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Line Madsen Simenstad

KÖNIGIN-MAUD-LAND
IST GEHEIM

Storys

Aus dem Norwegischen
von Ilona Zuber

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel
Dronning Maud Land bei Forlaget Oktober AS, Oslo.

Copyright © Line Madsen Simenstad

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Die Übersetzung wurde durch NORLA finanziell gefördert.

© 2019 by mareverlag, Hamburg

Covergestaltung Nadja Zobel, Petra Koßmann, mareverlag

Abbildung plainpicture / Hanka Steidle – aus der Kollektion Rauschen

Typografie (Hardcover) mareverlag

Datenkonvertierung E-Book Bookwire

ISBN E-Book: 978-3-86648-372-9

ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-610-2

www.mare.de

INHALT

Über die Liebe

Roter Riese

Königin-Maud-Land

Die Tschernobyltiere

Mein Beileid

Für Leon

ÜBER DIE LIEBE

Hennie sollte mir alles über die Liebe beibringen. Wir lagen auf einem Steg und warteten auf ein Boot, und Hennie sagte, es sei höchst unwahrscheinlich, dass es die Liebe überhaupt gebe: »Das ist ein Knall oder ein Funke zwischen zwei Menschen, der plötzlich einfach so entsteht. Aber das ist auch schon alles. Die Leute bauen Häuser und bekommen Kinder wegen dieses Knalls. Dabei ist es nur Chemie. Chemie, verstehst du, wie in der Schule. Und dann ist es vorbei, und du musst Schluss machen.«

Hennie hatte Sonnenbrand auf Armen und Beinen und war blass im Gesicht. Ich war braun, ich war schon viele Wochen hier. Wir besaßen die gleichen Pilotenbrillen. Eigentlich hatte ich beschlossen, meine nicht zu tragen, wenn Hennie da wäre, aber die Sonne schien so stark, dass ich musste. Hennie hatte nichts gesagt.

»Eine andere Sache ist, dass du nie nach den Exfreundinnen fragen darfst.«

Hennie drehte sich auf den Bauch. Das Sonnenlicht funkelte auf ihren lila Fingernägeln.

»Glaub mir, dafür wirst du mir eines Tages dankbar sein. Du darfst nie nach den Exfreundinnen fragen. Sonst machst du dich nur verrückt. Du erfährst irgendeine Kleinigkeit, und schon fängt dein Gehirn an, sich alle möglichen kranken Geschichten zusammenzureimen. Ich spreche aus Erfahrung.«

Sie rollte sich wieder auf den Rücken.

»Außerdem mögen die Jungs das nicht. Die sind nicht wie wir. Die machen Schluss und fertig. Die Exfreundinnen bedeuten ihnen nichts.«

Fast die ganzen Ferien hatte ich im Sommerhaus verbracht. Vertrocknetes Gras unter den Fußsohlen, Splitter von den Verandadielen in den Zehen, kaltes Wasser bis zu den Knöcheln. Der Sommer kam plötzlich und war warm. Dann kam Hennie. Sie war nett in diesem Sommer. Die Tage plätscherten gleichförmig dahin. Hennie und ich lagen auf einem Felsen und brutzelten in der Sonne. Oder: Hennie und ich abends auf dem Sofa vor dem Fernseher, ihre Füße über meinen Schoß gestreckt. Wir machten Waffeln und schliefen nach dem Frühstück auf der Veranda, die Dielen rochen nach Sonne. Wir spielten Karten und lasen uns gegenseitig unsere Horoskope aus Zeitschriften vor, dann fanden wir alte Zeitschriften, lasen alte Horoskope und kontrollierten, ob sie gestimmt hatten. Und jeden Tag nahmen wir uns das Rätsel in der Zeitung vor. Hennie gewann. Zwar war ich diejenige, die Bücher las, aber Hennie wusste so viel. Über römische Kaiser und Walarten, Olympiamedaillen und alte Radiosendungen.

Und jetzt war es vorbei. Uns blieb nur noch, auf das Boot zu warten, das Hennie abholen und ans Festland bringen sollte. Sie würde den Bus zurück nach Oslo nehmen, ihre Sachen packen und in eine Wohngemeinschaft ziehen. Nur zwanzig Minuten entfernt, aber dennoch.

»Und außerdem darfst du nie in ihren Sachen herumschnüffeln. Lies nie ihre Nachrichten, nicht mal, wenn sich die Gelegenheit bietet. Schalt lieber ab. Ich meine es ernst. Schnüffel nicht in alten Fotos herum.«

»Hast du das etwa getan?«

»Was denn?«

»Jonas’ Nachrichten gelesen.«

»Ich habe meine Erfahrungen gemacht. Und jetzt gebe ich sie an dich weiter. Und wenn du mal anfangen solltest zu rauchen, musst du Lavendelblätter in der Tasche haben, damit du dir die Hände damit abreiben kannst. Dann riechen deine Finger nicht.«

»Es raucht doch sowieso niemand mehr.«

Hennie rollte sich wieder auf den Bauch und schob sich die Sonnenbrille ins Haar.

»Geht nie zerstritten ins Bett. Dann kannst du nämlich nicht schlafen.«

»In Ordnung.«

»Und fangt bloß nicht an, in Babysprache miteinander zu reden. Dann könnt ihr nämlich nicht mehr damit aufhören. Ich habe Hunger. Du auch?«

»Ein bisschen.«

Hennie stand auf, streckte ihren mageren Körper und schob sich die Sonnenbrille wieder auf die Nase. Sie war muskulös und hielt sich sehr aufrecht. Vielleicht kam das von der Rhythmischen Sportgymnastik, oder RSG, wie sie es nannten. Sonntags saß ich regelmäßig auf der Tribüne in der Haslehalle und schaute zu, wie dieser drahtige Körper auf und ab über den Boden schnellte und sich verbog, als sei er aus Gummi. Hennie und vier andere Mädchen schwebten in einer Formation im Kreis herum, wobei sie lila Bänder hinter sich herflattern ließen. Dort war sie eine andere, die RSG-Hennie mit Glitzeranzug und straffem Haarknoten.

»Ich seh mal nach, was ich auftreiben kann«, sagte sie.

Hinter uns lag die kleine Küstenstadt, vor uns lagen das Meer und die Möwen. Inzwischen war ich größer als Hennie, ich trug größere Schuhe als sie. Und es war Hennie, die einen Kulturbeutel voller Tabletten hatte, nicht ich. Ich setzte mich auf und drehte mich um, sodass ich Hennie sehen konnte, wie sie den Gehweg entlangjoggte. Hennie in einem kurzen hellblauen Kleid. Hennie ohne Schuhe. Hennie, die auf mich aufpassen wollte, obwohl sie es nicht schaffte, auf sich selbst aufzupassen. Das waren die Worte unserer Mutter am Abend zuvor gewesen, als Hennie mir beibringen wollte, wie ich mir an der weiterführenden Schule die richtigen Freunde aussuchen sollte. »Andrea kommt schon zurecht. Du bist es, die lernen müsste, auf sich aufzupassen«, sagte sie. Hennie lachte nur und entgegnete: »Ja klar, Andrea ist ja so schlau.« Später am Abend saßen Hennie und ich in unseren Schaukelstühlen auf der Veranda und aßen Safari-Kekse. Hennie schmierte Aloe-vera-Creme auf ihre sonnenverbrannten Schultern, und ich sagte, dass ich jetzt einen Freund hätte. Dass er Mats heiße und so alt sei wie Hennie. Sie stellte die Aloe-vera-Tube ab und beugte sich nach vorn zu meinem Schaukelstuhl. »Du lügst«, sagte sie. Ich schüttelte den Kopf.

Hennie kam mit zwei Cola und einer Tüte Brötchen zurück.

»Sind sie noch nicht da?«

»Nee.«

Ich trank fast die halbe Cola in einem Zug aus.

»Lass ihn am Anfang ruhig ein bisschen zappeln«, sagte Hennie.

»Ja«, sagte ich.

»Reagier nicht sofort auf seine Nachrichten. Warte eine Weile, aber schick deine Antwort auch nicht genau um Punkt neun ab, sonst sieht es aus, als ob du extra dagesessen und gewartet hättest.«

»Okay«, sagte ich.

Der Wind zerrte an den Wimpeln, am Meer, an Hennies Haar und an unseren Stimmen.

»Wie ist er so? Wo wohnt er?«

»Sarpsborg.«

»Da war ich noch nie.«

»Ich auch nicht.«

»Und ihr seid euch unten am Anleger begegnet?«

»Ja.«

»Warum warst du dort?«

»Johannisfeuer. Er war mit ein paar Freunden da.«

»Und du?«

»Mit Mama.«

»Mit Mama

»Sie saß da und hat mit irgendwelchen Leuten gequatscht, da bin ich ein bisschen rumgegangen.«

»Aber was hat er gesagt? Wie seid ihr ins Gespräch gekommen?«

»Wir haben über das Feuer oder so was geredet. Er stand einfach so rum.«

»Mensch, du erzählst ja überhaupt nichts!«

Lachend warf Hennie die Arme in die Luft. Dann wurde sie ernst.

»Oder ist das nur gelogen?«

»Nein, Hennie, Ehrenwort. Das ist keine Lüge«, versicherte ich.

Ein Boot kam in Sicht, und Hennie reckte den Hals.

»Sind sie das?«, fragte ich.

Hennie schüttelte den Kopf.

»Mir ist noch was eingefallen, was ich dir sagen wollte«, begann sie.

»Aha.«

»Es hat aber nichts mit Liebe zu tun.«

»Okay.«

»An manchen Tagen darfst du dir einfach selbst nicht trauen.«

Hennie biss in ein Brötchen.

»Oder vielleicht geht es eigentlich doch um Liebe. Die Liebe zu dir selbst oder so was in der Art«, sagte sie.

»Aha.«

»An manchen Tagen denkst du nur negativen Scheiß über dich und die ganze Welt, und dann musst du lernen zu kapieren, dass das eben einer von diesen Tagen ist. Sofort beim Aufstehen! Dann kannst du dir nämlich sagen: Egal was ich heute denke, es stimmt nicht. Und dann kannst du sozusagen den ganzen Tag durchhalten. Verstehst du, was ich meine?«

»Ja, ich glaube schon.«

Ich konnte nichts dafür, dass ich die Tabletten gefunden habe. Sie hätte sie ja auch irgendwo in ihrem Zimmer aufbewahren können, aber sie lagen in ihrem Kulturbeutel im Badezimmer unterm Waschbecken. Der Kulturbeutel war nicht einmal verschlossen. Das Blut hämmerte in meinen Schläfen, als ich den Beipackzettel las, zuerst überflog ich ihn schnell und hastig, mein Blick jagte über den dünnen Papierbogen und versuchte, in irgendeinem dieser Wörter Hennie wiederzufinden, Antidepressiva, Störungen des Serotoninhaushalts, und dann las ich langsam, Abschnitt für Abschnitt, Patienten unter 18 Jahren, die derartige Medikamente einnehmen, haben ein erhöhtes Risiko für Nebenwirkungen wie Suizidversuche und Suizidgedanken; Hennie war achtzehn. Ich schüttelte die Blister aus der kleinen Schachtel heraus. Mit einem metallischen Geräusch fielen sie auf den Badezimmerboden. Einige waren voll, andere halb leer. Ich drückte eine Tablette heraus; sie war weiß und länglich und sah aus wie ein kleines Pez-Bonbon. Ich stellte mir Hennie vor, wie sie im Badezimmer des Sommerhauses jeden Morgen eine Tablette in den Mund steckte, sie mit einer Handvoll Wasser aus dem Wasserhahn hinunterspülte, sich den Mund abtrocknete und dann ins Wohnzimmer hinunterging, wo wir auf dem Sofa Cornflakes aßen und uns gegenseitig das Tageshoroskop vorlasen.

Das Erste, was ich an diesem Morgen empfand, als ich mit Hennies Tabletten in den Händen dasaß, war Eifersucht. Ich war eifersüchtig, weil ich gedacht hatte, ich wüsste alles über sie, eifersüchtig, weil die Tabletten nichts mit mir zu tun hatten, sie gehörten nur ihr, und sie nahm sie jeden Tag, jeden Tag lief sie herum und wusste davon. Und ich wusste nichts. Wahrscheinlich war das der Grund, warum ich die Tablette in den Mund steckte. Ich drehte den Wasserhahn auf, trank einen Schluck Wasser aus der Hand und sah mir im Spiegel beim Schlucken zu. Die Tablette kratzte ein bisschen im Hals. Lange blieb ich mit geschlossenen Augen im Badezimmer stehen, um nachzuspüren, ob sich irgendetwas verändert hätte, aber nichts geschah. Erst als ich in die Küche hinunterkam und Hennie draußen im Garten sah, empfand ich Mitleid mit ihr. Sie trippelte über den Rasen und machte RSG-Übungen, ohne Glitzer und ohne lila Band, nur dieser magere Körper, und mir war, als schnüre mir etwas die Luft ab. Während ich so am Küchenfenster stand und Hennie beobachtete, hätte ich am liebsten geheult. Warum war sie traurig, und warum hatte ich nichts gemerkt, und warum hatte sie mir nichts gesagt? Jetzt waren ihre Bewegungen traurig, das konzentrierte Gesicht war traurig, das Hohlkreuz, der Pferdeschwanz und ihr Lächeln, als sie mich sah, ihre Stimme war traurig, als sie in die Küche kam und sagte:

»Keine Cornflakes mehr da. Total nervig.«

Ihr Gesicht war gerötet, und Schweißflecken zeichneten sich auf ihrem T-Shirt ab. Sie leerte ein Glas Milch in einem Zug.

»Was guckst du so?«

»Nichts«, sagte ich.

»Scheißgeglotze.«

Dann ging sie die Treppe hinauf. Ich blieb in der Küche stehen und schaute in den Garten hinaus. Wenn ich die Augen schloss, fühlte ich ein schwaches Kitzeln auf der Stirn. Ich fragte mich, ob das von der Tablette kam, die ich genommen hatte, oder ob ich es mir nur einbildete. Ich nahm die Tabletten weiter. Jeden Morgen stahl ich eine aus Hennies Kulturbeutel und schluckte sie vor dem Spiegel. So teilten wir das mit den Tabletten, auch wenn Hennie nichts davon wusste. Abgesehen von einer gewissen Mundtrockenheit merkte ich nichts.

Wir setzten uns an den Rand des Bootsstegs und ließen die Beine über dem Wasser baumeln. Langsam schwamm eine Feuerqualle vorbei.

»Aber wo ist Jonas jetzt?«, fragte ich.

»Jonas? Ich weiß nicht. In einem Sommerhaus mit irgendeinem Mädchen. Keine Ahnung.«

»Also ist jetzt richtig Schluss?«

»Ja, genau, richtig richtig Schluss.«

»Ist der Knall vorbei?«

»Nein, eigentlich nicht. Aber irgendwann wäre er auf jeden Fall vorbei gewesen.«

Hennie bewarf die Feuerqualle mit Brötchenstücken. Das helle Haar wehte ihr die ganze Zeit in den Mund. Sie kramte eine Tube Sonnencreme aus ihrer Tasche hervor und schmierte sich die Schultern ein.

»Du musst dich alle drei Stunden eincremen«, sagte sie und reichte mir die Tube.

Ich verteilte Sonnencreme auf meinen Armen.

»Weißt du noch, wie wir hier früher immer Krabben gefischt haben?«, fragte sie mich.

»Mhm. Und du hast dich geweigert, sie wieder ins Wasser zurückzuwerfen.«

Hennie lachte.

»Aber das waren doch schließlich unsere!«

»Arme kleine Krabben.«

»Da ist noch was«, begann Hennie erneut.

»Was denn?«

»Du solltest nicht so irre hohe Erwartungen haben. Gib dich mit dem zufrieden, was gut genug ist.«

»So was sagen Fünfzigjährige.«

»Weil sie Bescheid wissen. Die wissen, von was sie reden.«

Ein kleines Motorboot näherte sich dem Anleger. An Bord drei Jungen und ein Mädchen. Hennie reckte den Hals und winkte. Sie knüllte die Brötchentüte zusammen und gab sie mir. Dann stand sie auf und nahm die Tasche über die Schulter. Ich blieb sitzen und lehnte den Kopf an ihre glatt rasierten Beine.

»Wie wirst du nur ohne mich zurechtkommen?«, fragte Hennie und wickelte eine Strähne von meinem Haar um ihren Finger.

»Wie wirst du ohne mich zurechtkommen?«, entgegnete ich und pikste ihr einen Fingernagel ins Bein.