Edgar Wallace

 

Das Verrätertor

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

 

Covergestaltung: nexx verlag gmbh, 2015

 

ISBN/EAN: 9783958704220

 

Rechtschreibung und Schreibweise des Originaltextes wurden behutsam angepasst.

 

www.nexx-verlag.de

 

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1

 

»Gewehr ab!«

 

Einunddreißig Gewehre bewegten sich mit einem Schlag – einunddreißig weiße Hände flogen wie ein Blitz an einunddreißig Hosennähte, als ob sie gleichmäßig von einer unsichtbaren Maschine bewegt würden. Wie aus Erz gegossen stand die Linie feuerroter Uniformen, die großen Tschakos aus Bärenfell waren tadellos ausgerichtet. Die Marschmusik brach dröhnend und donnernd ab, als die letzten vier Mann der alten Wache um die Ecke des Weißen Turmes schwenkten und verschwanden.

 

»Wegtreten!«

 

Bobby Longfellow steckte die blanke Säbelklinge in die Scheide, klemmte das Monokel fester und schaute auf die kleine Kirche St. Peter ad Vincula, die im lichten Schein eines Sommermorgens vor ihm lag. Er bemerkte eine kleine, dicke Dame, die mit einem Führer in der Hand auf ihn zukam. Sein Sergeant, der in straffer Haltung neben ihm stand, beobachtete den Vorgang. Ein leises Lächeln huschte unbemerkt über sein dunkelbraunes Gesicht.

 

»Entschuldigen Sie, Sir!«

 

Bobby maß mehr als 1,83 Meter. Die Stimme drang von unten zu ihm herauf, und er blickte hinab. Die füllige Dame trug einen kleinen, altmodischen Hut und einen mit Perlen verzierten Umhang. An ihrem Ausschnitt prangte eine große Kameen-Brosche. Ihr Gesicht war von der Hitze gerötet. Sie hatte intelligente Züge. Bobby betrachtete ihr dreifaches Kinn und die große, männliche Nase.

 

»Es tut mir leid – hm ...«

 

»Könnten Sie mir vielleicht sagen, wo das Grab der Lady Jane Grey liegt?«

 

Sie sprach mit tiefer Bassstimme. Er blinzelte sie an, als ob er plötzlich aus dem Dunkeln in helles Licht gekommen wäre.

 

»Lady ...?«

 

»Lady Jane Grey, Sir.«

 

Er schaute hilflos nach seinem Sergeanten hinüber, und seine weißbehandschuhten Hände spielten nervös mit dem kleinen Schnurrbart.

 

»Haben Sie sich schon auf dem Kirchhof umgeschaut?« fragte er und hoffte, sie damit loszuwerden.

 

»Auf welchem Kirchhof, Sir?«

 

Bobby sandte wieder einen Blick zu seinem Sergeanten, aber der blieb stumm.

 

»Nun – hm – auf irgendeinem Kirchhof! Kennen Sie diese tote Lady, Sergeant?«

 

»Ich habe sie bis jetzt noch nicht gesehen.«

 

Bobby räusperte sich, um den Irrtum des Sergeanten zu korrigieren.

 

»Lady – wie hieß doch der Name gleich? Grey?«

 

Die starke Dame kam ihm zu Hilfe.

 

»Ihr Grab liegt in der Nähe des Tower«, sagte sie leise.

 

Bobby zeigte mit der Rechten auf die Gebäude.

 

»Dies alles ist Tower – das stimmt doch, Sergeant?« fragte er etwas verärgert.

 

Der Sergeant bejahte.

 

»Sie fragen besser einen Beefeater, einen Aufseher, Madam.«

 

Er wollte sich gegen die Beleidigung verwahren, dass man einen Gardeoffizier in voller Galauniform mit einem Fremdenführer verwechselte. Das war ihm bisher noch nicht vorgekommen. Er war zum ersten Mal wachhabender Offizier im Tower, und das war gar nicht so sehr nach seinem Geschmack. Er verfluchte die Gluthitze des heutigen Tages und war keineswegs mit dem enganliegenden feuerroten Waffenrock und dem hohen Bärenfelltschako, unter dem man so schwitzte, einverstanden. Ganz offen gesagt, hätte Leutnant Robert Longfellow im Augenblick alles andere lieber sein mögen als ein Subaltern-Offizier von Seiner Majestät Berwick-Garde.

 

Die starke Dame zog wieder ihren Führer zu Rate. »Wo werden die Kronjuwelen aufbewahrt?«

 

»Im Geldschrank, Madam!« sagte Bobby prompt.

 

Glücklicherweise kam gerade ein berufsmäßiger Fremdenführer dazu und brachte die Besucherin zu seiner großen Erleichterung zu dem Wakefield Tower.

 

»Wie ekelhaft solche Ausfragerei ist!« sagte Bobby. »Was, zum Henker, sollte ich ihr denn sagen, Sergeant?«

 

»Nichts«, sagte der Mann. Bobby grinste und ging in die Wachstube und dann nach seiner Privatwohnung.

 

Mrs. Ollorby aber sah sich weiter die Sehenswürdigkeiten des Tower an. In Wirklichkeit hatte sie weder an den Kronjuwelen noch an der unglücklichen Jane Interesse, die nur einige Meter von der Stelle entfernt, wo Mrs. Ollorby ihre unangebrachten Fragen gestellt hatte, enthauptet worden war.

 

Eine andere Besucherin aber nahm an demselben Morgen großen Anteil an dem tragischen Geschick Janes. Hope Joyner stand vor dem kleinen, viereckigen Stein, der durch eine Eisenkette gesichert wird, damit er nicht von Menschenschritten entweiht wird. Sie schaute auf die einfache Inschrift. Dann schweifte ihr Blick zu der kleinen Kirche, wo die sterblichen Reste der unglücklichen jungen Frau zur letzten Ruhe gebettet waren.

 

»Arme – arme Jane!« sagte sie mit weicher Stimme. Ihr Begleiter Richard Hallowell fand nicht den Mut, darüber zu lächeln.

 

Hier beklagte Jugend das Dahinscheiden der Jugend. Ein junges Mädchen beugte sich mitleidig über die Stelle, wo damals Janes langes Haar über ihr Haupt geschlungen wurde, damit das Henkerbeil ungehindert seine grauenvolle Arbeit verrichten konnte. Er konnte ihr vollendet schönes Profil sehen. In dieser trauernd geneigten Haltung sah ihre Gestalt noch viel graziöser aus als sonst. Ihre zarte, reine Gesichtsfarbe hob sich wundervoll von dem grauen Hintergrund des alten Mauerwerks ab. Die Tragödie des ehrgeizigen Somerset wirkte durch die Anwesenheit dieses schönen jungen Mädchens nur noch bitterer und schmerzlicher.

 

»War es nicht schrecklich? Sie wohnte in King's House ... Von dem Fenster aus sah sie, wie man ihren toten Gatten forttrug ...«

 

»Hope, Sie machen den lachenden Morgen durch solche Betrachtungen todtraurig!«

 

Sie lächelte ihn schnell an und legte ihre Hand auf seinen Arm.

 

»Ja – es ist nicht richtig von mir, Dick! Ich will es lassen. Ist der prächtige Offizier dort nicht Bobby?«

 

Die lange, schlanke Gestalt des wachhabenden Offiziers erschien unter der Veranda des Wachthauses.

 

»Ja, das ist Bobby. Gestern Abend kam er vom Urlaub zurück, und heute macht er seine erste Wache.« Dick lachte leise. »Er ist ein geborener Müßiggänger – ein klein wenig Tätigkeit befriedigt ihn vollkommen.«

 

»Das ist das erste Mal, dass Sie heute gelacht haben«, hielt sie ihm vor. Er hätte ihr gern gesagt, dass er an diesem Morgen wenig Grund zum Fröhlichsein hatte, aber er schwieg.

 

Dick Hallowell sah in der schwarzen, tadellos sitzenden Offiziersuniform mit der feuerroten Binde sehr gut aus. Er war einen Kopf größer als Hope. Seine grauen Augen blickten kühn und klar in die Welt. In seinem Gang lag die Geschmeidigkeit und Biegsamkeit des trainierten Sportlers.

 

»Nun habe ich Ihnen alles gezeigt«, sagte er. »Ich hoffte, es würde den ganzen Tag dauern.«

 

Sie lachte leise.

 

»Das ist nicht wahr! Sie sind ganz unruhig geworden und möchten mich gern los sein, seitdem Ihr Bursche kam. Wartet jemand auf Sie?« Bevor er antworten konnte, fuhr sie fort: »Ich bin eine geborene Hellseherin – und außerdem kenne ich den Tower schon sehr gut. Aber ich wollte zu gerne einmal sehen, wie Sie eigentlich in Uniform aussehen!«

 

Als sie sprach, kam ihr mit Bedauern zum Bewusstsein, dass sie sich erst kurze Zeit kannten. Vor nicht ganz einem Monat waren sie einander begegnet. Sie hatte eine Bootsstange im schäumenden Kielwasser eines Dampfers auf der Themse verloren und sich mit ihrem Boot im Weidengestrüpp verstrickt. Er ruderte herbei, um sie zu befreien, und war sehr ausgelassen. – Jetzt gingen sie dem Löwentor zu. Unter einem Torbogen machten sie halt und schauten zusammen auf die düstere Holzschranke, hinter der der Fluss lag.

 

»Das Verrätertor!«

 

Sie schauderte, wusste aber nicht, warum.

 

»Ja – das Verrätertor«, nickte er, »ein altehrwürdiges Tor heutzutage. Man denkt kaum noch daran, dass Königinnen und Hofleute diese Stufen betraten.«

 

Sie lachte wieder, dann gingen sie weiter. Die Schildwachen salutierten. Jetzt erreichten sie die geschäftige Welt von Tower Hill. Schwere, mit Kisten hochbeladene Lastwagen ratterten an ihnen vorbei. Vom nahen Billingsgate zog Fischgeruch herüber.

 

Hopes schönes Auto hielt am Straßenrand. Dick öffnete den Schlag.

 

»Wann werde ich Sie wiedersehen?«

 

Sie lächelte bei seiner Frage.

 

»Wann Sie wollen. Mein Name steht im Telefonbuch.«

 

»Was unternehmen Sie jetzt?«

 

Sie machte kein frohes Gesicht.

 

»Ich habe eine unangenehme Unterredung vor mir«, sagte sie.

 

Er schaute sie groß an, denn auch ihm stand ähnliches bevor, aber er sagte ihr nichts davon.

 

Er sah ihrem Wagen nach, bis er außer Sicht war. Dann ging er den Hügel hinunter, über die Brücke, die den alten Festungsgraben überspannt. Er lächelte nicht mehr, und nicht einmal der stumme, aber beredte Gruß, den Bobby ihm zunickte, als er durch die Wachstube ging, konnte die bösen Wolken von seiner Stirn verscheuchen.

 

•••

 

Am Eingang seiner Wohnung wartete Brill, sein Bursche, und meldete einen Besucher.

 

»Der Herr bat mich, Sie zu suchen. Er hätte eine Verabredung mit Ihnen.«

 

Dick Hallowell nickte langsam.

 

»Ich brauche Sie in der nächsten Viertelstunde nicht, Brill«, sagte er. »Sie bleiben an der Tür, und wenn jemand kommt, sagen Sie, dass ich sehr beschäftigt sei.«

 

»Jawohl, Sir Richard.«

 

»Und Brill – hat der, hm, Herr etwas gesagt – ich meine, über sich selbst?«

 

Brill zögerte.

 

»Nein, Sir. Er schien übler Laune zu sein und sagte, dass Sie sehr froh sein müssten, eine derartige Wohnung zu haben ...«

 

Wieder zögerte er.

 

»Hat er sonst noch etwas gesagt?«

 

»Nein, das ist alles ... Er lachte so höhnisch. Sonst ist nicht viel los mit ihm, soweit ich sehen kann.«

 

»Ja, Sie haben recht – nichts.«

 

Dick ging die Steintreppe hinauf und machte vor einer Tür halt. Mit düsterem Gesicht stieß er sie auf und ging hinein. Am Fenster des vornehm ausgestatteten Wohnzimmers stand ein Mann und schaute hinaus. Er schien das Exerzieren der Soldaten im Hof zu beobachten. Als er sich jetzt zu Dick umwandte, sah man ein hageres und unzufriedenes Gesicht. Er trug schäbige Kleidung, und seine Absätze waren abgetreten. Trotzdem glich er in seinen Zügen und in seiner Haltung auffällig dem schweigenden Offizier, der ihn aufmerksam betrachtete.

 

»Hallo!«

 

Er ging Dick einige Schritte entgegen und sah ihn forschend an. Sein Betragen war weder freundlich noch beleidigend.

 

»Hallo – Bruder!«

 

Dick sagte nichts. Als sie einander gegenüberstanden, konnte man die Familienähnlichkeit noch deutlicher sehen, und doch waren beide verschieden. Wenn Graham Hallowell nicht so rau gesprochen hätte, wäre seine Stimme der seines Bruders vollkommen gleich gewesen. Aber er hatte die liebenswürdigen Umgangsformen von früher abgestreift und hatte vergessen, dass er einst die Ruderboote einer berühmten Schule geführt und der Stolz und die Zierde der Universität gewesen war.

 

Jetzt wusste er nur, dass er ein vom Schicksal hart mitgenommener Mann war, der niemals eine Chance gehabt hatte. Er war so verbittert, dass er sich nur noch an die Not und die bösen Erfahrungen seines Lebens erinnerte.

 

»Deine Begrüßung ist genauso begeistert wie immer«, sagte er höhnisch, »und ich will wetten, dass du mich nicht zum Essen in die Offiziersmesse einlädst! ›Hier ist mein Bruder – Graham Hallowell, der gestern von Dartmoor entlassen wurde und der Ihnen interessante Geschichten aus dieser Hölle erzählen kann!‹«

 

Seine Stimme wurde immer lauter, bis er schließlich schrie. Dick merkte, dass er getrunken hatte und in seiner bösartigsten Stimmung war. »Auch dein verdammter Bursche behandelt mich, als ob ich ein Aussätziger wäre ...«

 

»Das bist du auch«, sagte Dick mit leiser, aber klarer Stimme. »Ein Aussätziger – das ist die richtige Bezeichnung für dich, Graham! An dir ist etwas Verfaultes, dem Leute, die noch Selbstachtung haben, aus dem Wege gehen. – Und schrei nicht so, wenn du mit mir sprichst, sonst packe ich dich am Kragen und werfe dich die Treppe hinunter. Hast du mich verstanden?«

 

Der andere ließ sich durch diese Drohung einschüchtern und wurde aus einem prahlenden Raufbold zu einem jammernden Bettler.

 

»Kümmere dich nicht um mich, Dick – ich habe heute Morgen schon zehn Glas getrunken –, alter Junge, stell dir doch vor, wie dir zumute wäre, wenn du gestern aus dem Gefängnis entlassen worden wärest! Versetze dich einmal in meine Lage!«

 

Dick unterbrach ihn.

 

»Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie ich mich fühlen würde, wenn ich fürs Gefängnis reif wäre«, sagte er kühl. »Solche Einbildungskraft besitze ich nicht. Es ist mir einfach unmöglich, mich an deine Stelle zu denken, als du einen jungen, unerfahrenen Gardeoffizier betäubtest und beraubtest. Der Mann schenkte dir sein Vertrauen, weil du mein Halbbruder bist. Noch unmöglicher erscheint es mir, mit der Frau eines angesehenen Mannes durchzubrennen und sie nachher in Wien in Hunger, Elend und Schande sitzenzulassen. – Und noch so vieles andere, dessen ich nicht fähig wäre. Aber ich will lieber nichts mehr davon erwähnen. Wenn ich mich an deine Stelle setzen und begreifen könnte, wie ein Mann so niederträchtig sein kann wie du – ja, dann würde ich deine augenblicklichen Gefühle vielleicht eher teilen können. – Was willst du von mir?«

 

Grahams unruhiger Blick irrte zum Fenster.

 

»Mein Leben ist verpfuscht«, sagte er verdrießlich. »Ich dachte daran, nach Amerika zu gehen ...«

 

»Hat die amerikanische Polizei entdeckt, dass man in Amerika dringend Gesindel braucht, weil du ausgerechnet dorthin gehen willst?«

 

»Du bist hartherzig wie die Hölle, Dick.«

 

Dick Hallowell lachte – aber es war kein frohes Lachen.

 

»Wieviel willst du haben?«

 

»Den Fahrpreis nach New York ...«

 

»Du wirst mit deinen Personalakten nicht in die Vereinigten Staaten kommen, das weißt du doch ganz genau.«

 

»Ich könnte ja einen anderen Namen annehmen ...«

 

»Du wirst nicht fahren – du hast ja auch gar nicht die Absicht, das zu tun.« Dick setzte sich an seinen Schreibtisch, öffnete eine Schublade, nahm ein Scheckbuch heraus und schrieb.

 

»Ich habe dir einen Scheck über fünfzig Pfund ausgeschrieben, und ich habe ihn so ausgefüllt, dass du ihn unmöglich auf fünfhundert umändern kannst, wie du es mit meinem letzten Scheck getan hast. Außerdem werde ich diesmal meine Bank telefonisch von der Höhe der Summe verständigen.« Er riss das Blatt aus dem Heft und gab es seinem düster dreinschauenden Bruder.

 

»Das ist das letzte, was du von mir bekommst. Wenn du dir einbildest, dass du mich zwingen kannst, dir Geld zu geben, weil du hierher kommst, dann hast du etwas anderes zu erwarten. Der Oberst und meine Kameraden wissen alles von dir. Der Offizier, den du damals beschwindelt hast, ist gerade auf Wache. Wenn du mir irgendwie Schwierigkeiten machst, lasse ich dich einsperren. Verstanden?«

 

Graham Hallowell steckte den Scheck in die Tasche.

 

»Du bist zu hart«, jammerte er. »Wenn Vater das wüsste ...«

 

»Gott sei Dank ist er tot!« sagte Dick düster. »Aber er wusste genug von dir und starb an gebrochenem Herzen. Das trage ich dir nach, Graham.«

 

Graham atmete schwer. Nur die Furcht hielt seine Wut in Schranken. Er hasste seinen Halbbruder. Er hätte ihn beleidigen, demütigen, peinigen können, aber es fehlte ihm der Mut dazu.

 

»Durch das Fenster sah ich, wie du mit einem schönen Mädchen sprachst.« – »Sei ruhig!« fuhr Dick auf. »Ich vertrage es nicht, dich über eine Frau reden zu hören!«

 

»Sieh mal an!« Graham verfiel wieder in seine frühere Unverschämtheit. »Ich wollte dich nur fragen – weiß Diana –?«

 

Dick ging zur Tür und riss sie weit auf.

 

»Mach, dass du hinauskommst!« sagte er kurz.

 

»Diana ...«

 

»Diana bedeutet mir nichts mehr. Erinnere dich gefälligst daran. Ich liebe auch ihre Freunde nicht.«

 

»Meinst du mich damit?«

 

Dick nickte.

 

Graham zuckte die Achseln und entfernte sich hochmütig.

 

»Dieser Platz hier ist wie ein Gefängnis – aber ich werde schon meinen Weg hinausfinden.«

 

»Der beste Ausweg für dich ist, wenn du wieder hinter Schloss und Riegel sitzt.« Richard Hallowell lachte grimmig.

 

»Was ist das?« fragte Graham unten.

 

»Das Verrätertor«, sagte Dick und warf den schweren Flügel hinter ihm zu.

 

2

 

Das Telefon läutete schon zum dritten Mal. Diana Martyn legte endlich den kleinen, langhaarigen Schoßhund auf ein Kissen und nahm nachlässig den Hörer ab. Es war natürlich Colley, der sie wie immer mit Vorwürfen quälte, weil es zu lange dauerte, bis sie sich meldete.

 

»Wenn wir gewusst hätten, dass Eure gestrenge Hoheit am Apparat wären, hätten wir uns gleich beim ersten Läuten beeilt«, sagte Diana ironisch.

 

Colley ärgerte sich über diesen Ton. Er hasste sarkastische Frauen.

 

»Kannst du mich zum Essen bei Ciro treffen?« fragte er.

 

»Nein, wir können mit Euch nirgends speisen. Mr. Graham Hallowell wird heute bei mir zu Tisch sein.«

 

Anscheinend war die Nachricht eine Überraschung für ihn.

 

»Hallowell? Ich kann dich nicht deutlich verstehen, Diana – rauchst du?«

 

Sie blies eine graue Wolke zur Decke und streifte dann die Asche ihrer Zigarette in die Kristallschale.

 

»Nein«, sagte sie. »Aber ich bin heute Morgen etwas durcheinander. Die Aussicht, mit einem Mann allein zu sein, der gerade aus dem Gefängnis kommt, ist wenig verlockend. Er sieht im Augenblick nicht eben zum Fotografieren aus. Auch war er wirklich nicht zu Unrecht verurteilt ...«

 

»Hör mal, Di ..«

 

»Du sollst mich nicht immer Di nennen«, unterbrach sie ihn ärgerlich.

 

»Diana, der große Herr möchte dich sprechen – in allen Ehren – er sagte es mir ...«

 

»Bestelle dem großen Herrn, dass ich ihn nicht sehen will«, entgegnete sie ruhig. »Ein Verbrecher am Tag bringt gerade genug Ärger.«

 

Er schwieg einen Augenblick.

 

»Sei doch nicht so komisch, ich glaube ja gar nicht, dass du mit Hallowell speist!«

 

Sie legte den Hörer auf den Tisch und nahm ihr Buch wieder auf. Wenn Colley Warrington ungezogen oder schwierig wurde, legte sie unweigerlich den Hörer fort und ließ ihn ruhig summen.

 

Und Colley konnte sehr unangenehm sein. Manchmal war er in sie verliebt; und manchmal war er rasend eifersüchtig. Augenblicklich war er wieder ihr Liebhaber, aber er langweilte sie.

 

Es wurde leise an die Tür geklopft. Dombret kam herein, ihr Taftkleid rauschte. Diana kleidete ihre Zofe stets in dunkelrote Taftseide und bestand auf Tändelschürzen und hohen Frisuren, wie sie die Kellnerinnen in den Cafés tragen. Dombret war zwanzig Jahre alt und sehr hübsch. Die knisternde Seide kleidete sie gut.

 

»Wollen Sie Miss Joyner empfangen, gnädiges Fräulein?«

 

»Miss Joyner?« Diana starrte die Zofe an. »Haben Sie richtig gehört? – Miss Joyner?«

 

»Jawohl, gnädiges Fräulein. Eine sehr hübsche junge Dame.«

 

Diana überlegte schnell.

 

»Bitten Sie die Dame, näher zu treten.«

 

Dombret verließ das Zimmer nur einen Augenblick.

 

»Miss Joyner.«

 

Diana ging quer über das Parkett. Sie streckte dem Besuch ihre Hand entgegen. Ein entzücktes Lächeln spielte auf ihrem blassen Gesicht. Sie trat selbstbewusst auf, denn sie wusste, wie vollendet die Linien ihrer Gestalt waren und wie verführerisch ihr rötlich-blondes Haar glänzte.

 

»Es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, dass Sie kommen, Miss Joyner.«

 

Hope Joyner nahm die Hand. Ihre klaren grauen Augen begegneten Dianas Blick weder feindlich noch argwöhnisch. Sie war drei Jahre jünger als Diana und befand sich in dem Alter, in dem es schwierig ist, sich an das Aussehen vor einem Jahr zu erinnern.

 

»Ist Ihnen mein Besuch auch recht?« fragte sie.

 

Das also war Hope Joyner. Sie sah liebreizend aus. Diana war sehr kritisch, aber hier fand sie nichts auszusetzen, weder an ihrer Figur noch an ihrer Stimme, noch am Teint.

 

»Es ist mir sehr angenehm – bitte, nehmen Sie Platz!«

 

Sie nahm das verschlafene Hündchen vom Kissen. Durch heftiges Bellen protestierte der Kleine, bis er durch einen Puff zur Ruhe gebracht wurde. Prügel und Liebkosungen wechselten bei Togo ab, daran war er schon gewöhnt. Aber Hope blieb stehen. Nur ihre weiße Hand legte sie auf die Polsterlehne des Sessels.

 

»Ich habe einen Brief von Ihnen bekommen – einen sehr merkwürdigen Brief«, sagte sie. »Darf ich ihn noch einmal vorlesen? Vielleicht haben Sie vergessen, was Sie geschrieben haben.«

 

Diana vergaß solche Dinge nie, aber sie erhob keinen Widerspruch. Sie beobachtete das Mädchen mit besonderem Interesse, als sie ihre Handtasche öffnete. Hope zog einen Umschlag heraus und entnahm diesem einen schweren grauen Bogen. Ohne Einleitung begann sie zu lesen:

 

»Liebe Miss Joyner, ich hoffe, Sie werden es nicht unverschämt von mir finden, dass ich Ihnen in einer Angelegenheit, die mich nahe angeht, schreibe. Ich weiß genug von Ihnen, um zu glauben, dass Sie mein Vertrauen respektieren werden. Kurz gesagt, ich bin in einer verwirrenden Lage. Vor Ihrem Erscheinen war ich mit Sir Richard Hallowell verlobt. Wir sind durch eine Familienangelegenheit, die kein besonderes Interesse für Sie hat, zurzeit entfremdet. Sie sind mit ihm in der letzten Zeit sehr häufig gesehen worden, und man spricht sehr unfreundlich von Ihnen. Man fragt, wer Sie sind, woher Sie kommen, wie es mit Ihrer Familie steht. Dies geht mich jedoch weniger an als meine persönliche Lage. Ich liebe Dick zärtlich, und er liebt mich, obgleich wir im Augenblick nicht miteinander sprechen. Darf ich mich nun an Ihre Großmut wenden und Sie bitten, uns eine Gelegenheit zu geben, unsere Freundschaft zu erneuern?«

 

Als sie zu Ende war, steckte sie den Brief wieder in ihre Handtasche und schloss sie leise.

 

»Ich glaube nicht, dass ich eine unvernünftige Bitte an Sie gerichtet habe«, sagte Diana kühl.

 

»Ich soll mich selbst unglücklich machen?« fragte Hope mit ruhiger, betonter Stimme. »Warum denn? Sie haben doch alle Vorteile auf Ihrer Seite. Nehmen Sie sich nicht etwas viel heraus?«

 

Diana biss sich gedankenvoll auf die Lippen.

 

»Es mag sein – es war ein dummer Brief, aber ich war etwas verwirrt. Aber das macht ja nichts. Sie sind ja nur seine Freundin und sorgen sich um ihn ...«

 

Hope schüttelte den Kopf.

 

»Das meine ich nicht. Ich wollte Sie fragen, ob Sie sich nicht zuviel herausnehmen, wenn Sie ein so großes Opfer von mir verlangen?«

 

Diana kniff die Augen zusammen.

 

»Sie meinen – dass Sie ihn lieben?«

 

»Ja, das meine ich«, sagte sie.

 

Dieses Bekenntnis nahm Diana den Atem, und es dauerte einige Zeit, bevor sie wieder sprechen konnte.

 

»Wie interessant!« sagte sie, aber Hope Joyner reagierte auf die höhnische Bemerkung nicht. »Ich muss also annehmen, dass meine verständliche Bitte Sie von Ihrem« – sie machte eine wohlüberlegte Pause – »ehrgeizigen Plan nicht abhält?«

 

»Ist es denn so ehrgeizig«, fragte Hope mit verblüffender Unschuld. »Dick Hallowell gern zu haben oder ihn zu lieben?«

 

Diana nahm sich zusammen. Sie hatte nicht erwartet, dass ihr der Brief von Nutzen sein konnte, sie hatte ihn nur in einer Laune geschrieben. Vielleicht beabsichtigte sie, Dick Hallowell zu verletzen oder zu ärgern. Und jetzt, da das Mädchen mit ihrem reinen, festen Vertrauen zur Liebe vor ihr stand, sah sie eine Herausforderung darin, dass sie hierherkam und ihr furchtlos in die Augen schaute. Und es war nicht gut, Diana herauszufordern.

 

Es war seltsam, dass in diesem Augenblick alles längst erstorbene Gefühl wieder in ihr lebendig wurde und die Glut, die sie vor vier Jahren verzehrt hatte, wieder heiß aufloderte. Die dunklen Schatten früherer Möglichkeiten tauchten in ihr auf ...

 

Hope sah, wie Diana schluckte und wie sie die Zähne aufeinanderbiss, selbst als sie lächelte.

 

»Ich will Ihnen etwas zeigen.«

 

Diana sprach mit einer ihr selbst fremden Stimme. Sie verließ den Raum für einige Sekunden. Als sie zurückkam, hielt sie ein kleines Lederkästchen in der Hand. Sie drückte den Deckel auf. Es lag ein Ring mit drei feurigen Brillanten darin. Sie nahm ihn heraus und gab ihn Hope, die darüber nicht gerade erfreut war.

 

»Lesen Sie bitte die Inschrift.«

 

Mechanisch tat sie es, obgleich es ihr unangenehm war. Auf der Innenseite war eingraviert: »Dick seiner Diana.«

 

Hope gab den Ring zurück.

 

»Nun?« fragte Diana.

 

»Ein Verlobungsring?«

 

Diana nickte, Hope schaute sie verwirrt an.

 

»Ändert denn das – etwas an der Lage?« fragte sie. »Wiegt dieser Grund schwerer als das, was Sie mir bereits gesagt haben? Sollte ich deswegen Dick Hallowell meiden? Ich weiß, dass Sie mit ihm verlobt waren – wenigstens sagte er mir, dass er früher verlobt war. Die meisten Leute sind mehr als einmal verlobt, nicht wahr? Miss Martyn, erwarten Sie im Ernst von mir, dass ich Richard Hallowell nicht wiedersehen soll?«

 

»Ich erwarte von Ihnen, dass Sie tun, was Ihnen beliebt.« Dianas Stimme klang beinahe streng. Dann zuckte sie die Schultern. »Es ist natürlich eine Sache des Geschmacks und der guten Erziehung.« Sie schaute auf Hopes Handtasche. »Vielleicht war es doch zu indiskret, einen solchen Brief zu schreiben«, sagte sie und streckte ihre Hand aus. »Geben Sie ihn mir bitte zurück.«

 

Wieder trafen sich ihre Augen. Dann machte Hope ihre Handtasche auf, nahm den Brief heraus, riss ihn in vier Stücke und legte die Papierfetzen auf den Tisch. Mit einem leichten Nicken verließ sie den Raum so unerwartet, dass die neugierige Dombret, die ihr Ohr ans Schlüsselloch gelegt hatte, beinahe ins Zimmer gefallen wäre, als Hope die Tür öffnete.

 

Diana ging zum Fenster, um sie noch einmal zu sehen, wenn sie das Haus verließ, aber sie bekam sie nicht mehr zu Gesicht. Warum in aller Welt ...?

 

Diana Martyn war über sich selbst und über ihre Motive im Unklaren. Sie hatte schon vor Jahren alle Gedanken an Dick Hallowell aufgegeben. Er bedeutete ihr kaum noch etwas. Sie versuchte, sich zu vergegenwärtigen, warum sie diesen Brief geschrieben hatte. Es war etwas Unberechenbares in Diana Martyn, eine merkwürdige Bosheit, die sie schon früher in manche kleine – einmal sogar in eine große – Unannehmlichkeit gebracht hatte. Sie mochte nicht mehr an diesen Brief denken, da er mit Dick Hallowell zu tun hatte. Sie hatte ihn böswilligerweise geschrieben, denn sie zweifelte nicht, dass Hope ihm das Schreiben zeigen würde, und erwartete dann von ihm einen jener wütenden Briefe, die er schreiben konnte. Auf keinen Fall hatte sie angenommen, dass diese Hope mit ihrer ruhigen, aufreizenden Schönheit hier in ihrer eigenen Wohnung erscheinen würde.

 

Sie versuchte ihrer Erregung Herr zu werden, als Dombret eintrat, um einen Besuch anzumelden, der ihr auf dem Fuß folgte. Diana saß in einem der breiten Sessel am Fenster, das eine gute Übersicht auf die Curzon Street ermöglichte. Ihre Arme waren gekreuzt, mit einer Hand stützte sie ihr Kinn. Als der Besucher hereinkam, betrachtete sie kritisch und unbarmherzig seinen schäbigen Anzug. Er blickte düster drein und hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt. Sie wartete, bis sich die Tür hinter Dombret geschlossen hatte, dann fragte sie: »Warum?«

 

»Was willst du mit dem ›Warum‹ sagen?« entgegnete er rau.

 

»Warum kommst du so abgerissen?«

 

Graham Hallowell schaute an seinem schmutzigen Anzug hinunter und grinste. »Ich vergaß, mich umzuziehen«, sagte er.

 

Sie nickte langsam.

 

»Du hast in diesem Aufzug den großen Richard besucht– hat deine sichtliche Armut keinen Eindruck auf ihn gemacht?«

 

Er ließ sich in einen großen Sessel fallen, zog eine Packung Zigaretten hervor und zündete eine an, ohne zu antworten.

 

»Hast du einen besonderen Grund, in der Curzon Street als Vagabund aufzutauchen? Mich lässt das ganz kalt.«

 

»Auch er war nicht sehr erbaut«, sagte er, indem er eine Rauchwolke zur Decke emporblies und wartete, bis sie sich auflöste. »Er gab mir schäbige fünfzig Pfund – beinahe hätte ich sie ihm an den Kopf geworfen!«

 

»Aber du hast es doch bleibenlassen!«

 

Er ließ sich durch ihren höhnischen Ton nicht aufbringen. Das gehörte eben einmal zu ihr. Früher hatten ihn ihre spöttischen Bemerkungen wild und verrückt gemacht, aber das war schon sehr lange her.

 

»Ich vermute«, sagte sie gedankenvoll, »dass du dir einbildest, er zahlt dir irgendeine Summe, die du ihm nennst, nur um dich loszuwerden. Natürlich hat er das nicht getan. Ich wollte, du kenntest Dick so genau wie ich.«

 

»Ich kenne ihn nur zu genau«, grollte er, »diesen niederträchtigen Pharisäer!«

 

Sie antwortete ihm lange nicht. Ihre weißen Zähne pressten sich in die Unterlippe.

 

»Nein, Dick ist kein Pharisäer.« Nach einer Pause fuhr sie fort: »Er hat mich nicht erwähnt?«

 

»Er sagte, dass er von dir nichts mehr hören wollte. Wenn dir das eine Genugtuung ist ...«

 

Sie nickte.

 

»Was so viel heißt, dass du über mich gesprochen hast.«

 

»Er hat eine neue Liebe«, platzte Graham heraus. »Und sie ist tatsächlich eine Schönheit; ich sah, wie sie zusammen den Tower besichtigten.«

 

Sie schien sich nicht dafür zu interessieren. Er schaute sich prüfend im Raum um und hätte gerne eine Frage gestellt, wenn er den Mut dazu gefunden hätte. Er empfand dieser Frau gegenüber stets eine gewisse Scheu, wenn nicht Furcht.

 

»Du hast eine herrliche Wohnung, Diana. Ich bin nicht gerade neugierig, wundere mich aber doch, wie du das machen kannst. Wenn ich mich recht besinne, bewohntest du ein paar möblierte Zimmer, als ich fortging. Ich erfuhr von deinem Wohnungswechsel – aber diese Pracht ist wirklich verblüffend.«

 

Wie er wusste, hatte sie ein Einkommen von ein paar hundert Pfund im Jahr, die kaum ausreichten, um die Miete für diese Wohnung zu bezahlen. Sie schriftstellerte ein wenig und hatte ausgezeichnete Verbindungen mit Fleet Street. Aber ihre träge Veranlagung ließ diese Einnahmequelle nicht groß werden. Sie lächelte ein wenig unzufrieden.

 

»Du fürchtest wohl das Schlimmste? Das brauchst du nicht, ich bin jetzt sehr tätig. Hast du vom Fürsten von Kishlastan gehört?«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Du weißt nichts von ihm?« Sie zeigte mit ihrer Hand ringsumher. »Das verdanke ich alles seiner Güte!«

 

Sie lachte über die Bestürzung, die sich in seinem Gesicht zeigte.

 

»Ich bin als seine Hof Journalistin tätig«, sagte sie dann kühl. »Das klingt zwar nicht nach einer erstklassigen Anstellung, aber es bringt mir im Jahr viertausend Pfund ein, und ich glaube, dass ich mein Geld verdient habe. Der Fürst beklagt sich über die Welt im Allgemeinen und über die Regierung im Besonderen. Colley Warrington hat mich ihm vor zwei Jahren vorgestellt. Ich glaube, dass er versucht hat, unseren unheimlich reichen Freund ein wenig zur Ader zu lassen, aber er hatte wohl kein Glück damit und wollte mich nun ins Geschäft bringen. Es gelang mir schnell, das volle Vertrauen des Fürsten zu erwerben, und es war mir bald möglich, mir einen einträglichen Posten zu sichern. – Er hat nämlich zwei Salutschüsse eingebüßt ...«

 

»Was sagtest du eben? Zwei ...?« fragte Graham verständnislos.

 

»Zwei Salutschüsse«, sagte sie. »Der französische Gouverneur billigte ihm früher einen Salut von neun Kanonenschüssen zu, dann hat er aber wegen einer Skandalgeschichte Differenzen mit der französischen Regierung gehabt, und der Salut des Fürsten wurde auf sieben Schüsse herabgesetzt. Du kannst dir natürlich nicht vorstellen, dass solche Dinge einen erwachsenen Mann beunruhigen können, aber in Indien scheint das eine verflucht wichtige Sache zu sein. Abgesehen davon ist er verrückt auf kostbare Steine. Er hat die prächtigste Sammlung in Indien.«

 

»Ist er verheiratet?« fragte Graham argwöhnisch.

 

»Neun Mal«, erwiderte sie ruhig. »Ich habe noch keine seiner Frauen gesehen. Sie werden in strenger Abgeschiedenheit gehalten. Ich bin ihm wirklich sehr nützlich gewesen – ich habe unseren Gesandten in Paris für seine Sache interessiert und habe eine Menge Artikel über ihn geschrieben oder angeregt.«

 

Er schaute sie noch immer misstrauisch von der Seite an und fuhr mit der Hand über sein Kinn. Sie musste lachen.

 

»Ich sehe dir an, Graham, dass du jetzt sagen willst: ›Ost ist Ost und West ist West.‹ Und ich vermute auch, dass du mir eine Lektion über Haltung und anständiges Benehmen geben willst.«

 

»Es klingt alles recht seltsam«, sagte er und steckte sich eine Zigarre an.

 

Ihre Stimmung ihm gegenüber war nicht gerade freundlich, das fühlte er. Plötzlich warf er die Zigarre mit einem Fluch in den Kamin.

 

»Ich werde jetzt heimgehen und mich umziehen«, sagte er missmutig, als er aufstand. »Deine Tätigkeit als Presseagentin gefällt mir durchaus nicht, Diana!«

 

»Das lässt mich kalt«, antwortete sie gelassen. »Du weißt doch, dass ich das jährliche Einkommen von vierhundert Pfund, das ich früher hatte, nicht mehr besitze. In einem verrückten Augenblick lieh ich das Kapital einem jungen Gentleman, der einen großen Plan hatte, schnell reich zu werden – beiläufig verlor ich dabei auch meinen Verlobten.«

 

Sie sagte das alles leichthin, aber es lag eine gewisse Bitterkeit in ihren Worten. Er drehte sich, unangenehm berührt, um.

 

»Das werde ich dir alles zurückgeben. An meinem nächsten Geburtstag bekomme ich zwanzigtausend Pfund ...«

 

»Das hast du mir früher auch erzählt«, sagte sie höhnisch zu ihm, »du hast sogar das Testament deiner Mutter, um es zu beweisen. Leider hast du nur die ganze Erbschaft schon verpfändet, wie ich feststellte, als du ins Gefängnis kamst.« Aber dann änderte sie ihren Ton. »Geh jetzt nach Hause, zieh anständige Kleider an und komm um ein Uhr zurück.« Sie sah auf ihre juwelenbesetzte Armbanduhr. »Du hast nicht viel Zeit und musst dich beeilen. Ich erwarte Colley bald hier. Wenn er dich nicht hier findet, glaubt er, dass ich ihn belogen habe.«

 

Sie begleitete ihn zur Tür und schloss sie hinter ihm – ein wenig zu schnell, so dass es fast wie eine Beleidigung aussah. Sie verzog ihr Gesicht zu einem spöttischen Lächeln, ging wieder zur Couch zurück und schien in einen sensationellen Roman vertieft zu sein, als ihr Colley gemeldet wurde.

 

Colley Warrington war ein sehr hagerer Mann mit einem zu schmalen Kopf. Das spärliche gelbe Haar genügte kaum, die beginnende Glatze zu verdecken. Sein langes Gesicht war von Furchen durchzogen und schien vor der Zeit gealtert. Leute, die ihn nur oberflächlich kannten, meinten, dass er ausschweifend lebte, und wunderten sich, wo er das Geld hernahm, um sich einen solchen Lebenswandel gestatten zu können.

 

Es gibt in London, in New York, ja, in allen Zentren der Welt stets Menschen, die sich um aller Leute Geschäfte kümmern; besonders um die Geschäfte solcher Leute, die zu den Spitzen der Gesellschaft gehören.

 

Colley kannte sie alle – er wusste, ohne die Ranglisten zu Rate zu ziehen, ihre Titel und Ehren und ihre verwandtschaftlichen Beziehungen bis zu den entferntesten Vettern, vorausgesetzt, dass auch diese eine Rolle in der Gesellschaft spielten. Er war im Bild über ihre Vermögensverhältnisse, wusste; wie hoch sich ihr Einkommen belief, welche Beziehungen sie hatten und wie wertvoll diese waren. Wenn man mit ihm die Bond Street entlangging, so erzählte er einem alle Komödien und Tragödien, die sich hier in Vergangenheit und Gegenwart abgespielt hatten.

 

Er hatte eine feine Spürnase und konnte auch aus nebensächlichen Dingen Schlüsse ziehen.

 

»... Lily Benerley in ihrem Rolls-Royce – ein Herr von der Ägyptischen Gesandtschaft schenkte ihn ihr –, ein verschrobener Sonderling. Hier kommt die alte Lady Wannery, trinkt wie ein Fisch – hat aber eine halbe Million Pfund; ihr Neffe Jack Wadser erbt einmal alles, wenn sie stirbt – er heiratete Mildred Perslow –, Sie wissen doch, die Dame, die mit Leigh Castol nach Kenia durchbrannte, er ist der Sohn von Lord Mensem...«

 

Niederträchtige Menschen vermuteten, dass Colley aus seinem Wissen um diese Skandalaffären Vorteile zog. ›Mit dem Verstand und dem Gefühl eines gemeinen Kerls‹, hatte einmal der Lord Chancellor zutreffend von ihm gesagt. Im Paddock-Klub hatte es eine Skandalaffäre im Spielzimmer gegeben. Daraufhin war Colley ohne weiteres ausgetreten. Die Sache wurde mit Stillschweigen übergangen. Er war auch in die Torkinton-Affäre verwickelt, wobei es sich um Erpressung handelte. Er zog es vor, solange der Prozess dauerte, aus Gesundheitsrücksichten nach Aix-en-Provence zu gehen. Sein Name wurde auch nicht vor Gericht erwähnt. Aber als der Verteidiger den Angeklagten fragte: »Wie ich vermute, hatten Sie noch eine andere Person ins Vertrauen gezogen, als Sie diese Drohbriefe schrieben?« wusste jeder, wer mit der anderen Person gemeint war.

 

Das war Colley Warrington. Er trat mit einem unfreundlichen Gesichtsausdruck in den Empfangsraum und betrachtete Diana düster.

 

»Hallo, Diana!«

 

Von beiden Seiten war die Begrüßung nicht begeistert.

 

»Nimm Platz und mach kein solches Gesicht.«

 

»Wo ist Graham?« fragte er.

 

»Er ist nach Hause gegangen, um sich umzukleiden.«

 

Er setzte sich vorsichtig auf die Ecke eines Stuhls und zog die tadellos gebügelten Beinkleider hoch; zu seinen glänzenden Lackschuhen trug er weißseidene Strümpfe. »Es ist nicht klug, dass du dich wieder mit diesem Graham einlässt – du kennst doch seinen Ruf.«

 

»Er kennt den deinen auch«, antwortete sie halb lächelnd. »Ich glaube, ihr denkt beide ungefähr das gleiche voneinander. Nur ist Graham davon überzeugt, dass du zu den Männern gehörst, mit denen sich eine anständige Frau am besten nicht sehen lässt.«

 

Colley murmelte etwas Unverständliches.

 

»Beschwere dich nicht und sei nicht beleidigt. Ich muss dich etwas fragen. Du bist doch das reinste Nachschlagebuch, Colley ... Ich habe dich bis jetzt mit meiner Neugierde nicht geplagt, aber jetzt möchte ich wissen: Wer ist Hope Joyner?«

 

Sie hatte ihn bei seiner schwachen Seite gefasst, und er war gleich so in seinem Element, dass er seine schlechte Stimmung ganz vergaß.

 

»Hope Joyner?« wiederholte er. »Das ist doch die junge Dame, die eine große Wohnung in Devonshire House hat. Sie fährt zwei erstklassige Wagen, einen Rolls-Royce und einen Buick. Hat große Gelder. Sie ist sehr eng mit Dick Hallowell befreundet.«

 

»Das weiß ich alles«, sagte sie ungeduldig. »Ich wollte wissen, woher sie kommt.«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Das weiß ich nicht. Sie tauchte hier auf, aber man wusste nicht, von woher. Sie hat erstklassige Schulen besucht; soviel ich weiß, eines der teuren, hochmodernen Institute in Ascot, wo Abstammung durch Reichtum ersetzt werden kann. – Es ist aber merkwürdig, dass du dich für sie interessierst. Erst gestern sprach ich mit Longfellow, dem Gardeleutnant, über sie ...«

 

»Ich wusste nicht, dass du mit ihm befreundet bist«, unterbrach ihn Diana schnell.