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Bestell-Nr. 395.331

ISBN 978-3-7751-7087-1 (E-Book)

ISBN 978-3-7751-5331-7 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:

CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

© der deutschen Ausgabe 2011

SCM Hänssler im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, 71088 Holzgerlingen

Internet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: info@scm-haenssler.de

Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:

Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, © 1980 Katholische Bibelanstalt, Stuttgart.

Umschlaggestaltung: gestalterstube, Arne Claußen

Titelbild: shutterstock.com

Satz: Breklumer Print-Service, Breklum

Für Ramona und Stefan Klinger. Eure Freundschaft bedeutet mir sehr viel. Es ist ein großes Geschenk, euch zu kennen.

Damaris Kofmehl

Für Patrick Matzke und seine Familie. Du bist mir sehr kostbar, mein kleiner Bruder, und ich bin glücklich, ein Teil deiner Familie zu sein.

Demetri Betts

Inhalt

1 Rache

2 Hinter Gittern

3 Ein unangenehmes Gespräch

4 Überraschender Einsatz

5 Spiel mit dem Feuer

6 Schulgeflüster

7 Erinnerungen im Dunkeln

8 Trügerische Freundschaft

9 Der Preis der Freiheit

10 Unerwarteter Besuch

11 Entführt

12 Lagebesprechungen

13 Der letzte Tag bricht an

14 Ein leerer Akku und Natriumsulfat

15 Der weiße Druide

16 Noch eine Vision

17 Ein kühner Plan

18 Der Ausbruch

19 Die Übergabe

20 Das Geräusch

21 Tödliche Aufregung

22 Mitternacht

23 Jack und Jenny

Endnoten

1 Rache

Buster knallte die Tür so heftig hinter sich zu, dass die Fenster vibrierten.

»Es reicht!«, knurrte er mit bebenden Nasenflügeln. »Nicht mit mir! So nicht!«

»Buster? Jungchen, bist du das?«, hallte eine tiefe, rauchige Stimme aus dem oberen Stockwerk.

»Ja, Mama!«, rief Buster deutlich verärgert zurück. Er schob sich seine fettigen braunen Haarsträhnen aus dem Gesicht und stapfte durchs Wohnzimmer in die Küche. Dort blieb er einen Moment mit geballten Fäusten stehen und starrte dumpf vor sich hin. Sein Brustkorb bewegte sich heftig auf und nieder. Dann, wie aus dem Nichts, schrie er laut auf und schlug die Fäuste mit voller Wucht gegen den Küchenschrank. Das Geschirr darin schepperte.

»Buster?!«, krächzte die gehässige Stimme von oben, und als Buster nicht antwortete, erklang ein Glöckchen, das noch nerviger war als die für eine Frau viel zu tiefe Stimme und sich anhörte, als riefe die Herrin ihren Diener. Buster schnaubte und fluchte vor sich hin. Er verließ die Küche und stieg die quietschende Treppe hoch. Oben angekommen schlurfte er nach links durch den düsteren Korridor. Die Dielen knarrten. In diesem alten Landhaus knarrte und quietschte so ziemlich alles. Außerdem blätterte die Tapete von den Wänden, das Dach war undicht, und an der Außenfassade machte sich immer mal wieder ein Specht zu schaffen und hackte große Löcher in die Rückwand.

Buster öffnete die hinterste Tür und betrat eine miefende, verrauchte Kammer. In einem Bett neben dem Fenster lag eine Frau. Eine sehr massige Frau. Ihr Körper war ein einziger schwabbeliger Fleischberg, der in einem grauen Trainingsanzug steckte. Ihr Hals war nichts weiter als eine Fettkrause. Sie hatte ein blasses, aufgedunsenes Gesicht, und durch das ständige Liegen war ihr graues, ungepflegtes Haar ganz platt gedrückt. Unzählige Kissen stützten ihren Rücken, damit sie halbwegs sitzen konnte. In ihrem rechten Mundwinkel hing eine Zigarette. Mit den wurstigen Fingern ihrer linken Hand hielt sie ein kleines Messingglöckchen fest, das sie bei Busters Eintreten griffbereit auf den Tisch neben ihrem Bett zurückstellte.

»Ich hab Durst«, sagte sie in ihrem sehr ausgeprägten Dialekt, der typisch war für die Leute der West Smoky Mountains. »Wo ist dein Bruder?«

»Ich weiß es nicht, Mama. Vielleicht buddelt er ein Loch im Boden, keine Ahnung. Ich bin eben erst nach Haus’ gekommen.«

Buster nahm den Glaskrug, der auf dem Tisch stand, und schenkte der Mutter den kleinen Rest Limonade in ihr Glas ein.

»Ich mach dir neue«, brummte er und latschte mit dem leeren Krug Richtung Tür.

»Was verschweigst du mir?«, fragte Mrs Hicks, als ihr erwachsener Sohn bereits den Türgriff in der Hand hatte. »Ich kenn dich doch. Was ist es?«

Buster blieb stehen. »Nichts, Mama.«

»Deine Mama kannst du nicht täuschen, Jungchen. Sieh mich an. Ich hab gesagt: Sieh mich an!«

Buster drehte sich grummelnd um. Seine Erscheinung hatte etwas von einem Gorilla, wie er so mit hängenden Schultern, Stoppelbart, gelben Zähnen und Bierbauch dastand.

»Also?«, hakte seine Mutter nach. »Was hast du mir zu beichten? Hm?!«

Buster seufzte. »Ich wurde gefeuert«, gestand er schließlich widerwillig und senkte automatisch den Blick. »Sie haben mich fristlos entlassen, Mama!«

»Was?!«, raunzte ihn die dicke Frau an, und ihre Augen schwollen auf die Größe von Golfbällen an. »Das darf doch nicht … komm her! KOMM SOFORT HER!«

Wie ein reumütiger Hund näherte sich Buster dem Bett.

»NÄHER!«, befahl sie, und obwohl Buster wusste, was jetzt kommen würde, beugte er sich über sie und wartete, bis sie ihm eine saftige Ohrfeige verabreicht hatte.

»WAS HAST DU DIESMAL AUSGEFRESSEN, BUSTER? HM?!«

»Nichts, Mama! Gar nichts hab ich ausgefressen«, antwortete Buster und hielt sich die Wange.

»LÜG MICH NICHT AN! ICH KENN DICH!«, keifte sie. »Hast du wieder was mitlaufen lassen wie bei deinem letzten Job, hm?! Wie bitte schön soll’n Rabbit und ich hier über die Runden kommen, wenn die dich noch mal ins Gefängnis stecken?! Soll’n wir Gras essen wie die Kühe oder was?! Du hast eine Familie zu ernähren, Buster!«

Sie nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette und blies den Rauch nervös aus Mund und Nase. Wohl war sie durch ihre Fettleibigkeit körperlich ans Bett gebunden, doch das hinderte sie nicht daran, sich aufzuführen wie ein Drache. Und wenn sie schlechte Laune hatte – was eigentlich fast immer der Fall war – konnte es schon mal vorkommen, dass ein Teller mit Essen oder ein Glas durch die Luft flog.

»Mama, ich hab nichts gestohlen! Ich schwör’s!«, sagte Buster und trat einen Schritt zurück, um außer Reichweite ihrer Arme zu sein. »Ich hab mich geändert! Du weißt, dass ich mich geändert hab! Es war schwer genug, nach zwei Jahren Knast wieder einen Job zu kriegen. Ich bin ein guter Arbeiter, Mama! Das musst du mir glauben!«

»Und warum haben sie dir dann gekündigt? Kannst du mir das mal verraten, Jungchen?!«

»Die Lobby der Bank war nicht spiegelblank gebohnert, und mein Chef hat gesagt, es sei meine Schuld. Dabei war’s nicht meine Schuld. Der Jonny war heute mit der Lobby dran. Nicht ich.«

»Und warum hast dann nichts gesagt?«

»Hab ich ja. Aber er hat mir nicht zugehört. Er sagte, ich solle sie gefälligst noch mal fegen. Schließlich wär’n wir hier nicht im Zoo, sondern in einer Filiale der Lamoure Investment Bank, und ich würd’ mit meinem schlampigen Putzdienst dem Image der Bank schaden. Und dann hat er gesagt, ich wär ein Hillbilly und ich hätt’ in einer so noblen Bank sowieso nichts verloren. Es wär’ besser, ich würd’ in die Höhle zurückgehen, aus der ich gekrochen wär’.«

Die Mutter sah ihren Sohn mit offenem Mund an.

»Das hat er gesagt?«

»Ja, Mama, das hat er gesagt.«

»Er hat dich einen Hillbilly genannt?«

Buster nickte. Die teigigen Wangen der Mutter begannen zu zittern vor Erregung. Buster sah ihr an, dass sie gleich explodieren würde.

»Niemand«, knurrte sie, und das käsige Weiß in ihrem Gesicht wich einem dunklen Rosa. »NIEMAND nennt MEIN Jungchen einen Hinterwäldler! Dein Vater – Gott hab ihn selig – würd’ sich im Grab dreh’n, wenn er das hör’n würd’! Komm her, Buster! KOMM HER!«

Zögerlich trat Buster wieder neben ihr Bett, darauf gefasst, dass sie erneut ausholen und ihn bestrafen würde, aus welchem Grund auch immer. Bei seiner Mutter wusste man nie so genau, was als Nächstes passierte. Doch sie gab ihm keine Ohrfeige. Stattdessen packte sie seinen Arm, zog ihn so dicht an sich heran, dass er ihren rauchigen Atem riechen konnte, und verkündete unmissverständlich: »Hör mir zu, mein Jungchen! Hör mir gut zu: Das lässt du nicht auf dir sitzen! Du bist ein anständiger Junge, und niemand hat das Recht, dich derart zu beleidigen und dir deinen Job zu nehmen! Niemand legt sich mit den Hicks an, niemand, ist das klar?!«

Buster nickte eifrig. »Ja, Mama.«

»Du wirst dir jeden Cent zurückholen, um den sie dich betrogen haben! Jeden Cent, hast mich verstanden?!«

Wieder nickte Buster getreulich. »Ja, Mama. Aber …«

»Die Herrschaften denken, sie wär’n was Besseres als unsereiner? Na schön! Ich sag dir was, mein Jungchen!«

Ihre Augen spuckten regelrecht Feuer, während sie ihren Sohn noch näher zu sich heranzog und seinen Arm dabei wie in einem Schraubstock festhielt. »Es wird ihnen noch bitter leidtun, dass sie dich rausgeschmissen haben! Oh ja, das wird es! Sie werden dafür bezahl’n, das schwör’ ich, so wahr ich in diesem Bett lieg! Lamoure Investment Bank wird bezahlen, was dir zusteht! Was UNS zusteht! Und zwar mit Zinsen!«

»Aber Mama, wie stellst dir das vor? Ich kann doch nicht zum Chef zurückgeh’n und ihm sagen … Was soll ich ihm denn sagen?«

»Gar nichts sollst du sagen! Handeln sollst du!«, schrie ihn seine Mutter mit nasser Aussprache an und ließ ihn los. »Du bist doch im Knast gewesen, nicht ich! Also hör auf, dich wie ein kleiner Junge aufzuführ’n und tu was!«

»Aber Mama …«

»NICHTS ABER! LASS DIR WAS EINFALL’N! VON MIR AUS RAUB DIE BANK AUS! NIMM DEN BANKDIREKTOR ALS GEISEL! MIR DOCH EGAL! HAUPTSACHE, DU BRINGST MIR MEIN GELD NACH HAUS’! HAB ICH MICH KLAR AUS’DRÜCKT?!«

»Ja, Mama«, murmelte Buster ergeben.

»UND JETZT GEH UND MACH MIR NEUE LIMONADE!«

»Sofort, Mama.«

Er entfernte sich eilends und ging zur Tür. Er öffnete sie, trat in den Flur hinaus und blieb noch einmal stehen.

»Aber Mama, meinst du nicht …«

»SEI KEIN WASCHLAPP’N! TU, WAS ICH DIR SAG!«, rief sie, und gerade noch rechtzeitig konnte Buster die Tür hinter sich zuziehen, bevor der metallene Aschenbecher von innen dagegen knallte. Buster ging nach unten, um neue Zitronenlimonade anzurühren. Als er die Küche betrat, wäre er beinahe über jemanden gestolpert, der wie ein kleines Kind auf dem gekachelten Boden kauerte.

»Rabbit? Was zum Teufel machst du da?«

»Ich f…fang eine Maus«, klärte ihn der Bursche am Boden auf. »Ich h…hab ihr ein Stück Käse hingelegt, um sie anzulocken.« Er deutete mit dem Finger in eine Ecke, wo tatsächlich ein winziges Stück Käse lag.

Buster verdrehte die Augen und trat seinen Bruder mit dem Schuh in den Hintern. »Steh auf, Rabbit. Mama braucht neue Limonade.«

Rabbit rappelte sich umständlich auf. Er war etwas größer als sein älterer Bruder, Mitte zwanzig, sehr schlank, hatte kurzes rotes Haar und Sommersprossen auf seinem knochigen Gesicht. Er hatte leicht abstehende Ohren, und wegen seiner beiden auffallend großen und etwas schiefen Vorderzähne wurde er von allen nur Rabbit genannt. Er trug einen grauen Rollkragenpullover und eine blaue Latzhose.

»Und w…wenn die M…Maus kommt?«, fragte er und seine blauen Augen leuchteten auf. »Ich h…hab sie gesehen. Ich glaub’, sie w…will mit mir spielen.«

Buster drückte Rabbit den Glaskrug in die Hand. Er hatte grad gar keinen Nerv für das kindliche Getue seines Bruders. »Hier. Limonade. Jetzt.«

»Aber …«

»Jetzt mach schon!«

»Ja, Buster.«

Rabbit füllte den Krug mit Wasser und Eiswürfeln, mischte Limonadenpulver dazu und huschte davon. Buster blies hörbar die Luft aus, holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank und setzte sich. Grübelnd blickte er vor sich auf den roten Küchentisch und dachte angestrengt über die Worte seiner Mutter nach. Sie hatte ja recht. Sie hatte ja so was von recht. Es war nicht fair, dass sie ihn rausgeschmissen hatten. Da gab er sich alle Mühe, sauber zu bleiben, und was war der Dank dafür? Die fristlose Kündigung. Er hatte es so was von satt! Das ganze System war doch krank! Chancen bekamen immer nur die anderen, während Leute wie er auf der Strecke blieben und so lange mit Vorurteilen zugepflastert wurden, bis diese zur Realität wurden.

Je länger er darüber nachdachte, desto größer wurde seine Wut auf den Staat, auf die Gesellschaft und auf all die feinen Herren mit ihren fetten Brieftaschen, die sich nicht im Geringsten darum scherten, dass es auch solche gab, die nicht wussten, wie sie am Ende des Monats ihre Rechnungen bezahlen sollten. Das Verlangen, es der Lamoure Investment Bank heimzuzahlen, wuchs mit jedem Schluck Bier, und die kriminellen Ideen begannen, immer gewagtere Formen anzunehmen. Seine Mutter hatte recht. Was zu viel war, war zu viel. Es war an der Zeit zu handeln. Es war an der Zeit, ein Zeichen zu setzen. Es war an der Zeit, ein für alle Mal klarzustellen, dass man so nicht mit ihm umspringen konnte. Und Buster wusste auch schon ganz genau, wen er für seinen persönlichen Racheakt um Hilfe bitten würde …

2 Hinter Gittern

Jack fühlte sich elend. Er konnte einfach nicht glauben, dass es schon wieder passiert war. Schon wieder! Er hatte gedacht, es sei vorbei. Er sei die Trugbilder endlich los! Von wegen! Noch nicht mal vierundzwanzig Stunden war er im Jugendgefängnis von Thomasville, und schon hatte der Spuk wieder begonnen. Mitten in der Mensa! Ausgerechnet dort, wo man als Neuer sowieso von allen Seiten angeglotzt wurde und eigentlich versuchen sollte, so wenig Aufmerksamkeit wie möglich auf sich zu lenken. Die Götter, Gott, das Schicksal oder was auch immer hatten es ganz eindeutig auf ihn abgesehen. Und Jack fand das überhaupt nicht lustig.

Eigentlich hatte sich der Siebzehnjährige an seinem ersten Knasttag ganz unauffällig in eine Ecke des Speisesaals verkriechen wollen. Er hatte sich mit seinem Esstablett an der Meute vorbeigeschlängelt und sich einen freien Platz gesucht. Wie an der Highschool saßen die Jugendlichen auch hier in ihren Cliquen zusammen, und wer nicht dazugehörte, durfte sich auch nicht an ihren Tisch setzen. Nur funktionierte die Gruppenaufteilung im Knast etwas anders als in der Schule. Hier gab es keine Cheerleader-, Basketballer- oder Strebergrüppchen. Es war viel eher eine Blutsfrage. Die drei stärksten Cliquen waren die Latinos, die Schwarzen und die Neonazis. Wer keiner dieser Cliquen angehörte, musste ständig auf der Hut sein, um es sich nicht mit der einen oder anderen Rasse zu verscherzen. Jack war weder darauf erpicht, sich bei einer der Banden einzuschmeicheln, noch, sich Feinde zu schaffen. Er wollte einfach in aller Ruhe seine Zeit absitzen, mehr nicht. Also hatte er sich alleine an einen Tisch gesetzt, das Getuschel und die misstrauischen, teils sogar finsteren Blicke der anderen Jungs ignoriert und zu essen begonnen. Es gab Kartoffelbrei und verkochte Karotten.

Und dann war es geschehen: Gerade, als er eine große Portion Kartoffelpüree in sich hineingeschaufelt hatte, hallten plötzlich panische Schreie durch die Halle. Jäh hob Jack den Blick, und im selben Moment raste sein Puls in die Höhe und Schweißperlen traten ihm auf die Stirn: Die Mensa war weg. Die Gefangenen auch. Stattdessen befand er sich in einer noblen Lobby mit spiegelblankem Marmorboden und hohen Säulen. Und mittendrin stand ein maskierter Mann und richtete die Waffe direkt auf seinen Kopf. Jack erstarrte. Er glaubte, sein Blut müsste in den Adern gefrieren. Langsam hob er die Hände und blickte mit schreckensbleichem Gesicht in die Mündung der Faustfeuerwaffe.

Oh Gott, nein!, dachte er, als er sah, wie der Finger am Abzug sich bewegte. Doch es war zu spät. Ein Schuss fiel. Und dann wurde alles schwarz.

Als Jack wieder das Bewusstsein erlangte, hörte er von überall her schallendes Gelächter. Er lag auf dem Boden, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, als hätte er sich soeben vor einer Explosion in Sicherheit gebracht. Das umgekippte Essenstablett lag auf seinem Rücken, und an seiner hellblauen Gefängnisuniform, in seinem Gesicht und in seinen schwarzen Haaren klebten Kartoffelbrei und Karotten. Der Tee war ebenfalls verschüttet, und fast die ganze rechte Hälfte des blauen Overalls war nass.

Was um alles in der Welt …

Ein Junge mit strohblondem Haar kniete vor ihm und blickte ihn mit großen Augen an. »Alles in Ordnung mit dir?«

Anstatt ihm eine Antwort zu geben, raffte sich Jack vom Boden auf, wischte sich das Püree aus dem Gesicht und sammelte hastig das Geschirr auf. Er setzte sich zurück an den Tisch und wäre am liebsten vor Scham in einer Erdspalte verschwunden.

Das darf doch nicht wahr sein!, schoss es ihm durch den Kopf, als es ihm dämmerte, was hier soeben passiert war. Nicht schon wieder! Bitte nicht!

Die Insassen hielten sich die Bäuche vor Lachen.

»Caramba! Was war das denn?«, rief einer aus der Latinogruppe.

»Hey, wusste gar nicht, dass wir so gefährlich aussehen!«, grölte ein kräftiger kahlrasierter Bursche von der Seite der Neonazis.

»Möchte ja sehen, was er tut, wenn ihm jemand eine richtige Knarre ins Gesicht hält!«, spottete einer von den Afroamerikanern.

»RUHE!« Das war der diensthabende Aufseher, ein gewisser Mr Woolf, ein mittelgroßer Mann mit knochigem, unfreundlichem Gesicht, der aussah, als würde er am liebsten allen eins mit dem Gummiknüppel überbraten. »RUHE DIE HERRSCHAFTEN! RUHE, HAB ICH GESAGT!«

Die Lachsalven verebbten, und die Jugendlichen beugten sich gehorsam über ihre Teller zurück. Mr Woolf kam auf Jack zu und reichte ihm steif ein paar Servietten. »Hier, Kakerlake. Damit du dich sauber machen kannst. Und anschließend wischst du die Sauerei weg. Der Mopp steht da drüben.«

Jack nahm die Papierservietten wortlos entgegen. Aus den Augenwinkeln konnte er sehen, wie die anderen Gefangenen verstohlen zu ihm herüberschielten und sich gegenseitig Bemerkungen ins Ohr flüsterten. Auch wenn er nicht hören konnte, was sie sagten, war ihm ziemlich klar, worüber sie redeten.

So ein Mist, dachte Jack. Der erste Tag, und schon bist du zum Gespött des ganzen Jugendarrests geworden. Gott, hören diese Visionen denn nie auf?

»Ignorier sie einfach«, sagte da eine helle Stimme.

Jack blickte auf. Ihm gegenüber hatte ein Junge Platz genommen. Es war derselbe Junge, der ihn vorhin gefragt hatte, ob alles in Ordnung sei. Er mochte ungefähr in seinem Alter sein, war schlank, hatte blondes, kurzes Haar und eine Menge Pickel im Gesicht.

»Was?«, fragte Jack verwirrt.

»Die Insassen, ignorier sie einfach«, wiederholte der Junge und streckte ihm die Hand entgegen. Jack fiel auf, dass der Pickeljunge mehrere neonfarbige Armbändchen an seinem rechten Handgelenk trug, auf denen die merkwürdige Abkürzung »W.W.J.D.« stand. Auf der Innenseite seines linken Unterarms befand sich ein Tattoo, bestehend aus zwei sich überschneidenden halbkreisförmigen Linien. Es sah aus wie selbstgemacht.

»Dominik«, stellte sich der Junge vor. »Ein paar nennen mich Dikki, aber eigentlich hab ich es lieber, wenn man mich Dominik nennt. Und du musst Jack sein, der Neue. Du kommst auf meine Zelle, hat man mir gesagt.« Jack ergriff seine Hand nicht. Er war damit beschäftigt, die Karotten aus dem Haar zu suchen.

»Hey, wenn du willst, können wir teilen«, bot ihm Dominik an und schob sein Essenstablett in die Mitte des Tisches. Als Jack nicht darauf reagierte, zuckte Dominik die Achseln, faltete die Hände und senkte seinen Kopf. Er bewegte die Lippen, als spräche er irgendeine Zauberformel. Jack sah ihm etwas verwundert dabei zu.

»Redest du etwa mit deinem Essen?«, fragte er, als Dominik das seltsame Ritual beendet hatte.

»Nein, mit meinem himmlischen Vater«, antwortete der mit weiser Miene. »Ich danke ihm für das Essen.«

»Ah«, meinte Jack. Das kann ja heiter werden, dachte er. Jetzt stecken sie mich auch noch zu einem Verrückten in die Zelle.

»Warum bist du hier?«, fragte ihn Dominik neugierig und schaufelte eine große Portion Karotten in sich hinein.

»Das geht dich nichts an«, gab ihm Jack zur Antwort.

»Ich hab ein Jahr wegen Ladendiebstahl gekriegt«, gab Dominik den Grund seiner Inhaftierung preis, ohne weiter bei Jack nachzubohren. »War eine total bescheuerte Sache, und eigentlich habe ich nur Schmiere gestanden. Aber das hat den Richter nicht die Spur interessiert. Mitgegangen, mitgehangen, wie es so schön heißt. Übrigens, « er deutete mit einem unauffälligen Blick zu einer Gruppe kahlköpfiger Gefangener hinüber, »du kannst von Glück reden, dass du nicht bei den Neonazis einquartiert worden bist. Du bist doch kein Neonazi, oder? Der da drüben, der Glatzköpfige mit dem Hakenkreuztattoo am Hals, der am lautesten gespottet hat, ist Pitbull. Drogenhandel. Er hat das Sagen hier drin. Vor dem nimmst du dich besser in Acht. Bei den Latinos hat Chico das Kommando. Du erkennst ihn leicht an der breiten Narbe im Gesicht. Er sitzt wegen einer Messerstecherei. Ziemlich impulsiver Kerl, leicht reizbar. Also geh ihm besser aus dem Weg. Und die Schwarzen solltest du sowieso meiden. Die nehmen immer gleich alles persönlich und suchen ständig irgendeinen Grund, jemanden zu verprügeln. Ihr Wortführer ist ein Typ namens Jimmy, sitzt wegen Raubüberfall. Also, im Grunde fährst du am besten, wenn du dich mit keinem von denen anlegst. Nicht zu vergessen Mr Woolf, der Chef der Aufseher. Ein richtiger Sadist, sag ich dir. Liebt es, uns nach Lust und Laune zu schikanieren. Übler Kerl. Sag mal, hast du wirklich keinen Hunger? Die Karotten sind etwas versalzen, aber sonst ganz o. k. Willst du probieren?«

Jack schüttelte den Kopf. »Keinen Appetit.«

»Ich will ja nicht aufdringlich sein«, meinte Dominik und stopfte sich eine gehäufte Gabel Kartoffelbrei in den Mund. »Aber was war das eigentlich vorhin?«

»Nichts«, entgegnete Jack. Er hatte keine Lust, darüber zu reden. Es war ihm peinlich, und außerdem wusste er nicht einmal selbst, was für eine Show er eigentlich abgezogen hatte.

»Das sah aber gar nicht nach nichts aus«, plapperte Dominik weiter und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Ich meine – hallo? Du hast mitten im Speisesaal die Hände gehoben, als würde dich einer mit ’ner Waffe bedrohen. Und plötzlich bist du auf den Boden gehechtet wie ein Irrer, als hätte jemand eine Handgranate nach dir geworfen. Das ist doch nicht normal.«

»Mit seinem Essen zu reden, das ist nicht normal«, hatte Jack kratzig erwidert. Dann hatte er sich erhoben und war zielstrebig durch den Speisesaal gegangen, um den Wischmopp zu holen. Aber im Grunde hatte er einfach nur weg gewollt. Was war bloß los mit ihm? Warum um alles in der Welt sah er einen maskierten Mann, der eine Kanone auf ihn richtete – und abdrückte?! Was hatte das nur zu bedeuten? Hatte er jetzt komplett den Verstand verloren?

Jenny stocherte mit der Gabel lustlos in ihrem Salat herum, den Kopf auf die linke Hand gestützt, und war mit ihren Gedanken woanders.

Jack. Immerzu musste sie an ihn denken. Gerade mal drei Wochen war es her, seit sie ihn zum ersten Mal in der Mensa der privaten Highschool St. Dominic’s gesehen hatte. Schwarzes, mit Gel zurückgekämmtes Haar. Sportlich schlank. Grüne Augen. Und ein Blick, in dem sie sich hätte verlieren können. Seither war sie hoffnungslos in ihn verliebt, obwohl sie ihm nie etwas von ihren Gefühlen erzählt hatte. Denn kaum stand er vor ihr, bekam sie weiche Knie und brachte keinen vernünftigen Satz mehr heraus. Sie hätte sich dafür ohrfeigen können. Jede Gelegenheit, die sich ihr geboten hatte, um ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen, war in die Hose gegangen. Und jetzt war er fort. Und wahrscheinlich würde er nicht zurückkehren. Mrs Jackson, die Biologielehrerin, hatte ihr heute Mittag nach dem Unterricht anvertraut, man habe ihn in die Jugendarrestanstalt nach Thomasville gebracht. Weswegen, wusste sie nicht. Und auch nicht für wie lange. Jenny schnürte es noch immer die Kehle zu, wenn sie an Freitag zurückdachte. Ein Mann, der ausgesehen hatte wie ein FBI-Agent aus irgendeinem Spionagefilm, war gekommen und hatte Jack mitgenommen. Und sie hatte nichts tun können, um ihn daran zu hindern. Es war furchtbar gewesen. Das ganze Wochenende hatte sie an nichts anderes denken können. Und jetzt, als sie wusste, dass Jack im Gefängnis war, fühlte sie sich noch elender als zuvor. Ob sie ihn jemals wiedersehen würde?

»Jenny, Liebling, reichst du mir mal das Salz?«

Jenny sah auf. Ihre Mutter, Mrs Rose Lamoure, eine schlanke Frau mit dunkelblonder, stets perfekt sitzender Dauerwelle und rosa gepuderten Wangen, blickte zu ihr herüber. »Den Salzstreuer, bitte«, wiederholte sie ungeduldig, und als Jenny ihn ihr gab, fügte sie mit bedeutungsvollem Augenaufschlag hinzu: »Heute beim Friseur hat mich schon wieder jemand darauf angesprochen, warum du letzte Woche nicht zur Benefizgala gekommen bist, Jenny.«

Jenny seufzte. »Mom, können wir die Geschichte nicht endlich abhaken? Du weißt, warum ich nicht gekommen bin. Ich hasse solche Veranstaltungen. Alle tun, als spendeten sie Geld für eine gute Sache, dabei geht es doch nur darum, von allen gesehen zu werden.«

»Also, ich fand’s toll!«, flötete Tanja, Jennys Zwillingsschwester, während sie mit der Gabel ein paar Erbsen aufspießte. »Aber du hättest sowieso nicht in diese feine Gesellschaft reingepasst, Jenny. Ich wette, du bist stattdessen in Bart’s Café gewesen und hast gehofft, Jack würde vorbeischauen.«

»Wer ist Jack?«, fragte die Mutter.

»Niemand«, sagte Jenny rasch und durchbohrte Tanja mit einem Blick, als wollte sie sie für diese Anspielung erwürgen. Jenny und Tanja waren Zwillingsschwestern, aber keine eineiigen. Sie waren grundverschieden, sowohl in ihrem Aussehen als auch in ihren Ansichten. Während Jenny sich von allem distanzierte, was mit Prunk und High Society zu tun hatte und sogar demonstrativ mit dem Fahrrad zur Schule fuhr, war Tanja das heiß begehrteste Mädchen an der Schule und legte großen Wert auf ihr Äußeres. Sie war bildhübsch, hatte die perfekte Figur, blondes, seidiges Haar und führte das Cheerleaderteam der Tigers an. Auch Jenny war überaus attraktiv, bloß trug sie es nicht so offen zur Schau wie ihre Schwester. Sie war schlank, hatte dunkelbraunes, leicht gewelltes Haar und strahlend blaue Augen.

»Sind wir jetzt durch mit dem Thema?«, fragte Jenny genervt, bevor ihre Mutter noch mehr Fragen stellte, die sie nicht beantworten wollte. »Wen kümmert’s, ob mein Platz bei der Benefizgala leer war oder nicht? Außerdem hat Dad es mir ausdrücklich erlaubt, zu Hause zu bleiben.«

»Ja, damit ich nicht den ganzen Abend deine saure Miene ertragen musste«, sagte Jennys Vater, Mr Bernard Lamoure, ein mittelgroßer Mann mit glattem dunkelbraunem Haar und Brille, und sah Jenny streng an. »Ich kenn dich doch. Am Ende hättest du allen einen Vortrag über die schmelzenden Polkappen gehalten und für deine lächerlichen Umweltaktionen geworben.«

»Dad, meine Aktionen sind nicht lächerlich!«

Jenny hasste es, wenn ihr Vater sich über ihren Aktivismus lustig machte. Sie setzte sich für die Umwelt ein, für die Natur, für vom Aussterben bedrohte Tiere, für jede Art von Ungerechtigkeit gegenüber Gottes Schöpfung. Aber ihr Vater und eigentlich ihre ganze Familie hatte nicht viel für ihre Leidenschaft übrig. Es passte einfach nicht zu ihrem luxuriösen Lebensstil. Immerhin waren die Lamoures die reichste Familie in Green Valley. Sie hatten mehrere Bedienstete und lebten in einer modernen Villa oben auf dem Hügel. Das prachtvolle Gebäude ragte wie ein Amboss über einen gewaltigen Felsen und war wegen seiner riesigen Fensterfront in der ganzen Gegend nur als »gläserne Villa« bekannt. Mr Lamoure war Inhaber der Lamoure Investment Bank und besaß sogar einen eigenen Business-Jet der Marke Cessna Citation, mit dem er von einem Geschäftstreffen zum nächsten flog. Er war nur selten zu Hause, und wenn, dann hatte Jenny das Gefühl, als wäre er trotzdem nicht da.

Jennys Vater tupfte sich mit der Serviette den Mund. »Jenny, dein Idealismus in Ehren, aber die Welt da draußen funktioniert nun mal nach etwas anderen Prinzipien als nach deinen. Es ist alles eine Frage von Leistung und Gegenleistung. Von Aufwand und Ertrag. Es ist eine simple Gleichung: Wenn ich eine Investition mache, will ich sichergehen, dass sich die Sache auch für mich lohnt. Sonst verschwende ich bloß meine Zeit und mein Geld.«

»Sich für das einzusetzen, woran man glaubt, hat keinen Preis, Dad.«

»Alles hat seinen Preis, glaub mir.« Mr Lamoure nahm einen Schluck Wein. »Irgendwann wirst du verstehen, wovon ich rede.« Er wandte sich dem Butler zu. »Sie können dann abräumen, Gordon.«

Der Butler machte eine kleine Verbeugung und sagte: »Sehr wohl, Sir. Wünschen Sie noch ein Dessert oder einen Espresso?«

»Heute nur einen Espresso«, sagte Mr Lamoure und schob sich seine Brille auf die Nasenwurzel hoch. »Bringen Sie ihn mir ins Büro. Ich muss noch arbeiten.« Er warf seiner Gattin und seinen beiden Töchtern einen kurzen Blick zu. »Entschuldigt mich bitte.«

Und damit erhob er sich und verließ den Raum. Der Butler räumte Mr Lamoures Gedeck ab. Mrs Lamoure und Tanja aßen schweigend weiter, während Jenny vor ihrem Salat saß und wieder in ihre eigene Welt abtauchte. Warum nur kam sie sich in ihrer eigenen Familie ständig vor wie eine Außerirdische? Warum gab es niemanden, der sich für das interessierte, wofür ihr Herz brannte? War es nicht genau das, wofür eine Familie da sein sollte? Um sich gegenseitig zu unterstützen und zu ermutigen? Um füreinander da zu sein? Was nützte ihnen all der Reichtum, wenn sie als Familie immer weiter voneinander wegdrifteten wie Eisschollen auf einem endlosen Ozean?

War sie denn die Einzige, die merkte, dass sie sich fremd geworden waren? Dass ihr glamouröses Leben nichts als reiner Selbstbetrug war? Dass das Streben nach Ansehen und Wohlstand sie blind gemacht hatte für das, worauf es wirklich ankam im Leben?

Jenny lauschte dem Klappern des Silberbestecks und dem Ticken der großen Wanduhr. Sie blickte auf die manikürten Fingernägel ihrer Mutter, ihr goldenes Armkettchen, das sich beim Schneiden ihres Steaks an ihrem Handgelenk hin- und herbewegte. Sie folgte dem zerschnittenen Fleischstück zu ihren rot geschminkten Lippen, dann hinauf zu dem übertrieben aufgetragenen Lidschatten und der makellos sitzenden Frisur. Und auf einmal kam ihr das alles so unecht vor. Und so bedeutungslos. Sie hatte das Leben, von dem andere nur träumten. Sie hatte einen eigenen Fernseher in ihrem Zimmer, ein Dienstmädchen, Eltern, die ihr jeden materiellen Wunsch erfüllen konnten. Und doch kam sie sich vor wie ein eingesperrter Vogel in einem goldenen Käfig. Sie war eine Lamoure. Aber manchmal wünschte sie sich, sie wäre einfach nur ein ganz gewöhnliches Mädchen. Und gerade jetzt wünschte sie es sich so sehr, dass es in ihrem Herzen wehtat.

3 Ein unangenehmes Gespräch

Das Büro der Gefängnispsychologin war trotz vergittertem Fenster etwas freundlicher als die übrigen Räumlichkeiten des Jugendarrests. An der Wand hingen moderne Bilder mit knalligen Farben, und in einer Ecke stand eine riesige Blumenvase mit künstlichen Sonnenblumen. Dr. Diana Prince war eine sehr hübsche Frau und schien fast ein wenig zu jung für ihren Job. Ihr dunkelblondes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, und die feine Brille verlieh ihr ein sehr gebildetes, aber keineswegs überhebliches Aussehen.

Jack war von einem Justizbeamten in ihr Büro geführt worden und hatte auf dem Stuhl vor ihrem Schreibtisch Platz genommen. Nachdem der Beamte den Raum wieder verlassen und die Tür von außen zugesperrt hatte, klappte die Psychologin Jacks Akte zu, die vor ihr auf dem Tisch lag, und lächelte ihn an.

»Jack Ross«, begrüßte sie ihn mit warmer Stimme, »mein Name ist Dr. Prince. Ich werde dich während deines Aufenthaltes hier psychologisch begleiten. Du hältst das wahrscheinlich für überflüssig so wie jeder, der zum ersten Mal diesen Raum betritt, aber ich schlage vor, wir machen einfach das Beste draus, einverstanden?«

Jack schwieg. Er war mit seinen Gedanken noch immer beim Mittagessen und den seltsamen Geschehnissen, die ihn um sein Essen gebracht hatten. Der Mann mit der Maske hatte so echt ausgesehen. Die Entschlossenheit in seinem Blick, die Waffe, der Schuss … Er hatte wirklich geglaubt, sein letztes Stündchen habe geschlagen. Alles war so real gewesen, genau wie bei seinen ersten Visionen.

Es war noch gar nicht allzu lange her, als dieses Phänomen begonnen hatte. Anfangs hatte Jack geglaubt, er sei reif für die Klapsmühle. Und hätte er mit einem Seelenklempner darüber geredet, hätte ihm dieser wahrscheinlich irgendwelche Pillen verschrieben oder ihn tatsächlich in eine Klinik eingewiesen. Immerhin sah er Dinge, die nicht existierten. Und das zu den unpassendsten Gelegenheiten. Doch dann hatte ihm Mr Wilson, der Hausmeister der privaten Highschool St. Dominic’s, an die er vor drei Wochen gewechselt hatte, gesagt, er sei durchaus nicht verrückt – sondern auserwählt. Dass er Dinge sehe, die sonst niemand sah, sei eine Gabe Gottes. Es seien keine Halluzinationen – sondern Visionen. Und sie hätten eine Bedeutung, er müsse nur herausfinden, welche.

»Jack? Jack!«

Die Stimme der Psychologin holte Jack wieder in die Gegenwart zurück.

»Tschuldigung«, murmelte er. »Ich war grad …«

»Mit den Gedanken woanders, ich weiß«, sagte Dr. Prince verständnisvoll. »Ist alles etwas gewöhnungsbedürftig hier drinnen. Aber das kriegst du schon hin. Außerdem bist du ja in ein paar Wochen wieder draußen.«

»Fünf«, korrigierte sie Jack. »Es sind fünf Wochen. 35 Tage, um genau zu sein. Entlassungstermin erster Januar.«

»Richtig. Vorausgesetzt, du machst während deines Aufenthaltes keinen Ärger«, ergänzte die Psychologin und musterte Jack prüfend. »In letzter Zeit hast du dir ja eine ganze Menge Ärger eingefangen, wie ich deiner Akte entnehme. Ich frage mich, warum. Warum verspielt ein intelligenter Junge wie du andauernd seine Chancen?«

Jack zuckte die Achseln. »Sie sind die Expertin, nicht ich.«

»Ich muss gestehen, Jack, du gibst mir viele Rätsel auf. Da ist einmal die Geschichte mit deiner alten Schule. Du löst einen falschen Feueralarm aus, obwohl du damit rechnen musstest, dass du deswegen von der Schule fliegst. Warum tust du so was?«

»Vielleicht wollte ich ja von der Schule fliegen«, antwortete Jack achselzuckend. Du würdest mir ja sowieso nicht glauben, wenn ich dir die Wahrheit erzählte, dachte er.

»Siehst du, das ist die Sache: Ich glaube dir nicht, dass du einen Schulverweis riskieren wolltest. Du warst im Basketballteam der Hope Valley Highschool. Du warst einer der Besten in der Mannschaft. So was setzt man nicht einfach aufs Spiel. Also muss es einen anderen Grund für dein Handeln gegeben haben. Aber welchen?« Sie machte eine Pause, um Jack die Gelegenheit zu geben, sich dazu zu äußern. Doch er sagte nichts.

»Und dann die Geschichte mit deiner Fußfessel. Du überschreitest deinen Bewegungsradius, obwohl du genau weißt, dass du dadurch im Gefängnis landest. Warum? Warum würde ein Mensch, der auch nur einen Funken Verstand hat, so etwas tun?«

Jack knetete seine Finger und warf einen flüchtigen Blick auf sein rechtes Bein, an dem normalerweise ein kleines schwarzes Kästchen befestigt war, das man ihm aber beim Eintritt in den Jugendarrest abgenommen hatte, weil es hier drinnen überflüssig war. Er trug die elektronische Fußfessel nun schon fast ein Jahr. Es war eine moderne Überwachungsmethode, die es der Polizei ermöglichte, verurteilte Straftäter jederzeit zu orten. Anstatt sie einzusperren, mussten sie vierundzwanzig Stunden am Tag einen Sender am Knöchel tragen, der aussah wie eine wasserdichte Armbanduhr. Der Sender wurde so programmiert, dass die Person sich nur in einem bestimmten Radius bewegen und zu festgelegten Zeiten wieder zu Hause sein musste. Wurde die erlaubte Zeit oder der zugestandene Bewegungsspielraum überschritten, sprang die grüne Leuchtdiode an dem Gerät auf rot, und innerhalb weniger Minuten war die Polizei vor Ort, um die Person in Gewahrsam zu nehmen.

»Es ergibt einfach keinen Sinn«, fuhr Dr. Prince fort, als Jack noch immer beharrlich schwieg. »Ich weiß, du hast ein Kind aus einem brennenden Haus gerettet. Und das ist auch der Grund, warum der Jugendrichter Gnade hat walten lassen und nicht die gesamte Bewährungsstrafe widerrufen hat. Aber das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass du zu dem Zeitpunkt, als du den Alarm an deiner Fußfessel ausgelöst hast, unmöglich wissen konntest, dass ein paar Straßen weiter ein Haus brannte, geschweige denn, dass sich in dem Haus ein sechsjähriges Mädchen befand. Ich kann es drehen und wenden, wie ich will: Ich finde einfach keine Erklärung für dein Handeln. Es gab nichts, nichts, was deine Aktion in irgendeiner Weise gerechtfertigt hätte. Und trotzdem hast du deinen Hals riskiert. Warum?«

Jack antwortete nicht. Was hätte er auch sagen sollen? Sie war Psychologin. Er konnte ihr nichts von Visionen erzählen, oder sie hätte ihn gleich in die Irrenanstalt eingewiesen.

»Jack«, sagte Dr. Prince, stützte ihre Ellenbogen auf den Schreibtisch und beugte sich etwas vor, um die Bedeutung ihrer Worte noch mehr zu unterstreichen. »Ich möchte dir eine etwas heikle Frage stellen. Du musst mir nicht darauf antworten, aber ich möchte, dass du darüber nachdenkst: Kann es sein, dass dein irrationales Handeln mit dem zu tun hat, was vor einem Jahr mit deiner Freundin Karen passiert ist? Kann es sein, dass du versuchst, dich selbst zu bestrafen für das, was du getan hast?«

Jack zuckte kaum merklich zusammen. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn. »Darüber will ich nicht reden«, sagte er leise. Seine Gesichtszüge wurden hart, und sein Blick wurde eisig.

»Das ist o. k. Ich kann gut nachvollziehen, dass es dir unangenehm ist, darüber zu reden«, meinte die Psychologin verständnisvoll. »Ich versuche bloß zu verstehen, was dich antreibt. Warum du die Dinge tust, die du tust. Es ist mein Job, zwischen den Zeilen zu lesen. Und ich habe einige Erfahrung darin, glaub mir.« Sie lächelte und wartete einen langen Moment, ehe sie fortfuhr: »Ich weiß, es läuft gerade nicht alles optimal in deinem Leben. Und wenn du hier rauskommst, wirst du wieder rund um die Uhr von den Behörden überwacht wegen deines Delikts. Aber ich glaube an dich. Ich glaube, du bist stark genug, dein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Und ich würde dir gerne dabei helfen.«

»Danke, ich komm alleine klar«, murmelte Jack knorrig. Du hast ja keine Ahnung, was damals wirklich passiert ist, dachte er. Du weißt gar nichts über mich. Gar nichts!

Die Psychologin redete weiter und stellte Jack ein paar belanglose Fragen, um sein Vertrauen zu gewinnen. Aber er blockte sie bewusst ab und gab nur sehr vage Antworten. Er brauchte niemanden, der in seiner Seele herumstocherte. Mit seiner Schuld musste er alleine fertig werden. Und mit seinem Leben auch. Kein Tag verging, ohne dass er nicht an jene verhängnisvolle Nacht zurückdachte, die sein Leben für immer verändert hatte. Und ganz egal, wie viele Menschenleben er rettete, er würde trotzdem eines Tages in der Hölle schmoren, wie sein Vater ihm immer wieder einbläute. Denn für das, was er getan hatte, gab es keine Vergebung. Das wusste Jack genau. Und wenn er manchmal des Nachts schweißgebadet aufwachte, weil er wieder davon geträumt hatte, war die Last seines Vergehens so erdrückend, dass er meinte, sein Herz müsste davon in tausend Stücke explodieren.

Du willst mir helfen?, dachte Jack, während er düster vor sich hinstarrte. Mir kann niemand mehr helfen.

Das Glöckchen auf Mrs Hicks Nachttisch klingelte penetrant.