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L. OSTROWER

STURMVÖGEL

Vier Erzählungen aus der Geschichte der Russischen Arbeiterbewegung

VERLAG NEUER WEG

Aus dem Russischen übertragen von Manfred von Busch.

Juli 1974

Verlag Neuer Weg GmbH, Stuttgart

Mit freundlicher Genehmigung des

Verlags Märkische Volksstimme, Potsdam

Gesamtherstellung:

Dusslinger Klein-Offset-Druckerei GmbH

Printed in Germany

ISBN 3-88021-095-0

INHALTSVERZEICHNIS

Einleitung

Der Weber Pjotr Alexejew

Viktor Pawlowitsch Obnorskij

Stepan Chalturin

Pjotr Andsimowitsch Moisejenko

Einleitung

Der Verfasser dieses Buches, L. Ostrower, ist ein russischer Arbeiter-Schriftsteller. Er gestaltet die Geschichte seiner Klasse. Die vier „Sturmvögel”,über die Ostrower schreibt, sind Künder des gewaltigen Sturms, der sich aus der russischen Arbeiterklasse erheben und die Geschichte unserer Zeit in neue Bahnen lenken sollte.

Die vier Erzählungen dieses Buches schildern Erfolge und Siege in den revolutionären Kämpfen, aber auch die bitteren Niederlagen, die die vier „Sturmvögel” erleiden.

Das Buch versetzt uns in die düstere Zeit der zaristischen Selbstherrschaft der 70er und 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Mit der Abschaffung der Leibeigenschaft setzte auch in Rußland eine rasche Entwicklung des Kapitalismus ein. W.I. Lenin schrieb darüber: „Das Rußland des Hakenpfluges und des Dreschflegels begann sich schnell in das Rußland des Pfluges und der Dreschmaschine, der Dampfmühle und des Dampfwebstuhles zu verwandeln.”

Mit dieser Entwicklung war das Aufkommen der Arbeiterklasse und das Entstehen einer Arbeiterbewegung verbunden. Die gemeinsame Arbeit in den großen Fabriken begünstigte den Zusammenschluß der Arbeiterschaft, und der gemeinsame Kampf gegen die Ausbeuter entwickelte in ihnen kämpferische, revolutionäre Eigenschaften.

Grausame Ausbeutung der Arbeiter in den Fabriken und Werken des zaristischen Rußlands war eine übliche und überall anzutreffende Erscheinung. Die Arbeitsbedingungen waren äußerst schwer. Der Arbeitstag war gesetzlich nicht geregelt. Nicht selten erreichte er 15 bis 16 Stunden. Der Arbeitslohn war erbärmlich. Die Ausbeutung der Frauen- und Kinderarbeit war weit verbreitet. Die Kinder arbeiteten ebensoviele Stunden wie die Erwachsenen, erhielten aber, wie die Frauen, bedeutend weniger Lohn. Es gab keinerlei Arbeitsschutz. Verstümmelungen und tödliche Unfälle waren an der Tagesordnung. Es gab keine Krankenversicherung; ärztliche Hilfe wurde nur gegen Bezahlung gewährt.

So verschafften sich die Fabrikbesitzer gewaltige Profite, während die Arbeiter durch Hunger und unmenschliche Anstrengung vorzeitig Invaliden wurden oder früh starben. Der Kapitalismus wuchs — auf den Knochen und dem Blut der Arbeiter.

Die so geschundenen Arbeiter wehrten sich gegen die unmenschliche Ausbeutung und Unterdrückung, doch ihr Widerstand war noch nicht organisiert und trug einen spontanen Charakter. Lenin schrieb über diese ersten Aktionen des Proletariats: „Es gab eine Zeit, wo die Feindschaft der Arbeiter gegen, das Kapital nur in einem dumpfen Gefühl des Hasses gegen ihre Ausbeuter, in dem undeutlichen Bewußtsein ihrer Unterdrückung und ihrer Knechtschaft und in dem Wunsche, sich an den Kapitalisten zu rächen, Ausdruck fand. Der Kampf äußerte sich damals in einzelnen Aufständen der Arbeiter, die die Gebäu de zerstörten, die Maschinen zerbrachen, die Fabrikvorgesetzten verprügelten usw.”

Erst allmählich begann die Arbeiterbewegung den Charakter des bewußten Kampfes der Arbeiterklasse gegen die gesamte Klasse der Kapitalisten anzunehmen. Unter den fortschrittlichen Arbeitern traten hervorragende Revolutionäre auf. Einer der ersten war der Weber Pjotr Alexejew, von dem in der ersten Geschichte dieses Buchs erzählt wird. Alexejew agitierte unter den Arbeitern und wurde verhaftet. Vor Gericht hielt er eine bemerkenswerte Rede, die mit den Worten schloß: „Die Millionenmasse des Arbeitervolkes wird ihren muskulösen Arm erheben, und das von Bajonetten geschützte Joch der Despotie wird in Staub zerfallen.”

Diese Rede hatte für die revolutionäre Bewegung der damaligen Zeit eine große Bedeutung. Hier wurde zum ersten Mal ein klarer proletarischer Standpunkt entwickelt, entgegen den falschen Ansichten der Volkstümler (Narodniki), die die revolutionäre Bewegung in Rußland in den 60er und 70er Jahren vor dem Auftreten der Marxisten führten. Die Volkstümler behaupteten, daß der Kapitalismus eine den russischen Verhältnissen fremde Erscheinung sei; die Grundlage des Sozialismus sei die Bauerngemeinschaft, d.h. die bäuerliche Gesellschaft, die das gesamte zugeteilte Bauernland besitzt.

Die Volkstümler gingen in die Dörfer, um unter den Bauern eine revolutionäre Agitation zu betreiben. Dabei erlitten sie völligen Schiffbruch: Polizei, Kulaken und Popen fingen sie ab und übergaben sie den Gerichten. Viele wurden zu Zwangsarbeit lind Verbannung verurteilt.

Enttäuscht durch ihre Mißerfolge begannen die Volkstümler geheime Verschwörergruppen zu bilden, die sich das Ziel setzten, den Zaren und seine Helfer zu töten, um auf diese Weise einen Umsturz in Rußland herbeizuführen. Die Anhänger des Terrors schufen die Partei „Narodnaja Wolja” (Volkswille). Sie töteten im Jahre 1881 den Zaren Alexander II. Doch veränderte sich damit nichts zum Besseren. Im Gegenteil: Den Platz Alexanders II. nahm sein Sohn Alexander III. ein, und die „Narodnaja Wolja” wurde zerschlagen.

Die fortschrittlichen Arbeiter, die sich anfangs den Volkstümlern angeschlossen hatten, begannen sie zu verlassen. Sie fingen an zu begreifen, daß nicht die Bauernschaft, sondern die Arbeiterklasse die führende Kraft der revolutionären Bewegung ist.

Der revolutionäre Kampf der russischen Arbeiter begann zu jener Zeit, als in Westeuropa die von Marx und Engels geführte Arbeiterklasse sich bereits Gewerkschaften und Parteien schuf. Zur Vereinigung der Arbeiter im Kampf gegen die Kapitalisten organisierten Marx und Engels im Jahre 1864 die Internationale Arbeiter-Assoziation. Russische Revolutionäre, die vor den Verfolgungen des Zarismus ins Ausland geflohen waren, schufen in der Ersten Internationale eine russische Sektion.

In Petersburg wurde von Viktor Obnorskij gemeinsam mit dem Tischler Stepan Chalturin der „Nördliche Bund russischer Arbeiter” gegründet. In seinem Programm hieß es, daß er sich seinen Aufgaben nach den sozialdemokratischen Parteien des Westens anschließe. Vom Leben und Wirken Obnorskijs und Chalturins handeln die zweite und dritte Erzählung des Buches.

Der Polizei gelang es bald, den „Nordbund” zu zerschlagen. Viktor Obnorskij wurde zur Zwangsarbeit verurteilt, während Stepan Chalturin, der an dem Anschlag auf den Zaren Alexander II. teilgenommen hatte, am Galgen endete.

Anfang der 80er Jahre begann die russische Arbeiterklasse unter dem Einfluß der fortschrittlichen revolutionären Arbeiter immer stärker für die Verteidigung ihrer Interessen einzutreten. Zahlreiche große Streiks brachen aus. Von besonderer Bedeutung für die Entwicklung der revolutionären Bewegung war 1885 der Streik in der Textilfabrik von Morosow. Dieser Streik zeigte die Geschlossenheit und die kameradschaftliche Solidarität der Arbeiter, er hatte bereits seine Organisatoren und Leiter.

Einer von ihnen war der Weber Pjotr Anisimowitsch Moisejenko, der Held der vierten und letzten Geschichte dieses Buches. Der Streik bei Morosow bedeutete den Beginn einer Massenbewegung der Arbeiter. Die Spontaneität der Streiks ging über in eine organisierte Durchführung. In den Forderungen ertönten nun nicht mehr das Flehen und Bitten, sondern die machtvollen Forderungen der neuen revolutionären Klasse, die begonnen hatte, sich ihrer geschichtlichen Rolle bewußt zu werden. Moisejenko ist der „Sturmvogel” in den Erzählungen Ostrowers, der die Erfüllung seines Kampfes durch den Sieg der Arbeiterklasse in der Oktoberrevolution 1917 erlebte.

Die Erzählungen von den vier „Sturmvögeln” lassen ein Stück der frühen Geschichte der russischen Arbeiterbewegung lebendig werden. Wie diese revolutionären Arbeiter in der tiefen Finsternis der zaristischen Selbstherrschaft, unter dem blutigen Tenor der zaristischen Schergen, in dem verwirrenden Gestrüpp kleinbürgerlicher Irrungen ihren Weg fanden, wie sie den revolutionären Kampf aufnahmen und sich organisierten, sind sie leuchtende Vorbilder an Selbstlosigkeit und Opferbereitschaft im Kampf der Arbeiterklasse für den Sozialismus.

Im Juli 1974

Der Weber Pjotr Alexejew

Stürme des Hasses, der Wut toben Über dir, du Land ohne Rechte, Alles Lebende, Gute vernichtend.

N. Nekrassow

Unvermutet fielen große, dichte Regentropfen, die heftig auf die Straße schlugen und die Erde in feinen Wasserstaub hüllten. Die Fußgänger eilten unter die Vordächer der Häuser, die Kinder ließen ihr Spielzeug auf den Brettern des Bürgersteiges liegen und drängten sich an die Zäune.

Aber der Regen hörte genau so plötzlich auf, wie er angefangen hatte, und während es noch von den Dächern tropfte, strahlte der Himmel schon in aller Frühlingsklarheit.

Ein stämmiger, breitschultriger Arbeiter kam mit schnellen, schweren Schritten aus der Perewedenowskij-Gasse. Sein blasses, pockennarbiges Gesicht hob sich scharf aus dem Rahmen der pechschwarzen Haare hervor. Er hatte einen kleinen, gekräuselten Bart und unter dem Lackschirm seiner Mütze lugte ein dichter Schopf hervor. Vorsichtig wich er den Pfützen aus, trat aber dabei versehentlich auf eine im Wege liegende Puppe.

Ein hageres Mädchen in schäbigem Mantel lief auf die Puppe zu, zog sie nahezu unter dem Fuß des Arbeiters hervor und brach in Tränen aus.

„Solch ein Pech”, sagte der Arbeiter, indem er sich vor das Mädchen hinhockte. „Kaputt. Was sagst du nu? Sei nicht traurig, Liebes. Wir kaufen uns eine neue Puppe.”

Er nahm das Mädchen bei der Hand. Sie gingen zum nächsten Stand in der Krasnoselskaja-Straße, wo sie sich eine große Puppe mit runden Augen aussuchten.

„Bist du die Einzige deiner Mutti?” fragte der Arbeiter, indem er ihr die Puppe überreichte.

„Ein Brüderchen hab’ ich noch”, erwiderte flink das Mädchen. „Es ist aber noch klein.”

Der Arbeiter erstand eine Klapper.

„Gib das dem Brüderchen. Sag ihm, Onkel Petja schenke es ihm.” Er strich dem Mädchen über den Kopf und schritt schnell einem zweistöckigen Holzhaus entgegen, das ein Schild über die ganze Front trug „Wirtshaus N. P. Popow”.

Im Wirtshaus war es still und kühl. Hinter der Theke, dem Eingang gerade gegenüber, stand neben einem riesigen kupfernen Samowar der würdige alte Wirt. Nur zwei Tische waren besetzt: an einem saß ein Bürger in einem Tuchrock, am anderen Pafnutij Nikolajew. Er aß Schwarzbrot, das er dick mit Salz bestreute.

Pjotr setzte sich zu Nikolajew und schnitt sich eine Scheibe Brot ab.

„Hast du Kinder gern, Pafnutij?” fragte er unvermittelt.

Nikolajew staunte: „Was meinst du damit, Petrucha? Willst du am Ende heiraten?

Pjotr rückte näher an den Kameraden heran, blickte ihm in die Augen und sagte bitter:

„Von früh an leben sie im Schmutz, barfuß; ihr Körper ist nur notdürftig bedeckt. Und wenn sie erwachsen sind, was erwartet sie? Ein Joch, Fabrikgestank.”

„Wo willst du hinaus?”

„Ein kleines Mädchen begegnete mir. Da fiel mir dieses ein. Wieviele solcher Unglücklichen gibt es”, er machte eine Handbewegung, als wollte er finstere Gedanken verscheuchen und fragte: „Und du? Warum bist du so niedergeschlagen? Mißerfolge?”

„Woher sollten Erfolge kommen?” erwiderte mißmutig Pafnutij. „Die Meister schnüffeln in den Werkstätten, horchen auf jedes meiner Worte. Ständig muß ich damit rechnen, daß sie mich der Polizei ausliefern.”

„Und du hast Angst?”

„Da kann dir schon bange werden. Kürzlich las ich den Leuten im Abort ein Buch vor. Der Meister platzte hinein. ,Daß dich dieser und jener‘. Ein Glück noch, daß es ein legales Buch war.”

„Und was ist mit Tjurin?”

„Was soll schon mit Tjurin sein? Er kommt bald, dann kannst du ihn ja fragen. Ich glaube aber, daß es keinen Zweck hat. Die Leute bei Gutschkow sind allzu ungebildet, alles Leute vom Dorf.”

„Und wer bist du denn selbst?” fragte Pjotr scharf. „Ein Kaufmannssohn? Oder vielleicht gar ein General? Du bist feige, Pafnutij, daher vermeinst du die Polizei zu sehen, wo sie nicht ist. Wie konntest du nur so etwas sagen?”

„Soll ich etwa meinen Kopf in die Schlinge stecken?” brachte Pafnutij gedehnt hervor.

„Ja wie denkst du es dir denn?” fiel Pjotr lebhaft ein. „Meinst du, die Studenten erkämpfen all’ die Freiheit und präsentieren sie dir dann auf einer goldenen Schüssel? Nein, so ist das nicht. Um das Glück muß man schon selber mitkämpfen, und wenn es darauf ankommt, darf auch die Schlinge nicht schrecken. Die Weber bei Gutschkow sind nicht anders als die in den anderen Fabriken. Oder glaubst du etwa, daß sie aus eigenem Antrieb von fünf Uhr morgens bis acht Uhr abends arbeiten? Glaubst du vielleicht, sie sterben vor Hunger nur, weil sie es so wollen? Sie sind sich nur ihrer Kraft noch nicht bewußt. Du aber mußt ihnen diese Kraft zeigen. Dazu hat man dich geschult, dazu auch zu Gutschkow geschickt. Man hat dir eine „große Sache anvertraut, eine Sache des Volkes. Aber — vielleicht sind dir Zweifel gekommen?”

Ein schlanker Bursche betrat das Wirtshaus, ihm folgte ein flinker, beweglicher Mann mit einem Spitzbärtchen und suchenden, unruhigen Augen.

Als Pafnutij sie sah, stand er auf.

„Ich will gehen, Petrucha. Du hast wohl noch viel auf dem Herzen.”

„Geh,” erwiderte schnell Pjotr Alexejew, „unsere Unterhaltung ist aber noch nicht beendet. Geh in die Wohnung und sage, daß ich auch bald komme.”

Der Mann mit den unruhigen Augen trat mit seinem Begleiter zu Pjotr Alexejew, begrüßte ihn und erklärte vielsagend:

„Aus Gribowo sind wir.”

Alexejew blickte belustigt auf den jungen Burschen.

„Wen bringst du da mit, Tjurin?”

„Das Artel schickte uns,” griff schnell der Mann aus Gribowo das Gespräch auf, „sie beauftragten uns, Einzelheiten zu erfahren.”

Sie setzten sich. Alexejew bestellte Tee und wandte sich dann an den Mann aus Gribowo:

„Bis du der Führer des Artel?”

„Nein, ich bin einfaches Mitglied, kann aber lesen und schreiben. Daher schickten sie mich.”

„Arbeitet das ganze Artel bei Gutschkow?”

„Ja, wir sind Weber und arbeiten schon das zweite Jahr.

„Und wie ist es in Gribowo? Habt ihr euer Land verlassen? Oder sind eure Familien dort geblieben?”

„Was sollten wir schon zurücklassen?” erwiderte höhnisch lächelnd der Weber. „An Land hat jeder so viel, daß die Eiche keinen Platz findet, ihren Schatten auszubreiten. ”

„Und die Leute in Gribowo wissen, wer ihnen das Land nahm?”

„Warum sollten sie es nicht wissen? Die Gutsbesitzer.”

Alexejew lachte.

„Demnach seht ihr den Wald vor lauter Bäumen nicht. Greif höher, Mann aus Gribowo. Väterchen Zar nahm euch das Land.”

„Wieso denn das?” staunte der Mann.

„Sehr einfach”, entgegnete ruhig Pjotr Alexejew. „Weißt du, was der Zar dem Staatsrat schrieb? Unternehmt alles zum Schutz der Vorteile der Gutsbesitzer. Merkst du, um wen sich Väterchen Zar sorgt? Um die Gutsbesitzer und nicht um euch, Bauern. Deswegen blieben ich und Tjurin und eure Leute aus Gribowo ohne Land. Hab ich recht, Tjurin?”

„Du hast recht, Pjotr Alexejewitsch”, stimmte Tjurin ihm willig zu. „Das sagte ich ihnen auch, sie glauben mir aber nicht, sie sind so eigensinnig.”

Der Mann aus Gribowo rutschte auf seinem Stuhl hin und her und sprudelte böse hervor:

„Wieso sind wir eigensinnig? Wenn man dich so reden hört, könnte man meinen, daß wir an allem schuld seien. Vertreibt man uns vom Acker, dann tragen wir die Schuld, ist in der Fabrik die Hölle los, so sind wir auch daran schuld. Was sollen wir denn tun? Nehmen wir an, es geschieht, wie du sagst und es kommt ein Pugatschjow. Der wird sich doch nur um die Gutsbesitzer kümmern. Und wer soll mit Gutschkow fertig werden? Was ist zu tun? Es bleibt uns eben nur der Stein um den Hals und das Wasser, ja?”

„Warum denn?” fragte ruhig Alexejew. „Hoffe auf Pugatschjow, handle aber selbst. Zunächst müßt ihr selbst versuchen, Land zu bekommen und Gutschkow abzuschütteln.”

„Darum brach auch bei uns der Streit mit den Gutschkow-Leuten aus”, fügte Tjurin ein. „Ich erklärte ihnen, daß unter einen festliegenden Stein kein Wasser fließen kann, während sie mir . . .”

„Du sagst uns nicht das, was wir wissen wollen!” unterbrach ihn der Mann aus Gribowo. „Du liest uns ständig aus Büchern über Popen und über Technik vor. Du solltest uns aber lieber sagen, wie wir unser Joch abschütteln sollen.”

Alexejew schwieg, schenkte nachdenklich Tee in die Becher ein und schnitt den Besuchern Brot ab. Ohne es zu wissen, hatte ihm der Mann aus Gribowo einen Schmerz zugefügt. Wie oft hatte Alexejew den Studenten gesagt, daß sie nicht Bücher lesen, sondern sich an die Arbeit machen sollten. Aber die Studenten wollten zuerst das Volk belehren, ihm die Augen öffnen und sich dann erst an den Umbau machen. Und nun saß ihm ein Mann gegenüber, der dieselben Gedanken hatte.

„Das Joch willst du abschütteln?” fragte schließlich Alexejew. „Und Tjurin sagte dir nicht, wie das zu machen ist?”

„Nein.”

„Nun . . . dann will ich es dir sagen. Gutsbesitzer und Fabrikbesitzer kommen aus einem Sumpf, und der Sumpf muß trocken gelegt werden.”

„Und das soll der neue Pugatschjow machen?”

„Nein”, erwiderte Alexejew ruhig, „auf Pugatschjow brauchst du nicht zu warten. Du selbst bist Pugatschjow. Im Dorf kämpfst du gegen den Gutsbesitzer, in der Fabrik gegen den Fabrikbesitzer.”

„Wie soll ich gegen ihn kämpfen, wenn er so eine große Kraft ist und tun kann was er will? Als wir bei Gutschkow anfingen, zahlte er uns für das Stück festen Zwillichs drei Rubel, mitunter sogar drei Rubel vierzig. In diesem Jahr zahlt er aber nur noch ein Rubel achtzig. Für ein Stück Karusett zahlte er sonst zwei Rubel bis zwei Rubel fünfzig, heute zahlt er nur noch sechzig Kopeken. Wie willst du da gegen ihn an kämpfen?”

„Weißt du denn auch, warum er das tut? Weil er unsere Kraft nicht sehen kann. In unsern Kämmerlein vergießen wir Tränen und schimpfen auch über den Fabrikbesitzer, können aber nicht unsere Fäuste zeigen. Geht doch nicht zur Arbeit, streikt, laßt die Webstühle rosten, was ist dann schon der ganze Gutschkow? Er ist an dicke Einnahmen gewöhnt, aber wenn ihr die Arbeit niederlegt, gibt es keine mehr. Geh aus der Fabrik wieder ins Dorf zurück und nimm dort den Kampf auf . . .

„Kämpfen! Womit denn?” fiel hitzig der Mann aus Gribowo ein. „Die anderen haben doch die ganze Macht!”

„Nun gut, überlege einmal. Hinter den Gutsherren und den Fabrikbesitzern steht der Zar mit seinen Soldaten und seinen Beamten. Sie sind der ganze Schutz. Wenn du dich nun aber weigerst, deine Steuern zu bezahlen, dann kann der Zar diese ganze Meute nicht mehr füttern.”

„Das ist es”, rief der Mann aus Gribowo vorwurfsvoll aus und zeigte mit dem Finger auf Tjurin. „Du hast uns immerfort von der raffiniertesten Mechanik erzählt, aber die richtigen Worte hast du nicht gefunden. Aus!” setzte er noch hinzu; nahm das angebissene Brotstück in die Hand und verließ entschlossen den Raum.

„Ein böser Mensch”, sagte, Tjurin, nachdem sich die Tür hinter dem Weber geschlossen hatte.

„Und es ist gut, daß er böse ist”, erwiderte Alexejew. „Je böser die Arbeiter sind, umso eher werden sie ihr Ziel erreichen. Du mußt lernen, diese Wut gegen den Fabrikbesitzer zu leiten. Wie arbeitet bei euch Pafnutij?”

Tjurin sah erstaunt Alexejew an. Ihn wunderte dieser unvermittelte Übergang.

„Von Pafnutij sprichst du? Was soll ich dir sagen? Er ist ein schlechter Weber und genießt keine Achtung.”

„Und der Zirkel?”

„Die Leute verlassen ihn.”

„Vielleicht sollte man ihn ablösen?”

„Wir haben daran gedacht und auch schon einen Burschen in Aussicht. Akulow. Er arbeitet in Serpuchowo, ist ein zuverlässiger Mensch und weiß Bescheid.”

„Dann laßt ihn doch einen Zirkel bilden und löst Pafnutijs Zirkel auf. Vergeßt aber nicht dabei die Leute aus Gribowo. Solchen Menschen braucht man nur den Weg zu weisen, damit sie selbst bis zur Wahrheit Vordringen. Stimmt’s? . . . Na also . . . dann können wir ja von unseren Dingen reden: Wenn du am nächsten Sonnabend kommst, wird hier schon ein anderer Mann sitzen.”

„Und du, Pjotr Alexejewitsch?”

„Ich fahre weg.”

„Für immer?” platzte der überraschte Tjurin heraus.

„Wo denkst du denn hin? Warum sollte ich für immer fahren? Ich fahre weg und werde wieder kommen. Aber wenn es auch für immer wäre? Glaubst du etwa, daß die ganze Sache auf mir allein ruht? Wenn ich es nicht tue, so tun es eben andere. Und die werden es schon zu Ende führen.”

Alexejew beugte sich über den Tisch vor, wobei er den würdigen Wirt aufmerksam beobachtete, holte aus seiner Seitentasche ein kleines Bündel hervor und schob es schnell Tjurin zu.

„Am nächsten Sonnabend bekommst du mehr”, sagte er auf die Grimasse hin, die Tjurin schnitt. „Die Nachfrage ist zu groß, und die Druckerei kommt nicht mehr mit.”

Dann verabschiedete sich Pjotr Alexejewitsch und ging hinaus. Er wandte sich nach der Pejewedenowka zu, ging um das Holzkirchlein, ließ das Haus des Titularrates Korsak rechts liegen und kam in einen kleinen Garten. Obgleich der Frühling schon eingezogen war, standen die Bäume noch unbelaubt. Aus der Erde sproß zaghaft das erste Gras. Alexejew zupfte sich einen Grashalm, aus, steckte ihn in den Mund, blickte sich schnell um und betrat Korsaks Haus durch einen Seitenflügel.

In einem großen Zimmer saß am Tisch Pafnitij Nikolajew.

„Wo sind denn die Leute?” fragte Alexejew.

„Sie kommen gleich”, erwiderte mürrisch Nikolajew.

Pjotr Alexejew setzte sich zu dem Kameraden.

„Bist du eingeschnappt, Pafnutij?”

„Ich bin doch keine Jungfer.”

„Na also”, ging Pjotr auf seinen Ton ein, „obschon auch die Jungfern sich jetzt in den Dingen auskennen.”

„Studentinnen wohl.”

„Warum denn Studentinnen? Unsere Mädchen von der Fabrik. Sagen wir mal solche Mädchen wie Jewdokija Beljankina.”

„Beljankina ist bei Gutschkow die einzige.”

Alexejew wurde böse.

„Warum verkriechst du dich wie ein Wels unter die Baumwurzel! Womit bist du nur unzufrieden, Pafnutij? Fürchtest du dich? Sag’ es doch. Niemand wird dich mit Gewalt halten. Oder verstehst du etwas nicht? Dann frage. Bei Gutschkow sind sie mit dir auch nicht zufrieden.”

„Sie steilen verfängliche Fragen. Bin ich denn ein Student, der alles wissen muß?”

„Schon wieder redest du von Studenten”, erwiderte Alexejew gereizt. „Die Studenten verrichten ihre Sache und du mußt nach deinem Verstand handeln. Und das mit den verfänglichen Fragen hast du selbst erfunden.”

„Nein, sie fragen zum Beispiel nach den Aktiengesellschaften und warum es immer mehr solcher Gesellschaften gibt. Sind das etwa keine verfänglichen Fragen?”

„Nein, durchaus nicht verfänglich. Der Arbeiter will wissen, warum sich diese Gesellschaften nach der Bauernbefreiung so sehr vermehrten, und deine Sache ist es nun, ihm das zu erklären.”

„Woher soll ich es denn aber wissen?”

Alexejew verbeugte sich vor Pafnutij.

„Guten Morgen, Schwager! Solange sind wir gefahren und doch nirgends angekommen. Wie oft sprachen wir schon darüber?”

„Wir haben noch gar nicht darüber gesprochen.”

„Nicht gesprochen? Kannst du dich noch erinnern, als wir die ,Toten Seelen‘ lasen?”

„Ja, kann ich.”

„Vielleicht erinnerst du dich dann auch, was ich sagte, als wir das Kapitel über die Gutsbesitzer lasen?”

„Ja, ich weiß.”

„Nun, wenn du es weißt, warum konntest du es den Arbeitern nicht sagen?”

Nikolajew sah seinen Kameraden verwundert an.

„Was sollte ich sagen?”

„Wir haben das doch besprochen. Wer blieb denn im Dorf, als solche Menschen wie du und ich vom Land vertrieben wurden? Der Gutsbesitzer und seine Leute, sonst niemand. Wir flüchteten in die Stadt, in die Fabriken, um dort Arbeit zu finden. Und wer baut die Fabriken? Die Manilow und die Sobakewitsch, die viel Geld vom Zaren für ihre Wüsteneien erhielten, Es baut auch noch der Bauer-Ausbeuter, der sich an deiner und meiner Not bereicherte. Und aus dem Auslande kommen die Geier geflogen, die witterten, daß man bei uns für Grosdien blanke Taler erwerben kann. Dem Hunger preisgegeben, ist unser Volk bereit, um ein Stück Brot von früh bis spät zu schuften. Immer neue und neue Fabriken werden gebaut, von Sobakewitsch und den Ausbeutern, von Malinow und den Engländern. Solche Gesellschaften sind aus dem Boden geschossen wie Pilze nach dem Regen. Verstehst du?”

Nikolajew kam nicht mehr dazu, eine Antwort zu geben, denn Iwan Dshabadari, Michail Tschekoidze und Sofja Bardina traten in das Zimmer. Die drei waren zwar wie Arbeiter gekleidet, aber ihren Gesichtern und Händen sah man an, daß sie nicht unter Arbeitern aufgewachsen waren.

Man rückte eine lange Bank an den Tisch und setzte sich hin. Dshabadari, ein hochaufgeschossener junger Mensch mit schwarzen Augen und einer scharfen, langen Nase, legte eine Eisenbahnfahrkarte auf den Tisch.

„Hier, Petrucha”, sagte er in seiner gutturalen Sprechweise, „hier ist eine Fahrkarte nach Iwanowo-Wosnesensk. Du fährst heute abend um 11 Uhr. Auf dem Bahnhof wird es dunkel sein, und das ist günstig für dich. An Büchern haben wir aber nicht viel da. ,Geschichte des französischen Bauern’ . . .”

„Ist das alles?” brummte Alexejew unfreundlich dazwischen.

„Leider. Aber auch nur zwei Exemplare. Wir haben nicht mehr. Dafür beschafften wir uns einige Exemplare der ,Raffinierten Mechanik’ und die ,Märchen über die vier Brüder’ “

„Ihr hättet doch wenigstens etwas über die Pariser Kommune beschaffen können”, sagte vorwurfsvoll Alexejew.

„Wir schicken es euch noch. Ihr werdet schon nicht ohne Literatur bleiben. Nur möchte ich dich bitten, nicht in der Stadt hängen zu bleiben . . .”

„Nein, gerade in der Stadt muß er arbeiten!”

Pjotr Alexejew blickte in die grauen, strahlenden Augen der Sofja Bardina. Er wußte von dem langwierigen Streit zwischen ihr und Iwan Dshabadari: Das Mädchen setzte sich für die Propaganda unter den Arbeitern ein, während er für die Propaganda unter den Bauern eintrat. Pjotr Alexejew wollte sich in den Streit mischen, um zu beweisen, wie recht das Mädchen hatte, doch er kam nicht zu Wort.

„Und wie ist es mit dir?” fragte überraschend Pafnutij.

„Du bleibst zunächst bei Gutschkow”, entgegnete ihm Bardina, während sie aus ihrer Tasche Broschüren hervorholte. „Aber wen schicken wir zu Timaschow in die Fabrik? Unsere Propagandaarbeit ist dort zerfallen. Mit solcher Mühe hatte man dort einen Zirkel organisiert, Wasjutin ließ ihn aber innerhalb eines Monats auseinanderfallen.”

Alexejew wollte ihr sagen, daß die Arbeiter dort eben schon mehr von den technischen Dingen und von der Arbeit wüßten und daß sie andere, kühnere Worte erwarteten, doch Bardinas Blick besänftigte seine Gereiztheit.

Er erhob sich:

„Das Volk drängt zum Kampf, kann dieses Leben nicht mehr ertragen, aber statt eine wirkliche Hilfe zu sein, füttern wir es mit Märchen und hoffen auf Bauernaufstände.”

Dshabadari trat zu Alexejew und legte ihm die Hand auf die Schulter.

„Du hast schon recht, Petrucha, doch Revolutionen macht man nicht nach einem einzelnen Willen. Wenn erst unsere Zirkel über ganz Rußland verbreitet sind, dann . . .”. Er konnte nicht weitersprechen. Draußen knarrte die Holztreppe und jemand stieß hastig die Tür auf.

„Polizei hat das Haus umzingelt!”

Zwei Stunden später wurden aus Korsaks Haus neun Mann abgeführt. Als letzte gingen Pjotr Alexejew und sein Dorfgenosse Pafnutij Nikolajew.

Auf dem Wege zu seiner Equipage blieb der Gendarmerie-Rittmeister stehen, blickte Alexejew und Nikolajew mit verächtlich herabgezogenen Mundwinkeln an und sagte:

„Bauernpack, Bastschuh-Proleten! Ihr habt uns gerade noch gefehlt . . .”

Man schrieb den 4. April 1875.

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Stickige Luft herrschte im Polizeirevier. Durch das vergitterte Fenster schauten die Frühlingssterne hinein, und hoch oben, fast an der Decke, brannte ein kleines Lämpchen, dessen spärliches Licht die schmutzigen Wände nur zur Hälfte beleuchtete. Draußen schlugen Türen, schnappten Schlösser, und immerfort stampften Soldatenstiefel durch den Korridor.

Pjotr Alexejewitsch trat an das Fensterchen und blickte in den Korridor. Gerade führten vier Polizisten fluchend und schimpfend einen Arbeiterburschen vorüber. Er ging langsam, mit zurückgeworfenem Kopf, ohne seine Wächter zu beachten. Vor jeder Zelle blieb er stehen, als suche er hinter diesen zahlreichen Türen seine Freunde.

„Sie haben heute wohl viele gegriffen”, dachte Alexejew und trat von der Tür zurück.

„Aber so viel ihr auch wüten möget, alle könnt ihr nicht herausfinden und einsperren”, fügte er laut hinzu, „das Morgenrot ist angebrochen . . . Bald wird auch die Sonne aufgehen . . .”

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Die Zeit schlich nur langsam dahin. Der blasse Sommerhimmel blickte in die Zelle, wurde von Wolken überdeckt, die den dunklen Raum noch dunkler werden ließen, und dann schien wieder die sengende Sonne. Die Luft in der Zelle war stickig und schwer.

Pjotr Alexejew schritt von einem Winkel zum anderen. Sein Gesicht war finster und unzufrieden. Mit der Enge der Kammer hatte er sich zwar abgefunden. Er schritt je vier Stunden am Tage auf und ab, um seinen Körper geschmeidig zu halten, jedoch es fehlte ihm Lesestoff. Gestern hatte er sich gehen lassen und randaliert; er hatte nach Büchern verlangt.

Schritte im Korridor. Die Tür wurde geöffnet.

„Alexejew! Zum Staatsanwalt!”

Trotz der Augusthitze hatte der alte, kurzsichtige Staatsanwalt einen Herbstmantel an.

„Womit sind Sie, Herr Alexejew, unzufrieden?” erkundigte er sich mit gespielter Höflichkeit.

„Ich bin mit allem zufrieden”, erwiderte Alexejew bereitwillig, „mit dem Essen und mit dem Loch geht es auch. Alles ist gut, nur Bücher bekomme ich nicht.”

Der Staatsanwalt schlug die kurzsichtigen Augen auf und sah Alexejew an.

„Dich könnte man eigentlich wieder freilassen.”

„Machen Sie es, Herr Staatsanwalt”, sagte Alexejew ruhig, weil er den verborgenen Sinn der Worte erkannt hatte.

Der Staatsanwalt wurde ärgerlich.

„Freilassen? Wie soll man dich freilassen, wenn du dumm bist wie ein Baumstumpf. Ich wünsche dir nur Gutes, will dir helfen, aber du bist dir selbst Feind. Um dich freizulassen, muß ich schreiben, daß du dieses und jenes getan, und dich von anderen Dingen ferngehalten hast. Wie oft habe ich mich nun schon mit dir unterhalten? Nie hast du deinen Mund aufbekommen.” Er schlug die Akte auf und stieß mit dem Finger auf ein sauberes Blatt. „Was steht hier? Pjotr Alexejew, Sohn des Alexei, geboren 1849 im Dorf Nowinskoje, Bezirk Sytschew im Gouvernement Smolensk. Das ist alles.”

„Nein, nicht alles, Herr Staatsanwalt.”

„Alles!” antwortete scharf der Staatsanwalt. „Was sagtest du mir noch? Daß Deine Eltern wenig Acker haben, daß sie dich als Neunjährigen nach Petersburg in die Fabrik zu Torntonsk gaben, daß du im vergangenen Jahr nach Moskau umzogst.”

„Ich bin auch umgezdgen”, bestätigte Alexejew. „Die Leute sagten, daß es den Fabrikarbeitern hier besser gehe. Da bin ich eben zu Timaschow in die Fabrik gegangen.”

„Und das ist alles?”

„Alles, Herr Staatsanwalt.”

„Und was tatest du in Korsak’s Haus?” fragte giftig der Staatsanwalt.

„Ich sagte es ja schon. Ich bin ledig. Ich ging etwas angetrunken aus dem Gasthaus. In der Krasnoselskaja-Straße begegnete mir eine Frau. Wir kamen ins Gespräch und sie lud mich zu sich ein.”

Der Staatsanwalt schlug den Aktendeckel zu, schüttelte vorwurfsvoll den Kopf und murrte verdrießlich:

„Siebenundsechzig Jahre lebe ich nun auf dieser Welt, und du kommst daher und willst mich hintergehen.” Plötzlich brach in ihm der Ärger durch. „Warum bist du aus Petersburg getürmt? Du wurdest doch mit verbotenen Büchern ertappt?”

„Nein, ich wurde nicht geschnappt.”

„Nicht geschnappt”, äffte ihn der Staatsanwalt nach, „und bei Timaschow wurdest du auch nicht geschnappt?”

„Nein.”

„Du bist wohl rechtzeitig ausgerückt? Und wozu lerntest du lesen?”

Diese Frage verwirrte Alexejew, er wußte keine Antwort darauf.

„Da haben wir’s!” freute sich der Staatsanwalt. „Um verbrecherische Bücher zu lesen.” Er trat an Alexejew heran. „Du hattest ein schweres Leben, ich weiß es. Doch alles braucht seine Zeit. Wenn Du erst Meister bist, das Vertrauen des Fabrikbesitzers gewinnst, dann kannst du über kurz oder lang deine eigene Fabrik aufmachen. Statt dessen machst du solche Dummheiten!”

Alexejew unterdrückte ein Lächeln und sah in die kurzsichtigen Augen des Staatsanwaltes. Dieser Alte war ihm zuwider : das dritte Mal unterhielt er sich nun mit ihm, und jedesmal versuchte er ihm eine andere Falle zu stellen. „Du bist klug”, sagte er einmal ehrlich, „und ich weiß nicht wie du dich mit diesem Studentengesindel einlassen konntest. Nun wollen sie dir, weil sie dich nicht mehr brauchen, alles in die Schuhe schieben.” Ein anderes Mal: „Du bist ein Holzkopf, siehst deine Vorteile nicht, siehst nicht, daß wir dir helfen wollen. Erzähl’ uns von den Studenten und du bist frei.”

Alexejew blickte auf diesen Greis und wußte, daß er ihm überlegen war. Es war nicht die Überlegenheit der Jugend, sondern die Überlegenheit der Selbstbeherrschung.

„Nun, was ist?” fragte scharf der Staatsanwalt. „Warum schweigst du?”

Er kehrte auf seinen Platz zurück, sah Alexejew vorwurfsvoll an und fügte hinzu:

„Deinen Augen seh’ ich es an, woran du denkst. Nein, Alexejew, ich brauche deine Angaben nicht. Ich kann sie nicht mit ins Grab nehmen. An dich, an dein zerstörtes Leben denke ich mit Trauer. Du schweigst hartnäckig, indes ich weiß, daß du Zirkel organisiertest, daß du verbotene Bücher in den Fabriken verteiltest, daß du nach Iwanowo-Wosnesenak fahren wolltest, um auch dort Zirkel zu schaffen. Du gabst dir alle erdenkliche Mühe, um den Studenten dienlich zu sein, sie selbst aber packten aus. Sie verrieten dich, den Bauern, und du? Anstatt dich schuldig zu bekennen, zu sagen, die Studenten verleiteten mich„ bleibst du starrköpfig . . .”

Der erfahrene Staatsanwalt begriff, daß er auch dieses Mal mit Alexejew nicht fertig werden konnte.

„Geh’. Ich werde veranlassen, daß man dir Bücher gibt.”

Und wirklich, Alexejew bekam Bücher, dicke Bücher in guten Einbänden. Als er das erste Buch entgegennahm, wollte er den Aufseher umarmen, aber zufällig fiel sein Blick auf den Einband, den ein Kreuz schmückte. Es war eine Bibel.

Nun, auch die konnte man brauchen.

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Pjotr Alexejew hielt die von ihm selbst eingeführte Tagesordnung ein: Saubermachen, Auf- und Abgehen in der Zelle, Turnübungen, Frühstück, Lesen, halbstündiger Spaziergang, Mittag, wieder lesen.

Nur in der Dämmerung stand er am Fenster und blickte in das Stückchen Himmel. Er dachte an seine Kindheit in der Fabrik, wo er wegen geringster Vergehen geschlagen wurde, in strengen Winternächten auf Steinboden schlafen mußte und seine ganze Kleidung aus einer leichten Hose und einem Baumwollhemd bestand.

Im Sommer 1861 hatte er es in der Fabrikhölle nicht mehr ausgehalten und war geflohen. Mit seinen zwölf Jahren kehrte er von Petersburg zu Fuß in sein Heimatdorf Nowinskoje zurück.

Ob Regen fiel, ob die Sonne brannte, ob Gewitter die Landschaft überzogen, er war unentwegt weitergegangen über die Waldai-Höhe, an Rshew vorbei und an vielen anderen Orten, deren Namen er längst nicht mehr wußte. Er hatte sich von Waldbeeren und milden Gaben genährt und auf den Lagerstätten, in den Schafställen und in den Heuhaufen, von seiner Familie geträumt: sie saß am Tisch, frisch gewaschen, in sauberen Leinenhemden, vor jedem lag ein Holzlöffel, und Mutter entnahm dem heißen Ofen einen großen Kessel Fleischkohlsuppe.

Der Traum sollte sich aber nicht verwirklichen. Alexejew war vor Schlägen und Hunger geflohen, doch auch hier erwarteten ihn wieder Hunger und Schläge.

Als er schmutzig und müde die Schwelle des Vaterhauses betreten hatte, beachtete ihn niemand, obgleich die ganze Familie beisammen war. In der Ehrenecke unter den Heiligenbildern saß der Großvater, schmal,