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Dr. Behnisch muß schweigen

Roman von Patricia Vandenberg

Nur ein wichtiger Anlaß konnte Dr. Daniel Norden bewegen, am verkehrsreichen Vormittag in die Stadt zu fahren. Dieser Anlaß war an einem Mittwoch im April gegeben. Eine Patientin, die in der Neurochirurgischen Klinik operiert worden war, hatte dringend um seinen Besuch gebeten. Er konnte Verena Reisner diese Bitte nicht abschlagen. Er hatte sie zu dieser Operation überredet. Er hatte ihre Ängste vertrieben, aber nun schien es, als plagten sie diese schlimmer denn je.

Dr. Otting, der sie operiert hatte und sich geradezu rührend um sie bemühte, war deprimiert, weil ihre Genesung keine Fortschritte machte. Auch er hatte ihn um Hilfe gebeten.

Nun war es Dr. Norden tatsächlich gelungen, die angemeldeten Patienten bis halb elf Uhr zu versorgen. Drei hatte er zu einem anderen Termin bestellt.

Der Fall Verena Reisner beschäftigte ihn schon über Monate und so sehr, daß auch seine Frau Fee in allen Einzelheiten darüber informiert war.

Verena war Sportlehrerin, vierundzwanzig Jahre jung, hübsch und sportlich. Im Winter war sie beim Skifahren gestürzt, außer Prellungen hatte sie jedoch keine Verletzungen davongetragen. Doch seit diesem Sturz hatte sie dann über immer stärkere Kopf- und Rückenschmerzen geklagt und schließlich so sehr unter Depressionen gelitten, daß Dr. Norden zu einer Generaluntersuchung geraten hatte. Dabei hatte sich dann herausgestellt, daß sich direkt unter der Wirbelsäule ein Hämatom gebildet hatte, dem nur durch eine Operation beizukommen war.

An sich war die Geschwulst nicht bösartig gewesen, doch die Operation hatte sich als schwierig erwiesen, da sehr leicht ein Nerv hätte verletzt werden können.

Dr. Otting hatte die Operation perfekt durchgeführt, aber es brachte ihn fast zur Verzweiflung, daß seine Patientin davon nicht überzeugt zu sein schien. Dabei bestand für ihn kein Zweifel, daß der Eingriff ein voller Erfolg war.

Das sagte er auch Dr. Norden, als dieser nun, knapp nach elf Uhr, in der Klinik erschienen war. Er zeigte ihm als Beweis auch die Röntgenaufnahmen.

Dr. Otting war ein ruhiger und besonnener Arzt, und trotz seiner jungen Jahre hatte er schon große Erfolge auf dem Gebiet der Neurochirurgie erzielt. Er war die Zuverlässigkeit in Person.

»Frau Reisner hat kein Vertrauen zu mir«, sagte er beklommen.

»Hat sie das gesagt?« fragte Dr. Norden.

»Nein. Sie ist verschlossen wie eine Auster. Man kommt einfach nicht ins Gespräch mit ihr. Vielleicht erreichen Sie mehr, Herr Kollege. Vielleicht hat sie persönliche Probleme.«

»Sie meinen, daß psychische Belastung eine Rolle spielt?«

»Eine andere Erklärung kann ich nicht finden, aber wenn sie sich nicht mitteilt, kann man schwer einhaken.«

»Dann werde ich es mal versuchen. Ich kenne sie ja länger. Was sagt denn ihr Verlobter?«

Dr. Otting sah ihn erstaunt an. »Sie ist verlobt? Das wußte ich nicht. Sie hat noch keinen Besuch bekommen.«

Dr. Norden runzelte die Stirn. »Vielleicht liegt da das Problem«, sagte er. »Mal sehen, ob ich etwas erreiche.«

Da Verena in einem Zweibettzimmer lag und man dort nicht ungestört sprechen konnte, ließ Dr. Otting sie mit dem Rollstuhl ins Ärztezimmer bringen. Dr. Norden war erschrocken, als er sie sah. Freilich ging auch eine solche Operation nicht spurlos an einem Menschen vorbei, aber Verena war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Ihre Augen lagen tief in den Höhlen, ihre Lippen waren nur ein dünner, blasser Strich.

Er mußte sich sehr zusammennehmen, um ihr sein Erschrecken nicht zu zeigen.

Tränen traten in ihre Augen, als er ihre Hand ergriff. »Mit mir ist nichts mehr los, Herr Doktor.«

»Aber wer wird denn so etwas sagen? Ich habe mir die Röntgenaufnahmen angeschaut. Es ist doch alles bestens in Ordnung. Warum wollen Sie nicht daran glauben?«

»Herbert hat mich aufgegeben. Ihm hat man anscheinend die Wahrheit gesagt. Ich möchte sie auch von Ihnen hören. Hier wird man doch nur getäuscht.«

»Das reden Sie sich aber ein, Fräulein Reisner. Oder es wurde Ihnen eingeredet, was allerdings unverantwortlich wäre. Dr. Otting ist ein sehr gewissenhafter Arzt. Es bereitet ihm große Sorgen, daß Sie so deprimiert sind.«

»Wie sollte ich das nicht sein? Ich stehe doch nur vor Trümmern. Meinen Beruf kann ich nicht mehr ausüben, meine Verlobung ist gelöst, ich bin ein Wrack. Ich kann Herbert nicht gram sein.«

»Wie ich hörte, haben Sie keine Besuche bekommen«, sagte Dr. Norden zögernd.

»Wozu auch? Herbert haßt Krankenhausluft. Er war wohl auch böse, daß ich die Wohnung nicht kaufen wollte. Aber ich wollte doch erst gesund werden. Jetzt werde ich keine Wohnung mehr brauchen. Bitte, widersprechen Sie nicht. Ich weiß, daß Sie es gut meinten. Die Kopfschmerzen hätte ich ja auch nicht mehr ertragen. Aber jetzt habe ich niemanden mehr. Sie sind der einzige Mensch, zu dem ich noch Vertrauen habe. Ich möchte Sie um etwas bitten.«

»Zuerst möchte ich Sie um etwas bitten, Fräulein Reisner«, sagte er energisch. »Nämlich darum, nicht so zu reden, als müßten Sie sterben. Sie müssen sich endlich von diesen Depressionen befreien. Da hat ein tüchtiger Arzt Sie operiert, und Sie scheinen sich gar keine Gedanken darüber zu machen, wie Sie ihm schaden können mit dem Vorwurf, daß er versagt hat.«

Erschrocken blickte sie ihn an. »Aber ich mache ihm doch keinen Vorwurf«, sagte sie heiser.

»Nicht mit Worten vielleicht, aber mit Ihrem mangelnden Vertrauen. Und mich selbst trifft das auch, weil ich Ihnen zu der Operation geraten habe, und weil ich heute Dr. Otting in Schutz nehmen mußt. Er kann nichts dafür, daß Ihr Verlobter Sie im Stich gelassen hat, ich kann auch nichts dafür, und Sie sollten einem solchen Mann nicht nachtrauern. Er kann keine Krankenhausluft vertragen! Na, das ist eine schöne Liebe! Er nimmt es Ihnen übel, daß Sie keine Wohnung gekauft haben. Vielleicht war er nur darauf aus? Was ist das denn für ein Mensch? Entschuldigen Sie, wenn ich das so klipp und klar sage, aber wollten Sie denn nur eine Frau für gute Tage sein? Woher nimmt der Besagte eigentlich das Wissen, daß Sie nicht mehr gesund werden?«

»Er hat es doch schon vermutet, als ich in die Neurochirurgische gegangen bin. Da würden sie mich bloß zum Krüppel machen, hat er gesagt. Und bin ich das nicht?«

»Sie können sich freilich an den Rollstuhl klammern, wenn er unbedingt rechtbehalten soll. Aber Sie können sich auch aufraffen, aufstehen und Ihre Kräft mobilisieren. Ich hätte große Lust, diesem Herbert mal gehörig meine Meinung zu sagen. Unglaublich taktvoll, das Wort Krüppel zu gebrauchen. Haben Sie denn überhaupt schon versucht, auf Ihren Beinen zu stehen, ein paar Schritte zu gehen? Ich kannte mal eine Verena Reisner, die sich nicht unterkriegen ließ. Mein liebes Mädchen«, fuhr er sanfter fort, »es gibt viel schlimmere Dinge auf der Welt als eine enttäuschte Liebe. Und für einen Arzt gibt es nichts Schlimmeres, als wenn ein Patient resigniert, obgleich dafür überhaupt kein Grund vorhanden ist.«

»Nun sind Sie auch noch böse mit mir«, sagte sie kläglich.

»Liebe Verena Reisner, ich habe Patienten, die alt und gebrechlich sind, schon unendlich viel Leid erfahren haben und dennoch am Leben hängen. Ich möchte Ihnen helfen, genauso wie Dr. Otting, aber Sie müssen sich auch helfen lassen. Ich reiche Ihnen die Hand, würden Sie jetzt mal versuchen, sich zu erheben?«

Er sagte es mit einem fast hypnotischen Zwang.

»Ich kann es doch nicht«, flüsterte sie.

»Von allein geht es nicht. Ich helfe Ihnen doch.«

»Sie werden sehen, daß es nicht geht.«

»Schade«, sagte er. »Was meinen Sie, wieviel junge Menschen, die gezwungen sind, ein Leben lang am Rollstuhl gefesselt zu sein, Sie beneiden würden um die Chance, die Ihnen geboten wurde. Sind Sie nie solchen Menschen begegnet, die trotz ihres Leidens den Lebensmut nicht verloren haben? Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. Und es sollte Ihnen doch eigentlich eine Genugtuung bereiten, eines Tages beschwingten Schrittes vor den Verflossenen hinzutreten und sagen zu können: ›Bin ich nun ein Krüppel, lieber Herbert?‹ Und dann werden Sie einem Mann begegnen, der nicht auf eine Wohnung erpicht ist. Einem, dem etwas an Ihnen liegt.« Plötzlich kam ihm noch eine Idee, wie er sie herausfordern könnte, denn dies war der einzige Weg, sie der Lethargie zu entreißen. »Ein Jammer, daß ich dem guten Dr. Otting diese Suppe eingebrockt habe. Nun wird er wohl auch noch seine Stellung verlieren.«

»Aber warum denn das?« fragte Verena bestürzt.

»Wenn ein Chirurg bei einer so verhältnismäßig einfachen Operation versagt, ist er hier fehl am Platze.«

»Aber, das will ich doch nicht«, flüsterte sie. »Er hat sich doch wirklich so viel Mühe gegeben!«

»Dann sollte er auch den Erfolg dieser Mühe sehen. Also, versuchen wir es wenigstens mal?«

Er wartete ihre Antwort nicht ab. Er hob sie empor. Sie war federleicht und zu kraftlos, ihm Widerstand entgegensetzen zu können.

Er stellte sie auf ihre Füße. Sie knickte ein, aber er hielt sie fest. »Sie sind nicht krank, Sie sind nur schwach, und die Kraft kommt nicht von selbst«, sagte er. »Jeden Tag ein paar Schritte. Mädchen, machen Sie mir bloß keine Schande. Rechtes Bein, linkes Bein, wer wird denn so zaghaft sein!« scherzte er. »Na also, es geht doch.«

»Es geht«, murmelte sie ungläubig. Und sie merkte gar nicht, daß er auf die Klingel gedrückt hatte. Gleich darauf erschien Dr. Otting und blieb verblüfft in der Tür stehen.

»Na, Herr Kollege, jetzt sagen Sie nichts mehr«, meinte Daniel Norden augenzwinkernd. »Mit so störrischen kleinen Mädchen darf man nicht zu sanft umgehen.«

Verena sah Dr. Otting an. Ein flüchtiges Lächeln legte sich um ihre blassen Lippen, und feine Röte stieg ihr bis unter die Haarwurzeln.

»Ich wollte Ihnen doch keine Schwierigkeiten bereiten«, sagte sie leise.

Dr. Otting blickte verwirrt von ihr zu Dr. Norden. Der zwinkerte ihm wiederum zu.

»Aber bitte, nicht gleich übertreiben«, sagte Dr. Otting. »Es freut mich sehr, daß Sie sich ein Herz gefaßt haben.«

»Zuerst mußte ich eine Standpauke bekommen«, erwiderte Verena, als sie nun wieder, noch ein bißchen atemlos, im Rollstuhl saß.

»Die hat jedenfalls mehr geholfen als alles gute Zureden«, sagte Dr. Norden rasch. »Und nun wird nicht mehr kapituliert, wenn Sie jetzt auch nicht gleich herumspringen können. Hübsch langsam voran.«

»Danke, Herr Doktor«, sagte Verena, als nun die Schwester kam, um sie ins Zimmer zurückzubringen. »Ich werde Ihre Worte beherzigen.«

»Davon werde ich mich aber überzeugen«, erwiderte er. »Auf baldiges Wiedersehen, Fräulein Reisner.«

Er ahnte nicht, wie bald er diese Klinik schon wieder betreten würde, und welche Rolle Verena in dem Geschehen spielen sollte, das sich nun schon anbahnte.

Daniel Norden hätte damit nichts zu schaffen bekommen, wenn er nicht auf die ungewöhnliche Idee gekommen wäre, sich einen Trenchcoat zu kaufen, da er nun einmal in der Stadt war.

Fee hatte gesagt, daß längst ein neuer fällig wäre, aber niemals hätte sie daran gedacht, daß er es fertigbringen würde, sich höchstpersönlich darum zu bemühen. Später hätte er selbst nicht mehr zu sagen gewußt, wieso ihm diese Idee gekommen war.

Er begab sich also in die Fußgängerzone. Himmel und Menschen waren in Bewegung, obgleich das Wetter wahrhaftig nicht verlockend war.

Mußte man auch zugeben, daß die Innenstadt zu einem Eldorado für die geplagten Großstädter geworden war, da sie ungefährdet durch den Verkehr hier herumbummeln konnten, so sollte Daniel Norden es an diesem Mittag doch erleben, daß man vor anderen Gefahren wohl nirgends sicher war.

Seine Garderobe wurde immer in einem bestimmten Geschäft eingekauft. Dort waren er und seine Frau bekannt, dort kannte man auch seine Maße, so daß Fee kaum ein Wagnis einging, wenn sie für ihren Mann einkaufte.

Aber er sollte dies Geschäft nicht erreichen, denn plötzlich ertönten Schreie. Schreie der Angst, Schreie des Entsetzens, denn es fielen Schüsse.

Wie angewurzelt blieb Daniel stehen, sah einen Mann auf der Flucht vor einem anderen, hörte plötzlich ganz in seiner Nähe einen Aufschrei aus weiblicher Kehle: »Horst!«

Und dann fiel wieder ein Schuß, der traf das Mädchen, das mit einem Stöhnen zusammensank.

Daniel Norden war schon bei ihr, als andere noch wie versteinert standen oder vor Angst gejagt auch die Flucht ergriffen. Ein weiterer Schuß fiel, traf diesmal einen jungen Mann, und dann nahten schon Funkstreifenwagen.

Eine entsetzliche Aufregung herrschte. Dr. Norden, der diesmal seinen Arztkoffer nicht dabei hatte, kniete ziemlich hilflos bei dem sichtlich schwerverletzten Mädchen nieder.

Der Notarzt nahte. Ein Sanitäter war bei dem jungen Mann.

Daniel nannte dem Kollegen kurz seinen Namen. »Steckschuß«, sagte er kurz. »Am besten gleich in die Chirurgische, in die Behnisch-Klinik.«

Er blickte auf, denn ein Polizist sagte laut: »Banküberfall, wer kann Angaben über den Geflüchteten machen?«

»Ich kenne Dr. Behnisch«, sagte der Notarzt. »Also los. Nehmen wir beide mit.«

Daniel wurde von dem Polizisten gefragt, was er beobachtet hätte. Anscheinend hatte jemand auf ihn gedeutet.

»Wir müssen uns um die Verletzten kümmern«, erwiderte er. »Sie können mich jederzeit in meiner Praxis erreichen, Dr. Daniel Norden ist mein Name.«

Und als die Verletzten dann in den Notarztwagen gebracht worden waren und er mit diesem fuhr, dachte er unwillkürlich an seine Frau Fee.

Man könne ihn doch wirklich nicht aus dem Hause gehen lassen, würde sie sagen. Ja, und dabei hatte er sich doch nur einen Trenchcoat kaufen wollen!

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Dr. Dieter Behnisch war es schon gewohnt, daß sein Freund Daniel ihn von Zeit zu Zeit mit unvorhergesehenen Fällen überraschte.

Aber auch Dr. Pollack, den Notarzt, kannte er gut. Das Mädchen war bedeutend schwerer verletzt als der junge Mann. Es schien sich zur Flucht gewandt zu haben und war in den Rücken getroffen worden. Dr. Behnisch machte ein bedenkliches Gesicht.

Der junge Mann hatte einen Schuß in die Schulter bekommen und auch einen Oberschenkelschuß.

Noch wußte Dr. Norden nicht, wodurch diese beiden jungen Menschen in das Geschehen verstrickt worden waren. Er hatte sich um nichts gekümmert. Er wußte nicht einmal, ob es tatsächlich dieses Mädchen gewesen war, das den Namen Horst gerufen hatte. Er machte sich jetzt auch keine Gedanken darüber. Die sollten ihn erst später beschäftigen, als er den ganzen Hergang erfuhr.

Fee Norden wartete indessen auf ihren Mann. Sie hatte Nachrichten gehört, auch die Meldung, daß auf die Filiale einer Großbank in der Innenstadt ein Raubüberfall verübt worden war, bei dem achtzigtausend Euro erbeutet wurden.

Kein Gedanke kam ihr, daß ihr Mann sich in der Nähe des Tatortes hätte aufhalten können und er sich jetzt mit um die Opfer bemühte. Sie wähnte ihn noch in der Neurochirurgischen Klinik.

Sie bekam es mit der Angst, als ein Funkstreifenwagen vor ihrem Haus hielt, und der Beamte nach Daniel fragte.

»Er war doch in der Neurochirurgischen«, stammelte sie, als ihr gesagt wurde, daß seine Aussage benötigt würde.

Zum Glück und zu ihrer Beruhigung rief da Daniel gerade aus der Behnisch-Klinik an. Er wollte ihr alles später erklären. Sie konnte dem Beamten sagen, daß Daniel sich in der Behnisch-Klinik befände.

»Ich weiß nicht, Lenni«, sagte Fee seufzend zu ihrer treuen Hilfe, »es kommt mir so vor, als laufe Daniel die Gefahr nach.«

»Nur, wenn seine Hilfe gebraucht wird«, meinte Lenni, die jeden Tag Gottes Schutz erflehte für die Menschen, die ihr ein Zuhause gegeben hatten, die Menschen, die Lenni mit ihrem guten, treuen, dankbaren Herzen liebte.

»Was hatte er denn in der Fußgängerzone zu suchen?« meinte Fee nachdenklich.

»Wenn er halt schon mal in der Stadt ist, wollte er sich vielleicht ein bisserl umschauen«, meinte Lenni.

Als Daniel dann nach einer Stunde kam, war seine Erklärung kurz und bündig. »Ich wollte mir einen Trenchcoat kaufen. Ja, du brauchst mich nicht so zweifelnd anzuschauen, mein Schatz, aber wenn mir schon mal solche zündende Idee kommt, kann ich sie nicht ausführen. Wahrscheinlich wärest du mit meiner Wahl doch nicht einverstanden gewesen.« Er versuchte zu scherzen, aber Fee schüttelte den Kopf.

»Solch Zwischenfall brauchte diesen guten Vorsatz nun wahrhaftig nicht zu verhindern«, meinte sie. »Was ist nun eigentlich passiert?«

Von den Polizeibeamten waren die Ärzte ziemlich ausführlich über den Hergang des Geschehens informiert worden.

Die Bank hatte kaum ihre Schalter geöffnet gehabt, als ein maskierter Mann den Kassierer mit einer Schußwaffe bedroht und die Herausgabe des Geldes gefordert hatte. Alles hatte sich abgespielt, wie man es schon oft in den letzten Jahren gehört hatte.

Geistesgegenwärtig hatte der junge Bankangestellte Rolf Grebner die Alarmglocke betätigt. Der Räuber hatte die Flucht ergriffen, Rolf Grebner war ihm gefolgt, andere angeblich auch, während der Kassierer einen Schock erlitten hatte.

Auf der Flucht hatte der Räuber um sich geschossen, dabei das Mädchen getroffen und auch Rolf Grebner. Wie Daniel erfahren hatte, auch noch einen Passanten, der jedoch mit einem Streifschuß davongekommen war. Der Räuber selbst war im Menschengewühl untergetaucht, und eine genaue Beschreibung hatte niemand von ihm geben können, auch Daniel nicht. Blaue Jeans und grüner Parka, wie schon so oft vorher, denn dies schien sich zur Tarnkleidung bei Überfällen als praktisch erwiesen zu haben, da unzählige junge Männer so gekleidet waren.

»Seltsam«, sagte Fee nachdenklich, als Daniel dies berichtet hatte.

»Wieso seltsam?«

»Du hast Verena Reisner besucht, und ihr Verlobter ist doch bei dieser Filiale Kassierer.«

»Woher weißt du das?« fragte Daniel staunend.

»Ich habe Verena vor Weihnachten mal in der Stadt getroffen, nahe der Bank. Ich wollte mir Kleingeld eintauschen, weil man in den Geschäften über Wechselgeld klagte. Sie erzählte mir, daß ihr Verlobter dort beschäftigt sei und sie sich mittags mit ihm treffen wolle, um Einkäufe zu tätigen. Hoffentlich regt sie sich jetzt nicht noch mehr auf.«

»Kaum, die Verlobung ist geplatzt«, sagte Daniel. »Deshalb ihre Depressionen. Er hat sich ziemlich schäbig benommen. Vielleicht hat er auch die Stellung gewechselt.«

»Kann sein«, sagte Fee.

»Wie heißt er eigentlich, außer Herbert? Weißt du das?«

»Ich muß mal überlegen. Seibert oder so ähnlich. Seibold, jetzt habe ich es, ganz gut aussehender Bursche. Verena hat mich mit ihm bekannt gemacht. Er war sehr höflich. Hast du etwas bei Verena erreicht?«

»Ja, ich bin nicht so sanft mit ihr umgesprungen wie der gute Otting. Er ist eigentlich ein bißchen zu sensibel für einen Chirurgen.«

»Als Neurochirurg kann das eigentlich nur von Vorteil sein. Nichts ist so fein verästelt wie unser Nervensystem. War die Operation kein voller Erfolg?«