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Simon Reynolds

GLAM

Glitter Rock und Art Pop
von den Siebzigern
bis ins 21. Jahrhundert

Aus dem Englischen
von Jan-Niklas Jäger

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Aus dem Englischen von Jan-Niklas Jäger,
Übersetzung der Kapitel »Zeitmaschinen« und
»Barock ’n’ Roll« von Tanita Sauf

Abbildungen: Archiv Simon Reynolds,
Copyright bei den Labels/Verlagen

© 2016 by Simon Reynolds. All rights reserved.
Originaltitel: »Shock and Awe. Glam Rock and its Legacy«,
erschienen bei Faber and Faber Ltd. Großbritannien

© der deutschen Übersetzung:
Ventil Verlag UG (haftungsbeschränkt) & Co. KG, Mainz,
November 2017

Abdruck, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher
Erlaubnis des Verlages. Alle Rechte vorbehalten.

1. Auflage 2017
print-ISBN 978-3-95575-080-0
e-ISBN 978-3-95575591-1

Gesamtgestaltung und Satz: Oliver Schmitt
Druck und Bindung: Buchdruck Zentrum

Ventil Verlag, Boppstr. 25, 55118 Mainz
www.ventil-verlag.de

INHALT

Einleitung

Boogie Poet: Marc Bolan und T. Rex

John’s Children – Tyrannosaurus Rex – T. Rex

The London Boy: Bowies Anfänge

David Bowie – Anthony Newley – Lindsay Kemp – Oscar Wilde

Elected: Alice Cooper und Schock Rock

Alice Cooper

Teenage Rampage: Glitter Stomp und Disco Rock

Slade – The Sweet – Mud – Suzi Quatro – Gary Glitter –
Junkshop-Glam – Hello

Hard to Be Real: David Bowie und Freunde
erobern die Welt

David Bowie – Lou Reed – Mott the Hoople –
Iggy and the Stooges – Jobriath

Welches Datum haben wir noch mal?
Die retrofuturistischen Visionen von Roxy Music

Roxy Music – David Bowies Pinups – Bryan Ferry

Trash City: New York Dolls und Wayne County

Wayne County – Theatre of the Ridiculous – The Cockettes –
John Waters und Divine – Andy Warhol und Paul Morrissey –
New York Dolls

Zeitmaschinen: Flashbacks aus den 1950ern
und Rock-’n’-Roll-Reminiszenzen

Rock Dreams – Wizzard – The Moodies – David Essex – Rock Follies –
The Rocky Horror Picture Show

Barock ’n’ Roll: Der späte Glam Rock

Steve Harley und Cockney Rebel – Sparks – Jet – Queen – Be-Bop Deluxe

Run for the Shadows: Bowie vs. Los Angeles

David Bowie – The English Disco – Silverhead – Zolar X –
Les Petites Bonbons – Der Mann, der vom Himmel fiel

Ultraviolence: Punk before Punk

Heavy Metal Kids – The Sensational Alex Harvey Band – The Tubes –
The Runaways – Doctors of Madness – Ultravox

Just Another Hero: Bowies Berlin

David Bowie – Iggy Pop – Kraftwerk – Brian Eno

Nachbeben: Eine unvollständige Bestandsaufnahme
der Echos und Spiegelungen von Glam
:

Johnny Rotten – Poly Styrene – Siouxsie Sioux – Kate Bush – Japan –
Grace Jones – Klaus Nomi – Steve Strange – Adam Ant –
Bauhaus – Prince – Bryan Ferry – Morrissey – Leigh Bowery –
Hair Metal – Madonna – Suede – Marilyn Manson – Electroclash –
Lady Gaga – Kanye West – Ke$ha – Beyoncé – Drake –
Nicki Minaj – Sia – David Bowie

Danksagung

Bibliographie

Namensregister

Mehr zum Thema Glam unter
shockandawesimonreynolds.blogspot.com

Für meinen verstorbenen Vater Sydney,
der mir einen Hauch von Wahnsinn vererbte

Für meine Mutter Jenny,
die mich vernünftig erzogen hat

In Erinnerung an Jessica Maynard
17. April 1964 – 27. April 2016

»Alles Äußere sagt dem Individuum, es sei nichts.
Alles Innere sagt ihm, es sei alles.«
Anonym

(aus: D. T. Suzuki, Lectures on Zen Buddhism, 1957)

EINLEITUNG

Irgendwo zwischen »All You Need Is Love« und »Hot Love«, zwischen den Beatles und T. Rex, betrat ich die Welt der Popmusik. Sie offenbarte sich mir vor allem über den Fernsehbildschirm, über Kindersendungen und Top of the Pops.

Vier Jahrzehnte lang lief Top of the Pops. Den Großteil dieser Jahre bildeten die aktuellen und zukünftigen Chart-Hits eine bunt zusammengewürfelte Mischung aus mittelmäßigem, neuartigem und professionellem Pop. In den frühen 1970ern kippte die Sendung allerdings ins Überdrehte und Verrückte – der britische Pop wurde überrannt vom Absurden, Exzessiven und Grotesken. Top of the Pops schien plötzlich knallbunt, selbst auf den Schwarz-Weiß-Fernsehern, die in diesen Jahren noch in den meisten britischen Haushalten standen.

Auch wir hatten so einen Fernseher. Bis 1971, als ich acht war, besaßen wir gar keinen, darum ist Glam die erste Popmusik, an die ich mich deutlich erinnern kann. Ich kannte Glam aber nicht als Glam, als einen bestimmten, eigenständigen Abschnitt der Popgeschichte. Was ich da auf dem Bildschirm sah, war schlicht und einfach das, was Pop zu dieser Zeit darstellte: extrem und fantastisch, gleichzeitig albern und unheimlich.

Eine meiner frühesten Pop-Erinnerungen ist, wie mich der Anblick und der Sound von Marc Bolan bei Top of the Pops aufwühlten, er sang vermutlich »Children of the Revolution« oder »Solid Gold Easy Action«. Mehr noch als die bedrohliche Sinnlichkeit des T.-Rex-Sounds zog mich Bolans Look in seinen Bann. Seine Haare, die sich wie elektrifiziert kräuselten, seine von Glitter bedeckten Wangen, dann noch dieser Mantel, der aus Metall zu sein schien – Marc wirkte wie ein Kriegsherr aus dem Weltraum.

Marc Bolan war der Funke, der die Glam-Explosion zündete, und er bekam schnell Gesellschaft: Der Plastik-Aufstand von The Sweet. Gary Glitters wilder Bubblegum. Das triumphierende Stampfen und Brüllen von Slade. Wizzards knallige Fanfaren und gefärbten Haare. Das gesittete Auftreten zu tobendem Lärm von Roxy Music. Alice Cooper, der dämonische Rattenfänger. Die verwegene Schauspielkunst der Sparks. Und mittendrin David Bowie, der in seiner eleganten Sonderbarkeit das ganze Jahrzehnt überstrahlte, wie es die Beatles in den 1960ern getan hatten. »Space Oddity« – 1975 wiederveröffentlicht und sein erster Nummer-eins-Hit – beeindruckte mein junges Ich nachhaltig.

Die aus Glam abgeleitete Vorstellung davon, was Pop ist und sein sollte – außerirdisch, sensationalistisch, hitzig und witzig, ein Ort, an dem das Erhabene und das Lächerliche nicht auseinanderzuhalten sind –, hat mich seitdem nie wieder verlassen.

Mitte der 1980er entdeckte ich Glam wieder. Mittlerweile war ich zum leidenschaftlichen Musikfan und jungen, unerfahrenen Kritiker gereift. Zu den Eindrücken, die sich aus meiner Kindheit eingebrannt hatten, gesellten sich nun reflektierte Gedankengänge: Ich bekam zunehmend das Gefühl, dass die radikale Offenlegung und Entmystifizierung der Prozesse und Mechanismen hinter dem Spektakel durch Punk und Post-Punk auch einen Verlust bedeuteten. Während ich die knisternden Singles hörte, die meine Freunde und ich in Secondhandläden und auf Flohmärkten ausgegraben hatten – Songs von The Sweet, Glitter, Hello, Alice Cooper –, zog mich eine Epoche in den Bann, in der Pop gigantisch und wahnsinnig gewesen war, voll von großen Gesten und Leidenschaft. Diese längst vergangene Zeit schien das Gegenteil vom Pop der Post-Post-Punk-Ära der 1980er zu sein, denn der war erwachsen, verantwortungsbewusst, einfühlsam und sozial engagiert.

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Glam – in den USA auch Glitter genannt – bezeichnet eine Gruppe von Künstlern und Bands, die oft über Zusammenarbeiten und das gleiche Management miteinander verbunden waren und sich in freundschaftlicher Rivalität gegenseitig anstachelten. Glam beschreibt auch ein Bewusstsein, einen Zeitgeist, der Anfang der 1970er aufkam und vier Jahre lang aufblühte, ehe er kurz vor der Punk-Explosion wieder versandete. Über seine allgemein akzeptierte historische Rolle (als Ära, Genre, Szene, Bewegung) hinaus kann Glam auch als zusammenhängendes Ganzes betrachtet werden. Als solches umfasst er sowohl seine Vorläufer im Rock selbst (die Rolling Stones, The Velvet Underground, Little Richard und andere) als auch deren Vorgänger, die bis tief ins 19. Jahrhundert oder sogar noch weiter zurückreichen. Heute gibt es Fans, Kritiker und Künstler, für die Glam eine Lebensüberzeugung, ja fast schon eine Weltanschauung ist. Für diese Leute dient er als Prisma, durch das sie alles wahrnehmen, was sie an Musik und Popkultur schätzen.

Im Sinne dieses Buches ist Glam ein dehnbarer Begriff, unter den außer den offensichtlichen Kandidaten auch ein paar ungewöhnlichere Interpreten des Art Pop sowie dem theatralischem Rand des Rockspektrums fallen, etwa The Sensational Alex Harvey Band, The Tubes oder Queen. Wie die meisten Musikgenres und -szenen ist auch Glam unscharf definiert und überschneidet sich mit angrenzenden Stilen wie Teenybop, Prog Rock, Singer-Songwriter und Hard Rock. Auch als Epoche ist der Anfang und das Ende von Glam nur schwer greifbar. Künstler wie Bowie, T. Rex, Alice Cooper oder Roxy Music entstammten dem Hippie-Underground und brauchten eine Weile, um sich von ihren post-psychedelischen Einflüssen zu lösen. Und viele seiner späteren Vertreter deuteten bereits auf Punk hin und erlebten in der New-Wave-Phase der späten 1970er sogar einen zweiten Frühling. Also habe ich den Begriff großzügig und lose ausgelegt und, statt mich wegen strikter Definitionen verrückt zu machen, stets den Weg eingeschlagen, den mir die Musik, ihre Protagonisten und deren Geschichten vorzugeben schienen.

Einer Frage lässt sich nichtsdestotrotz kaum aus dem Weg gehen: Was genau ist es, das den Glamour des Glam von den üblichen Tumulten des Pop unterscheidet? Schließlich sind Eleganz, durchgeplante Bühnenkunst und Spektakel – in welchem Ausmaß auch immer – ein fester Bestandteil des Showbiz im Allgemeinen und von Pop im Speziellen. Ein entscheidender Unterschied liegt im unerschütterlichen Selbstbewusstsein, mit dem Glam-Künstler Kostüme, Theatralität und die Verwendung von Requisiten zelebrierten, denn das geschah oft nah an der Grenze zur Parodie. Glam Rock lenkte die Aufmerksamkeit auf seinen eigenen Täuschungscharakter, inszenierte sich offen als Fake. Als Performer agierten Glam-Künstler despotisch: Sie dominierten ihr Publikum, wie es eigentlich alle wahren Entertainer tun. Doch gleichzeitig betrieben sie gewissermaßen eine spöttische Dekonstruktion ihrer Rollen und Posen, persiflierten die Absurdität nicht nur ihrer eigenen Performance, sondern des Prinzips der künstlerischen Darbietung an sich.

Glam Rock stellte seinen Glamour aber auch deswegen so offen zur Schau, weil er eine Reaktion auf die vorhergehende Epoche war. Der »Unglam«-Rock, der reife, leger gekleidete Rock von 1968 bis 1970, machte Glam überhaupt erst möglich und gab ihm eine Linie: die trotzige Zelebrierung von Glitzer, Leicht- und Unsinn. In der Zeit von 1968 bis 1970 – der Ära von Abbey Road, Music from Big Pink, Atom Heart Mother, At Fillmore East, Déjà Vu, Tommy, Blind Faith – wurde Rockmusik erwachsen. Kindische Dinge wie Singles und Pop-Images blieben dabei auf der Strecke. Die Stadien und Radios wurden von sanftem Country Rock, Hippie-Jam-Bands in Ockerfarben und zahllosen unscheinbaren bluesbeeinflussten Boogie-Bands dominiert. Egal ob sie sich an ihren Wurzeln orientierten oder versuchten, sich weiterzuentwickeln: All diese Bands waren sich darin einig, dass es im Rock um die Musik ging und zwar um nichts anderes als die Musik. Ein Image zu pflegen oder eine große Show aufzuziehen, galt als unreif, spießig, kommerziell.

Glam begehrte gegen diese trostlose Ansammlung von Bärten und Jeans auf und wurde so zur ersten Teenage-Rebellion des neuen Jahrzehnts. In mancher Hinsicht war er die Wiederauferstehung des Geistes der 1950er, als Rock ’n’ Roll noch etwas war, das man sowohl hören als auch sehen konnte: den extravaganten Camp Little Richards etwa oder die ungebändigte Selbstdarstellung eines Jerry Lee Lewis. Um eine ähnliche audiovisuelle Wirkung zu erreichen, mussten die Glam-Rocker allerdings noch ein paar Schritte weiter gehen: die im Pop der 1950er und 1960er bereits vorhandenen androgynen und homoerotischen Strömungen noch verstärken, mit dem Nervenkitzel von Verweigerung und Dekadenz flirten, das Publikum mit grell übertriebenen Kostümen und inszenierten Skandalen in Ehrfurcht erstarren lassen.

Auch musikalisch bedeutete Glam eine Rückkehr. Zur Simplizität des Rock ’n’ Roll der 1950er und der Härte der Beat-Gruppen von Anfang bis Mitte der 1960er. Glam schickte sich also an, die vorherige Rockmusik – den stark behaarten Heavy Rock – komplett ins Gegenteil umzukehren: An die Stelle von protziger Musik und simplen Klamotten traten protzige Image-Exzesse zu simplem, auf sein Wesentliches reduzierten Rock ’n’ Roll.

Was Glam daran hinderte, zu einer bloßen Nachahmung der Vergangenheit zu verkommen, war die Nutzung neuer Studiotechnik, die in der zweiten Hälfte der 1960er aufgekommen war und die vor allem den Klang der Gitarren und die Aufnahmetechnik des Schlagzeugs revolutionierte. Das Resultat war eine Mischung aus Primitivismus und einer Produktion, die das Unmenschliche und das Übermenschliche auf aufregende Weise miteinander vereinte. Glitter Rock war genauso sehr ein Rückblick in die 1950er wie eine Vorschau auf Punk. Am innovativsten war er in den Händen von Leuten wie Mike Chapman, Mike Leander, Phil Wainman und Jeff Wayne, die verschiedene Hitfabriken betrieben. Die Musik, die sie produzierten, war, wie es Chapman ausdrückte, »so entworfen, dass man sie sehen wie auch hören« konnte. Jede Hit-Single übte auf die Hörer einen ähnlichen Effekt aus wie ein im Radio ausgestrahltes Drama.

Auch die politischen und philosophischen Prinzipien des Spät-60er-Rocks der Hippie-Ära stellte Glam auf den Kopf. Anders als es der inzwischen dahinsiechende Gemeinschafts-Ethos der Hippies wollte, hatte Glam kein Interesse daran, gemeinschaftlich die Welt zu verändern. Stattdessen suchte er einen individuellen Fluchtweg aus der Realität in eine grenzenlose Fantasiewelt voller Ruhm und Verrücktheiten. Angetrieben wurden seine Vertreter von einer halbironischen, aber doch todernsten Besessenheit von Starruhm und all den Fallen, die prunkvoller Luxus mit sich bringt. Glam brach mit den Frömmeleien der Hippie-Generation und zelebrierte Illusionen und Masken anstelle von Wahrheit und Aufrichtigkeit. Glam-Idole wie Bowie, Alice Cooper, Gary Glitter, Bryan Ferry und andere waren überzeugt, dass die Figur, die man auf der Bühne sehen oder auf der Platte hören konnte, keine echte Person war, sondern eine Rolle – und die wiederum hatte nicht unbedingt etwas mit dem eigentlichen Selbst oder dem Alltag des Künstlers zu tun.

Das Zelebrieren von Image und Schauspiel bedeutete eine komplette Umkehrung der Prinzipien und Ideale der 1960er. Den Weg hatte das 1962 erschienene Buch Das Image vorgegeben, in dem Daniel J. Boorstin eine vielgelesene Analyse dessen, was er »die Bedrohung der Unwirklichkeit« nannte, vorgenommen hatte, die sich in alle Bereiche amerikanischen Lebens und amerikanischer Kultur schleiche. Das Image – geschrieben in der Anfangszeit der Präsidentschaft John F. Kennedys – beurteilt nüchtern die neu aufgekommene Politik der Fototermine und Publicity Stunts, die Boorstin als »Pseudo-Events« bezeichnet. Sein Buch strotzt nur so von einer Bildsprache aus Dunst, Nebel, Schatten und Phantomen. Dabei diagnostiziert es die soziokulturelle Krankheit der »Nichtigkeit«, in der »der Leerraum unserer Erfahrung dadurch noch weiter geleert wird, dass wir uns begierig mit mechanischen Geräten herumplagen, um ihn zu füllen«. Prominente bezeichnete er als Menschen, die »dafür bekannt sind, bekannt zu sein« und die nichts weiter wären als »Gefäße, in die wir unsere eigene Bedeutungslosigkeit schütten […], wir selbst in einem Vergrößerungsglas«. Die Medien, primär Nachrichten und Werbung, schürten demnach große Erwartungen an das Leben sowie einen unersättlichen Appetit nach Stimulierung und eine nicht auszuhaltende Masse an Neuheiten und Neuartigkeiten. Also würde der Leerraum mit Pseudo-Events gefüllt: Meinungsumfragen, politisches Theater, Fototermine, Award-Zeremonien. Dieses fatale Verwischen der Grenzen zwischen wahr und falsch, zwischen echt und künstlich habe »eine neue Undefinierbarkeit und Ambiguität« in den Alltag eingeführt.

Boorstin bezieht sich auf die Erkenntnisse des Soziologen Erving Goffman, der in seinem Werk Wir alle spielen Theater: Die Selbstdarstellung im Alltag von 1959 vom Aufstieg des Begriffes »public image« schrieb, wie er von Entertainern und Prominenten über Konzerne bis zur Nation selbst (Amerikas Projektion seiner Stärke auf andere Länder) benutzt wurde. Dieses Denkbild sickerte bis in den Alltag und die Selbstauffassung gewöhnlicher Bürger durch. So weit verbreitet war der Begriff, dass ihn Muriel Spark Ende der 1960er als Titel ihres Romans The Public Image (dt.: In den Augen der Öffentlichkeit) benutzte. Darin geht es um eine englische Schauspielerin, deren Balance zwischen ihrer Film-Persona und ihrem gleichermaßen inszenierten Privatleben aus dem Gleichgewicht gerät, als ihr geistig unausgeglichener Ehemann Selbstmord begeht – nachdem er einen Skandal in die Wege geleitet hat, der ihr Ende bedeutet.

Dieses negative Konzept des Prinzips »Image« war in den 1960ern stark verbreitet. Es war Teil einer immer stärker werdenden Rezeption des öffentlichen Lebens als Reich der Unwahrheiten und Fassaden. Dagegen setzte sich die Überzeugung durch, dass »die Wahrheit dich befreien wird« – der Motor fast jeder Art des Widerstands der Bohème, der sich in diesem Jahrzehnt regte. Das bürgerliche Leben galt als gelähmt durch Tabus, Zensur und Konditionierung, weil es von allem, was echt und rau war, ferngehalten würde. Dementsprechend sei es zur Unnatürlichkeit und Unterdrückung verdammt. Die beeindruckendsten Waffen der Gegenkultur waren ihre ungeschönte Ehrlichkeit und ihr Aufruf nach mehr Wirklichkeit und Natürlichkeit.

Dieser Drang, die unschöne Wahrheit zu sagen und aufzuzeigen, kam zuerst Mitte der 1950er auf, mit den als Angry Young Men bekannten Schriftstellern in Großbritannien und den Beat-Autoren in Amerika. In Amerika fanden sich zudem Gleichgesinnte wie Norman Mailer und Jackson Pollock, dessen »I Am Nature«-Spontaneität auf jedes seiner Gemälde tropfte (aber auch in den Kamin von Peggy Guggenheim, als er in diesen während einer Dinnerparty urinierte). Auch die Teenager-Ikone Holden Caulfield aus Der Fänger im Roggen lästert ständig über die Scheinheiligkeit der Erwachsenen, was ein paar Jahre später wiederum ein Echo bei Bob Dylan fand, als dieser in »It’s Alright, Ma (I’m Only Bleeding)« sang: »All is phony.« Der Schutzheilige (oder besser Antiheilige) der »Die Wahrheit wird dich befreien«-Ära war jedoch kein Maler, Poet oder Rocksänger, sondern ein Komiker. Lenny Bruce betrachtete seinen Stand-up nicht nur als Vehikel für derbe Scherze, sondern auch als Möglichkeit, sein Recht darauf einzufordern, sagen zu können, was er wollte. Bruce, so Albert Goldman, verehrte »die Götter von Spontaneität, Freimütigkeit und freier Assoziation« und sah sich selbst als das Comedy-Äquivalent von Charlie Parker. Seine improvisierten Bühnennummern hatten etwas von »Écriture Automatique« …

Auch das Theater selbst wurde in den 1960ern von der Wirklichkeit attackiert. Autoren wie Joe Orton schrieben Stücke, deren Sprache und Inhalte sich jedem Anstand verweigerten. Die Suche nach Ehrlichkeit war zudem das Thema mehrerer Theaterstücke. Edward Albees Wer hat Angst vor Virginia Woolf? etwa, dessen Titel, so sein Autor, sich übersetzt als »Wer hat Angst vor einem Leben ohne Illusionen?« Manche radikale Theatergruppen wie das Living Theatre versuchten, die Realität in Form von Improvisationen, Nacktheit und Konfrontation des Publikums auf die Bühne zu holen. Gleichzeitig gab es eine als Post-Method-Acting gut umschriebene Schauspielschule, deren Schauspieler und Regisseure sich an einer enttheatralisierten Form des Theaters versuchten, etwa durch nervöse Zuckungen oder indem sie ihre Zeilen nur vor sich hin nuschelten. Letzten Endes entwickelte sich daraus aber ein Stil, dessen Eigenarten genauso gespielt und zeitgebunden wirken wie die Hollywoods in der goldenen Ära, als Selbstsicherheit und rhetorische Finessen das Maß aller Dinge waren. In der Tat scheint es so, als würde jeder Versuch, realistische Kunst zu machen – egal ob reduziert oder derb –, nur ein neues Repertoire an stilisierten Konventionen und standardisierten Gesten hervorbringen. Bowie etwa war sich dessen völlig bewusst. Er hatte verstanden, dass auch Rockmusik eine Performance von Wahrhaftigkeit ist und nicht ihre ungebrochene Abbildung auf einer Bühne.

Eines der frühesten und wichtigsten Magazine der Gegenkultur nannte sich The Realist. Es wurde 1958 von Paul Krassner mit dem Ziel gegründet, die »Realität« zu enthüllen und sah sich als Opposition zum »Land, in dem Träume wahr werden«, also dem Mainstream-Amerika, das vom Fernsehen und Hollywood repräsentiert wurde. Ähnliche Motivationen hatten The Fugs, die ihre Vulgarität selbst in ihrem Bandnamen nur im Ansatz versteckten, und Al Goldsteins Pornoheft Screw, das sich gegen Playboys Traumwelt von »haarlosen Frauen und schwanzlosen Männern« positionierte und in seiner Erstausgabe 1968 verkündete, dass »die Fantasie in der Welt des Sex die Realität verdrängt« und allen Formen von »Scheinheiligkeit und Täuschung« den Krieg erklärte.

Seinem ungezügelten Sexismus zum Trotz war Screw ein ungewöhnlicher Verbündeter für angriffslustige radikale Feministinnen wie Germaine Greer, die ein genauso kompromissloses, nichts der Fantasie überlassendes Sexheft mitbegründete, das sogar einen ähnlichen Namen trug: Suck. Auch der Feminismus der ersten Welle wurde von dem Bedürfnis angetrieben, die nackte Wahrheit zu enthüllen: den Kern von Femininität abseits ihrer kosmetischen Modifizierungen offenzulegen; das Leid der Frau und die Misogynie des Mannes als die Realität des Kriegs der Geschlechter zu enthüllen. Der feministische Kampf gegen die Illusion bestand unter anderem aus Protesten bei Schönheitswettbewerben wie der Wahl zur Miss America 1968, wo Aktivistinnen BHs und Make-up in der »Mülltonne der Freiheit« entsorgten.

Ob die Feministinnen auch Rasierklingen in den Müll warfen, ist nicht überliefert. Doch Körperbehaarung – in den Achselhöhlen und auf den Beinen sowie auf dem Kopf und in Männergesichtern – wurde, neben Nacktheit, zum mächtigsten Symbol der Dekade für Ehrlichkeit und Natürlichkeit. Behaart zu sein bedeutete, seinen Körper in seinen wilden Urzustand zurückzuführen. Hair, ein Hit-Musical, das die Gegenkultur zweckentfremdete, endet mit Massennacktheit auf der Bühne. In radikalen Theaterstücken wie Dionysus in 69 und Paradise Now wurde Nacktheit zum Standard. Auch Festivals wie Woodstock oder Glastonbury kamen nicht ohne völlig unerotisch im Schlamm herumtanzende oder unschuldig auf der Wiese poppende nackte Hippies aus. Das vielleicht größte Sinnbild der späten 1960er ist das Nacktfoto von John Lennon und Yoko Ono auf dem Cover ihres Albums Two Virgins: die langen fettigen Locken, die aus der üppigen Schambehaarung heraushängenden Genitalien. Nachdem er die Urschreitherapie – eine Form emotionaler Nacktheit – ausprobiert hatte, brachte Lennon das Kernanliegen der Gegenkultur mit einem verzweifelten Protestsong auf den Punkt: »Gimme Some Truth«.

Glam hingegen forderte: »Gimme some untruth«. Nicht die Wirklichkeit würde befreiend wirken, sondern die Fantasie. Glam scheute das Natürliche, Organische und Gesunde. Stattdessen gab er sich dem Unnatürlichen hin, dem Plastischen und Künstlichen, und testete damit im Wesentlichen das aus, was später als Postmodernismus bezeichnet werden sollte. Anfang der 1970er war der Begriff »postmodern« weit entfernt vom allgemeinen Sprachgebrauch und wurde fast nur von Architekturtheoretikern benutzt. In abtrünnigen Bereichen der 1960er-Kultur waren Geisteshaltung und künstlerische Techniken der Postmoderne aber schon angelegt worden, besonders im schwulen Underground und in der Pop Art. Glam war stark beeinflusst von diesen Vorreitern, von Camp und Warholismus. Seine ironischen und selbstbezüglichen Charakterzüge kamen auch aus der Pop-immanenten Tendenz, auf seine eigene Vergangenheit zurückzugreifen, seiner Jugend zu huldigen und das Hochgefühl seiner Anfangstage zu wiederholen. Das geschieht zum einen aus Nostalgie heraus, aber auch aus Respektlosigkeit: dem Impuls, sich durch Parodien und Karikaturen über sich selbst lustig zu machen.

Mein eigenes Verhältnis zu Glam – von ihm als Kind in Erstaunen versetzt zu werden und ihn später auf eine bewusstere, analytischere Weise wiederzuentdecken – spiegelt wider, was im Glam selbst passierte. Die meisten seiner Protagonisten – Bolan, Bowie, Mott the Hoople, Roxy Music, Gary Glitter, Slade, New York Dolls, Roy Wood – beschworen bewusst ihre eigenen Erstbegegnungen mit Pop und Rock in den 1950ern oder Mitte der 1960er wieder herauf. Was für mich 1972 pure, unreflektierte Emotion war, war für die Künstler selbst bereits distanziert und ironisch, eine Vorstellung von »Unschuld« und »Wildheit«.

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Glam ist ein polarisierendes Konzept. In seiner Hochzeit wurde er von einigen als geistige Wiederkehr der imagebewussten Inszenierungen der Rockmusik gefeiert, die durch den Authentizität der späten 1960er in Verruf geraten waren. Andere sahen in ihm jedoch eine Annäherung an das Showgeschäft und damit als einen Rückschritt. Eine Sache, die ich an Glam besonders faszinierend finde – und die, meine ich, nicht unschuldig daran ist, dass er gerade jetzt wieder größeren Nachhall findet –, ist die Art und Weise, wie er radikale und reaktionäre Elemente vereinte. Auf der einen Seite steckte er voller Innovationen in Sachen Style, visueller Aufmachung, Theatralität und sexueller Experimentierfreudigkeit. Auf der anderen Seite war sein Eskapismus – seine Nostalgie, aber auch seine Dekadenz – regressiv. Auch musikalisch scheint Glam gleichzeitig nach vorne und zurückzublicken. Es ist sicher kein Zufall, dass seine Prinzipien popkulturell immer dann im Aufwind sind, wenn ein politischer Rechtsruck stattfindet: Nixon und Heath in den frühen 1970ern, Reagan und Thatcher in den 1980ern und zuletzt im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts.

Dafür, wie unwiderstehlich seine Charaktere, wie legendär seine Großtaten, wie übergroß seine Gesten und wie fantastisch seine Platten sind, basiert Glam Rock als Bewegung stärker auf Desillusionierung, als man annehmen würde. Er war ein Zufluchtsort vor den kollektiven, politischen Träumereien der 1960er. An ihrer Stelle bot er eine fantastische, individualisierte Flucht durch Ruhm und Glanz. Die Verwirklichung dieser Fantasie war vom jeweiligen Künstler abhängig. Sie konnte die Form einer neureichen Karikatur voller majestätischer Herrlichkeit (in der Tradition Gracelands) annehmen oder die Eleganz eines Dandy-Ästheten, der sein ganzes Dasein den Vorzüglichkeiten des Lebens widmet: Er sammelt Antiquitäten und Kunstwerke, besucht exotische Orte, zieht alle Augen auf sich und gibt sich allen möglichen Genüssen und Sinneseindrücken hin.

Glam-Fans erschufen eine eigene Elite, indem sie ihren Idolen nacheiferten – wenn auch eine, die ihre aristokratischen Fantasien stellvertretend durch Platten, Konzerte und Musiklektüre auslebte. Glam führte ein neues Phänomen in den Pop ein: Fans, die sich für Konzerte kleideten wie der Star des Abends (zu beobachten bei Bolan, Bowie und Roxy Music, aber auch bei Gary Glitter, Slade und The Sweet). Der Star stand nun nicht mehr als Repräsentant einer bereits existierenden Community auf der Bühne (wie etwa The Who als Vertreter der Mods), sondern kommandierte eine aus seinem Ebenbild geformte Anhängerschaft. Diese Dynamik verweist auf die Essenz des Glam, nämlich seine Verbindung von Exhibitionismus und Autoritarismus: Der Star zieht den Fan in seinen Bann, der Fan wird zugleich Voyeur und Untertan.

In diesem Buch geht es um die Macht des Scheins. Nicht wenige Protagonisten dieser Geschichte waren wahnhafte Narzissten, die um sich herum eine Blase aus alternativen Realitäten schufen und eine große Anzahl Menschen überzeugten, sich ihnen in diesen anzuschließen. Weil es Popmusik ist, ist dieser Prozess vergleichsweise harmlos – abgesehen von krankhaft besessenen Fans sowie den Idolen selbst, wenn sie nicht mehr in der Lage sind, aus dem fantastischen Kokon auszubrechen, den sie gebaut haben. Trotzdem macht es Sinn darauf hinzuweisen, dass Sektenführer und Politiker, die sich mit utopischen Versprechungen als Erlösergestalten inszenieren, die gleichen charismatischen Techniken benutzen.

Denn Pop ist Persönlichkeitskult. Er basiert auf dem Glauben, dass manche Menschen außergewöhnlich sind und dass die Gewöhnlichen durch direkten Kontakt oder Nachahmung ein Stück von ihrem Kuchen abhaben können. Und manche von denen, die dieses Spiel am besten beherrschen, sind geborene Lügner. Glamour ist die Lüge, die man so gut erzählt, dass man sie irgendwann selbst glaubt, gemeinsam mit den Anderen, die es ohnehin schon taten.

Dieses Buch handelt auch von Wahrnehmung und Wahn als sozialen Begebenheiten, von Massenhypnose und Massenhysterie als real existierende Phänomene, die Tausende von Menschen erfassen. Aber es durchleuchtet auch die Realitäten hinter diesen Phänomenen – wie Aufregung kreiert und Kontroversen geplant werden – und blickt auf all die Manipulationen und Ablenkungen, auf die Tricks hinter der Magie.

Um zu dem Künstler zurückzukehren, mit dem bei mir alles anfing, der mich als Kind am meisten faszinierte: Marc Bolan schien aus dem Nichts zu kommen. Er war ein Zauberer, ein bereits völlig realisierter Star. Aber natürlich hatte auch Bolan Unmengen an Arbeit in seine Karriere gesteckt. Langsam und stoßweise hatte er ein künstlerisches Ich aus einer Auswahl an Vorgängern und Einflüssen konstruiert. Erscheinungsbild und Realität haben für mich das gleiche Gewicht. Beiden gilt das gleiche Interesse und beide sind für mich von gleichem Wert.

Der Eindruck von Marc Bolan als Komet am Popfirmament ist das, was man eine wirkliche Illusion nennen könnte.

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BOOGIE POET:
MARC BOLAN
UND T. REX

John’s Children
Tyrannosaurus Rex
T. Rex

Auf dem Höhepunkt von Marc Bolans Karriere brachte der Melody Maker ein Feature über das T.-Rex-Konzert im Birminghamer Odeon am 9. Juni 1972. Die Zeitschrift präsentierte Pro und Contra des Auftritts wie auch des Phänomens Bolan an sich. Für die Anti-Bolan-Fraktion schrieb Barry Fantoni, ein Comiczeichner und Jazzkritiker, der – ohne Zweifel satirisch – als »Klassik-Kritiker« des Melody Maker vorgestellt wurde. Polemisch beschrieb Fantoni seinen »Gesamteindruck, dass der Musik das vorher fast beispiellose Kunststück gelingt, immer genau gleich zu klingen, nicht nur was das Tempo, die Melodien und Harmonien angeht, sondern auch in Bezug auf Struktur, Instrumentierung und Dynamik«. Während er seine unsichtbare Fliege zurechtrückte, beichtete Fantoni, dass er zum ersten Mal in seinem Leben Beethoven um dessen Taubheit beneidete.

Die Antwort pro Bolan kam von der fünfzehnjährigen Noelle Parr aus Kilsby, Northamptonshire. Obwohl ihr Text keine wirkliche Konzertbesprechung ist, sondern einfach aus einem Interview montiert war, das ein Mitarbeiter des Magazins mit ihr spontan vor Ort geführt hatte, sind ihre Gedanken vielsagender als Fantonis trockene Ironie. Denn Noelle war in der Lage, die visuellen Aspekte von T. Rex als vollkommene Pop-Erfahrung zu erfassen:

»Zunächst einmal wäre da sein struppiges Haar. Wie er es bewegt, das haut mich um. Seine Locken kleben an seiner Stirn wegen des Schweißes. Das ist so sexy.

Und dann noch die Art, wie er sich bewegt. Sein Körper kräuselt sich richtig. Es ist einfach zu gut. Es pumpt Gefühl in dich. Du kannst einfach loslassen.

Und seine Kleidung ist fantastisch. Er kleidet sich passend zu seinem Körper und seinem hübschen Gesicht. Er wird angefeindet, weil er Frauenschuhe trägt, aber er trägt einfach, was zu ihm passt. Die anderen sind ihm egal.«

Die Musik kam zuletzt, wenn nicht sogar als letztes:

»Seine Musik ist originell – unglaublich, er schreibt die meisten Songs in der Badewanne – und er bringt sie so gut rüber. Er ist mit ihr verbunden, steckt selbst in seiner Musik. Er lebt sie.«

Noelles Text endet mit einer leicht anzüglichen Anekdote. Ihre vier Freundinnen und sie nahmen pinke Damenunterwäsche als Geschenk für ihr Idol mit auf das Konzert. Auf diese stickten sie eine Nachricht für Marc und den gertenschlanken Percussionisten Mickey Finn: »von den fünf Vamporators – Suzanne, Noelle, Judith, Beverley, Adaline« – »Vamporators« war dabei eine Anspielung auf die Zeile »I’m just a vampire for your love« aus dem T.-Rex-Hit »Jeepster«.

So nüchtern und distanziert Fantonis Ansatz auch war, er war nicht gänzlich falsch. Das T.-Rex-Repertoire ist sicherlich eintönig und, wenn man so will, auch schwach. Eine Bandbreite wie die Beatles hatte Bolan nicht. Deren eigene Fanhysterie, die Beatlemania, wurde immer wieder als Vorläufer der T. Rextasy genannt und Bolan dafür gefeiert, das Teenie-Gekreische wieder auf eine Skala gebracht zu haben, wie man sie zuletzt in den frühen Jahren der Fab Four gehört hatte. Tatsächliche Klassikkritiker wie Wilfrid Mellers äußerten sich begeistert über Lennon-McCartneys pentatonisches Wasauchimmer; an einer in die Tiefe gehenden Bolanologischen Songanalyse hat sich bis heute keiner versucht.

Die T. Rextasy war kein Phänomen, das in etwas so leicht messbarem wie einem künstlerischen Erbe resultierte. Dafür war sie zu lebhaft. Was Bolan hinterließ, waren weniger seine Kompositionen oder Songs für die Ewigkeit, sondern vielmehr Performances mit Sex-Appeal. Seine Songs sind schwer zu covern (man denke nur an The Power Stations martialische Misshandlung von »Get It On«), weil sie so sehr von seiner Persönlichkeit und Präsenz abhängen.

Selbst auf dem Höhepunkt seines Erfolgs galt Bolan selten als einer der ganz Großen. Er gab zwar damit an, Großbritanniens meistverkaufter Dichter zu sein – zurecht, denn seine Fans kauften seinen Gedichtband The Warlock of Love in Massen. Doch auch wenn er sich selbst als Poeten bezeichnete, wirklich ernst nahm ihn niemand. Außer Noelle und ihresgleichen natürlich: Im Melody Maker-Artikel schwärmt sie davon, dass Marc »ein brillanter Dichter« sei, denn er »glaubt an die kleinen Leute und erinnert dich an eine andere Welt«. Sie prophezeite: »In vielen Jahren, wenn die Welt am Gipfel der Weisheit angekommen ist, wird endlich erfasst werden, was Marc Bolan geschrieben hat.«

Bolan besaß nicht wie Roxy Music ein Art-School-Empfehlungsschreiben und er hatte auch nicht den intellektuell-autodidaktischen Wissensdurst eines David Bowie. Er las eher J. R. R. Tolkien und C. S. Lewis als Burroughs oder Nietzsche. Er verwandelte sich direkt vom kultigen Hippiefreak zum Teenybop-Pin-up-Boy, ganz ohne Übergangsphase, die ihm Glaubwürdigkeit oder Respekt eingebracht hätte. Vor allem in Amerika, wo T. Rex einzig mit »Get It On« (unter dem Titel »Bang a Gong«, um Verwechslungen mit einem ähnlich betitelten Hit zu vermeiden) einen Top-10-Hit hatten, wird er eher als unbedeutende Randfigur wahrgenommen.

Doch so wenig Bolan auch als künstlerisches Schwergewicht gehandelt wurde, so sehr brillierte er als Leichtgewicht. T. Rex nahmen die Schwere aus dem Blues Rock und machten ihn geschmeidig. Zu einer Zeit, als männlicher Ausdruck von Sexualität zwischen Draufgängertum (»All Right Now« von Free) und Wikingerposen (Led Zeps »Whole Lotta Love«) schwankte, androgynisierte Bolan die Rockmusik – ohne dafür ihr Feuer und ihre Eindringlichkeit aufzugeben. Aus Cock Rock wurde koketter Rock. An die Stelle von Bombast setzten T. Rex Grooves, deren dezente Schärfe Bolan »The Slide«, »das Schlittern«, nannte. Aktive und passive Rollen drehten und wendeten sich: Bolan präsentierte sich in seinen Songs genauso oft als Beute oder Spielzeug (hatte vorher je ein Mann »take me« gestöhnt wie er in »Get It On«?) wie als Jäger. Doch selbst dann war er verspielt, etwa wenn er nach der »Vampire for love«-Routine in »Jeepster« faucht: »And I’m gonna suck you«.

Zudem mieden T. Rex Heavyness. Anders als beim tiefer gestimmten, niederdrückenden Sound von Black Sabbath und ihrer Heavy-Metal-Jünger gibt es keine Qual und keinen Kampf in Bolans Musik. Das Leichentuch, das der 1960er-Trübsinn über die Rockmusik der frühen 1970er gelegt hatte, ließen T. Rex links liegen. Am ehesten formulierten noch »Cosmic Dancer« und »Life’s a Gas« so etwas wie ein Mission Statement. Beide Songs entsprechen der »fröhlichen Wissenschaft«, die Friedrich Nietzsche im gleichnamigen Werk und in Also sprach Zarathustra formuliert hatte. Musik und Tanz waren wichtig und essentiell für Nietzsche als Ausdruck von und Signal für existenzielle Gesundheit und inneres Gleichgewicht. »Jetzt bin ich leicht, jetzt fliege ich, jetzt sehe ich mich unter mir, jetzt tanzt ein Gott durch mich«, jubelt Friedrich im Zarathustra.

In einem Sinne haben die Miesmacher recht: T. Rex ist keine Musik für Erwachsene. Sie spricht das umherhüpfende Kind in uns an, das neugierig ist, große Augen macht und leicht zu beeindrucken ist. Die Grenzen zwischen Tagtraum und Realität sind noch durchlässig, Mangel und Verlust, Enttäuschung und Zerfall noch unbekannt.

»Ich bin immer noch derselbe kleine Junge«, erzählte Bolan dem Melody Maker auf dem Gipfel seines Ruhmes. »Ich glaube nicht, dass ich mich verändert habe, seit ich vier Jahre alt war. Ich war wahrscheinlich hipper, als ich geboren wurde.« Das erinnert an den modernen Mythos von Peter Pan. Marc Bolan war ein Peter Pantheist, ein moderner Heide, der erstaunt und entzückt war, wo auch immer er hinschaute. »Ich glaube, ich bin ein Kind. Alles begeistert mich«, sagte er dem Magazin Star. Und Bolan war ein Peter Pansexueller: weniger bi-neugierig, sondern das polymorphe, perverse Kind Freudianischer Legenden, den verschiedenen erotischen Möglichkeiten zugetan.

In der Praxis hatte er seine meisten Beziehungen mit Frauen, aber manche, etwa sein früher Manager Simon Napier-Bell, waren davon überzeugt, dass er »prinzipiell schwul« war. Mit Sex hielt er es wie mit seiner Kleidung: Er mochte alles, das ihn anzog, und nahm es sich, unabhängig vom Geschlecht.

Marc Bolans Persönlichkeit und Weltanschauung basierten auf vier Säulen: Androgynität, Dandytum, Magie und einer vierten, die man mit verschiedenen »F«-Worten umschreiben könnte: Fantasie, Fabulismus – das, was Tolkien als »Faerie« bezeichnete. Diese Aspekte überschneiden sich nicht immer notwendigerweise. Es ist absolut möglich, androgyn zu sein, ohne ein Interesse an Mode oder Kosmetik zu entwickeln. »Faerie« hingegen findet eine Verbindung zur Androgynität durch »feyness«*. Früher bedeutete »fey« zu sein, eine wankelmütige Aura zu haben, einer Welt von Elfen, Feen, Kobolden und anderen übernatürlichen Kreaturen zu entstammen. Und natürlich ist »fairy« auch eine gegen feminine schwule Männer gerichtete Beleidigung.

Feminine Dandys gab es seit den Anfängen des Rock ’n’ Roll, das offensichtlichste Beispiel war Little Richard. Im britischen Pop war Femininität allerdings besonders ausgeprägt. Das kam einerseits daher, dass in der Tin-Pan-Alley-Ära schwule Manager oft einen Riecher für hübsche Jungs hatten, deren unschuldige Sexualität sich gut an junge Mädchen vermarkten ließ. Aber es hatte auch etwas mit dem Art-School-System zu tun, das der britischen Rockszene die Lässigkeit der Bohème einimpfte, vor allem hinsichtlich Auftreten und Sexualität. In seinem Buch Bomb Culture erinnert sich Jeff Nuttfall 1969 an den Moment, als Art-School-Attitüden Mitte der 1960er in die Beat-Szene überschwappten: »Schuhe wurden mit Lack von Woolworth bemalt. Beide Geschlechter trugen Make-up und färbten sich die Haare. […] ›Kinky‹* war ein oft gebrauchtes Wort. Überall sah man Reißverschlüsse, Leder, Stiefel, PVC, durchsichtiges Plastik, Männer mit Make-up, tausende Andeutungen von sexuellem Anderssein.«

In der britischen Rockmusik der 1960er herrschte etwas vor, das der amerikanische Kritiker Andrew Kopkind als »keine Variante von Sexualität, sondern ein Gefühl von Ambiguität« ausmachte. Besonders stark traf das auf die Kinks zu, von Ray Davies’ Auftreten, das sich durchaus als »camp« beschreiben ließ, bis zu den versteckten sexuellen Subtexten von Songs wie »See My Friends« oder »Fancy«, die 1970 schließlich in der Transhymne »Lola« überdeutlich wurden. Darin singt Davies aus der Sicht eines nicht sehr maskulinen Mannes, von seinem Liebhaber, der wie eine Lady aussieht, aber höchstwahrscheinlich keine ist.

Am direktesten und schockierendsten war diese Ambiguität bei den Rolling Stones. Mehr noch als alle anderen Thronanwärter waren die Stones die wichtigsten Vorläufer des Glam: Brian Jones mit seiner blonden Pagenfrisur und seinen dandyhaften Unisex-Klamotten; Mick Jaggers Schmollmund und die Art, wie er auf der Bühne herumstolzierte. Jones und Jagger schauten sich Bewegungen und Gesten von Mädchen aus ihrem Umfeld ab – und in Jaggers Fall von Tina Turners hypersexueller Bühnenpräsenz.

Die Genderspielereien der Stones gingen bis an die Grenze zum Anarchischen und Grotesken. Im Promofilm für »Jumpin’ Jack Flash« ist die Band geradezu mit Make-up zugekleistert. Aber das ist noch gar nichts im Vergleich zur Hülle der Promo-Single »Have You Seen Your Mother, Baby, Standing in the Shadow?«, auf der die Bandmitglieder die Stereotypen britischer Weiblichkeit porträtieren: alte Putzfrauen, die Pelz und Handschuhe tragen, aufreizend gekleidete Militärfrauen zur Zeit des Zweiten Weltkriegs. Gleichzeitig verdeutlicht diese boshafte Parodie – die Visualisierung eines ihrer hämischsten Anti-Lovesongs –, wie das Gender-Chaos der Band neben gleichgültiger Frauenfeindlichkeit koexistierte. Ihre Androgynie war oberflächlich. Unter der kosmetisch verschönerten Haut und dem Dandyschmuck schlugen kalte Herzen, die sich die Härte von Blueskünstlern wie Muddy Waters oder Howlin’ Wolf einverleibt hatten.

Wenn männliche Popstars die femininen Hoheitsgebiete Schmuck und Mode für sich vereinnahmten, war das also nicht per se ein Zeichen für eine respektvolle Haltung gegenüber Frauen. Es war eine Erweiterung ihrer Selbstgefälligkeit, ein neues Herrschaftsgebiet für das männliche Ego.

»[Bolan] hatte das größte Ego eines Rockstars überhaupt. In seiner eigenen Vorstellung war niemand großartiger als Marc Bolan.« Das behauptete Mark Volman, der – zusammen mit seinem ehemaligen Turtles-Bandkollegen Howard Kaylan – die Falsett-Backgound-Vocals auf den Hit-Singles von T. Rex einsang, die die Anzüglichkeit der Songs noch weiter steigerten. Laut John Gaydon von der Management-Firma E. G. – der ebenfalls zu einer Zeit mit Bolan zusammenarbeitete, die für den Aufstieg seiner Band ausschlaggebend war – schaute der Sänger, wenn er bei Top of the Pops war, »immer hoch auf den Bildschirm, um zu überprüfen, wie er aussah«. Wie Volman betont auch Gaydon, wie lieb, herzlich und großzügig Marc war (»er war ein reizender Mann«), doch gibt er auch zu, dass seine Eitelkeit fester Bestandteil seiner Persönlichkeit war. Er fügt hinzu: »Ich habe Popsänger immer mit Huren verglichen. Sie verkaufen Teile von sich selbst und müssen immer gut genug aussehen, um gekauft zu werden.«

Wenn das Dandytum einem die Möglichkeit bietet, sich zur Schau zu stellen wie ein Pfau, dann ist die Selbstmythologisierung eine andere Art, »das Ego zu kostümieren«. Die tatsächlichen Fakten sind geistlos und langweilig? Schmück sie aus! Bolan reichte es nicht, toll auszusehen, also wurde er zum Märchenerzähler. Gleich zu Beginn seiner Karriere – ja, eigentlich schon vorher – erzählte er Lügengeschichten. Journalisten gab er extrem aufgeblasene Schilderungen tatsächlicher Ereignisse und er kündigte zukünftige Projekte an, die nie umgesetzt wurden und in den meisten Fällen nie über den Status träger Fantasien hinauswuchsen: einen TV-Cartoon, basierend auf seiner Person und geschrieben von ihm selbst; Drehbücher für »drei europäische Filme […], eines davon für Fellini«; mehrere Science-Fiction-Romane, die angeblich kurz vor ihrer Veröffentlichung stehen würden. Er behauptete, »genug für eine Ausstellung« gemalt und »fünf Bücher fertiggeschrieben« zu haben, die »schon lange in meiner Schublade liegen«. Selbst als es mit seiner Karriere bergab ging, fantasierte er Pläne für eine »neue audiovisuelle Kunstform« herbei. Musikjournalisten hingen an jedem Wort, weil sich Bolans Geschichten gut lasen. Keith Altham – selbst in der PR-Branche tätig – verglich ihn mit Walter Mitty: »Er wusste, dass die Leute immer etwas wollten, das größer war als das Leben, also übertrieb er immer. Und manchmal fing er an, sich selbst zu glauben.«

Bolan entstammte einfachen Verhältnissen: Sein Vater war Lastwagenfahrer, seine Mutter Inhaberin einer Marktbude. Er flüchtete vor diesem Leben im Londoner East End durch Illusionen und Erfindungen. Zuallererst erfand er sich selbst. »Ich bin meine eigene Fantasie«, sagte er dem Magazin Petticoat. Wie im Showbiz üblich änderte er seinen Nachnamen: Aus dem jüdischen Feld wurde Bolan. Der Name gefiel ihm, weil er französisch aussah und man ihm gesagt hatte, er habe angeblich französische Vorfahren. Seltsamerweise schrieb er ihn aber ursprünglich mit einem nicht gerade typisch französischen Umlaut: Bölan.

Eine seiner außergewöhnlichsten Fiktionen dachte sich Bolan für seinen eigenen Entstehungsmythos aus: Er behauptete, er habe lange mit einem Zauberer in Frankreich zusammengelebt, was eine lebensveränderne Erfahrung gewesen sei, während der er in Kontakt mit verschiedenen Formen der Magie und der esoterischen Weisheit gekommen wäre. Die Details dieser Geschichte veränderten sich jedes Mal, wenn er sie erzählte. Manchmal war er ein Jahr dort, manchmal waren es fünf Monate oder achtzehn. Manchmal lebten er und der Zauberer in einem Wald, unter oder sogar auf einem Baum. Ein anderes Mal besaß der Zauberer ein Schloss mit vierzig Räumen im Rive Gauche von Paris. In einer Version war er der Chauffeur des Zauberers – obwohl er nie Autofahren gelernt hatte.

Auch die Form der Magie variierte. Manchmal sprach Bolan von weißer Magie, dann beschrieb er sie wieder als die schauerlichste und unheilvollste schwarze Magie, die man sich vorstellen könne. In einem Interview mit dem Evening Standard wollte er dem Reporter weismachen, dass sie lebendige Katzen gekreuzigt und Menschenfleisch verspeist hätten wie Hühnerknochen, »aus einem großen Kessel«. Als ob ihm aufgefallen wäre, wie sehr er die Gutgläubigkeit seines Interviewers auf die Probe stellte, fügte er hinzu: »Es ist mir egal, ob sie das glauben oder nicht. Es ist unheimlich, so falsch es auch klingen mag.« Dann wieder sprach er davon, Levitationen miterlebt zu haben. Und davon, dass er gelernt habe, Geister und Dämonen zu beschwören und sich unsichtbar zu machen. Außerdem habe er herausgefunden, dass sein Talent als Dichter von einem früheren Leben als Barde herrühren würde. Bolan erzählte auch, ein »Ritual für Pan« ausgearbeitet zu haben, um sich selbst in einen Satyr zu verwandeln, doch habe er dann den Mut verloren, den Fluch auch tatsächlich auszusprechen. Denn wie hätte sein Leben dann ausgesehen? Hätte man ihn in einen Zoo gesteckt? Ihn in einem Krankenhaus seziert?

Diese Geschichten bildeten Bolans eigene Version der Legende von Robert Johnson, der seine Seele für unwiderstehliche Fähigkeiten als Bluesmusiker an den Teufel verkauft haben soll. Sie inspirierten seinen ersten Hit »The Wizard« (1965), der 1970 auf dem ersten T.-Rex-Album in Form eines wilden, beschwörenden Epos wieder aufgegriffen werden sollte. Die Wahrheit hinter der Legende hätte banaler kaum sein können: »Wizard« war Bolans Spitzname für den befreundeten Schauspieler Riggs O’Hara, mit dem er mal für ein Wochenende Paris besucht hatte. Simon Napier-Bell, der Bolan Mitte der 1960er managte, besteht allerdings darauf, dass der Zauberer eine echte Person gewesen sei, ein Hexenmeister, den Bolan in einem Schwulenclub getroffen und mit dem er eine kurze Affäre gehabt habe. »Marc fiel es sehr schwer, kalkulierten Bullshit und Wirklichkeit auseinanderzuhalten«, sagt Napier-Bell. »Er mochte es, in einer mystischen Wolke zu leben, aber er wusste auch, dass diese mystische Wolke ein gutes Bild abgab.«

Das Konzept von Magie – und seine Selbstdarstellung als magisches Wesen – war ein ganz wesentlicher Bestandteil von Bolans Werk. Wörter wie »Magie« und »Fluch« tauchen in seinen Interviews und gelegentlich in seinen Lyrics immer wieder auf. Bolan argumentierte einmal, dass »eine erfolgreiche Rock-’n’-Roll-Platte ein magischer Fluch« sei. Gegenüber dem NME