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Tom Blass

DIE NORDSEE

Landschaften, Menschen
und Geschichte einer rauen Küste

Aus dem Englischen von Tobias Rothenbücher

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.

Der Übersetzer dankt dem Deutschen Übersetzerfonds für die großzügige Förderung der Arbeit an diesem Buch.

Die Originalausgabe erschien 2015

unter dem Titel The Naked Shore: Of the North Sea

bei Bloomsbury Publishing Plc, London.

Copyright © Tom Blass, 2015

© 2019 by mareverlag, Hamburg

Covergestaltung Nadja Zobel, Petra Koßmann, mareverlag

Abbildung ©

Karte Emily Faccini

Register Rainer Kolbe, Hamburg

Datenkonvertierung E-Book Bookwire

ISBN E-Book: 978-3-86648-353-8

ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-270-8

www.mare.de

Für meine Eltern

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INHALT

1Eine Nordsee-Überfahrt

2Plädoyer für die Themsemündung

3Die Schelde-Frage

4Bei Ensor und Octopussys in Ostende

5Kies und verlassne Gegenstände am nackten Strand

6Letzte Zufluchtsorte – Bäder an der See

7Mare Frisium – Frisia non cantat

8Ursprungsmythen – ein Land am Meeresgrund

9Post aus Atlantis

10Skandal an der Nordsee

11Auf den Halligen oder Ein Axolotl auf den Marschinseln

12Wo zwei Meere sich begegnen

13Das Geschäft mit dem Fisch

14Die Radiant Star von den Shetlands

15Neues Meer, neue Aussichten

ANHANG

Zitatnachweise

Literatur

Dank

Register

1EINE NORDSEE-ÜBERFAHRT

Eine graugrüne Weite aus trübem Wasser,
die einen mit weißen Schaumkronen zornig angrinst,
und darüber ein freud- und lichtloses Gewölbe,
wie aus nassem Löschpapier gemacht …

Joseph Conrad, Poland revisited

Eingepackt in Pullover, Jacken und Handschuhe, schaute ich vom Deck eines Frachters hinunter auf eine Stadt aus Lichtern, die sich traumgleich entlang des südlichen Humberufers erstreckte. Noch herrschte Flut, und der Frachter MV Longstone mit Ziel Göteborg an der gegenüberliegenden Nordseeküste hatte seine Leinen bislang nicht gelöst. Doch er brummte und stampfte in Vorfreude. Hafenarbeiter in leuchtenden Overalls verteilten sich in der Dunkelheit entlang des Kais, und noch über das dumpfe Rumoren der Schiffsmaschinen hinweg flogen Gesprächsfetzen wie Papiertaschentücher zu mir hoch, doch ehe ich sie aufschnappen konnte, hatte die herbstliche Nachtbrise sie meist verweht. Auf der warm anmutenden Brücke, deren Besatzung ich mich bisher nicht vorzustellen getraut hatte, blinkten und leuchteten Bildschirme und Armaturen.

In Schutzhelm und Warnweste hatte ich auf dem Weg zum Schiff einen Wirrwarr aus Kontrollpunkten und Durchgangsbereichen passiert und zuvor eine Erklärung unterschrieben, dass ich das Hafengelände auf eigene Gefahr betrat. Mehr als ein paar unbeaufsichtigte Schritte hinter die Absperrungen waren strengstens verboten – zu Recht, bei meiner Ungeschicklichkeit und der Vielzahl seltsamer Fahrzeuge, die durch das Labyrinth der Containerschluchten kurvten. (Besonders eins, ein turmhohes, rumpfloses Beinpaar auf Rädern und mit einer Fahrerkabine in etwa sechs Metern Höhe, erinnerte zugleich an Georges Braque und Hieronymus Bosch.) Es sei wesentlich sicherer, erklärte man mir, sich von einem klemmbrettbewehrten Aufpasser zum nächsten weiterreichen zu lassen. So wurde ich schließlich wohlbehalten abgeliefert und betrat die riesige Halle des Schiffsbauchs.

Am Nachmittag hatten noch gedämpfte, nüchterne Farben das Bild bestimmt. Kurz vor Sonnenuntergang jedoch glänzten die Frontscheiben Tausender fabrikneuer Kombis wie die Schilde eines Heers vor einer wilden, weit entfernten Schlacht in grauer Vorzeit. Eine Stunde später, die Sonne war bereits im Westen verschwunden, zerriss ein ganz anderes Leuchten die Dunkelheit: gespenstische Blitze in Halogenorange, Magnesiumweiß und Peridotgrün, stilles Getrommel ohne Takt gegen die Nacht. Kurz vor Mitternacht schließlich kam alles ins Rollen. Das Brummen der Maschinen wurde tiefer, die Longstone löste sich vom Kai und glitt hinaus ins Dunkel des Kanals.

Gut eine Stunde lang begleiteten uns steuerbords die sagenhaften, ins Dunkel eingebrannten Lichterketten, während sich auf der Backbordseite der Fluss schwarz, bedrohlich und undurchdringlich zur See hin weitete.

Ich schlief in einer spartanisch eingerichteten, aber großen und bequemen Kabine, vom Dunst und von den Gerüchen der Kombüse durch einen Flur getrennt. Was die Passagiere vor mir zurückgelassen hatten, lag in der Messe verstreut: zerfledderte Truckstop-Ausgaben und anderer Lesestoff. Patrick, der Erste Maat (dem trotz seiner Funktion als »Aufsichtsperson« der Grund meines Aufenthalts nicht ganz klar schien), entschuldigte sich für die fehlenden Reisegefährten. Am Wochenende, so sagte er, sei das Schiff immer rappelvoll mit irischen Lastwagenfahrern, die Rinderhälften nach Schweden brachten. Ich versicherte ihm, dass mir das Alleinsein nichts ausmache.

Am Morgen wurde ich nur langsam wach und starrte durch das Bullauge auf eine graue Wasserscheibe, bevor ich schließlich hoch zur Brücke ging, wo ich mit einem Becher Kaffee in beiden Händen zusah, wie der mächtige Rumpf unseres Frachters auf die sprühenden, biegsamen Wellen schlug.

Wie gut man vorankommt, ist auf See quälend selten erkennbar, und der Tag läuft nur schleppend an. Patrick, der Zweite Maat Steve und ich standen allein auf der Brücke und betrachteten den Horizont und die herabstoßenden Möwen. Der Kapitän war in seiner Kabine, wo er die meiste Zeit des Tages auch blieb. Patrick sagte, es verspreche eine gute Überfahrt zu werden. Den größten Teil des vergangenen Jahres hatte er auf der Falkland-Route zugebracht; drei Wochen hin, bis man vom ständigen DVD-Schauen und mangels anregender Gespräche leer und apathisch in Port Stanley ankommt, dann drei Wochen wieder zurück. Dagegen war unsere Reise die reinste Busrundfahrt, in vier Tagen von der Humbermündung zum tausend Meilen entfernten Göteborg an der Küste des Kattegats.

In früheren Jahrhunderten befuhren kleinere und zerbrechlichere Schiffe, beladen mit Wollballen und bündelweise Unterröcken, dieselbe Strecke und kehrten mit warmen Pelzen aus dem hohen Norden, uraltem Bernstein und Holz zurück. Wir transportierten Autoteile und Katzenfutter nach Schweden; zurückfahren sollte das Schiff mit Volvos und Weihnachtsbäumen.

Es war die übliche Route der Longstone, die – benannt nach dem berühmten Leuchtturm – in mir Erinnerungen an einen Ausflug zur Insel gleichen Namens weckte. In Sichtweite des bunt gestreiften Turms aus Portland-Kalk, in dem einst Grace Darling, die Tochter des Leuchtturmwärters, zu Hause gewesen war, hatte mein Sohn damals ein Seehundjunges aufgeschreckt, das seinerseits ihn erschreckte. Beide zogen sich ein Stück zurück, um einander zu beobachten, der eine, indem er hinter mir hervorlugte, der andere aus dem sicheren Versteck eines Gezeitentümpels heraus. Nur die Augen und die zuckenden Barthaare hoben sich noch von dem dunklen, aber klaren Wasser ab.

Das war der Höhepunkt eines herrlichen Tages gewesen, die uralten Felsen, bekleckst mit dottergelben Flechten, hielten der Sonne ihr raues Spiegelbild vor, und die See lag so glatt da, als schliefe sie. Wir hatten Eis gegessen und in T-Shirt und Sonnenbrille die Lummen gezählt. Im Herbst würden sich die Farne-Inseln in einen lebensfeindlichen, ungastlichen Ort verwandelt haben. Früher trieben die Herbststürme bereits ab September die Schiffe in den Schutz der Häfen, wo sie bis zum Frühling blieben. Doch solche Ruhepausen kennen moderne Schiffe wie die Longstone nicht, wieder und wieder befährt sie ihre Route bei nahezu jedem Wetter, vom Humber aus südlich entlang der Doggerbank, wie es umsichtige Skipper seit jeher tun, wenn sich Nordwind ankündigt.

Innerhalb des nächsten Tages sollten wir auf unserem Weg entlang der friesischen Inselkette – Schiermonnikoog und Terschelling, dann nordwärts Richtung Amrum und Sylt – auch Helgoland und die Halligen passieren und unterwegs einen Wald aus Bohrinseln durchqueren, die zu Ölschlick gewordene Überreste uralter Bäume aus der Tiefe saugen, ihre Gasfackeln wie ferne Streichholzflammen. Erst eine Generation sind diese Inseln alt, sie zählen damit zum jüngsten Zuwachs der Nordsee. Doch es sind andere Eigenschaften, die dieses gegen Narben gefeite Meer in jeder seiner Launen prägen: das schmutzige Graugrün, das Conrad schildert, und das zornige Grinsen des Wassers, über allem der düstere Himmel. Auch Phönizier und Römer, so sinniert er, »hatten solche Tage erlebt, die sich mit ihrem Winterlicht so sehr von allem unterschieden, was sie aus ihrer Mittelmeerheimat kannten«.

Auf See bestimmen die Mahlzeiten den Tagesrhythmus. Mittags kam durch die Sprechanlage auf der Brücke eine kratzige Durchsage aus der Kombüse: »Das Mittagessen für den Passagier ist fertig«, ließ Lewis, der Koch aus Liverpool, verlauten. Er hatte graue Haut, einen Schädel glatt wie ein Aal, und bei unserer ersten Begegnung hatte er mich mit einem auswärtsschielenden Auge fixiert und gefragt: »Kannste Englisch?« Vor Verlegenheit stumm, konnte ich nur nicken, was ihn nicht überzeugte.

An der Kombüsentür reichte er mir ein glänzendes, radkappengroßes Omelett und schob mich in Richtung der vereinsamten Messe, wo ich einen Happen herunterschlang und dabei ein paar Leserbriefe aus dem Meat Trades Journal überflog.

Während die Longstone schlingerte und gierte, erfreute ich mich an den Vögeln, die hier und da die triste Weite bevölkerten. Am häufigsten waren die gängigen Möwenarten. Zu meinen selteneren und daher spannenderen Sichtungen zählten einzelne Dreizehenmöwen und Schwärme winziger schwarzer Sturmschwalben, die mit schwindelerregendem Wagemut knapp über die Wellenkämme dahinschossen. (Am 17. September 1798 beobachtete Samuel Taylor Coleridge an Bord eines Paketboots mit Ziel Deutschland während seiner ersten Reise zum Festland »eine einzelne einsame Wildente. Man vermag sich nicht vorzustellen, wie interessant sie wirkte, inmitten dieser leeren Wasserwüste ringsumher.«)

Auf See ist jedes Schiff in Sichtweite eine Bemerkung wert, so wie man bei einsamen Spaziergängen auf dem Land die Eigenheiten der Leute kommentiert, denen man begegnet. Zuerst einige Trawler, als Nächstes ein unwirklich hoch beladenes Containerschiff und dann ein anderer »Roll-on-Roll-off«-Frachter – kurz »RoRo« –, einer unserer unmittelbaren Konkurrenten auf seiner Rückfahrt von Göteborg. Unser Maat kannte seinen Maat, und so beglückte er mich mit einer wirren Geschichte über geschäftliche Rivalitäten, sich gegenseitig unterbietende Schiffsgesellschaften und Jobagenturen, denen nicht zu trauen sei – damit mir auch niemand vorgaukeln könne, in der Güterschifffahrt ginge es lediglich darum, Waren von A nach B zu transportieren. Die Schiffe teilten den Weg zum Horizont neu ein, wie Skalenstriche auf den schier endlosen Wellenkämmen.

Leicht ließ ich mich einlullen und vergaß fast, warum ich überhaupt an Bord der Longstone war, hypnotisiert von ihrem gemächlichen Rollen, der verstreichenden Zeit, all dem Tee. Dabei war ich gerade wegen der unendlichen aufgewühlten Wassermassen hier. Ich hatte mich aufgemacht, ein Buch zu schreiben über diese Welt, dieses Meer, über das schon so viele abfällig geschrieben haben und das wegen seiner düsteren Atmosphäre, seiner Neigung zur Unbarmherzigkeit, seiner klammen, abweisenden Strände und – aus einem bestimmten Winkel betrachtet – seiner ausgesprochenen Zweckmäßigkeit verlacht worden ist. Doch sowohl das Meer als auch die Küsten, an die es brandet, haben ihren eigenen Reiz. Ganz so, wie das glitzernde Mittelmeer so manches Laster mit seinem Flimmern überdeckt – verbirgt sich unter dem nebligen, diesigen Mantel der mürrischen Nordsee nicht manches Juwel?

Tatsächlich verwischt das Meer geschickt die Spuren seiner eigenen Geschichte. Viele Verteidigungsanlagen an seiner Küste, die während des letzten Weltkriegs errichtet wurden, sind bereits verfallen und vergessen. Noch weit schwerer aufzuspüren sind Relikte vorheriger Jahrhunderte und Jahrtausende.

Die frühen Bewohner des Nordseebeckens, Chauken und Friesen, errichteten Warften – künstliche Erdhügel inmitten der Überschwemmungsflächen, auf denen sie ihre Häuser, Scheunen und Stallungen bauten und Nutzpflanzen kultivierten. Diese Anlagen widerstanden den Zornesausbrüchen und übellaunigen Attacken der Wellen, die nur selten bleibende Schäden hinterließen. Der Schritt hin zur Errichtung von Deichen – um das Chaos des Meeres zurückzudrängen – fiel mit der Ausbreitung des Christentums zusammen. Manche Archäologen erkennen gewisse Parallelen zwischen der Landgewinnung und der Rettung heidnischer Seelen.

Es brauchte klassisch gebildete Köpfe, geboren an wärmeren Gestaden, um dieses Meer einzuteilen, zu benennen und alle Beobachtungen für die Nachwelt festzuhalten. Diese ersten Nordseereisenden wähnten sich mit ihrer Weisheit vielfach am Ende. Die Gezeiten waren und blieben ihnen ein Rätsel. Im Jahr 325 v. Chr. nannte der Grieche Pytheas von Marseille das Sichheben und -senken des Meeres, das er an der Küste der heutigen Niederlande erlebte, die »Lunge der See«. Als Plinius der Ältere von der zweimal täglichen Verwandlung des Watts bei den Friesischen Inseln erfuhr, konnte er sich nicht entscheiden, ob es dem Land oder dem Meer zuzurechnen war. Damals wie heute stellte die Nordsee also den uralten Grundsatz infrage, dass das eine nicht das andere ist. Plinius benannte das an Britannien grenzende Meer Oceanus Britannicus und das an die Küste Germaniens grenzende Mare Germanicum.

Beide waren für die Römer schwieriges Gebiet. Teils wegen der besagten trügerischen Gezeiten, doch auch, weil sie diese Gewässer nicht beherrschten. Vielmehr behielten die Friesen und andere Stämme die Oberhand, und so galt die Pax Romana desto weniger, je weiter man sich vom Land entfernte. Im Jahr 69 n. Chr. griffen römische Kriegsschiffe in einer koordinierten Attacke aufständische Germanen an, die die Unverfrorenheit besessen hatten, vierundzwanzig von Cäsars besten Galeeren zu entwenden. Ein Jahrhundert später taten sich die Pikten als die eifrigsten Piraten hervor; ihnen folgten die Franken und die Sachsen. Ein Überfall auf Nordgallien und das römische Britannien von See her brachte 367 n. Chr. schließlich das Fass zum Überlaufen. Zu dieser sogenannten barbarica conspiratio verbündeten sich Pikten, Skoten, Sachsen, Franken und sogar die Attacotten, ein heute schwer greifbarer und möglicherweise kannibalischer britannischer Barbarenstamm.

Mit dem Schwinden des römischen Einflusses schäumte die wilde Nordsee vor neuen Turbulenzen. Entlang der Küste fielen von Schottland her die Pikten ein, die Sachsen flogen auf leichten Schiffen über das Mare Germanicum, und im Sog des Vakuums nach dem Abzug der Legionen kamen Händler und Invasoren (damals oft schwer zu unterscheiden) mit ihrem wohlverdienten Ruf als Plünderer und Brandschatzer, aber auch mit neuen Wörtern und Wendungen, die England und seine Bewohner prägen sollten.

Bei einem Besuch in Whitby, in den Ruinen von »Draculas Abtei«, fiel mir einmal der extreme Unterschied zwischen der Sprache einer Touristenfamilie aus Newcastle und der der Einheimischen auf: Der nordenglische Geordie-Dialekt geht auf die Angeln, also auf Teutonen zurück – daher die Aussprache »gan« wie in »gan doon toon« (go to town), von dem deutschen Wort »gehen«. Die Bewohner Yorkshires hingegen sprechen ein Englisch, das Wurzeln weiter im Norden Europas hat (arse, bairn, dollop und flit sind Wörter altnordischen Ursprungs). Rund 1500 Jahre nach der Ankunft ihrer Ahnen sind auf einer Strecke von etwa achtzig Kilometern entlang der englischen Küste bis heute uralte ethnische Unterschiede erkennbar, die ihren Ursprung auf der anderen Seite der Nordsee haben.

Die Geschichte befasst sich ausführlich mit Klosterplünderungen und dem Zusammenprall des Ein-Gott-Glaubens mit dem Glauben an viele Götter. Doch überdies summte es in diesem flüchtigen Moment zwischen zwei Weltreichen rund um die Nordsee in einer Vielzahl von Sprachen, die ebenso viele Gottheiten anriefen. Die Invasoren vom Mittelmeer hatten Wein, Olivenöl, Marmor und die Fußbodenheizung mitgebracht und Pelze, Salz, Gold und Jagdhunde in ihre Heimat geschickt, doch der Geschmack für Exotisches überdauerte ihre Zeit (denn auch andere teilten ihn).

Zu den Schätzen, die in einer Grabstätte aus dem 7. Jahrhundert in Sutton Hoo gefunden wurden, zählten merowingische Münzen, Silber aus Byzanz und Baltischer Bernstein. Die Völker der Nordsee wurden flügge und setzten die Segel. Schiffe reisten nicht nur zu fernen Küsten, sie waren auch Heiligtümer, die das Reich der Lebenden mit der Ewigkeit verbanden. Wikinger, Sachsen und andere Seevölker bestatteten ihre Königinnen, Krieger und Schamanen in, unter oder über Schiffen und opferten ganze Gefolge von Mägden und Konkubinen sowie Pferde und Spielsachen, die die Verstorbenen auf der großen Reise über das Meer ins Land der Toten begleiten sollten.

Das Oseberg-Schiff, das 1904 unter einem Erdhügel entdeckt wurde, enthielt fünfzehn enthauptete Pferde, einen Wagen und vier Schlitten. Andere Ausgrabungsstätten haben Schachspiele, Hundegeschirre, Schwerter und Trinkgefäße zutage gefördert. Doch bis heute durchschauen Archäologen nicht völlig, was die Leichenbestatter der Sachsen und Wikinger im Sinn hatten, weshalb ihre Schiffssymbolik weitgehend unklar bleibt. Der Wissenschaftler Martin Carver hat das Begräbnis von Sutton Hoo mit Lyrik verglichen, die »an Zeit und Raum der Fantasie« anknüpfe und »keine unmittelbare Botschaft hat, sondern ein Palimpsest der Andeutungen schafft«. Damit umreißt er, unter welchen Vorzeichen wir ein so dunkles, so strahlendes und so weit zurückliegendes Ereignis verstehen können. Sein Kollege Robert Van de Noort erörtert, dass die Seelen der Schiffe die Verstorbenen begleiteten, dass aber ein Schiffsgrab auch eine andere Funktion gehabt haben könnte, nämlich das Bewusstsein der Gemeinschaft zu festigen, aufs Engste mit dem Meer verbunden zu sein.

Dass sich schließlich friedliebende Mönche mit Tonsuren in der glücklichen Lage fanden, den Lauf der Geschichte nicht nur zu dominieren, sondern auch niederschreiben zu können, mag der Grund dafür sein, dass ihre früheren Peiniger in der europäischen Geschichtsschreibung heute nur eine Nebenrolle spielen, die der vergeudeten Jugend des Kontinents zugerechnet wird. Die eigentliche – die angesehene – Geschichte beginnt mit der Zahlung von Steuern und Abgaben und mit der sich festigenden Macht der Kirche. Dieser Wandel veränderte die Nordsee als politischen Raum, und die skandinavischen Könige und Kriegsherren wurden an den Rand eines Europas gedrängt, dessen Gravitationszentrum nun weiter südlich lag. Der Handel blühte auf, als in den aufstrebenden inländischen Städten die Nachfrage nach Gütern von der anderen Seite des Meeres stieg.

Auf diese Veränderungen reagierte der Schiffsbau. Im Mittelalter verlor das Langschiff, mit seinem schmalen Bug wie geschaffen für (kriegerische, forschende, lustvolle) Ausflüge in so manchen Mündungstrichter, seine Schnittigkeit. Seine Nachfolgerin, die dickleibige, geräumige Kogge, war schwerfällig und stattlich im Vergleich zu der schlanken Schönheit, an deren Stelle sie trat, eignete sich aber dank ihres großen Laderaums für Frachten wie Getreide, Holz, Wolle oder Leder gut als Handelsschiff. Aber auch sie kam aus der Mode und wurde verdrängt von der kleineren, schnelleren, dabei aber kaum weniger breiten Fleute, die den Bedürfnissen der damaligen Kaufleute besser entsprach – aus dem einfachen Grund, dass es eine geringere Katastrophe war, ein kleines Schiff zu verlieren als ein großes. In der Schiffskonstruktion schlugen sich die Topografie der Küste, die Bedürfnisse der Kaufleute und die typischen Gefahren der Zeit nieder: Gezeiten, Piraten und neidische Konkurrenz.

Immer höhere und geradere Deiche und immer wirkungsvollere Methoden, das Land von der eindringenden See zu trennen, nahmen der Küste mit der Zeit ihre Wandelbarkeit. Das Wesen des Meeres änderte sich von Grund auf. Einst ein Gebiet, auf dem Krieger sich beweisen konnten, wurde es zu einer Art Hinterland, das den Interessen der Eliten diente, denen allerdings mehr daran lag, Ländereien und Burgen zu besitzen, als die Wellen zu beherrschen. Schon bald wurde das Meer zum Interessengebiet für Wissenschaftler und Nautiker. Das junge Fachgebiet der Mathematik ergänzte und verdrängte schließlich die uralte Fertigkeit der Kursbestimmung mittels »Wolkenformationen und Wasserfarbe, Meerestieren und Vögeln, Reflexionen ferner Eisflächen, Strömungen, Treibholz und Tang oder eines Gespürs für den Wind«, wie es der Autor David Hay formuliert. Im ersten Jahrhundert nach der Jahrtausendwende prägte der Chronist Adam von Bremen den Begriff »Nachtsprung« für eine Navigationsmethode, bei der das Schiff so gesteuert wird, dass der Polarstern bei einem bestimmten Kurs stets im gleichen Winkel zum Masttopp steht.

Kaum weniger erhellend als die Sterne waren der Schlamm und der Kies in der Tiefe. Viele Seeleute verzichteten auf Astrolabium und Kompass, die knifflig zu bedienen, teuer und fehleranfällig waren, aber kein Schiff lief ohne Handlot aus – eine mit Talg gefüllte Bleiglocke an einer langen Leine. Sie wurde bis zum Meeresgrund hinabgelassen und wieder hochgezogen, und so ermittelte der Kapitän zugleich die Meerestiefe und die Beschaffenheit des Meeresbodens unter sich. Verglichen mit den flüchtigen Eigenschaften der Oberfläche ließen diese Anhaltspunkte verlässlichere Rückschlüsse auf die aktuelle Position zu als alle anderen verfügbaren Indizien.

Im späten 17. Jahrhundert konnte der Nautiker Kapitän John Hammond seine »Handreichungen für die Strecke nach Norwegen und zurück« in ein gutes Dutzend Sätze fassen, von denen einer hier zur Hälfte wiedergegeben ist:

Findest du am Nordrand der Well-Bank 28 Faden Wasser und Steingrund, befindest du dich zu weit östlich, ebenso Richtung SW bei 12 bis 13 Faden, doch mitten über dieser Bank, bei 17 oder 18 oder mehr [Faden] Tiefe und mancherorts feinem Sand und mancherorts grobem mit schwarzen Flecken, sind deine Sondierungen auf dieser Bank wechselhaft, wenn du jedoch ostwärts steuerst, kommst du in tieferes Wasser und triffst mancherorts auf groben Grund bei 27 bis 28 Faden und danach weniger, ehe du dich zwischen der Well-Bank und dem schäumenden Wasser ganz nach Osten wendest, wo du bei 24 bis 25 Faden nichts am Lot vorfinden wirst …

Sind die Peilungen auch bloße Annäherungen, so sind doch die Beschreibungen des Meeresgrundes schon fast liebevoll genau. Über die Untiefe »Swart-Bank« schreibt er, »die Mitte […] ähnelt Haferflocken«. Andere Stellen zeichnen sich aus durch »feinen, gelblich gefärbten Sand«, »feinen, hell gefärbten Sand«, »schlammigen Untergrund«, »dunklen Stein« oder »eine Art weißlichen Untergrund, gemischt mit gelben Partikeln«.

Zu dieser Zeit, in den Sechzigerjahren des 17. Jahrhunderts, waren nahezu alle Ecken der Nordsee kartiert und benannt und alle ihre Geheimnisse aufgedeckt. Katboote, Colliers, Pinken und zahllose andere Schiffstypen segelten zwischen Newcastle und der Themse hin und her oder nahmen Kurs auf Kiel, Crail, Amsterdam, Bergen, Lerwick, Ipswich, Hamburg, Edinburgh und Esbjerg. Die Reichtümer Nordeuropas – Holz, Pelze und Stoffe – lockten Händler aus dem Süden an, die in Karavellen mit exotischen Lateinersegeln von den Häfen des Mittelmeers und der Küste Nordafrikas aus nordwärts segelten. Auch Piraten, gierig auf der Suche nach menschlicher Ware mit ausreichend blasser Haut, um in einer Kasbah oder im Suk einen möglichst hohen Preis zu erzielen, versuchten erwiesenermaßen ihr Glück in den kalten, dunklen Gewässern der Nordsee.

Keineswegs jedoch war dieses Meer frei von ähnlichen Gefahren aus der näheren Umgebung. Mitte des 16. Jahrhunderts ließen die Watergeuzen – niederländische Abenteurer wie Wigbolt Ripperda, Baron Lumey oder der Baron von Middelstum – Fischer, Handelsfahrer und Küstendörfer gleichermaßen erzittern. Die oft adligen Gesetzlosen waren von Wilhelm von Oranien angeheuert worden, um die Unabhängigkeit von den Habsburgern durchzusetzen. In ihrem Eifer, das Joch der Katholiken abzustreifen, fügten sie Gerüchten zufolge all jenen, denen sie begegneten und die etwas Wertvolles besaßen, Schreckliches zu. Ortsansässige Gelegenheitspiraten hielten sich meist in Küstennähe, und manche Fischer raubten lieber einem Konkurrenten den Fang, als selbst das Netz auszuwerfen. Freibeuter – Piraten »mit Lizenz« – trugen ein Übriges zur moralischen Orientierungslosigkeit auf See bei.

Die Herrschaft der Watergeuzen endete, als die Tyrannei der Habsburger dem Goldenen Zeitalter der Niederlande weichen musste und Amsterdam zum Zentrum nordeuropäischer Kultur wurde, zum Dreh- und Angelpunkt des Handels zwischen Nord- und Ostsee und weiter entlegenen Meeren. Die nötigen Mittel für all den goldenen Glanz lieferte ein silbriger Fisch, der zwar von bescheidener Größe, aber dafür oft in Schwärmen anzutreffen war, die sich über mehrere Seemeilen erstreckten. Wie keine andere Nation perfektionierten die Niederländer den Heringsfang und das Räuchern der Fische. Dass noch ihre Nachfahren die hohe Kunst beherrschen, einen ganzen Fisch mit einem Happs zu verspeisen, und weiterhin eine große Vorliebe für Hering pflegen, während die meisten Engländer ihn kaum herunterbekommen, ist vielleicht ein Erbe dieser Zeit.

Hering bedeutete Reichtum, und Reichtum bedeutete Macht und das Recht, Handel zu treiben. Ab Ende des 17. Jahrhunderts lieferten sich Niederländer und Engländer über mehr als hundert Jahre zahllose Auseinandersetzungen zur See: die vier Englisch-Niederländischen Seekriege. Gefechte wie die Seeschlachten bei Kentish Knock, vor Texel und bei Lowestoft oder der Überfall im Fluss Medway waren langsame, laute, sorgfältig choreografierte Manöver – fast wie ein höfischer Tanz mit Feuerwerksbegleitung und daher nicht ohne Unterhaltungswert. Zuschauer am Ufer der Nordsee betrachteten gebannt die oft mehr als sechzig oder achtzig Kriegsschiffe, die, ganz den Unsicherheiten ihres klobigen Baus und der verschlagen wechselnden Windrichtung ausgeliefert, in mächtigen Rauchwolken verschwanden wenn ihre Kanonen und Musketen feuerten – oft ohne erkennbare taktische Wirkung.

Doch weder endeten alle dieser Begegnungen unentschieden, noch waren sie bloßes Spektakel. Auf den niederländischen Deichen, Klippen und Stränden hielten Verwandte Ausschau nach den heimkehrenden Flotten, und oft wich jede Hoffnung schierer Verzweiflung, wenn die zerschlagenen Schiffe sich mit ihren blutbeschmierten, halb erblindeten Besatzungen in den Hafen schleppten – oder auch ohne sie. So träge die Kriegsschiffe des 17. Jahrhunderts und so unberechenbar die Flugbahnen ihrer primitiven Geschosse auch waren, sie konnten bis weit ins Landesinnere Schaden anrichten: Die Seeschlacht bei Gabbard vor der Küste der Grafschaft Suffolk brachte den Engländern einen so deutlichen Sieg, dass sie eine Seeblockade über die Niederländer verhängen konnten, wodurch viele aufgrund der Abhängigkeit von Roggen- und Weizenimporten in den Hungertod getrieben wurden. Trotz allem jedoch hingen beide Nationen so sehr vom kulturellen und ökonomischen Überleben des jeweils anderen ab, dass die Postsegler – eine kleine Flotte einmastiger Galioten und Hoys mit geringem Tiefgang – selbst dann noch unbehelligt die Nordsee zwischen Harwich und Holland überquerten, als die niederländisch-britischen Beziehungen auf ihrem Tiefpunkt waren.

Vor einigen Jahren wurde in Oslo wie bei einer Art Gesellschaftsspiel ein Bündel alter Briefe zwischen den Botschaften der Niederlande, Deutschlands und Großbritanniens sowie der norwegischen Regierung herumgereicht. Verfasst worden waren sie im 17. Jahrhundert von dem Betreiber einer Reparaturwerft in dem Städtchen Gismerøya an der südnorwegischen Küste. Zwar konnte keiner der Botschafter ganze Briefe übersetzen, aber jeder erkannte einzelne Wörter oder Wendungen, denn die Post war in einem Gemisch verschiedener Nordsee-Anrainersprachen geschrieben. Der Verfasser stammte nicht aus einem einzelnen Land, seine Heimat war vielmehr die Nordsee. (Bereits viel früher pflegte die Hanse ihre eigene Verkehrssprache, die im Wesentlichen aus Mittelhochdeutsch mit niederländischen, dänischen und finnischen Einsprengseln sowie einer Prise Slawisch bestand.)

Diese Briefe waren der Beweis, dass sich die Nordseeküste zu Beginn des 18. Jahrhunderts fast zu einer eigenen Welt entwickelt hatte – die jedoch nicht von der übrigen Welt abgeschnitten war, denn natürlich pflegte sie bereits zu einer Zeit vor Beginn der historischen Überlieferung Handelsverbindungen nach Afrika, ins Baltikum und zum Mittelmeer. Dennoch verband inzwischen die Völker rund um die Nordsee ein gemeinsamer Erfahrungsschatz, der Nationalitäten nahezu außer Acht ließ und manchmal untereinander eine größere Zusammengehörigkeit brachte, als sie zwischen den Küstenbewohnern und ihren Landsleuten im Inland herrschte. Aus kleinen Küstenstädten, die bisweilen vom Export eines einzelnen Produkts oder einer Handvoll Erzeugnisse und Rohstoffe abhängig waren – etwa Koprolithe, Roggen, Kohle, Hanf, Hammelfleisch oder Whisky –, wurden kosmopolitische Handelszentren, deren Bewohner sich an den Klang fremder Sprachen gewöhnten und sie sogar selbst gebrauchten.

Noch lange nach dem Ende des Goldenen Zeitalters hatte Amsterdam einen so großen Bedarf an fremder Arbeitskraft, dass es Tausende Hausangestellte, Gesellen und Schiffsbauer dorthin zog – es war ein wahres New York seiner Zeit. (Da erscheint es passend, dass das heutige New York einst als New Amsterdam gegründet wurde.) Darüber hinaus entstand durch navigationstechnische Fortschritte und den Wettlauf um die Nutzung der Meeresressourcen eine gemeinsame Grundlage aus Erfahrung und Arbeitsmöglichkeiten; beides bot den Küstenbewohnern die Gelegenheit, weit über die Grenzen ihrer Heimatgemeinden hinaus ein Auskommen zu finden. Die Alphabetisierungsraten waren deutlich höher als im Inland, während umgekehrt weniger Menschen der Hexerei angeklagt wurden, denn die Küstenbewohner waren offenbar viel eher vertraut mit menschlicher Vielfalt.

Im aufgeklärten Blick des 18. Jahrhunderts glitzerten auch die Wellen heller, als das Meer eine neue, abstraktere Identität bekam und sich allmählich zum Ort des Vergnügens und der Gesundheit entwickelte – zu mehr als einer Ressource, einem Handelsweg oder einem Kriegsschauplatz, sondern zu etwas Eigenständigem. Etwa zur gleichen Zeit zog es Europa hin zu neuen Märkten und zu großen Reichtümern, die man in (Ost- und West-)Indien, Nordamerika und südlich der Sahara vermutete. Die Nordsee blieb ein Knotenpunkt im Zentrum sich immer weiter ausbreitender Kreise des Wohlstands, der Macht und der Möglichkeiten. Die zunehmende Verbreitung größerer Schiffe mit größerem Tiefgang stufte Küstenstädte mit flachen Hafenbecken und Kanälen zu Handelsorten zweiter Klasse herab oder machte sie gleich ganz überflüssig. Gleichzeitig breiteten sich besser befestigte Straßen und ein Geflecht aus Kanälen wie ein Kapillarnetz über ganz Europa aus und schmälerten die Bedeutung der Seewege.

Orte, die sich bislang auf kulturelle und ökonomische Verbindungen zu Partnern auf der anderen Seite der Nordsee gestützt hatten, machten sich auf die Suche nach Märkten im Inland. Kleinere Siedlungen, die vom Handel, vom Fischfang mit offenen Booten oder von der Netzfischerei vom Ufer aus abhingen, konnten nicht länger mit den größeren Fischerstädten und ihren tiefen, für Trawler geeigneten Hafenbecken und Tiefwasser-Docks mit Anschluss an den Schienenverkehr konkurrieren.

Doch die Eisenbahn breitete sich aus, und mit ihr entstand eine neue Art saisonaler Wanderung: Touristen kamen und mit ihnen Badekarren, Tanzkarten und Eselreiten – bis heute strömen ihre Nachfahren jeden Sommer in Massen ans Meer.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war die Nordsee so sicher wie nie zuvor geworden. Mit der Seeräuberei hatte man aufgeräumt, denn das Meer war zu gut kontrolliert, um ihr weiter Raum zu lassen. Nach der Niederlage des napoleonischen Frankreichs herrschte in Europa weitgehend Frieden, und die glorreichen Tage des Schmuggels, der mit Wolle seinen Anfang genommen und sich erst viel später so glamouröser Ware wie Tee, Branntwein, Wein oder Gin gewidmet hatte, waren gezählt, wenngleich einige sie mit Sicherheit schmerzlich vermissten.

So hatte man einst ganze Orte durch Anreize, Bestechung oder Einschüchterung zur Komplizenschaft in diesem verbotenen Gewerbe bewegen und ein Vermögen verdienen können, indem man den schlecht ausgerüsteten Vertretern der Zollbehörden in ihren roten Röcken ein Schnippchen schlug. Sogar die Entwicklung des Segelschiffs wurde vom Schmuggel vorangetrieben. Die Erfindung des Kutters, eines Schiffstyps mit Schrat-Takelung, der bei mehr Kursen zum Wind schneller war als alle seine Vorgänger, haben wir offenbar einer Art Wettrüsten zu verdanken, das sich zwischen den Schmugglern und den Steuerbehörden, die sie verfolgten, entwickelte.

Vor allem in Kriegszeiten unternahm der Staat einige – wenngleich oft fruchtlose – Anstrengungen, um einen Verlust an Zolleinnahmen zu verhindern. Typisch war ein britisches Gesetz aus dem Jahr 1779, wonach »Händler für Tee, Kaffee, Schokolade oder geistige Getränke aus dem Ausland, die jene Artikel nicht über ihrer Eingangstür oder an einem anderen gut sichtbaren Teil ihres Hauses aufgemalt oder in großen, gut lesbaren Buchstaben angeschrieben haben, […] zweihundert Pfund Strafe zahlen«. Ordnungshüter konnten allerdings für weit weniger dazu bewogen werden, beide Augen zuzudrücken.

Schmuggler und Strandräuber, Prostituierte und Dealer zollfreier Schokolade – sie bildeten die Schattenseite des Lebens an der Küste. Damals wie heute fand man derlei Umtriebe Seite an Seite mit dem verweichlichten Weltbürgertum der sommerlichen Besucherfluten. Sie glätteten ein wenig die Ecken und Kanten des Lasters, während dieses wiederum dem Urlaub eine gewisse Würze verlieh.

Wenngleich die Nordsee im 20. Jahrhundert durch Wissenschaft und Handel und andere rationalistische Errungenschaften des 19. Jahrhunderts (Gezeitentabellen, Fahrpläne und das Zischen der Dampfmaschine) besänftigt schien, simmerte unter ihrer Oberfläche eine Spannung, die vierzehn Jahre nach der Jahrhundertwende zum Überkochen führen sollte.

Wie es der Zufall wollte, saß just an dem Tag, als der Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajevo von dem serbischen Attentäter Gavrilo Princip erschossen wurde, die Crème de la Crème der Royal Navy in Kiel mit den Rangoberen der deutschen Marine beisammen und feierte mit viel Tamtam und randvollen Champagnergläsern die Erweiterung des Nord-Ostsee-Kanals, durch den nun Schlachtschiffe der Dreadnought-Klasse ohne den Umweg um Dänemark von einem Meer ins andere gelangen konnten.

In Karten von vor 1914 ist die Nordsee oft als Deutsches Meer verzeichnet, doch ironischerweise leisteten gerade der schlechte Zugang Deutschlands zur Nordsee und der Mangel an geeigneten Häfen für Kriegsschiffe dem strammen Aufstieg des Militarismus und damit letztlich dem Marsch Deutschlands in den Krieg Vorschub.

Innerhalb weniger Jahre nach der Reichsgründung 1871 hatte Admiral von Tirpitz von der deutschen Kaiserlichen Marine die Doktrin der Flottenpolitik etabliert, die von dem Standpunkt ausging, dass Deutschland, wollte es in den Genuss seines »rechtmäßigen« Anteils an Kolonien und am Handel kommen, an militärischer Stärke zur See mit seinen Rivalen gleichziehen musste. So betrachtet war die Nordsee das Vorzimmer zur Welt mit all ihren Schätzen.

Der schiffsvernarrte Kaiser Wilhelm II. begeisterte sich zunehmend für diesen Gedanken, und so hatte zur Jahrhundertwende ein regelrechtes Wettrüsten begonnen.

Die Briten betrachteten Willy, den Enkel von Queen Victoria, als aufgeblasen, dumm und launisch. Victoria zeigte sich erschüttert, als sie erfuhr, dass ihr Premierminister Lord Salisbury 1890 zugestimmt hatte, Deutschland das britische Seebad Helgoland zu überlassen, um im Gegenzug freie Hand in Sansibar zu haben, und hätte beinahe von ihrem königlichen Recht Gebrauch gemacht, Einspruch einzulegen. Später, als die Helgoländer den Despotismus erlebt hatten, den auch Victoria an Wilhelm verabscheute, sollten sich viele wünschen, sie hätte es getan.

Im Jahr 1903 veröffentlichte ein Regierungsbeamter aus der Upperclass, ein begeisterter Segler, der im Burenkrieg gekämpft hatte, einen fesselnden Roman, dessen Protagonist – überraschenderweise ein Regierungsbeamter aus der Upperclass – Pläne aufdeckt, wonach die Deutschen auf Frachtschiffen eine Invasionsarmee über die Nordsee entsenden wollen.

Das Rätsel der Sandbank von Erskine Childers – der vielleicht großartigste Nordseeroman aller Zeiten – ist trotz seines manchmal etwas schwerfälligen Stils noch immer eine packende Lektüre und war nie aus den Buchläden verschwunden. Auf die britische Gesellschaft wirkte er wie ein Weckruf, denn man war fortan überzeugt, die eigene Regierung verhalte sich zu nachlässig angesichts der Schiffsbauaktivitäten Deutschlands, und setzte Lloyd George unter Druck, die Produktion in den Werften am Clyde und am Tyne zu erhöhen.

Während der beiden Weltkriege lagen auf beiden Seiten der Nordsee die Nerven ebenso blank wie der Stacheldraht entlang der Küste, und das Meer wurde zum Schauplatz schrecklicher donnernder Seegefechte. Ähnlich wie bereits viele Schusswechsel der Englisch-Niederländischen Seekriege in einem erschöpften, kostspieligen Patt geendet hatten, gingen auch viele Begegnungen während des Ersten Weltkriegs aus: Wer – und ob überhaupt jemand – die Skagerrakschlacht gewonnen hat, ist weiter umstritten; dass fast zehntausend Menschen dabei ihr Leben verloren, allerdings nicht. Die abstrakte Politik der See erwachte mit der geballten Sprengkraft der Minen und U-Boote zum Leben – und brachte den Tod.

Während des Zweiten Weltkriegs ging es auf der schwer verminten und von U-Booten durchkreuzten Nordsee verhaltener zu. Doch nach dem Sieg der Alliierten 1945 atmeten die Nordsee-Anrainerstaaten kollektiv auf. Im Frieden konnten die Trawler in Gewässer zurückkehren, in denen es jetzt, nachdem sie fünf Jahre lang nur wenig befischt worden waren, von Fischen nur so wimmelte, während nach Profit hungernde Seebäder von Whitby bis Wilhelmshaven vergnügungshungrige Touristen anlockten. Die maritimen Dreh- und Angelpunkte des neuen Konflikts zwischen Ostblock und kapitalistischem Westen lagen weiter nördlich, im Atlantik und im Beringmeer, und so waren zumindest die britischen Fischerorte weniger vom Kalten Krieg als von den Kabeljaukriegen betroffen – den Streitigkeiten um Fischereirechte mit Island, auf dessen Fischvorkommen sich die britische Industrie zu großen Teilen stützte.

Großbritannien erwies sich als ein schwacher und gieriger Spieler, und so behielten die Isländer, die sogar von der britischen Presse stets als tapfer bezeichnet wurden, die Oberhand und führten die winzige Nation am Polarkreis zu noch größerem Wohlstand, während die sozialen und wirtschaftlichen Strukturen einiger britischer Küstenstädte allmählich aus den Fugen gerieten.

Ölfunde konnten die wirtschaftliche Lücke, die die Stilllegung vieler Trawler gerissen hatte, nicht völlig schließen, eröffneten aber einige neue Möglichkeiten.

Nur zwei Ländern versprachen die Lagerstätten des wertvollen schmierigen Stoffs tief unter dem Meeresgrund großen Nutzen. Norwegen, ein sorgsam wirtschaftendes Land, das nur eine kleine Bevölkerung zu versorgen hat, zeigte sich umsichtig und traf Vorkehrungen, die sicherstellten, dass die Erträge kommenden Generationen zugutekamen. In Großbritannien drohte die Aussicht auf großes Geld aus dem Ölgeschäft ebenso viele neue Probleme zu schaffen, wie sie bestenfalls zu lösen versprach. Vor allem lag die Gefahr in der Luft, sie könnte die Frage der schottischen Unabhängigkeit aus ihrem unruhigen Schlafwecken. Außerdem entstanden auf See neue Risiken für Leib und Leben, die in einer Explosion auf der Bohrinsel Piper Alpha gipfelten, bei der am 6. Juli 1988 167 Arbeiter verbrannten oder erstickten.

Die Propheten der Nordsee warnen seit Langem, dass die Ressourcen eines Tages erschöpft sein werden. Noch ist es nicht so weit. Die Bohrinseln jedoch haben schon jetzt die Landschaft des Meeres wie nichts Vergleichbares vor ihnen dauerhaft verändert, und nun kommen noch die gewaltigen Rotoren der Windparks hinzu – Gunfleet Sands vor der Küste Kents, Prinzessin Amalia in niederländischen Gewässern, Horns Rev 2, alpha ventus, Beatrice, Thornton Bank. Der Vorstoß zur Nutzung erneuerbarer Energien legt eine weitere Schicht Ortsnamen über die Nordsee, in einem Prozess, der schon begann, ehe sie überhaupt ein Meer wurde.

Öl und Windkraft lassen die Nordsee in einem industriellen, funktionalen Licht erscheinen, doch nicht alles ändert sich. Obwohl wir günstig ins »sonnige Spanien« oder nach Phuket fliegen können, wagen wir noch immer, an der Nordsee Urlaub zu machen. Frachtschiffe sind heute auf vielen Routen unterwegs, die bereits die Fleuten und Koggen vergangener Jahrhunderte befahren haben. Trotz der düsteren Vorhersagen von Wissenschaftlern und Naturschützern laichen hier weiter Fische; sie bilden Schwärme, werden gefangen und kommen auf unseren Tisch. Aber die Nordsee ist nicht immer ein verlässliches Archiv seiner greifbaren Erinnerungen, denn stellenweise macht sie ihren eigenen Nachlass im Tempo eines verschwenderischen Erben zunichte. Und sie kann ein einsamer Ort sein. So wie das Mittelmeer selbst dann noch geschwätzig, geschäftig und hell wirkt, wenn seine Strände leer sind, haben die Nordseegestade auch dann etwas Düsteres, Ruhiges und Ernstes, wenn fröhliche Sommerurlauber auf ihnen umherstapfen.

Aus all diesen Gründen, so habe ich mir beim Pläneschmieden für dieses Buch und für meine Reisen überlegt, hat sie es nicht verdient, von uns links liegen gelassen zu werden. Andere Meere mögen foto- und telegener sein, ihre Häfen exotischer und sinnlicher, aber ist es fair, dass uns die Nordsee zuerst allzu vertraut und daher schließlich fremd geworden ist? Was hatte ich vorher schon gewusst von den Gebräuchen der Brautwerbung auf der Insel Föhr, von der tragischen Geschichte Helgolands, von der geheimnisvollen Sprache Norn, dem Genie der Maler von Ostende, von den Sorgen und Nöten der deutschen Warftbewohner, die sich Jahr für Jahr der Macht der Sturmflut entgegenstellen, oder von den alkoholseligen Freuden hinter den Türen des Northern Lights Pub? Ja, hatte ich schon einmal den Zauber eines Winterabends in den Marschen der Themsemündung erlebt, von wo ich aufbrach, um – per Bus, Boot, Fahrrad oder Zug – das Meer zu erkunden, das sich dahinter erstreckt?

2PLÄDOYER FÜR DIE THEMSEMÜNDUNG

Unsere Heimat war das Marschland in den Schleifen der Flussmündung, keine zwanzig Meilen vom Meer entfernt. […] An jenem Tag kam mir […] zu Bewusstsein, dass dieser trostlose, von Nesseln überwucherte Ort der Friedhof war; […] dass die von Gräben, Dämmen und Schleusen durchzogene dunkle, flache Einöde […], auf der vereinzelt Vieh graste, das Marschland war; dass die tiefe bleierne Linie am Horizont der Fluss war; dass das ferne wilde Lager, von dem der Wind herbeistürmte, das Meer war […].

Charles Dickens, Große Erwartungen

Steigt man in Gabriel’s Wharf die rutschigen Stufen des Uferdamms hinunter, um den schmalen Streifen Flussstrand zu erkunden, ändert sich plötzlich der Charakter der Themse. Der Geruch, kühl, klamm und uralt, stammt tief aus dem felsigen Untergrund Londons. Hier, zwischen zerbrochenen Ziegeln und Steinen, liegen die zerschlagenen Atome der Stadt, die Pfeifenstiele, Knochen, Pistolenkugeln und Keramikscherben (mit blauem Willow-Muster, dick glasiert oder von IKEA), und ans Tageslicht dringt eine Geschichte in Bruchstücken, ein verlockendes, herrliches Durcheinander ohne Rücksicht auf Hierarchie oder besonderen Prunk.

Die gereinigte, gebändigte Themse ist nur noch ein blasses Abbild ihres früheren Selbst. Vor der Erfindung des Uferfiltrats streckte sie ihre Arme nach allen Seiten aus und nährte und vergiftete die Stadt in annähernd gleichem Maß. Wo Fluss und Mensch heutzutage voneinander auf Distanz gehen, waren beide früher eng vertraut. Wherrys, Schuten und Bargen drängten sich am Ufer, und Schiffsleute rangelten um Fahrgäste. In den engen Gassen – Kidney Stairs, Pelican Stairs, Pickled Herring Stairs oder Mason’s Stairs –, wo die Kaiarbeiter Waren abluden, blühten Laster, Vergnügen und Geschäft und ließen sich kaum voneinander unterscheiden. Die mudlarks, vom grauen Flussschlamm verkrustete Kinder, bevölkerten die Ufer und kratzten sich aus verloren gegangenen und längst vergessenen Knöpfen, Nägeln und Pennys, die die Flut angespült hatte, einen mageren Lebensunterhalt zusammen.

Es stank bereits, lange bevor 1858 der Begriff »The Great Stink« geprägt wurde. Schon neunzig Jahre zuvor hatte Tobias Smollett sich empört über einen Fluss, »[durchsetzt] mit dem ganzen Dreck von London […]. Dabei sind menschliche Exkremente noch die harmlosesten Bestandteile dieser Flüssigkeit, die sich aus Drogen, Mineralien und giftigen Stoffen, wie sie in Handwerks- und Fabrikbetrieben Verwendung finden, zusammensetzt. Bereichert wird die Mischung mit den in Verwesung übergegangenen Leichnamen von Tieren und Menschen und den Abwässern der Waschbottiche, Gossen und Kloaken.«

Eine Unzahl alltäglicher und außerordentlicher Dramen trug ihren Teil zu dem Gestank bei; manche schockierten selbst diese hartgesottenste aller Städte.

Am Anfang meiner Streifzüge stieß ich am Flussufer in Woolwich auf eine Gedenktafel, die daran erinnert, wie am milden Abend des 3. September 1878 der 67 Meter lange Raddampfer Princess Alice mit rund siebenhundert Frauen, Kindern und Ausflüglern in Ferienstimmung von den (heute längst verschwundenen) Rosherville Pleasure Gardens in Gravesend zurückkehrte.

Diese Geschichte rührte mich und bildet den etwas abrupten Auftakt zu meinen Abenteuern rund um die Themsemündung.

Die Alice war ein schmales, schnelles Schiff, das während des Amerikanischen Bürgerkriegs als Blockadebrecher für die Konföderiertenarmee gebaut worden war und das, wie das Schicksal eines Schiffs manchmal so spielt, eine neue Aufgabe als Ausflugsdampfer auf der Themse bekam. In einer berüchtigten Biegung bei Woolwich wurde sie mittschiffs von einem Collier aus Newcastle gerammt, der auf seinem Weg in Richtung Nordsee war und ihr fast den Bug abtrennte. Die Alice sank schnell und zog ihre Passagiere hinab in die reißenden, trüben Fluten.

London wurde von einem kollektiven Wahn ergriffen, obwohl Tragödien der Stadt eigentlich nicht fremd sind. In der improvisierten Totenhalle in Woolwich, randvoll mit aufgequollenen Leichen, rang man nach Luft und Worten. Und sosehr sich die Presse auch an der Story um die Princess Alice ergötzte, so selten erwähnte sie doch, dass die Opfer überzogen waren von dem Unrat aus Joseph Bazalgettes berühmter Abwasseranlage, die Londons Straßen zwar von Exkrementen befreite, die Abwässer aber nicht klärte.

Das Erinnerungsvermögen der Londoner ist kurzlebig und selektiv. Abgesehen von der Gedenktafel ist der Untergang der Alice längst vergessen, doch 1989 kam der Schrecken dieses Unglücks wieder an die Oberfläche, als mit der Marchioness erneut ein Ausflugsschiff nach einem Zusammenstoß sank. Das Unglück forderte einundfünfzig Menschenleben. Wie schon 1878 ließ sich die Presse weitschweifig über die Jugend, die Schönheit und die Zukunftsperspektiven der Opfer aus, während die Öffentlichkeit lautstark neue Sicherheitsmaßnahmen für den Fluss forderte.

Geister tanzen mit Schatten früherer Pracht auf den Wassern der Themse. Was aber lag abseits der Lichter, der Flusspromenaden und der Mammontempel? Tatsächlich war es ein Schiffsausflug (ohne Katastrophe), der mich anspornte, den Unterlauf der Themse zu erkunden; in meiner naiven Weltbürgerfantasie konnte ich ihn mir nur stumm, beunruhigend und farblos vorstellen. Welche Menschen lebten dort am äußersten Rand Londons, wohin sie die Fliehkraft der Stadt geschleudert hatte? Wo wird aus dem Fluss das Meer? Und künden die silbrigen Farbtöne, die manchmal auf dem sonst so grünen Wasser aufblitzen, von einer tieferen, faszinierenderen Schönheit flussabwärts? Um diesen Fragen auf den Grund zu gehen wagte ich mich, nicht ohne gewisse Bedenken, weiter nach Osten, in Richtung der oft unbeachteten Mündung.