweise liegt es am Nervensystem, welches feiner verästelt ist, oder an bestimmten neurobiologischen Verschaltungen im Gehirn oder an einem bestimmten Zusammenspiel von Botenstoffen zwischen den Nervenzellen – bis jetzt bleibt die Forschung eine allgemeingültige Antwort darauf schuldig. Man weiß also lediglich, dass es hochsensible Menschen gibt; ob auch biologische Unterschiede zu Normalsensiblen bestehen, wird sich in Zukunft sicher zeigen. Es gibt aber durchaus Hinweise darauf, dass es diese Unterschiede geben könnte. Bis jetzt können wir darüber nur Vermutungen anstellen. Eines aber ist sicher: Hochsensible verfügen über eine außerordentlich hohe Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit. Diese Fähigkeit ist auch gleichzeitig eine Belastung, denn als hochsensibler Mensch können Sie sich nicht aussuchen, was Sie stark empfinden wollen und was nicht. Sie haben, wenn überhaupt, nur einen geringen Filter zwischen Ihrer Innenwelt und den Reizen, die von außen auf Sie einströmen. Es kann auch sein, dass Sie besonders schreckhaft sind und bei Geräuschen oder Lärm empfindlich reagieren. Vielleicht können Sie aber auch Gerüche besonders fein wahrnehmen, sodass Sie es merken, wenn zwei Stockwerke unter Ihnen frisch gestrichen wurde. Möglicherweise gehören Sie aber auch zu den Hochsensiblen, die Beziehungen zwischen Menschen besonders stark wahrnehmen können, zum Beispiel, wenn Sie einen Raum betreten und spüren, dass eine gewisse Spannung in der Luft liegt, oder Sie eine Party besuchen und nach kurzer Zeit die Beziehungen der Anwesenden untereinander analysieren können. Das alles kann Ausdruck einer hochsensiblen Veranlagung sein, wobei es in den meisten Fällen so sein dürfte, dass viele der hier beschriebenen Reize gleichzeitig auf Sie einströmen. Um beim Beispiel der Party zu bleiben, könnten Sie schon durch die laute Musik (die auch im Grunde genommen nicht Ihr Stil ist) an Ihre Grenzen kommen. Dazu die vielen, meist fremden, Personen, unterschiedliche Parfums und Kleidungsstile, grelles, buntes Licht oder auch schlecht ausgeleuchtete Ecken, vielleicht noch unbequeme Stühle oder runde Stehtische, an denen Sie sich nicht anlehnen können, taxierende Blicke und niemand, der Sie freundlich anlächelt und willkommen heißt – das alles sind Impulse, die auf Ihr Nervensystem einwirken und dort ihre Wirkung entfalten.

Hochsensibel zu sein heißt, dass Sie immer stark empfinden, gleich, ob die Situation etwas mit Ihnen zu tun hat oder nicht.

Es kann sein, dass Sie unter einem beobachteten Konflikt oder Wortwechsel so leiden, als wären Sie selbst betroffen. Stellen Sie sich folgende Situation vor: In der Schule Ihrer Tochter soll ein Flohmarkt stattfinden. Seit Wochen schon sortieren Sie mit Ihrem Kind oder alleine alte Spielsachen aus, diskutieren mit Ihrem Mädchen darüber, von welchem Plüschtier es sich nun endgültig trennen möchte und ob das Bobbycar nicht doch auch endlich einmal ausrangiert werden könnte. Es heißt für Ihre Tochter, von lieb gewordenen Dingen Abschied zu nehmen, Sie sammeln die bereitgestellten Dinge in Kartons und dann ist der große Tag da. Ihr kleines Mädchen ist aufgeregt und hüpft wie ein Gummiball um Sie herum, während Sie die Kartons mit den Schätzen im Auto verstauen. Nach längerer Parkplatzsuche (denn auch alle anderen Eltern sind zum Flohmarkt ihrer Sprösslinge unterwegs) kommen Sie mit Sack und Pack auf dem Schulhof an und finden noch ein Eckchen, in dem Sie die Decke Ihrer Tochter ausbreiten können, nicht ohne sich darüber zu ärgern, dass sich die anderen Kinder und ihre Eltern so breitmachen. Sie lassen Ihre Tochter als kleine Händlerin zurück und suchen das WC auf. Durch die Parkplatzsuche, das Geschleppe und den Lärm auf dem Pausenhof befinden Sie sich schon in einer Anspannung, die Ihnen erst bewusst wird, als sich plötzlich ein lautstarker Streit zwischen zwei anderen Müttern entspinnt. Sie wissen nicht, um was es geht, aber sofort beschleunigt sich Ihr Herzschlag und Sie ziehen unwillkürlich den Kopf ein. Die eine Mutter ist ausländischer Herkunft und des Deutschen nicht sehr mächtig, was dazu führt, dass sie nur in abgehackten, unvollständigen Sätzen spricht, die sich beleidigend anhören. Die fehlende Sprache wird durch Lautstärke wettgemacht. Sie zucken unwillkürlich bei jedem Satz zusammen. Es schmerzt Sie regelrecht körperlich. Sie empfinden das Unvermögen der Frau, sich auszudrücken, als Druck in Ihrer Seele und auf Ihrem Magen. Gleichzeitig nehmen Sie die Verzweiflung der Frau wahr, in einem Land leben zu müssen, in dem man sie nicht versteht. Die andere Mutter ist dagegen des Deutschen sehr wohl mächtig, da es ihre Muttersprache ist, und sie lässt in genauso beleidigender Weise, mit vielen Schimpfworten vermischt, eine Sturzflut von Worten auf ihre Gegnerin niederprasseln, von der Sie fast jedes einzelne als Schlag empfinden. Sie empfinden die unausgesprochene Fremdenfeindlichkeit der Frau und spüren einen Kloß im Hals. Sie bemühen sich um möglichst unauffälliges Verhalten und verlassen den Ort des Geschehens sehr bald mit zittrigen Händen und aufgewühlter Seele. Erleichtert atmen Sie auf, als Sie die wütenden Stimmen hinter sich gelassen haben, aber noch Stunden später sind Sie innerlich unruhig und nervös und Ihre Gedanken kreisen einerseits um die Worte, die Sie gehört haben und andererseits um Ideen, wie die beiden Kampfhennen ihren Streit hätten lösen können, ohne dermaßen ausfallend zu werden.

Wie geht es Ihnen, wenn Sie dieses Beispiel lesen? Können Sie spüren, wie sich Ihr Herz beschleunigt? Die Auswirkungen eines beobachteten Konflikts können nahezu dieselben sein, als wenn Sie selbst im Mittelpunkt dieser Auseinandersetzung stünden.

Und jetzt stellen Sie sich dieselbe Situation vor. Sie bereiten bereits seit Wochen den Flohmarkt Ihrer Tochter vor. Am Veranstaltungstag, nach der Parkplatzsuche, zu der Sie sich etwas Zeit eingeräumt haben, kommen Sie in einer gelassenen und langsamen Gangweise auf dem Schulgelände an. Sie spüren ein menschliches Bedürfnis und suchen das WC auf. Auf dem Weg dahin setzen Sie Ihre Schritte bewusst und langsam, denn Sie spüren, wie der Lärm und das Gewusel des Pausenhofs Sie aus Ihrem inneren Zentrum, aus Ihrer Ruhe bringen. Gleichzeitig spüren Sie beim Gehen Ihrem Atem nach und lenken ihn bewusst in Ihren Bauchraum, dorthin, wo Sie das unruhige Gefühl spüren. Sie freuen sich daran, dass es Ihnen gelingt, mithilfe des bewussten Gehens und Atmens wieder ruhiger zu werden und passieren die Eingangssperre der Toiletten. Aufgeregte und auch wütende Stimmen erreichen Ihr Ohr. Es gelingt Ihnen, Ihre Energie und Ihre Aufmerksamkeit auf Ihren inneren Raum zu lenken, in dem es sich jetzt ruhiger anfühlt. Sie nehmen zwar wahr, dass der Streit eskaliert und registrieren unschöne Worte, aber Sie wissen, dass das nichts mit Ihnen zu tun hat und sind ganz bei sich. Bewusst, ruhig und entspannt nehmen Sie Ihre Handlungen vor, achten auf Ihren Atem und stehen als gute Freundin Ihrem Herzen bei, damit es nicht schneller schlagen muss. Gesammelt und aufmerksam spüren Sie, dass Sie stark sind und den äußeren Anforderungen gewachsen. Genauso langsam und besonnen verlassen Sie das WC, in dem die beiden Frauen sich immer noch lautstark beschimpfen und freuen sich, dass Sie bald wieder bei Ihrer Tochter sein werden, deren kindliche Freude Ihnen das Herz wärmt.

Wie geht es Ihnen jetzt, nach dem Lesen dieser Version der gleichen Situation? Spüren Sie den Unterschied? Können Sie etwas von dem wahrnehmen, was sich verändert hat? Mir sind Hochsensible begegnet, die sehr gut mit ihrer Veranlagung zurechtkamen und recht zufrieden wirkten. Und dann wieder gibt es hochsensible Menschen, die wirklich damit hadern und unglücklich sind. In den beiden Versionen des Beispiels von oben werden diese unterschiedlichen Haltungen sichtbar. Ich habe eine gute Nachricht für Sie: Es ist für jeden hochsensiblen Menschen möglich, im Einklang mit sich und der eigenen Veranlagung zu leben. Ich gebe zu, der Weg dahin kann sich mitunter steinig und beschwerlich anfühlen, aber mit der richtigen Ausrüstung ist er gut zu bewältigen. Hauptsache, Sie gehen ihn in Ihrem eigenen Rhythmus und im Einklang mit Ihren Bedürfnissen. Ein Sportler, der früher Radrennen gefahren ist, sagte mir einmal, dass es auch für mich, die ich ziemlich unsportlich bin, möglich sei, mit dem Fahrrad auf einen Berg zu fahren. Nur müsste ich das vielleicht anders anpacken als jemand, der gut trainiert ist. Was uns manchmal hindert, eine persönliche Entwicklung zu machen, sind unser eigenes Anspruchsdenken und der Vergleich mit anderen. Hochsensibel zu sein heißt, tatsächlich anders zu denken und zu empfinden als jemand, der nicht hochsensibel ist. Wenn Sie sich mit normalsensiblen Menschen messen, hieße das, Äpfel mit Birnen zu vergleichen.

Vielleicht macht Ihnen das Eingangsbeispiel mit der Mimose auch eines deutlich: Sie sind immer nur zu einem Teil von dem betroffen, was Sie wahrnehmen. Dieser Teil in Ihnen rollt sich dann vielleicht zusammen, zieht sich zurück und fühlt sich verletzt oder einfach überschwemmt, jedoch können Sie davon ausgehen, dass dieser erschütterte Teil sich nach einer Weile auch wieder regeneriert und entfaltet. Hochsensible besitzen neben der hohen Verletzlichkeit auch eine große Widerstandskraft. Dazu später mehr.

image2.   Vier Kriterien

Sie werden sich nun vielleicht fragen, worin der Unterschied zwischen Hochsensiblen und Normalsensiblen besteht, denn im Grunde genommen kann ja jeder Mensch mindestens eine der oben aufgeführten Empfindlichkeiten haben. Es gibt kaum zwei Hochsensible, bei denen sich ihre Veranlagung in gleicher Weise zeigt. Doch trotz aller individuellen Unterschiede gibt es doch eindeutige Merkmale, die hochsensible Menschen auszeichnen und bei Normalsensiblen nicht vorliegen.

Als erstes Kriterium wäre da die schmale Komfortzone zu nennen. Unter Komfortzone verstehe ich den Bereich, in dem Sie sich wohlfühlen, wo nichts zwickt und zwackt und Sie sich einigermaßen mit sich im Reinen fühlen. Dieser Bereich ist sehr schmal und deutlich kleiner als bei normalsensiblen Menschen. Wenn Sie diesen schmalen Pfad in die eine Richtung verlassen, wird Ihnen langweilig, wenn Sie ihn in die andere verlassen, sind Sie überstimuliert. Beide Zustände bringen Sie aus Ihrer Komfortzone hinaus. Nicht nur ein Zuviel an Reizen kann Ihnen unangenehm sein, sondern auch ein Zuwenig. Die stimmige Balance zwischen zu viel und zu wenig zu finden, verlangt eine hohe Aufmerksamkeit für das eigene Befinden. Wenn andere Menschen nach einem Arbeitstag noch in die Kneipe an der Ecke gehen wollen, möchten Sie Ihre Ruhe haben und zu Hause die Tür hinter sich schließen.

Das Anstrengende daran ist, dass Ihr Wohlfühlbereich nahezu stündlich neu ausbalanciert werden muss. Lichtverhältnisse, Temperaturen, Stimmungen und Gedanken werden stets unterschiedlich wahrgenommen und bewertet. Haben Sie sich vor einer Stunde noch wohlgefühlt mit dem Alleinsein, Ihrer Kuscheldecke und dem strömenden Regen vor den Fenstern, sind Sie nun auf einmal deprimiert, weil niemand nach Ihnen fragt, es eigentlich doch ganz schön wäre, unter Menschen zu sein, und der Regen kommt Ihnen vor wie die ungeweinten Tränen Ihres Lebens.

Diese Wechselhaftigkeit ist nicht nur für Sie anstrengend, sondern auch für Ihr Umfeld. Von außen ist es schlichtweg nicht zu sehen, was in Ihnen vorgeht. Ihre vielschichtige Wahrnehmungsfähigkeit hat aber nichts mit Wankelmut oder gar Unstetigkeit zu tun, sondern ist lediglich Ausdruck einer Vielfalt von Interpretationsmöglichkeiten, die Sie wahrnehmen können.

Das zweite Kriterium, welches Hochsensible von Normalsensiblen unterscheidet, ist die Neigung zur Überstimulation. Unter Überstimulation verstehe ich den Zustand, in dem Ihnen alles zu viel wird, Sie nervös und fahrig werden und Ihnen die kleinsten Erfordernisse des Alltags schwerfallen. Überstimulation fängt schon bei ganz kleinen Dingen an, wie zum Beispiel dem Richten des Frühstücks für die Familie.

Viele hochsensible Mütter haben mir berichtet, dass sie sehr früh aufstehen, um in aller Ruhe das Frühstück vorbereiten zu können, und diese Zeit regelrecht brauchen, bevor der Sturm des Alltags über sie hereinbricht. Schon ein Kind, welches sich unerwartet früh meldet, bringt die hochsensible Mutter aus ihrer Komfortzone und kann überstimulierend wirken.

Bei sehr hochsensiblen Menschen kann jede Begegnung auf der Straße, jede Tätigkeit, jedes Gespräch überstimulierend sein. Wenn jemand überstimuliert ist, ist er nicht mehr in seiner Ruhe und kaum in Kontakt mit seiner Kraft. Überstimuliert zu sein, schwächt und es fühlt sich an wie ein Gewitter im Kopf und wie eine Konfusion im Herzen. Bei starker Überstimulation können Sie nicht mehr klar denken, reagieren gereizt und ungehalten und sind oft ein Rätsel für sich selbst und Ihre Umwelt. Die Tendenz, überstimuliert zu sein, ist allgegenwärtig für Hochsensible und Teil ihres Alltags.

Das dritte Kriterium hochsensibler Menschen besteht im langen Nachhallen. Alles, was Sie erleben, wirkt in Ihnen lange nach. Ihr Organismus ist wie ein Speicher, in dem alle Situationen, alle E-Mails, Telefonate und Gespräche gesammelt werden und dort mitunter wochenlang verbleiben, bis sie verarbeitet sind. Deshalb kann es sein, dass Ihnen lange ein unbedachtes Wort aus einer E-Mail nachläuft oder Sie sich noch lange darüber Gedanken machen, warum die Nachbarin wohl so kurz angebunden gewesen sein mag. Letztlich werden Sie auch Ihr eigenes Verhalten ständig auf Korrektheit überprüfen und sehr damit beschäftigt sein, sich Szenarien für »besseres« Verhalten auszudenken.

Das vierte Kriterium der Unterscheidung ist die stark ausgeprägte individuelle Wahrnehmungsfähigkeit. Jeder Hochsensible kann etwas anderes besonders stark wahrnehmen. Auch wenn sich im Grunde genommen die meisten Hochsensiblen mit ähnlichen Problemen konfrontiert sehen, so sind die individuellen Unterschiede doch sehr stark. Auch die Stärke der Empfindungen kann variieren. Und es gibt auch Menschen, die punktuell in einem Bereich sehr stark wahrnehmungsfähig sind, dafür aber ansonsten normalsensibel durchs Leben gehen. Die Bereiche, um die es hier geht, umfassen Geruch, Berührungen, Farben/Gestaltung, Geräusche und Stimmungen.

image3.   Der Einfluss des Umfelds

Forschungsergebnisse belegen, dass ca. 15 bis 20 Prozent aller Menschen hochsensibel sind, unabhängig vom kulturellen Hintergrund.3 Hochsensible Menschen dürfte es immer schon gegeben haben, nur wurde jeweils unterschiedlich mit der Eigenschaft der Sensibilität umgegangen. Es ist leicht vorstellbar, dass es einen Unterschied macht, ob Sie in einer Gesellschaft leben, in der Sensibilität ein hoher Wert ist und geschätzt wird, oder ob Sie in einem Umfeld zu Hause sind, in dem eher Härte und Durchsetzungsfähigkeit als Maßstab für ein geglücktes Leben gelten. Es gibt vergleichende Studien, aus denen hervorgeht, dass sensible Kinder in China in der Klassenhierarchie ganz vorne stehen, während in Kanada die sensiblen Kinder am wenigsten geschätzt werden.4 In unserer mitteleuropäischen Gesellschaft beobachte ich beides: Grundsätzlich gilt auch hier, dass Sensibilität an sich kein hohes Ansehen genießt, es sei denn, man ist anerkannter Künstler und kann sein Geld damit verdienen. Aber der normalbegabte Mensch ohne besondere künstlerische Ambitionen, der einfach nur besonders sensibel ist, wird leicht als »Mimose«, »Weichei« und Ähnliches bezeichnet. Immer noch sind viele Menschen, darunter auch viele Lehrer, der Ansicht, man müsse die Kinder auf das »ach so harte Leben« vorbereiten und ihnen ihre Sensibilität abtrainieren. Wie aber will man einem Birnbaum beibringen, Äpfel zu produzieren? Egal, was man mit ihm anstellt, er wird immer Birnen hervorbringen. So verhält es sich auch mit der Hochsensibilität. Eine angeborene Veranlagung wird man auch mit größter Anstrengung nicht wegbekommen können. Jedoch wird es natürlich einen Einfluss auf die Sensibilität haben, wie man mit ihr umgeht. Erlebt ein Kind, dass es in dieser Besonderheit nicht geschätzt wird und irgendwie anders sein sollte, als es ist, wird es sich entweder rebellisch verhalten oder sich ganz in sich selbst zurückziehen. Auf jeden Fall aber wird es versuchen, nicht sensibel zu erscheinen, koste es, was es wolle. Werden diese Kinder dann zu Erwachsenen und bekommen selbst Kinder, dann kann es sein, dass ihre angeborene Sensibilität, die sie jahrzehntelang gut kontrollieren konnten, sich zurückmeldet in Form von Überstimulation, Gereiztheit, Nervosität und ähnlichen Symptomen. Oft merken Erwachsene erst im Kontakt mit ihren eigenen Kindern, wie sensibel sie wirklich sind und eigentlich immer schon waren.

Andererseits gibt es seit einigen Jahren auch immer mehr Anzeichen dafür, dass sich eine Wandlung im herrschenden Wertesystem ankündigt. Die zahlreichen Bücher, die in den letzten Jahren zum Thema Hochsensibilität erschienen sind, legen ein Zeugnis davon ab. Immer mehr Menschen erkennen den hohen Wert sensibler Menschen und immer mehr Betroffene versuchen, ihr Leben hochsensiblengerecht zu gestalten. Für Hochsensible, die in Mitteleuropa leben, stellt sich momentan die Aufgabe, ihre Veranlagung zu akzeptieren und auf eine stimmige und selbstverständliche Weise zu leben. Kein leichtes Unterfangen, wenn man bedenkt, dass Sensibilität zwar im privaten Rahmen durchaus Anerkennung findet, im öffentlichen Raum (Schulen, Kindergärten, Wirtschaft, Politik, Beruf) allerdings wenig bis gar nicht. Der einzige öffentliche Bereich, in dem Sensibilität in einem gewissen Maß toleriert oder sogar erwünscht wird, ist die Religion. Als Seelsorger oder Pfarrer wird Einfühlungsvermögen vorausgesetzt. Beratungsgespräche und Predigten verlangen eine Differenziertheit in der Wahrnehmung. Als einfaches Gemeindemitglied hochsensibel zu sein und kein Forum des Ausdrucks dafür zu finden, ist hingegen vielfach nicht einfach.5

Lassen Sie mich noch einmal zusammenfassen: Hochsensibilität ist eine angeborene Veranlagung, die sich dadurch äußert, dass die Betroffenen innere und äußere Reize sehr viel stärker wahrnehmen als Normalsensible. Es gibt vier Unterscheidungskriterien, die Hochsensible von Normalsensiblen unterscheiden: die schmale Komfortzone, die Neigung zur Überstimulation, das lange Nachhallen und die individuell stark ausgeprägte Wahrnehmungsfähigkeit.

Ein wichtiger Hinweis darf hier nicht unerwähnt bleiben: Die meisten Hochsensiblen scheinen introvertiert zu sein, man spricht von einer Verteilung von 70 % zu 30 %, also 70 % introvertierte und 30 % extravertierte Hochsensible.6 Dementsprechend richten sich die meisten Bücher an Introvertierte. Auch in diesem Buch wird größtenteils von Introvertierten die Rede sein. Aus diesem Grund ist es mir jetzt ein Anliegen, auf die Besonderheiten extravertierter Hochsensibler hinzuweisen.

Es scheint zum Beispiel so zu sein, dass sich extravertierte HSP (so die gebräuchliche Abkürzung hochsensibler Personen) leichter damit tun, soziale Kontakte herzustellen und aufrechtzuerhalten. Sie scheinen sich auch besser in Gesellschaft entspannen zu können. Sie haben vielleicht auch weniger Mühe mit Smalltalk und sind auf den ersten Blick möglicherweise gar nicht als hochsensibel erkennbar. Bei Extravertierten findet die Überstimulation nicht so sehr in Folge sozialer Kontakte statt, sondern ist möglicherweise mehr sachbezogen (zu viele Projekte). Die Eigenschaft, gut mit anderen Menschen in Kontakt zu sein, mag für introvertierte HSP sehr erstrebenswert erscheinen – gerade Mütter wünschen sich oft, leicht mit anderen Müttern in Kontakt zu kommen und sich auszutauschen.