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Dr. Norden Bestseller
– 76–

Ihr Name ist Katrin

Patricia Vandenberg

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-86377-223-9

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»Notruf, Herr Doktor«, sagte Loni, Dr. Nordens Praxishelferin, aufgeregt. »Die Wagen sind im Einsatz.«

»Wo?«, fragte er.

»Bei der Unterführung.«

»Entschuldigung, Herr Mayer, bitte, haben Sie Verständnis«, sagte Dr. Norden zu seinem Patienten.

Der alte Herr nickte nur, und Dr. Norden war schon an der Tür. Bis zur Unterführung war es nicht weit, schon sechs Minuten später war er da.

Mühsam musste er sich einen Weg durch die Neugierigen bahnen, die sich um die Unfallstelle scharten, und wieder einmal packte ihn der Zorn.

»Ich bin Arzt«, sagte er so barsch, wie es kein Patient von ihm gewohnt war. »Haben Sie nichts anderes zu tun, als hier herumzustehen?«

Man machte ihm Platz. Einige Passanten erkannten ihn und verzogen sich schnell.

Auf der Straße lag ein Mädchen, neben ihr ein Fahrrad. Ein paar Schritte entfernt standen ein Auto und ein Funkstreifenwagen. Ein junges Paar kniete bei der Verletzten, die bewusstlos war.

»Ich war es nicht«, sagte der junge Mann gerade, als Dr. Norden näher trat. »Der Kerl ist einfach weitergefahren.«

Dr. Norden hörte es, aber er kümmerte sich nicht weiter darum. Er beugte sich zu dem Mädchen hinab.

»Katrin«, sagte er bestürzt.

»Sie kennen die Verletzte?«, fragte der Polizist.

»Ja«, erwiderte er kurz. Er fühlte den Puls, zog leicht die Augenlider empor, und da hob schon ein tiefer Atemzug ihre Brust. Benommen sahen die graublauen Augen ihn an.

»Dr. Norden«, flüsterte Katrin Pflüger.

»Wird alles wieder gut, Katrin«, sagte er beruhigend. Dann sah er den Polizisten an.

»Ich bringe sie in die Klinik. Sie ist nicht schwer verletzt. Ihr Name ist Katrin Pflüger. Ich bin Dr. Norden. Sorgen Sie bitte dafür, dass ich mit der Verletzten wenigstens ungehindert zum Wagen komme.«

Er hob die leichte Gestalt auf. Die Passanten verzogen sich. Es ist doch unglaublich, dachte Dr. Norden, immer haben sie es eilig, aber zum Gaffen haben sie Zeit. Tröstlich war es nur, dass die kleine Katrin nicht schwer verletzt war.

Er kannte ihre Eltern, nette, einfache Leute, die immer besorgt um das Mädchen waren. Er kannte auch Katrin, die er mehrmals behandelt hatte.

Behutsam bettete er sie auf den Rücksitz. »Ganz ruhig sein, Katrin«, sagte er. »Ich bringe dich nur vorsichtshalber in die Klinik.«

»Ich muss ins Geschäft«, murmelte sie. »Der Direktor ist so streng.«

»Machen Sie sich darum keine Sorgen«, erwiderte er. »Sie bekommen ja ein Attest.«

Dr. Daniel Norden wusste, wie gewissenhaft Katrin war und wie bedacht auf ihr Fortkommen, froh, ihre Eltern endlich entlasten zu können.

Hermann Pflüger war vor zwei Jahren durch einen Betriebsunfall Halbinvalide geworden und konnte seither nur durch Gelegenheitsarbeiten etwas zu seiner nicht gerade üppigen Rente hinzuverdienen. Lotte Pflüger hatte eine Halbtagsstellung in einem Lebensmittelgeschäft angenommen. Katrin hatte ihre Lehre als Verkäuferin gerade beendet und wurde nun besser bezahlt. Dr. Norden hatte immer bedauert, dass diesem intelligenten Mädchen keine anderen Startchancen geboten werden konnten, aber wenigstens waren die Familienverhältnisse sonst intakt. Die Pflügers hingen mit abgöttischer Liebe an ihrer Tochter, und Katrin erwiderte diese Liebe gleichermaßen.

Daniel Norden brachte Katrin zur Behnisch-Klinik. Auf seinen Freund Dieter Behnisch konnte er sich verlassen. Er würde sich sofort der Verletzten annehmen.

Dr. Dieter Behnisch kannte Katrin ebenfalls. In seiner Klinik hatte Hermann Pflüger drei Monate zugebracht, bis er wieder halbwegs genesen war.

Katrin rollten nun doch Tränen über die Wangen. Sie hatte Schmerzen.

»Es wird gleich besser, Kleine«, sagte Dr. Behnisch. Er gab ihr eine Injektion, dann sah er Dr. Norden an.

»Ich untersuche sie und erstatte dir Bericht, Daniel. Wie ist es denn passiert?«

»Sie ist angefahren worden. Genaues weiß ich noch nicht. Anscheinend hat der Schuldige Fahrerflucht begangen.«

»Diese Lumpen«, knurrte Dr. Behnisch.

*

An der Unfallstelle waren die Personalien der Zeugen aufgenommen worden. Zuverlässig war nur das junge Ehepaar, das hinter dem Wagen gefahren war, der Katrin gestreift und dann auch noch geschnitten hatte. Sie hatten glücklicherweise noch bremsen können, da sie schon gesehen hatten, dass die Ampel auf Gelb gewesen war.

Sie hießen Gerd und Renate Büchner. Der Schreck saß ihnen noch gewaltig in den Gliedern.

Es sei ein grauer Mercedes gewesen, erklärten sie. Die Nummer hätten sie sich leider nicht merken können. Sie hatten ja auch nicht geahnt, dass so etwas passieren würde.

Im Wagen hätte nur ein Mann gesessen, erklärte Renate Büchner. Zuerst hätten sie sich geärgert, dass er gar so langsam fuhr, aber dann hätte er plötzlich Gas gegeben, als das Mädchen auf die Kreuzung zufuhr.

Sie wollten sich gern als Zeugen zur Verfügung stellen, wenn der Schuldige gefunden würde, wollten dann aber gern schnell fort. Sie betrieben eine Lottoannahmestelle mit Tabakwaren und Zeitschriftenhandel, und am Freitag war da immer besonders viel zu tun.

Die Personalien waren aufgenommen, sie konnten weiterfahren. Nun hatten sie sich halbwegs beruhigt.

Im Kaufhaus Heller wurde Katrin vermisst. Zuerst von dem jungen Abteilungsleiter Robert Brehm, der Katrin nicht nur als Angestellte betrachtete, wenngleich er dies niemandem zeigte, auch ihr nicht. Er blickte immer wieder auf die Uhr. Katrin war sonst überpünktlich.

Der Geschäftsführer Rainer John kam daher. »Frau Pflüger immer noch nicht da?«, fragte er in seiner herablassenden Art.

»Nein«, erwiderte Robert.

»Und keine Entschuldigung?«, fragte der andere.

Robert schüttelte besorgt den Kopf. »Sie ist sonst sehr zuverlässig«, erklärte er, bemüht, Katrin zu verteidigen.

»Bummelei lassen wir gar nicht erst einreißen«, sagte der Geschäftsführer. »Sie soll sich bei mir melden, wenn sie kommt.«

Robert sandte ihm einen zornigen Blick nach. Er mochte diesen Mann nicht. Er war ihm von Anfang an ­unsympathisch gewesen. Niemand mochte ihn so recht, aber schließlich war er der Neffe des verstorbenen Inhabers.

Das Kaufhaus Heller war kein Konzern. Es war ein Familienunternehmen seit achtzig Jahren. Aber weit von der City entfernt, in der sich die Kaufhäuser aneinanderreihten, hatte er sich sehr gut behaupten können. Es florierte und besaß eine gesunde finanzielle Basis. Sebastian Heller war nie ein Risiko eingegangen.

Früh verwitwet nach einer kinderlosen Ehe, hatte er nicht wieder geheiratet. Er hatte wohl schon gespürt, dass eine unheilbare Krankheit ihn aufzehrte. Vor einem Jahr war er gestorben, aber wer nun eigentlich sein Erbe war, wusste niemand.

Sein Freund Konrad Dippmann war als Direktor und Treuhänder eingesetzt worden. Er war genauso ein Eigenbrötler wie Sebastian Heller einer gewesen war. Er führte die Geschäfte auch genauso weiter, auf solider Basis und ohne Expansionsgelüste. Er hatte strenge Prinzipien, nach denen man sich richtete, denn die Bezahlung war gut.

Auch Rainer John wurde nicht bevorzugt behandelt. Robert wusste, dass er sein Gehalt bekam wie jeder andere und keinerlei Privilegien genoss. Er spielte sich nur gern auf, wenn der Chef nicht in der Nähe war.

Es verging noch eine Stunde, bis die Nachricht durchgegeben wurde, dass Katrin einen Unfall gehabt hatte. Mit zitternder Stimme hatte es Frau Pflüger telefonisch mitgeteilt.

Robert Brehm war kreidebleich geworden. Er konnte sich nicht konzentrieren. Doch heißer Zorn stieg in ihm empor, als Rainer John sagte: »Warum muss sie denn auch mit dem Rad fahren? Es gibt ja genügend öffentliche Verkehrsmittel.«

*

Dr. Norden hatte die Unglücksbotschaft den Pflügers persönlich und schonend mitgeteilt. Obgleich er erklärte, dass Katrin nur leicht verletzt sei, war die Sorge groß. Das Ehepaar hatte sich gleich auf den Weg zur Behnisch-Klinik gemacht, und erst dort war es Frau Pflüger eingefallen, dass sie Katrins Chef benachrichtigen musste.

Frau Pflüger arbeitete nachmittags. Auf ihren Verdienst konnte sie nicht verzichten. Viel blieb ihnen ohnehin nicht übrig für Sonderausgaben, denn die Miete war erhöht worden, und alle anderen Kosten waren auch gestiegen. In vier Wochen feierte Katrin ihren achtzehnten Geburtstag, und da hatten sie ihr etwas Hübsches schenken wollen. Jetzt hatten sie nur Angst um die geliebte Tochter.

Katrin war bei Bewusstsein, als die Eltern kamen, zwar immer noch benommen, aber schon bestens versorgt.

»Ist ja nicht so schlimm, Mutti«, sagte sie tröstend. »Morgen kann ich schon nach Hause. Es sind nur Prellungen und ein paar Platzwunden.«

Die Pflügers waren stille Menschen. Sie jammerten nicht. Sie dachten nur, dass es böse hätte ausgehen können. Nun waren sie dankbar, dass sie mit Katrin sprechen konnten.

»Der gute Dr. Norden war gleich da und hat mich in die Klinik gebracht«, sagte Katrin. »Sie haben mich geröntgt und nichts weiter feststellen können.«

»Auf Dr. Behnisch ist auch Verlass«, sagte Hermann Pflüger. Er vergaß nicht, was er diesem fürsorglichen Arzt zu verdanken hatte. Er war als Lagerist in einem Großunternehmen beschäftigt gewesen und wäre fast von einem Gabelstapler erdrückt worden, der falsch bedient worden war. Mit lebensgefährlichen inneren Verletzungen war er in die Behnisch-Klinik eingeliefert worden, aber Dr. Behnisch hatte das Wunder vollbracht und sein Leben gerettet.

Katrin streichelte seine Hand. »Du hast viel mehr durchmachen müssen, Vati«, sagte sie zärtlich. »Macht euch jetzt nur keine Sorgen um mich.«

Sie war ein tapferes Mädchen, und ein bildhübsches dazu. Sicher war auch Frau Pflüger mal ein hübsches Mädchen gewesen, aber keinesfalls so apart wie Katrin, mit dem wunderschönen Blondhaar und den großen, sprechenden Augen, dem fast klassisch zu nennenden Profil.

Mit so reichen Gaben der Natur ausgestattet, war sie weder eitel noch oberflächlich. Sie war ein vielseitig interessiertes Mädchen und hatte ein bedeutend besseres Benehmen als so manches Mädchen, das in weitaus besseren wirtschaftlichen Verhältnissen aufgewachsen war. Allerdings musste auch gesagt werden, dass ihre Eltern ­alles getan hatten, um sich selbst weiterzubilden und auch Katrin zu fördern.

Katrin wollte es auch weiterbringen im Leben und deshalb so schnell wie nur möglich an ihren Arbeitsplatz zurückkehren.

Sie war glimpflich davongekommen, aber Dr. Behnisch hielt es doch für besser, wenn sie ein paar Tage wenigstens daheim bleiben würde.

Jedenfalls konnte er seinem Freund und Kollegen Dr. Norden berichten, dass Katrin keinerlei innere Verletzungen davongetragen hatte und sie auch sonst keine Narben behalten würde.

»Wäre auch schade um das reizende Geschöpf«, meinte er abschließend.

Dieser Meinung war Daniel ebenfalls. Seine Frau Fee war sehr erschrocken, als er ihr von dem Unfall erzählte.

»Gerade jetzt, wo es ein bisserl besser für sie werden könnte«, sagte sie bedauernd.

»Ihre Stellung wird sie deshalb nicht verlieren«, äußerte sich Daniel.

»Aber dieser neue Geschäftsführer ist ein Unsympath«, stellte Fee fest. »Warum Dippmann ihn nur eingestellt hat, möchte ich wissen. Er ist zwar ein Sonderling, aber in der Auswahl der Mitarbeiter doch sehr vorsichtig.«

»Die Erklärung ist ganz einfach, mein Schatz, John ist der Neffe von Heller, und der hat wohl bestimmt, dass er einen Posten bekommen soll, wenn er selbst Wert darauf legt.«

»Woher weißt du das? Du hast mir davon nichts erzählt.«

»Weil es mir nicht wichtig erschien. Ich weiß es von Dippmann selbst, als ich ihn letzthin wegen seiner Magenbeschwerden behandelt habe. Er bemerkte recht grimmig, dass er auf diesen John leicht verzichten könne und dass seine Beschwerden wohl auf ihn zurückzuführen wären.

»Dann stehe ich mit meiner Meinung also nicht allein da«, sagte Fee zufrieden.

»Ganz gewiss nicht.«

Das konnte man laut sagen. In der Mittagspause ließen sich einige der Angestellten, die ihre Mahlzeit in einem benachbarten Restaurant einnahmen, unwillig über Rainer John aus.

Sogar die Kassiererin, Frau Heindl, die schon seit zwanzig Jahren in der Firma tätig war, regte sich über ihn auf.

»Was dieser Schnösel eigentlich will«, meinte sie, »hat von Tuten und Blasen keine Ahnung und betont nur immer wieder, dass er Akademiker sei. Ich möchte wissen, was der studiert hat. Es macht schon fast keinen Spaß mehr. Wenn ich eine andere Stellung finde, kündige ich.«

Doch sie wusste, dass das in ihrem Alter nicht so einfach sein würde, denn sie ging schon auf die Fünfzig zu.

»Nötig scheint er es doch nicht zu haben«, sagte eine junge Verkäuferin. »Er hat schon wieder einen neuen Wagen. Diesmal einen ganz tollen Renner.«

»Alles Angabe und nichts dahinter«, meinte Frau Heindl.

»Aber er ist der einzige Verwandte von Herrn Heller und wird schließlich doch mal alles erben.«

»Dann hätte er doch schon geerbt«, sagte nun Frau Heindl wieder. »Nein, der Heller war wirklich helle, der hat bestimmt ein ganz vertracktes Testament gemacht. Wenn der John der Erbe wäre, würde er sich noch viel mehr aufspielen, und den Herrn Dippmann hätte er auch schon rausgesetzt. Wenn der auch seine Mucken hat, vom Geschäft versteht er was. Na ja, dann wollen wir mal wieder, Leute. Hoffentlich ist der kleinen Pflüger nicht zu viel passiert.«

Katrin war beliebt, obgleich sie immer zurückhaltend war und auch nie an der Tischrunde teilnahm.

»Ich erkundige mich heute Abend mal«, sagte Sonja Moralt. »Wir wohnen ja in der Nähe. Ich habe ihr schon ein paarmal gesagt, dass sie nicht mit dem Radl fahren soll, aber sie spart ja, wo sie nur kann.«

Sonja brauchte nicht zu sparen. Ihr Vater war Taxiunternehmer und verdiente sehr gut. Sie war Verkäuferin geworden, weil sie in der Schule keine Leuchte gewesen war, aber sehr viel Neigung für diesen Beruf zeigte. Sie war ein geselliges Mädchen, das Leben und Abwechslung brauchte und sehr kontaktfreudig war. Sie war das, was man flott nannte und verstand es auch, den Kunden etwas aufzuschwatzen, was sie eigentlich gar nicht haben wollten.

Sie war neunzehn und bereits verlobt mit dem Sohn eines Elektromeisters, der das Geschäft seines Vaters übernehmen sollte.

Obgleich sie immer schick gekleidet war, konnte sie Katrin nicht in den Schatten stellen, und das wusste sie auch. Getauscht hätte sie aber doch nicht gern mit Katrin, denn ihr angenehmes Leben war ihr lieber. In anderer Art als Katrin war sie sogar sehr nett. Und sie hatte Rainer John, der schon ein paarmal versucht hatte, mit ihr anzubandeln, gestrichen, wie sie selbst sagte.

Sie hakte sich bei Frau Heindl ein, als sie zurückgingen.

»Übrigens habe ich John neulich mit so einem Dämchen gesehen, mehr Halbwelt als Welt«, sagte sie gedämpft. »Ich will es nur nicht herumtratschen, sonst kommt es ihm zu Ohren, und dann ekelt er mich raus.«

»Na, das passt ja zu ihm«, sagte Frau Heindl brummig, »er ist ja auch so ein Gigolo. Vielleicht hat Herr Heller für ihn eine Bewährungszeit angeordnet.«