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Uwe Kolbe

Mein Usedom

Abschied von Vineta

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet
diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
unter http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2014 by mareverlag, Hamburg

Covergestaltung Simone Hoschack, mareverlag Hamburg

Abbildung Simone Hoschack, mareverlag Hamburg

Karte Peter Palm, Berlin

Typografie (Hardcover) Farnschläder & Mahlstedt, Hamburg

Datenkonvertierung E-Book Bookwire

ISBN E-Book: 978-3-86648-364-4

ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-162-6

www.mare.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Literatur

Nachweise der Zitate und Anmerkungen

1

Die Sache mit diesem Vineta, das war ein ganz schöner Pfusch, nicht wahr?« Ich hatte gerade im Vorübergehen die Verglasung entdeckt, unten rechts im Tresen der Hotelrezeption, und dahinter das Hängebauchschwein, das lebende Maskottchen des Hauses. Drauf und dran, mich davorzuhocken und an die Scheibe zu klopfen, wendete ich mich stattdessen um zu dem Mann, den ich übersehen hatte: »Wie meinen Sie das? Ist doch ein schönes Hotel.« Er saß in einem dunklen Anzug da, Nadelstreifen, Zweireiher, etwas altmodisch geschnitten, und trug einen dazu passenden Hut. Ich sah, wie er die Mundwinkel verzog: »Pah, Hotel. Da können wir ja gleich von den ortsüblichen Festspielen anfangen. Ich meine Sie, Herr K., ich meine Ihren persönlichen Beitrag.« In möglichst verächtlichem Tonfall fragte ich: »Kennen wir uns?« Er lachte auf: »Na, in einem sind wir uns sicher einig. Sie nutzen die Chance dieses Usedom-Aufenthalts und räumen mal so richtig auf mit dem Sentiment, das Ihnen das Denken manchmal so schwer macht.« Ich war mit guten Bekannten verabredet zur Eröffnung ihrer neuen Galerie hier am Ort und hatte partout keine Lust auf dieses Gespräch. »Einen schönen Abend noch!«, sagte ich, ohne den Kerl eines weiteren Blickes zu würdigen. Im Hinausgehen hörte ich etwas wie: »Habe die Ehre.« So ein Quatsch, dachte ich, von wegen: Habe die Ehre, von wegen: Pfusch.

Der warme Spätsommerabend in Gesellschaft von Künstlern und Kunstfreunden fast ausschließlich aus Berlin, wie es nicht unüblich war auf der Insel, verlief erwartungsgemäß angenehm. Jede Menge schönster Esprit und Optimismus für das Unternehmen wurden über gut gefüllten Weingläsern versprüht. Zur Mitternacht stand ich wieder vor dem Hotel. Mit den Augen suchte ich den blauen Schriftzug über dem Eingang zu fixieren, schaffte es aber nicht. Ich wusste ja, was da stand. Der Name der sagenhaften, im Meer versunkenen Stadt, auf den mich der Fremde so seltsam angesprochen hatte. Im Vestibül schaute ich automatisch zu dem leeren Sessel hin. Was sollte der Unsinn mit meinem »persönlichen Beitrag«? Worin bestand der denn? Das Zimmer war okay, das Bett auch, aber ich konnte nicht einschlafen. Ich sah den Gesichtsausdruck des Kerls vor mir. Seine Augen zwinkerten mir aus der Wand gegenüber ironisch zu. »Das letzte Glas hat nicht müssen sein, mein Freund«, bildete ich mir ein zu hören. Schon stand ich neben dem Bett und begann auf und ab zu tigern. Ich kramte mein Notizbuch heraus und griff nach dem Hotelkugelschreiber. Der Mann, wer immer er war, er hatte mich am Schlafittchen gepackt, bei der Ehre. Es war offensichtlich, was er meinte. Jäh stand es mir vor Augen. Die Ostsee, die Insel, Vineta, mein Beitrag.

2

In Trassenheide war es die fünf Tage, die meine Klassenkameraden und ich dort verbrachten, dunkel. Wir schrieben Februar, da ist die Sonne dem Frühlingspunkt, der Tagundnachtgleiche, ja nicht mehr allzu fern, das lehren die Astronomie und, sollte man meinen, der Augenschein. Die Tage waren also längst nicht mehr winterlich kurz, die Nächte entsprechend nicht mehr so lang, konnten es nicht sein, die Dunkelheit überwog nur noch knapp. Doch es war dunkel und wurde höchstens dämmrig. Vielleicht bildeten wir es uns ein, weil der Mensch unserer Breiten das Ende des Winters ersehnt, die Physis um des Vitamins D und die Psyche um der antidepressiven Elemente willen? Aber das interessierte uns, eben noch Kinder, nicht. Wir nahmen etwas anderes wahr. Um uns herum, genauer gesagt: Für uns herrschte Dunkelheit. Wir Jugendlichen von vierzehn Jahren nahmen sie nicht nur als gegeben, sondern sie entsprach uns, wir genossen sie. Auf den Abend zu, zum Abend lebten wir sowieso auf. Aber es war auch tagsüber dunkel. Als wir in Wolgast ankamen und die Fußgängerbrücke betraten, lag das letzte Tageslicht auf dem Peenestrom, auf Eis und Schnee, die ihn und die teilweise verschilfte Westküste Usedoms zudeckten. Die Großstadtbälger, die wir allesamt waren, schauten interessiert in die Landschaft. Wir meinten, einen Teil der Ostsee zu überqueren, der die Insel vom Festland trennte. Wir waren bereit dafür und erlebten es auch im fraglichen Moment, nach dem Verlassen des D-Zugs in Wolgast-Hafen – schon der Name der Bahnstation! –, auf dem Weg mit Sack und Pack hinüber zur Inselbahnstation Wolgast-Fähre, wo wir einen Waggon lautstark besetzten. Auf dem kurzen Weg hatten wir einander versichert, dass wir nun über Salzwasser gingen, auch wenn es unter dem bläulichen Eis lag, uns auf die Stellen hingewiesen, wo der Wind den Schnee beiseitegefegt hatte: »Guck mal, da, guck mal, wie blau das Eis ist.« Der Weg über die Brücke war nach unserer Berliner-Gören-Meinung eindeutig einer über das Meer. Usedom war schließlich eine Insel. Beinahe hätten wir es noch einmal laut geschrien: »Das Meer, das Meer!« Es gab nur schon die Blicke hin und her, wir übten schon diese bestimmte Art gegenseitiger Kontrolle aus, und genauso eine jede und ein jeder für sich innen drin. Keiner wollte noch für so dumm gehalten werden wie ein Kind. Doch wie gesagt war es da noch ein wenig hell. Später trat Dunkel ein, erfasste uns, hüllte uns ein.

Die Jugendherberge Trassenheide war eine dunkelbraun angestrichene Holzbaracke mit einem Steinsockel, vom landesüblichen Rauputz überzogen. Wir besetzten die Zimmer mit den Doppelstockbetten links und rechts des ebenfalls braun verschalten, schmalen Ganges und warfen das Gepäck ab. Bis zum Abendbrot war noch Zeit. Die Idee, vorher ein erstes Mal an den Strand zu gehen, lag nahe. Jemand schlug es vor, alle waren sofort begeistert und brachen in losen Gruppen auf. Die Gegend erkunden, aber vor allem: nach dem Meer schauen! Mal sehen, ob es noch da wäre! So schwatzten wir auf dem Sandweg daher. Der war nicht lang. Eine Viertelstunde gingen wir unter dem inzwischen grau bezogenen Himmel, auf einer Seite von Maschendraht begleitet, hinter dem verstreut ein paar Bungalows standen unter aufgeschossenen Kiefern. Alles war winterlich leer.

Auf dem Weg musste ich innerlich das Wir verlassen oder, anders gesagt, mich vom Kollektiv verabschiedet haben. Es gab etwas, was ich nicht teilen konnte: das Herzklopfen, wenn der Weg absehbar Richtung Meer führte. Wenn es wirklich ans Meer ging. Wenn hinter Wiesen, Weiden, Feld und Wald, hinter Hütten, Häusern, Ferienheimen und Promenaden das Meer mehr als nur zu vermuten war – ich spreche von der Ostsee –, wenn es dazu kam, wenn die Möglichkeit, das Meer zu erreichen, sich zur Wahrscheinlichkeit verdichtete und schließlich, auf den letzten Metern, zum Beispiel auf der meerabgewandten Seite einer flachen, von Kiefern gesäumten Düne wie in Trassenheide, unausweichlich wurde. Wenn das Erreichen des Meeres, das unmittelbare Anschauen des Meeres gleich, sofort, jetzt stattfände, die Konfrontation mit dem Meer nicht mehr nur zu ahnen, zu ersehnen, antizipierend zu fühlen war, sondern wenn dieses kalkulierbare und doch immer neue, große Geschehen, auf nichts weiter zu treffen als auf das Meer, genauer: auf die Ostsee, sie zu erreichen, bei ihr anzukommen, hier und jetzt, geschah, in diesem Nu.

Das Ereignis des Himmels zuvor gehörte dazu. Wie er sich weitete und weitete. Wie die Horizontlinie schwand, sich zurückzog, ins schiere Nichts abkippte, wegtauchte. Wie es sehr unwahrscheinlich wurde, dass da, dort, da hinten oder vorn oder wo noch irgendein Stück gewöhnlicher Landschaft folgte. Da hatte es sich mit Geselligkeit. Da war die Einsamkeit auf der Oberfläche des Planeten gesucht. Nur ich, nur ich und das Meer. Das Meer kam in Sicht.

Jenseits des schmutzig wirkenden Strands lag eine weite schneebedeckte Fläche. Sie war von Verwerfungen durchzogen. An den Bruchlinien ragten Eiskanten auf. Das Meer war in den letzten Wochen, nach Temperaturen von unter minus zwanzig Grad Celsius, gefroren. Wir nahmen den Rand in Augenschein. Er lud zum Betreten ein. Der eine oder andere Schüler löste einen der dicken Eisbrocken, die herumlagen, aber meist wieder angefroren waren, vom Boden und warf ihn ein Stück hinaus. Es lohnte sich nicht. Wir wollten ja ein lautes Geräusch erzeugen, doch kräftig, wie die Eisschicht war, geriet es leise und stumpf. Nichts brach oder splitterte, nichts klirrte wie erhofft, zum hörbaren Beweis der eigenen Kraft. Irgendwo weit hinten oder besser gesagt vorn, da draußen war ein dunkelgrauer Streifen offenen Wassers auszumachen. Wir gingen und rutschten ein wenig auf dem Eis herum. Schneebälle zu formen und nur so zum Aufwärmen sich damit zu bewerfen, war unmöglich. Der Frost ließ den Schnee als glitzerndes Pulver zerstäuben. Auch genügte schon der kaum spürbare, sachte Ostwind, dass die ungeschützten Wangen taub wurden. Wir zogen uns zurück nach dieser ersten Begegnung und erreichten – der ganze Pulk im freiwilligen Laufschritt – das Quartier. Dort war es zum Glück mollig warm, und das allgemeine Auftauen mit roten, prickelnden Wangen mündete in fröhlichstem Herumalbern.

Am nächsten Tag ging es vormittags auf Strandwanderung, endlos unter dem grauen Himmel entlang, und nachmittags nach Zinnowitz. Die Gelegenheit zur Einkehr hinter den beschlagenen Fensterscheiben der wenigen offenen Cafés wurde genutzt, soweit das Taschengeld reichte. Heiße Zitrone war der Schlager, freiwillig hielten wir es gesund statt mit der sonst favorisierten Cola. Ich mochte die Architektur, das Laubsäge-Barock. So hatte ich die hier vielfach zu bestaunende Form der Verzierung zu bezeichnen gelernt in dem Vorort Berlins, in dem meine Großeltern lebten. Hauseingänge, Veranden, Loggien unter überragenden Dächern, manchmal ganze Fassaden mit Balkonen und Umgängen waren überwuchert von hölzernen Ornamenten. Hier hatte man sie meist weiß angestrichen, irgendwann einmal.

Für einen der Tage war, wie wir schon vor der Reise gehört hatten, der Besuch in einem Künstleratelier vorgesehen. Wir gaben nicht zu, gespannt zu sein, oder wir waren es wirklich nicht. Wir trotteten da hin. Unsere Klassenlehrerin, Frau A., mit den je nach Saison kupfern oder schwarz gefärbten Haaren, die sie stets im Dutt am Hinterkopf trug, was dem ganzen Kopf etwas von einem schmalen Tier gab, sie hatte uns erklärt, um wen es sich handelte. Der Maler sei sehr bedeutend. Er lebe hier schon sehr lange. Er sei weit über die Insel hinaus bekannt. Hier auf Usedom jedenfalls sei er die berühmteste lebende Persönlichkeit. Seine Bilder würden die Insel sehr schön abbilden. Und sein Haus, das sei eine extra Überraschung. Hauptsache, der hat eine funktionierende Heizung, meinten wir auf dem Weg, zwei Stationen mit der Bahn nach Zempin und dann zu Fuß nach Lüttenort, wie das Anwesen schön norddeutsch hieß. Wir sprachen es mit einem offenen, hellen »o«, das wir über das »r« weg dehnten, und bildeten uns so ein, den landschaftlich angemessenen Klang zu finden. »Meeklenburgisch« nannten wir das, weil wir keine ignoranten Berliner sein, sondern hören lassen wollten, dass wir es besser wussten. Der Begriff Pommern war verpönt, auch auf dem vorpommerschen Grund, auf dem wir standen. Was einst Pommern hieß, war hierorts zu einem von der Geschichte überholten Etwas erklärt worden. Schon der Klang des Worts beschwor Hinterwäldlerisches herauf. Anhand der Städte gleich jenseits der nahen polnischen Grenze wurde es deutlich. Swinemünde zu sagen ging aus irgendeinem Grund, aber Stettin musste unbedingt bei seinem polnischen Namen genannt werden. Wir klugen Nachgeborenen fanden das übrigens korrekt. Das Stettiner Haff war von der Landkarte verschwunden. Die aus dem Schulunterricht bekannte »Oder-Neiße-Friedensgrenze« erklärte alles, zurückgeblickt wurde nicht. Die Ostsee war das Meer des Friedens. Pommerland war abgebrannt, das immerhin wussten wir vom Käfer unklarer Herkunft zu singen, wenn uns sommers ein Marienkäfer auf die Fingerspitze klomm oder, sehr selten, ein Maikäfer. Was genau mit dem Liedchen gemeint war, blieb im Dunkeln.

Das Grundstück mit dem Atelier befand sich auf der schmalsten Stelle der Insel, wurde uns erklärt. Man könnte fast herüberspucken über den schmalen Streifen Lands – so viel war anzunehmen, wenn auch nicht genau zu sehen oder einmal auszuprobieren. Das Achterwasser lag vor uns unter Eis und Schnee, die See irgendwo jenseits von Bahndamm und Straße. Unter der grauen Windstille war nicht zu ahnen, dass es hier die Insel schon einmal durchtrennen konnte, wenn bei starkem Nordost schwere See über das Land kam. Knapp einhundert Jahre bevor wir hier halbwegs trockenen Winterschuhs Richtung Künstleratelier stapften, war das zweimal hintereinander geschehen. Aber so genau hatte uns niemand einweihen wollen oder können. Mit dem guten Willen wohlerzogener Kinder betrachteten wir den S-Bahn-Waggon, der vor vielen Jahren hierher verfrachtet worden war und als Kern des Anwesens in dem verschneiten Garten stand. Dass er 1933 dort installiert worden war, hatte auch niemand erwähnt. Die Jahreszahl hätte uns aufhorchen lassen, wäre einer Erklärung bedürftig gewesen. Damals jedenfalls hatte der Künstler den Waggon in Berlin erstanden und es irgendwie vermocht, ihn ohne Fahrgestell hierhertransportieren zu lassen. Nun standen wir da. Nun saßen wir in dem Atelier, über dessen Tür TABU stand, um ungebetene Gäste abzuschrecken. Wir waren trotzdem hereingebeten, das Treffen war vorher arrangiert worden. Wir schauten die Bilder an, aufgestellt wie zu einer Ausstellung. In Erinnerung habe ich keine Persönlichkeit, ob bedeutend für die Insel oder darüber hinaus oder überhaupt nicht. Und doch ahne ich, dass wir andächtig dort saßen. Otto Niemeyer-Holstein war damals 75 Jahre alt und eine imposante Erscheinung. Die Aura des Künstlers füllte den Raum und erzeugte Zurückhaltung. Die Bilder nun, sie bildeten etwas ab, das da draußen zu anderen Jahreszeiten anders aussah oder überhaupt erst vorhanden war: Blumen und Sträucher im Garten, die Küste, die Bäume. Mal war es auch eine Figur oder ein Gesicht, dort auf der Staffelei.

Wieso hatte der Vierzehnjährige, als der ich hier unter den Gleichaltrigen saß, einen so kritischen Blick? Er hatte ihn. Undankbar. Noch nicht reif. Bis zu der Zeit, was hatte ihn erreicht an Kunst? Was hatte er schon gesehen, das Maßstäbe prägen konnte? Vor allem: Ging ihm schon etwas nahe? Die dunkel wirkende Tradition dessen, was galt: »Der Mann mit dem Goldhelm«, »Die Torwache«, »Toledo im Gewitter«? Eine Sammlung von sogenannten Zigarettenbildern, zu denen es kein Album gab, war auf mich gekommen. Sie bildete vor allem den Bestand deutscher Sammlungen vor dem Zweiten Weltkrieg ab und prägte meine naive Ikonografie. Vor Originalen, denjenigen, die nach dem Krieg im Osten verblieben oder auf der Museumsinsel wiederaufgetaucht waren, hatte ich bisher selten gestanden. Zu Hause saß ich manchmal an dem ausgedienten Esstisch in meinem Zimmer, den drei Zentimeter hohen Stapel im Postkartenformat vor mir. Oder, wahrscheinlicher, ich lag auf dem Boden, den Stapel zerlegend nach Motiven, in einzelne Bilder und schließlich in einen nicht definierten Haufen des Uninteressanten. Ursprünglich so kategorisierte Bilder wechselten in andere Stapel hinüber oder in ein Zwischenreich, wo sie noch einmal angeschaut wurden. Einzeln liegende Reproduktionen, denen das Interesse galt: die Auferstehung vom Isenheimer Altar mit ihren seltsamen Farben oder die Kreuzigung von demselben mit der manieristischen Fingerhaltung des Täufers Johannes. Die »Maria im Ährenkleid« aus der Hamburger Kunsthalle in ihrer Anmut. »Die Erschaffung der Tiere« des Meisters Bertram, auf der Gott als leutseliger kleiner Mann auftritt, der sich vor den Kreaturen verbeugt. »Der Raub der Töchter des Leukippos« von Rubens, dieses viele männliche und weibliche Fleisch aus der Alten Pinakothek, von desselben Malers »Bathseba am Brunnen« zu schweigen, deren Original sich zur Zeit der Reproduktionen wie heute in Dresden befand, gleich der »Sixtinischen Madonna«, die dem Jungen dagegen entrückt und uninteressant blieb. Reproduktionen in Schulbüchern und Zeitschriften spielten auch eine große Rolle. Und es gab Bilder, die er sich schon »übergesehen« hatte oder gleich als langweilig empfunden: Was Meer und Strand betraf, lachte er mit den Klassenkameraden von Anfang an über ein gewisses »Paar am Strand«. Zugleich schaute er Menzels »Eisenwalzwerk« durchaus genauer an, das zum Beleg für historische Zustände und ihre zeitgenössische künstlerische Darstellung verkommen war und dessen Großartigkeit dennoch aus der letzten Ecke des Geschichtsbuchs hervorschien. Das Kunstwerk behauptete sich dagegen, dass es hergenommen und benutzt wurde als Illustration einer bestimmten Epoche und einer ganz bestimmten Betrachtung derselben.

Van Gogh kannten wir selbstverständlich auch schon. Wo waren wir ihm begegnet? Im Westfernsehen! Kirk Douglas war schneller als der Kunstunterricht gewesen, wie so oft hatte Hollywood die Tür aufgestoßen in Welten, die sich danach erweiterten. Später nämlich hatten wir aus der Reihe »Welt der Kunst« den Band mit Bildern in der Hand gehalten, dessen Text wir gleich den anderen kunstwissenschaftlichen jener Jahre schon aus Faulheit ignorierten. Niemeyer-Holstein, in dessen Atelier wir noch immer saßen, hatte, so schien es, van Goghs Bilder auch irgendwann einmal auf sich wirken lassen. Wir – ich