Einleitung

In der Geschichte unserer Demokratien scheint ein neues Kapitel anzubrechen. Doch wie immer gelingt es uns kaum zu erkennen, was sich vor unseren Augen abspielt. Zwanzig Jahre »Showpolitik«, Verhöhnung und technokratischer Auswüchse haben, im Kontext der wirtschaftlichen und moralischen Krise, ein gekränktes Volk erzeugt, das sich, hyperaktiv oder apathisch, aus Protest oder reinem Überdruss, vor allem gegen seine Eliten wendet, und zwar gegen alle, ob politische, wirtschaftliche oder mediale, denen es vorwirft, es verraten und im Stich gelassen zu haben. Dieses Phänomen ist vielleicht ausgeprägter in den Ländern Südeuropas, den ersten, die von der Krise betroffen waren. Das gilt besonders für Italien, wo bei den Parlamentswahlen vom Februar 2013 ein erratisches Gebilde innerhalb der politischen Landschaft triumphiert hat, eine »Bürgerbewegung« unter Führung eines Komikers, Beppe Grillo, dessen Botschaft denkbar einfach klingt: »DEVONO ANDARE TUTTI A CASA« – sie sollen alle nach Hause gehen! Seit er sich aufgemacht hat, die italienischen Institutionen zu erobern, bläst Grillo zum Sturm auf das »alte System« der Politik. Seine Fünf-Sterne-»Bewegung« (MoVimento 5 Stelle, M5S) stellt in Rom ein Drittel des Parlaments, was einzigartig ist in Europa. Sein Programm scheint sich auf das »V« für vittoria zu beschränken, steht aber im Geiste Grillos vor allem für den ersten Buchstaben des Wortes vaffanculo, wörtlich: »Scher dich zum Teufel«, das sich nicht nur an die Eliten der Halbinsel richtet, sondern an alle europäischen Eliten, die ihm zufolge unfähig gewesen seien, die aktuelle Krise vorherzusehen, und seither den Bevölkerungen harte Sparmaßnahmen aufzwingen, während sie die globalen »Überklassen« verschonen. Die Krise des alten Kapitalismus, die mit der sich abzeichnenden Internetrevolution zusammenfällt, wird laut Grillo zu einer Tabula rasa à la 1789 führen! »Wir sind eine Revolution ohne Guillotine«, verkündet er. Der Komiker wird nicht müde, das Verschwinden des »alten Systems« mit allem Nachdruck zu beschwören. Die politischen Parteien seien schon tot, die Gewerkschaften und die traditionellen Medien ebenfalls, selbst die Wahlen und das Parlament seien bedroht! Mit dieser Thematik lockt er beträchtliche Massen zu seinen Versammlungen, wie am 1. Dezember 2013 auf der Piazza della Vittoria in Genua, seiner Geburtsstadt, wie auch der von Christoph Kolumbus. Grillo vergleicht sich gern mit seinem berühmten Landsmann, der den Gang der Welt verändert hat. Das möchte er ebenfalls erreichen, dank der Neuen Welt des Web. Denn Grillo ist nicht bloß ein Komiker, der sich in die Politik verirrt hat, wie man in Frankreich glaubt, wo das Beispiel Coluche den Blick verstellt. Er betrachtet sich als Vorkämpfer einer viel umfassenderen westlichen Bewegung, die auf einer Welle der »Systemverdrossenheit« surft.

Selten seit dem Faschismus hat eine Bewegung, die die repräsentative Demokratie, gemäß ihrer theoretischen Konzeption ab 1789, infrage stellte, so viel Zustimmung erfahren. Man fasst diese Strömung in Italien häufig unter dem Begriff der Antipolitik zusammen. Das Wort ist zweideutig, aber treffend. Es bezeichnet eine Art moralische Entrüstung und Rebellion vonseiten wachsender Randgruppen der Öffentlichkeit, die bestrebt sind, sich von der alten Politik zu befreien, vor allem durch die »Tugenden« des Netzes. Bevor das interaktive Web, das sogenannte Web 2.0 (YouTube, Facebook, Twitter usw.), aufkam, äußerte sich diese diffuse Proteststimmung lange Zeit nur in Formen wie der Wahlenthaltung, die sich bisweilen als »negative Politisierung« versteht, oder dem Abgleiten in einen »Populismus« à la Lega Nord. Doch die Antipolitik ist, nach Meinung italienischer Politologen, auf dem besten Weg, zu einem moderneren, »egalitaristischen« Gegenprojekt zu werden, das beansprucht, eine neue Beziehung zum Politischen aufzubauen. Dank der Begünstigung scheinbar »horizontalerer« Partizipationsmöglichkeiten durch das Netz liegen die Träume von einer »direkten Demokratie«, die seit Perikles’ Zeiten vergessen waren, wieder voll im Trend. Das Netz nährt den Glauben, man könne die traditionellen Eliten durch eine neue digitale Polis ersetzen, die ohne die alten, eingerosteten, überholten, delegitimierten Institutionen der Repräsentativdemokratie auskäme. Überall auf der Welt sehen die Anhänger der Antipolitik in dem Komiker Grillo ihren Messias. Ein amerikanischer Vertreter von Occupy Wall Street, der an diesem 1. Dezember 2013 in Genua war, schwärmte: »Der M5S ist die wichtigste soziale Bewegung der Welt. Wir wollen, dass der M5S die Wahlen nicht nur in Italien, sondern auch in Amerika gewinnt, um einen gemeinsamen Kampf zu führen«.

Darf man Grillo immer noch für ein isoliertes Phänomen halten, einen typischen Ausdruck italienischer Exzentrik? Man neigt in Frankreich oft dazu, alles, was von jenseits der Alpen kommt, mit Herablassung zu betrachten. Unsere Landsleute blicken voller Bewunderung auf die angelsächsischen Länder; sie interessieren sich auch für die Deutschen und, seit Kurzem, für die Chinesen, nachdem sie zuvor Japanfans gewesen waren. Aber sie vergessen, dass die Heimat Macchiavellis während des 20. Jahrhunderts, im Guten wie (häufig) im Schlechten, das »politische Laboratorium« Kontinentaleuropas gewesen ist. Manche mögen sich an diesem »Gemeinplatz« stören. Und dennoch … Im 20. Jahrhundert hat Italien den Faschismus erfunden und dann, nach dem christdemokratischen Intermezzo, die große Bewegung zur Stärkung der politischen Moral (Mani pulite). Mit Berlusconi hat die Halbinsel die erste Unternehmenspartei, Forza Italia, hervorgebracht sowie eine Telekratie, die viele führende Politiker Europas (natürlich nur insgeheim) inspirierte. Man sollte also aufmerksam beobachten, was jenseits der Alpen vor sich geht. Dort nimmt vielleicht gerade die Zukunft unserer Demokratien 2.0 Gestalt an, unter dem Vorzeichen neuer interaktiver Instrumente, für die Grillos Blog, einer der meistgelesenen der Welt, zu einem bedenklichen Symbol geworden ist. In Frankreich, dem Land der politischen Leidenschaften und des republikanischen Geistes, das geprägt ist von der »politischen Religion« (Emilio Gentile), wurde dieses Phänomen der Ablehnung aller Vermittlungsformen lange Zeit als etwas sehr Fernes, um nicht zu sagen Skurriles empfunden. Nach wie vor betrachten wir diesen Aufstieg der Antipolitik wie in Italien aus weiter Ferne, fixiert wie wir sind auf den Rechts-Links-Gegensatz, die Wahlenthaltung oder das Gespenst des Front National (der sich, zumindest bisher, den antipolitischen Diskurs à la Grillo nicht zu eigen gemacht hat). Dennoch deuten einige immer unübersehbarere Signale darauf hin, dass auch unser Land kurz vor der Entstehung dieses antipolitischen Reflexes steht. Er begann, sich Anfang 2014 bemerkbar zu machen, als die Kontroverse um den Komiker Dieudonné die zunehmende Bedeutung einer »systemfeindlichen« Öffentlichkeit ans Licht brachte. Der Antisemitismus von einigen Wenigen hat dabei den »antipolitischen« Reflex der Mehrheit kaschiert. Anlässlich solcher Fälle ist manchen Kommentatoren klar geworden, dass sich eine oppositionelle, aber in der digitalen Welt heimische Öffentlichkeit im Rücken der technophilen Eliten herauszubilden begann, die lange dazu beitrugen, das Netz zum Inbegriff aller Tugenden zu erklären. Die »Netzreligion« hat eine florierende Kirche begründet, mit ihren Technopropheten und beflissenen Verwaltern, die über ansehnliche Pfründe und Lehrstühle in »Digitial Humanities« verfügen und uns im Auftrag des Staates (der gleichzeitig den Ausverkauf der klassischen Geisteswissenschaften betreibt) das Loblied des World Wide Web singen … Das war eine böse Überraschung, als man feststellen musste, dass die Videos von Dieudonné auf YouTube zu den meistgesehenen im Netz gehören. In diesem Moment ist manchen Forschern, wie Michel Wieviorka, ein Licht aufgegangen, dass »die sozialen Netzwerke auch dem Bösen dienen können«, wie der Soziologe in Le Monde (31.12. 2013) treuherzig zu Protokoll gibt. Der technische Fortschritt stünde demnach nicht mehr zwangsläufig auf der Seite des Guten. Dieses Phänomen geht einher mit einem zunehmenden Desinteresse an allen etablierten Parteien, ob sie gerade an der Regierung sind oder nicht, was so disparate Bewegungen wie »Manif pour tous« oder die »Bonnets rouges« bezeugen, ganz zu schweigen von »Jour de colère«, einem mysteriösen Kollektiv, das seit November 2013 im Internet mobilisiert. Keine bezieht sich auf eine klassische Partei oder eine der traditionellen Mittlerinstanzen. Das ist ein deutlicher Trend in Europa. Es mehren sich die Studien, wie die von Pierre Martin, die nachweisen, dass überall auf dem Kontinent eine zunehmende Abkehr von den etablierten Großparteien, sozialdemokratischen wie konservativen, erfolgt (Commentaire, Nr. 143, 2013). Das Stimmvolk erweist sich als immer unbeständiger und wahlmüder, selbst in Deutschland, wo CDUCSU und SPD seit den 1980er Jahren, und verstärkt seit den Schröder-Reformen, annähernd die Hälfte ihrer Wählerschaft verloren haben. Überall vergrößert sich die Kluft zwischen politischem Angebot und politischer Nachfrage. Die Wähler werden immer anspruchsvoller (partizipative Demokratie, Transparenz, Schutzrechte) und sind vom Angebot der Parteien zunehmend enttäuscht.

Das Jahr 2011 markiert, was den Aufschwung dieser Antipolitik in den westlichen Ländern betrifft, einen Wendepunkt. Diese Tatsache hat wenig Aufmerksamkeit hervorgerufen. Dennoch äußert sich in dieser Gleichzeitigkeit eine bisweilen noch unsichere Geisteshaltung, die nach dem Welterfolg von Stéphane Hessels Buch Empört euch! erstarkte: Am 15. Mai 2011 begannen die spanischen Indignados mit ihrer Besetzung der Puerta del Sol in Madrid. Ihnen folgten im gleichen Jahr die Griechen von Aganaktismeni (die »Zornigen«), die Amerikaner von Occupy Wall Street, die sich als Vertreter der »99 % Habenichtse« gegenüber den »1 % Besitzenden« verstehen, oder die Deutschen der Piratenpartei, Vertreter der Internetgeneration, die 2011 fünfzehn Sitze im Berliner Landesparlament errangen. Im gleichen Jahre reformierten auch die Isländer per Internet ihre Verfassung, was die Antipolitiker in ihren Glauben an die Macht des Netzes bestätigte! Das stark von der Subprime-Krise betroffene Island zeigt heute das lächelnde Gesicht dieser aktiven Antipolitik, doch in Meinungsumfragen erklären 90 % der Bürger, keinerlei Vertrauen in die isländischen Politiker mehr zu haben.

Diese Antipolitik ist nicht nur, wie man auf den ersten Blick meinen könnte, ein Sammelsurium isolierter Phänomene, sondern vielmehr Anzeichen einer tiefen Krise unserer Demokratien, wie das Beispiel Italien lehrt. Wohin wird sie führen? Der Durchbruch des Web 2.0 markiert eine Revolution von nicht geringerer Bedeutung als die Entstehung des Buchdrucks zu Beginn der Renaissance. »Nichts wird mehr sein wie zuvor«, lautet der quasi-faschistoide Slogan der M5S-Aktivisten. Sie haben nicht gänzlich unrecht. Diese Web-Revolution wird unweigerlich tief reichende Konsequenzen für unsere demokratischen Institutionen haben. Von dem Rechtshistoriker Jacques Ellul wissen wir, dass Techniken nicht »neutral« sind, wie oft genug behauptet wird, mit dem Argument, die Maschinen seien nur, was wir aus ihnen machen. Zwar sind die neuen Technologien an sich weder gut noch schlecht, aber sie verändern unsere Gewohnheiten und unser Verhalten, selbst in Bereichen, wo wir es nicht vermuten. Wie Giftgas, das an sich eigenschaftslos ist, können sie gefährliche oder ungeahnte Auswirkungen haben. Im 16. Jahrhundert beförderte die Entstehung des Buchdrucks indirekt die Ausbreitung der Reformation, indem sie dafür sorgte, dass Hunderttausende Exemplare der Bibel in Umlauf kamen. Diese Erfindung machte somit den freien Zugang zur Heiligen Schrift, unter Umgehung der katholischen Kirche, technisch möglich. Bereits jetzt zeichnet sich mit dem Internet der Traum ab, »die Welt zu verändern«, unter Verzicht auf die traditionelle Politik und die im 18. und 19. Jahrhundert geschaffenen Vermittlungsinstanzen, wie Presse, Parlament usw. Renommierte Denker wie Michel Serres beschwören diesen Umbruch frohgemut herauf: »Daher […] das verallgemeinerte Votum für eine verallgemeinerte Demokratie. Alle Voraussetzungen für einen okzidentalen Frühling sind beisammen«, schreibt der Philosoph in seinem Bestseller Erfindet euch neu!1 Wir sind hinsichtlich eines solchen »okzidentalen Frühlings« sehr viel weniger optimistisch, wie bereits der Blick auf die Vorgänge in Italien zeigt. Als Ideengeschichtler werde ich mich auf den folgenden Seiten vorrangig an das italienische Beispiel halten, weil es die weitestgehendste Praxis verkörpert, die wir in diesem Bereich besitzen. Natürlich kann die Bewegung von Beppe Grillo, wie jedes sogenannte »populistische« Phänomen, genauso schnell wieder verschwinden, wie sie aufgetaucht ist. Aber die Infragestellung der Institutionen, die sie via Internet zum Ausdruck bringt, wird in unseren »Misstrauensdemokratien« noch lange nachwirken. Die Halbinsel dient uns lediglich als Ausgangspunkt für ein Nachdenken über die Gefahren, die unserer Demokratie vonseiten derer drohen, die drauf und dran sind, sie zu zerstören, unter dem Vorwand, sie retten zu wollen.

Das Misstrauen ist keine
»französische Besonderheit« mehr

Beginnen wir damit, ein Missverständnis auszuräumen. Die aktuelle »Vertrauenskrise«, in deren Kontext die neue antipolitische Bewegung steht, ist kein Spezifikum der romanischen Gesellschaften im Allgemeinen oder der französischen im Besonderen. Alain Peyrefitte, ehemals Minister unter de Gaulle, hat in einem brillanten Essay über die »Vertrauensgesellschaft« (La société de confiance) die These vertreten, dass die liberalen angelsächsischen Gesellschaften auf Vertrauen errichtet seien, während in den romanischen Gesellschaften der Geist des Misstrauens überwiege. Vielleicht beargwöhnen die Franzosen ihre Mitbürger und den Markt noch ein wenig mehr als andere, aber das Misstrauen gegenüber der Politik ist keine französische Besonderheit. »Die Vertrauenskrise« ist nämlich in der westlichen Welt zu einem veritablen »Jahrhundertübel« geworden. Dieses Misstrauen gärt seit mindestens vierzig Jahren in den bequemen Nischen unserer hyperkomplexen Volkswirtschaften, aber man hat es vorgezogen, sich blind zu stellen. In den Vereinigten Staaten geht das Misstrauen gegenüber der Politik auf den Vietnamkrieg zurück und ist seither niemals wieder verschwunden, außer, Ironie des Schicksals, für einen kurzen Augenblick nach dem 11. September 2001. Einer der Ersten, der das verstanden hat, war Präsident Jimmy Carter, der am 15. Juli 1979 in einer dramatischen Ansprache an das amerikanische Volk erklärte, dass »die Vertrauenskrise das Herz, die Seele und den Geist unserer Nation« berührte und eine »fundamentale Herausforderung für die amerikanische Demokratie« sei, weit mehr als die Energiekrise oder die Inflation. Unter diesen Umständen lässt sich schwerlich guten Gewissens aufrechterhalten, die französische Gesellschaft sei die einzige Misstrauensgesellschaft. Seit der Subprime-Krise stimmen übrigens alle Lager überein: der ganze Westen stecke heute in »einer beispiellosen Vertrauenskrise«, wie es Nicolas Sarkozy in seiner berühmten Rede in Toulon vom 25. September 2008 formulierte, wenige Tage nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers. Selbst wenn man sich vor Umfragen und anderen Vertrauensbarometern hüten sollte, so bezeugen doch alle ein stark ansteigendes Misstrauen der Regierten gegenüber den Regierenden. Die bloße Existenz dieser Instrumente unterstreicht im Übrigen, dass sich die Frage mittlerweile in aller Deutlichkeit stellt.

Wir haben uns derart daran gewöhnt, in diesem »Zeitalter des Misstrauens« (Rosanvallon) zu leben, dass wir seine historische Entstehung schließlich aus den Augen verlieren. Bis Ende der 1970er Jahre war nämlich die Mehrheit der Bürger von einer gewissen Politikbegeisterung ergriffen. Niemand konnte sich ihr entziehen, nicht einmal die Intellektuellen. Um eine berühmte Unterscheidung aufzugreifen, der kritische Intellektuelle, der sich jeder Form von Engagement enthielt, genoss letztlich ein viel geringeres Ansehen als der organischeLe désenchantement du mondeMani puliteMani-puliteCavaliereGlobe