Jules Verne


Die Reise zum Mittelpunkt der Erde



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Abenteuerroman

Impressum




Klassiker als ebook herausgegeben bei RUTHeBooks, 2016


ISBN: 978-3-95923-226-5


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Fünfundvierzigstes Kapitel - Schluß



Nun komme ich zum Schluß meines Berichts, welchem Manche, so sehr sie sich auch gewöhnt haben über nichts zu erstaunen, den Glauben versagen werden. Aber ich bin zum Voraus gegen den Unglauben der Menschen gerüstet.

Die Fischer zu Stromboli nahmen uns mit allen Rücksichten auf, welche man Schiffbrüchigen zollt. Sie beschenkten uns mit Kleidung und Lebensmitteln. Nachdem wir achtundvierzig Stunden gewartet, brachte uns eine kleine Barke nach Messina, wo wir uns in einigen Tagen völlig ausruhten und erholten.

Freitags, 4. September, gingen wir auf dem Volturno, einem Post-Packetboot der kaiserlichen Messagerien, unter Segel, und landeten nach drei Tagen zu Marseille, ohne weitere Sorge, als über die verdammte Magnetnadel, denn diese unerklärliche Tatsache quälte mich ernstlich. Am 9. September Abends langten mir zu Hamburg an. Unbeschreiblich war das Erstaunen Martha's, Gretchen's Jubel.

"Nun, da Du ein Held bist, sagte meine liebe Braut, brauchst Du mich nicht mehr zu verlassen, Axel!"

Ich sah ihr in's Auge. Sie weinte lächelnd.

Dass des Professors Lidenbrock Rückkehr zu Hamburg Aufsehen machte, versteht sich von selbst. Durch Martha's Redseligkeit war die Nachricht von seiner Abreise nach dem Mittelpunkt der Erde überall verbreitet worden. Man glaubte nicht daran, und als man ihn wiedersah, glaubte man's noch weniger.

Jedoch durch die Anwesenheit unsers Hans, und einige Nachrichten, die man aus Island erhielt, änderte sich allmälig die öffentliche Meinung Nun wurde mein Oheim ein großer Mann, und ich der Neffe eines großen Mannes, und das ist schon Etwas. Hamburg gab uns zu Ehren ein Fest. Im Johanneum fand eine öffentliche Sitzung statt, worin der Professor einen Bericht über seine Unternehmung vortrug. An demselben Tage legte er Saknussemm's Dokument im Archiv der Stadt nieder, und erklärte sein lebhaftes Bedauern, dass ihm die Umstände nicht erlaubt hätten, die Spuren des isländischen Reisenden bis zum Mittelpunkt der Erde weiter zu verfolgen.

So viel Ehre mußte ihm Neider erwecken. Es fehlte daran nicht, und da seine Theorien, auf zuverlässige Tatsachen gestützt, den wissenschaftlichen Systemen über die Frage des Zentralfeuers widersprachen, so hatte er mit den Gelehrten aller Länder merkwürdige Streitigkeiten zu bestehen.

Ich meines Teils kann seine Theorie des Erkaltens nicht gelten lassen, trotzdem, was ich gesehen habe, glaube ich an die Zentralwärme, und werde stets daran glauben; doch gebe ich zu, dass gewisse, noch nicht hinlänglich bestimmte Umstände dieses Gesetz unter Einwirkung von Naturerscheinungen modificiren können.

Zur Zeit als diese Fragen lebhaft im Zug waren, erlitt mein Oheim einen herben Kummer. Hans, den das Heimweh befiel, verließ trotz seiner Bitten Hamburg. Der Mann, dem wir Alles verdankten, wollte das nicht gestatten, ihm den Tribut unserer Dankbarkeit zu zollen.

"Farval", sagte er eines Tages, und nach diesem einfachen Abschied reiste er nach Reykjawik, wo er glücklich ankam.

Wir waren unserem wackeren Eiderjäger sehr anhänglich. Die ihm ihr Leben verdankten, werden seiner stets in Liebe gedenken, und ich werde gewiß vor meinem Ende ihn noch besuchen.

Zum Schluß darf ich beifügen, dass diese Reise nach dem Mittelpunkt der Erde ungeheures Aufsehen in der ganzen Welt erregte. Sie wurde gedruckt und in alle Sprachen übersetzt; die gelesensten Journale eigneten sich ihre wichtigsten Kapitel an, und sie wurden dann erläutert, erörtert, angegriffen, verteidigt mit gleicher Überzeugung im Lager der Gläubigen und Ungläubigen. Es wurde meinem Oheim die seltene Gunst des Schicksals zu Teil, dass er noch bei Lebzeiten seinen vollen Ruhm genoss, so dass sogar Barnum ihm den Antrag machte, ihn für hohen Preis in allen Vereinigten Staaten öffentlich sehen zu lassen.

Aber mitten in diesem Ruhm beschlich ihn ein Unbehagen, quälte ihn eine Pein: die unerklärliche Tatsache der Magnetnadel. Für einen Gelehrten wird eine solche unerklärte Tatsache zu einer Qual des Verstandeslebens. Nun, der Himmel beschied meinem Oheim die Vollständigkeit seines Glückes.

Eines Tages, als ich eine Sammlung Mineralien in seinem Kabinett ordnete, kam mir dieser merkwürdige Kompass unter die Augen, und ich beobachtete ihn.

Seit sechs Monaten befand er sich in seinem Winkel, ohne zu ahnen, welche Unruhe er verursachte.

Auf einmal, welch Erstaunen! Ich schrie laut auf. Der Professor kam eilig herbei.

"Was gibt's, fragte er.

Dieser Kompass! ...

Nun?

Seine Nadel weist auf Süden und nicht auf Norden!

Was sagst Du?

Sehen Sie! Die Pole verkehrt.

Verkehrt!"

Mein Oheim schaute, verglich und sprang auf, dass das Haus erzitterte.

Welches Licht drang auf einmal in seinen und meinen Geist!

"Also, rief er aus, sobald er wieder sprechen konnte, seit unserer Ankunft am Cap Saknussemm zeigte die verdammte Nadel auf Süden anstatt auf Norden?

Offenbar.

Dadurch erklärt sich unsere Irrfahrt. Aber welches Ereignis konnte die Umkehrung der Pole bewirken?

Ein sehr einfaches.

Sprich Dich aus, lieber Junge.

Während des Sturmes auf dem Meer Lidenbrock hat die Kugel, welche das Eisen des Floßes magnetisirte, unsere Nadel ganz einfach irre gemacht.

So! rief der Professor mit hellem Lachen, da hat also die Elektrizität einen Streich gespielt?"

Von diesem Tag an war mein Oheim der glücklichste Gelehrte, und ich der glücklichste Mensch, denn meine hübsche Vierländerin, die mündig geworden, nahm in dem Hause in der Königsstraße die doppelte Stellung an als Nichte und Ehefrau. Dazu kam sodann, dass ihr Oheim der berühmte Professor Otto Lidenbrock war, korrespondierendes Mitglied aller wissenschaftlichen, geographischen und mineralogischen Gesellschaften der ganzen Welt.


ENDE

 

 

Inhalt




Erstes Kapitel - Professor Lidenbrock

Zweites Kapitel - Ein altes Dokument

Drittes Kapitel - Das Pergament des Arne Saknussemm

Viertes Kapitel - Entzifferung des Geheimnisses

Fünftes Kapitel - Der Schlüssel des Dokuments

Sechstes Kapitel - Das Zentrum der Erde

Siebentes Kapitel - Reise-Vorbereitungen

Achtes Kapitel - Reise nach Island

Neuntes Kapitel - Ankunft auf Island

Zehntes Kapitel - Professor Fridrickson

Elftes Kapitel - Hans Bjelke

Zwölftes Kapitel - Nach Snäfieldsnäß

Dreizehntes Kapitel - Eine Bauernherberge

Vierzehntes Kapitel - Im Pfarrhaus

Fünfzehntes Kapitel - Auf dem Vulkan

Sechzehntes Kapitel - In dem Krater

Siebzehntes Kapitel - In den Schlund hinab

Achtzehntes Kapitel - Durch die Lavagalerie

Neunzehntes Kapitel - Auf dem Irrweg

Zwanzigstes Kapitel - Verlegenheiten

Einundzwanzigstes Kapitel - Wassermangel

Zweiundzwanzigstes Kapitel - Not

Dreiundzwanzigstes Kapitel - Der Hansbach

Vierundzwanzigstes Kapitel - Weiter hinab

Fünfundzwanzigstes Kapitel - Rasttag

Sechsundzwanzigstes Kapitel - Verirrt

Siebenundzwanzigstes Kapitel - Im dunkeln Labyrinth

Achtundzwanzigstes Kapitel - Ein Spiel der Akustik

Neunundzwanzigstes Kapitel - Rettung

Dreißigstes Kapitel - Das Meer Lidenbrock

Einunddreißigstes Kapitel - Zu Schiffe

Zweiunddreißigstes Kapitel - Eine Wasserpartie

Dreiunddreißigstes Kapitel - Ein Riesenkampf

Vierunddreißigstes Kapitel - Ein Geysir

Fünfunddreißigstes Kapitel - Ein Gewitter

Sechsunddreißigstes Kapitel - Verschlagen

Siebenunddreißigstes Kapitel - Ein Gebeinfeld

Achtunddreißigstes Kapitel - Ein fossiler Mensch

Neununddreißigstes Kapitel - Ein Proteus der Urwelt

Vierzigstes Kapitel - Cap Saknussemm

Einundvierzigstes Kapitel - Eine Explosion

Zweiundvierzigstes Kapitel - Bergfahrt im Tunnel

Dreiundvierzigstes Kapitel - Ausgeworfen aus dem Krater

Vierundvierzigstes Kapitel - Stromboli

Fünfundvierzigstes Kapitel - Schluß

 

 

 

Erstes Kapitel - Professor Lidenbrock



Am 21. Mai 1864, eines Sonntags, kam mein Oheim, der Professor Lidenbrock, in hastiger Eile heim in sein kleines Haus, Königsstraße 19, eine der ältesten Straßen des alten Stadtviertels zu Hamburg.

Die gute Martha mußte glauben sehr mit dem Mittagessen in Rückstand zu sein, denn es fing eben erst an auf dem Herde zu sieden.

"Schön, sagte ich, aber wenn mein Oheim Hunger hat, wird der ungeduldige Mann Zeter schreien.

Da ist ja schon Herr Lidenbrock! rief die gute Martha in Bestürzung, indem sie die Tür des Speisezimmers ein wenig öffnete.

Ja, Martha, aber das Essen darf schon noch etwas kochen, denn es hat eben erst auf der Michaeliskirche halb zwei geschlagen.

Warum kommt aber Herr Lidenbrock schon heim?

Er wird's uns vermutlich sagen.

Da ist er! Ich flüchte mich, Herr Axel, Sie werden ihn zur Einsicht bringen."

Und die gute Martha eilte wieder in ihre Küche.

Ich blieb allein. Aber einen zornigen Professor zur Einsicht zu bringen, war doch für meinen etwas schwankenden Charakter nicht möglich. Daher war ich im Begriff mich klüglich wieder in mein Zimmerchen hinauf zu begeben, als die Angeln der Haustür knarrten; des Hausherrn lange Beine schritten geräuschvoll über die hölzerne Treppe quer durch das Speisezimmer hastig in sein Arbeitscabinet.

Im Vorbeirennen warf er seinen Stock mit einem Nußknackerknopf in eine Ecke, seinen wider den Strich gebürsteten Hut auf einen Tisch, und rief laut seinem Neffen zu:

"Axel, komm' mir nach!".

Ich hatte noch nicht Zeit, vom Fleck zu kommen, als der Professor mit lebhafter Ungeduld mir zurief:

"Nun! noch nicht hier?"

Ich eilte in's Zimmer meines fürchterlichen Oheims. Otto Lidenbrock war kein bösartiger Mensch, ich geb's gerne zu; aber wofern er nicht, was sehr unwahrscheinlich ist, sich ändert, so wird er als ein schrecklicher Sonderling sterben.

Er war Professor am Johanneum, und hielt Vorträge über Mineralogie, wobei er regelmäßig ein- oder auch zweimal in Zorn geriet. Es kam ihm durchaus nicht darauf an, dass seine Schüler fleißig die Lectionen besuchten, noch dass sie aufmerksam zuhörten, noch dass sie Fortschritte machten: diese Kleinigkeiten machten ihm wenig Sorge. Sein Vortrag war, wie die deutsche Philosophie sich ausdrückt, "subjectiv" für ihn, und nicht für andere. Er war ein egoistischer Gelehrter, ein Wissensbrunnen, dessen Rolle knarrte, wenn man etwas herausziehen wollte: mit einem Wort, ein Geizhals.

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Es gibt in Deutschland manche Professoren der Art. Mein Oheim hatte leider keine leichte Aussprache, wenigstens wann er öffentlich sprach, ein bedauerlicher Mangel bei einem Redner. Bei seinen Vorträgen im Johanneum blieb der Professor oft plötzlich stecken; er rang mit einem störrigen Ausdruck, der nicht von seinen Lippen wollte, einem Ausdruck, der sich sträubt und aufbläht, bis er endlich in der unwissenschaftlichen Form eines Fluchs heraus kommt. Darüber arge Erzürnung.

Nun gibt's in der Mineralogie viele halb-griechische, halb-lateinische Benennungen, die schwer auszusprechen sind, so holperig rauh, dass sie für eines Dichters Lippen eine Pein sind. Ich will dieser Wissenschaft nichts Übles nachsagen. Aber gegenüber von rhomboedrischen Krystallisationen, von retin-asphaltischen Harzen, von Gheleniden, Fangasiden, Molybdaten, Tungstaten, Titaniaten und Zircone darf die geläufigste Zunge fehl sprechen.

In der Stadt nun kannte man diese verzeihliche Schwäche meines Oheims, und man machte sich über ihn lustig; man lauerte ihm auf, reizte ihn zum Zorn und lachte ihn aus, was auch in Deutschland durchaus nicht für anständig gilt. Und waren die Zuhörer Lidenbrock's stets zahlreich, so kamen sie meist deshalb, um sich an dem ergötzlichen Zorn des Professors zu belustigen.

Wie dem auch sein mag, mein Oheim war, – das kann ich nicht genug betonen – ein echter Gelehrter. Obwohl er manchmal bei allzu barschen Versuchen seine Musterstücke zerschlug, verband er mit dem Genie des Geologen den Blick des Mineralogen. Mit seinem Hammer, seiner stählernen Spitzhaue, seiner Magnetnadel, seinem Lötrohr und Fläschchen Salpetersäure war der Mann sehr stark. Er verstand jedes beliebige Metall nach dem Bruch, Aussehen, der Härte, Schmelzbarkeit, dem Ton, Geruch oder Geschmack ohne viel Bedenken in die Klassifikation der sechshundert jetzt bekannten Gattungen einzureihen.

Daher hatte auch Lidenbrock's Name in den Gymnasien und Vereinen einen ehrenvollen Klang. Humphry Davy und von Humboldt, die Kapitäne Franklin und Sabine machten ihm auf der Reise durch Hamburg ihren Besuch. Becquerel, Ebelmen, Brewster, Dumas, Milne-Edwards, Sainte-Claire-Deville befragten ihn gerne über wichtige Punkte der Chemie. Diese Wissenschaft verdankte ihm hübsche Entdeckungen, und im Jahre 1853 war zu Leipzig von Otto Lidenbrock eine Abhandlung über Transcendentale Krystallographie in Großfolio mit Abbildungen erschienen, welche jedoch nicht die Kosten deckte.

Zudem war mein Oheim Conservator des mineralogischen Museums des russischen Gesandten Struve, welches europäischen Ruf hatte.

Dieser Mann war's, der mich so ungeduldig anrief. Ein großer, magerer Mann mit eiserner Gesundheit und blondem jugendlichen Aussehen, das ihn um zehn Jahre jünger machte, als er wirklich war. Große unablässig rollende Augen hinter einer ansehnlichen Brille; eine lange seine Nase, gleich einer scharfen Klinge; böse Zungen behaupteten, sie sei mit einem Magnet bestrichen und ziehe den Eisenstaub an sich.

Pure Verleumdung: sie zog nur den Tabak in sich, und zwar, um der Wahrheit ihr Recht zu geben, in reichlichem Maße.

Wenn ich noch hinzufüge, dass mein Oheim mathematisch gemessen drei Fuß lange Schritte machte, und ferner bemerke, dass er mit festgeschlossenen Händen – was ein heftiges Temperament bezeichnet – einherging, so kennt man ihn hinlänglich, um auf seine Gesellschaft nicht sehr erpicht zu sein.

Er wohnte auf der Königsstraße in einem eigenen kleinen Hause, das halb aus Holz, halb aus Ziegelstein gebaut war, mit ausgezacktem Giebel; es lag an einem der Canäle, welche in Schlangenwindungen durch das älteste Quartier Hamburgs ziehen, das von dem großen Brand im Jahre 1842 glücklich verschont wurde; sein Dach saß ihm so schief, als einem Studenten des Tugendbundes die Mütze auf dem Ohr; das Senkblei durfte man an seine Seiten nicht anlegen; aber im Ganzen hielt es sich fest, Dank einer kräftigen in die Vorderseite eingefügten Ulme, die im Frühling ihre blühenden Zweige durch die Fensterscheiben trieb.

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Mein Oheim war für einen deutschen Professor reich zu nennen. Das Haus war samt Inhalt sein volles Eigentum. Zu dem Inhalt gehörte seine Patin, Gretchen, ein siebenzehnjähriges Mädchen aus den Vierlanden, die gute Martha und ich. In meiner doppelten Eigenschaft als Neffe und Waise ward ich sein Handlanger-Gehilfe bei seinen Experimenten.

Ich gestehe, dass ich an den geologischen Wissenschaften Lust hatte; es floß mineralogisches Blut in meinen Adern, und ich langweilte mich nie in Gesellschaft meiner kostbaren Steine.

Übrigens konnte man doch in diesem kleinen Hause der Königsstraße glücklich leben trotz der ungeduldigen Weise seines Eigentümers, denn obwohl er sich etwas brutal benahm, liebte er mich doch. Aber der Mann verstand nicht zu warten, und eilte sogar der Natur voran.

Wann er im April in die Fayence-Töpfe seines Salons Stöckchen Reseda oder Winde pflanzte, zupfte er sie jeden Morgen an den Blättern, um ihr Wachstum zu beschleunigen.

Bei einem solchen Original war nichts anderes möglich, als gehorchen. Ich stürzte daher hastig in sein Arbeitszimmer.

Zweites Kapitel - Ein altes Dokument



Dieses Kabinett war ein wahrhaftes Museum. Alle Musterstücke aus dem Mineralreich fanden sich da mit Etiketten versehen in vollständigster Ordnung gereiht, nach den drei großen Abteilungen der brennbaren, metallischen und steinartigen Mineralien.

Wie war ich mit diesem Spielzeug der mineralogischen Wissenschaft vertraut! Wie oft hatte ich, anstatt mit meinen Kameraden meine Zeit zu vertändeln, meine Freude daran, diese Graphiten, Anthraciden, Ligniten, die Steinkohlen und Torfe abzustäuben! Und die Harze, Erdharze, organischen Salze, die vor den geringsten Stäubchen zu schützen waren! Und diese Metalle, vom Eisen bis zum Gold, deren relativer Wert vor der absoluten Gleichheit der wissenschaftlichen Gattungen verschwand! Und alle die Steine, womit man das Haus an der Königsstraße hätte neu aufbauen können, und noch ein hübsches Zimmer dazu, worin ich mich recht hübsch eingerichtet hätte!

Aber als ich in das Arbeitszimmer trat, dachte ich nicht an diese Wunder; mein einziger Gedanke war mein Oheim. Er war in seinem großen, mit Utrechter Sammt beschlagenen Lehnstuhl vergraben und hielt ein Buch in den Händen, das er mit tiefster Bewunderung anschaute.

"Welch ein Buch! welch ein Buch!" rief er aus. Dieser Ausruf erinnerte mich, dass der Professor Lidenbrock auch zu Zeiten ein Büchernarr war: eine alte Scharteke hatte in seinen Augen nur insofern Wert, als sie schwer aufzufinden oder wenigstens unleserlich war.

"Aber, sagte er, siehst Du denn nicht? Das ist ja ein unschätzbares Kleinod, das ich heute Morgen im Laden des Juden Hevelius aufgefunden habe.

Prachtvoll!" erwiderte ich mit erheucheltem Enthusiasmus. Wahrhaftig, wozu so viel Lärm um einen alten Quartanten in Kalbleder, eine vergilbte Scharteke mit verblaßtem Buchzeichen.

Der Professor fuhr indessen fort in unerschöpflicher Bewunderung, indem er sich selbst fragte und antwortete:

"Siehst Du, ist's nicht hübsch? Ja, wunderschön! was für ein Einband! wie leicht schlägt man's auf! wie trefflich schließen die Blätter, dass sie nirgends klaffen! Und an diesem Rücken sieht man nach sieben Jahrhunderten noch keinen Riss!"

Ich konnte nichts Besseres tun, als ihn über den Inhalt zu fragen, obwohl der mich wenig kümmerte.

"Und wie ist denn der Titel des merkwürdigen Buches? fragte ich hastig.

Dies Werk, erwiderte mein Oheim lebhaft, ist die Heimskringla von Snorro Sturleson, dem berühmten isländischen Chronisten des zwölften Jahrhunderts! Es enthält die Geschichte der norwegischen Fürsten, die auf Island herrschten.

Wirklich! rief ich so freudig wie möglich, und gewiß eine deutsche Übersetzung?

Schön! entgegnete lebhaft der Professor, eine Übersetzung! Und was mit der Übersetzung anfangen? Wer kümmert sich um eine solche? Es ist ein Originalwerk in isländischer Sprache, dem prächtigen, reichen und zugleich einfachen Idiom!

Wie das Deutsche, fügte ich schmeichelnd bei.

Ja, erwiderte mein Oheim mit Achselzucken, ohne in Anschlag zu bringen, dass die isländische Sprache die drei Geschlechter bezeichnet, wie beim Griechischen, und die Eigennamen dekliniert, wie im Lateinischen!

Ah! rief ich, indem ich meiner Gleichgültigkeit Gewalt antat, und wie schön sind die Lettern!

Lettern! Was meinst Du, Lettern? Wie? Du meinst, das sei gedruckt? Nein, Dummer, es ist ein Manuskript, ein Runen-Manuscript! ...

Runen?

Ja! Begehrst Du nun eine Erklärung dieses Worts?

Das laß ich bleiben", erwiderte ich mit dem Ton eines Beleidigten.

Aber mein Oheim fuhr um so eifriger fort mich wider Willen über Dinge zu belehren, die ich zu wissen gar nicht Lust hatte.

"Die Runen, fuhr er fort, waren Schriftzüge, die vor uralten Zeiten auf Island im Gebrauch waren und von Odin selbst erfunden sein sollen! Aber schau doch her, bewundere doch, Gottloser, die von einem Gott ausgedachten Zeichen!"

Wahrhaftig, anstatt zu antworten, fiel ich auf die Knie, eine Antwort, die Göttern und Königen gefällt.

Ein Zwischenfall gab der Unterhaltung eine andere Wendung. Ein schmutziges Pergament fiel aus der Scharteke heraus auf den Boden.

Mit begreiflicher Gier fiel mein Oheim über diesen Quark her. Ein altes Dokument, das vielleicht seit unvordenklicher Zeit in einem alten Buche lag, mußte unfehlbar in seinen Augen sehr kostbar sein.

"Was ist das?" rief er aus.

Und zugleich entfaltete er sorgfältig auf dem Tisch ein fünf Zoll langes, drei Zoll breites Pergamentstück, worauf in Querzeilen ein unverständliches Gekritzel von Schriftzügen sich befand.

Ich gebe hier ein genaues Facsimile derselben. Es ist mir darum zu tun, diese seltsamen Zeichen zur Anschauung zu bringen, weil sie den Professor Lidenbrock nebst seinen Neffen zu der sonderbarsten Unternehmung des neunzehnten Jahrhunderts veranlaßten:

4

Der Professor betrachtete diese Zeichen eine Weile; dann sprach er, indem er seine Brille höher rückte:

"Es ist Runisch; diese Zeichen sind denen auf dem Manuskript Snorro's völlig gleich! Aber ... was mag das nur bedeuten?"

Da es mir schien, das Runische sei eine Erfindung der Gelehrten, um die ungelehrten Leute zu hintergehen, so war es mir nicht unlieb, dass mein Oheim nichts davon verstand. Das nahm ich wenigstens aus seinen Fingerbewegungen ab.

"Es ist doch alt Isländisch", brummte er in den Bart.

Und der Professor Lidenbrock mußte das wohl verstehen, denn er galt für ein Wunder von einem Sprachenkenner. Die zweitausend Sprachen und viertausend Dialekte, die man auf der Erde kennt, sprach er nicht nur geläufig, sondern verstand auch deren einen guten Teil.

Um dieser Schwierigkeit willen war er im Begriff, sich allen Stürmen seines heftigen Gefühls hinzugeben, als es auf der kleinen Uhr des Kamins zwei schlug, und die gute Martha die Tür mit den Worten öffnete:

"Die Suppe ist aufgetragen.

Zum Henker mit der Suppe, schrie mein Oheim, samt der Köchin, und wer sie verzehrt!"

Martha entfloh, ich eilte ihr nach und befand mich, ohne zu wissen wie, an meinem gewöhnlichen Platz im Speisezimmer.

Ich wartete eine Weile. Der Professor kam nicht. Zum ersten Mal, meines Gedenkens, ließ er sich bei dem Mittagessen vermissen. Und doch, welch treffliches Essen! Petersiliensuppe, Eierkuchen mit Schinken in Sauerampfersauce, Kalbsnierenbraten mit Pflaumenkompott, und zum Dessert Meerkrebschen mit Zucker, und dazu ein hübscher Moselwein.

Das Alles versäumte mein Oheim über dem alten Papier. Wahrhaftig als ergebener Neffe glaubte ich mich verbunden, für uns beide zu essen. Und ich tat es gewissenhaft.

"Das hab' ich nie erlebt! sagte die gute Martha. Herr Lidenbrock nicht bei Tische!

Unglaublich.

Das hat was Arges zu bedeuten!" fuhr die Alte mit Kopfschütteln fort.

Meines Erachtens bedeutete es nichts anderes, als eine fürchterliche Szene, wenn mein Oheim sein Essen aufgezehrt finden würde.

Ich war an meinem letzten Krebschen, als eine lauthallende Stimme mich den Genüssen des Nachtisches entzog. Mit einem Sprung war ich im Kabinett des Herrn.

Drittes Kapitel - Das Pergament des Arne Saknussemm



"Es ist offenbar Runisch, sagte der Professor mit Stirnrunzeln. Aber ich werde das Geheimnis, das dahinter steckt, entdecken, sonst ..."

Und er machte eine heftige Bewegung mit der Hand.

"Setz' Dich dahin, fuhr er fort, indem er auf den Tisch hinwies, und schreib'."

Im Augenblick war ich bereit.

"Jetzt will ich Dir jeden Buchstaben unseres Alphabets diktieren, sowie er mit einem dieser Schriftzüge stimmt. Wir werden sehen, was dabei herauskommen wird. Aber nimm Dich wohl in Acht, dass Du nichts verfehlst!"

Er fing an, zu dictiren, und ich gab mir alle Mühe. Er benannte jeden Buchstaben einen nach dem andern, und so bildeten sich folgende unverständliche Worte:

m.rnllsesreuelseecJde
sgtssmfunteiefniedrke
kt,samnatrateSSaodrrn
emtnaeInuaectrrilSa
Atvaar.nscrcieaabs
ccdrmieeutulfrantu
dt,iacoseiboKediiI

Als dies fertig war, nahm mein Oheim hastig das Blatt, worauf ich geschrieben hatte.

"Was will das bedeuten?" wiederholte er mechanisch.

Auf Ehre, ich hätte es ihm nicht sagen können. Übrigens fragte er mich nicht, und sprach weiter mit sich selbst:

"Das heißen wir eine Geheimschrift, sagte er, worin der Sinn hinter absichtlich durcheinander gemischten Buchstaben versteckt ist, welche in gehöriger Folge geordnet, eine verständliche Phrase bilden würden. Darin steckt vielleicht die Erklärung oder Andeutung einer großen Entdeckung!"

Ich meines Teils dachte, es stecke gar nichts dahinter, aber ich hütete mich wohl, meine Meinung auszusprechen.

Der Professor nahm darauf das Buch und das Pergament, und verglich sie beide mit einander.

"Diese beiden Schriften sind nicht von derselben Hand; das Geheimschriftstück ist späteren Ursprungs, als das Buch, wie ich das gleich vorne aus einem unwiderleglichen Beweis ersehe. In der Tat, der erste Buchstabe ist ein doppeltes M, das in Sturleson's Buch sich nicht findet, denn es wurde erst im vier zehnten Jahrhundert dem isländischen Alphabet hinzugefügt. Also liegen wenigstens zwei Jahrhunderte zwischen dem Manuskript und dem Dokument."

Das schien mir allerdings ziemlich folgerichtig.

"Das bringt mich auf den Gedanken, fuhr mein Oheim fort, diese geheimnisvolle Schrift sei von einem Besitzer des Buches verfaßt worden. Aber wer zum Henker war dieser Besitzer? Sollte er nicht seinen Namen irgendwo unter das Manuskript gesetzt haben?"

Mein Oheim setzte seine Brille höher, nahm eine starke Lupe, und musterte sorgfältig die ersten Seiten des Buches durch. Auf der zweiten Rückseite entdeckte er eine Art Flecken, der wie ein Tintenklex aussah; aber genauer besehen unterschied man einige halb verloschene Schriftzüge. Mein Oheim begriff, dass es auf diesen Punkt ankomme; er machte sich also auf's Eifrigste darüber her, und erkannte endlich mit Hilfe seiner Lupe die folgenden Runenschriftzeichen, welche er ohne Anstoß lesen konnte:

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"Arne Saknussemm! rief er triumphierend aus, aber das ist ein Name, und noch dazu ein isländischer Name, eines Gelehrten des sechzehnten Jahrhunderts, eines berühmten Alchymisten."

Ich schaute meinen Oheim mit einigem Staunen an.

"Diese Alchymisten, fuhr er fort, Avicenna, Bacon, Lullus, Paracelsus waren die einzigen, die echten Gelehrten ihrer Epoche. Sie haben Entdeckungen gemacht, worüber wir erstaunt sein dürfen. Warum sollte nicht dieser Saknussemm unter dieser Geheimschrift eine auffallende Entdeckung verhüllt haben? So muß es sein. So ist's wirklich."

Bei dieser Hypothese erhitzte sich des Professors Phantasie.

"Ganz gewiß, erwiderte ich keck, aber was konnte dieser Gelehrte für ein Interesse dabei haben, eine merkwürdige Entdeckung geheim zu halten?

Warum? Warum? Ja, weiß ich's? Hat's nicht Galiläi ebenso gemacht in Beziehung auf Saturn? Übrigens, wir werden schon sehen: ich werde das Geheimnis dieses Dokuments herausbekommen, und ich werde weder essen noch schlafen, bis ich's heraus habe.

O! dachte ich.

Du ebenfalls nicht, Axel, fuhr er fort.

Teufel! dacht' ich, da ist's gut, dass ich doppelte Mahlzeit gehalten habe.

Und erstlich, sagte mein Oheim, gilt's, die Sprache dieser Chiffre aufzufinden. Das kann nicht schwer sein."

Bei diesen Worten hob ich lebhaft den Kopf. Mein Oheim fuhr fort, mit sich selbst zu reden:

"Es gibt nichts Leichteres. Dieses Dokument enthält hundertzweiunddreißig Buchstaben, wovon neunundsiebenzig Konsonanten gegen dreiundfünfzig Vokale. Ungefähr dieses Verhältnis findet bei den südlichen Sprachen statt, während die Idiome des Nordens unendlich reicher an Konsonanten sind. Es handelt sich also um eine Sprache des Südens."

Diese Folgerungen waren richtig.

"Aber was ist's für eine Sprache?

Dieser Saknussemm, fuhr er fort, war ein unterrichteter Mann; wenn er also nicht in seiner Muttersprache schrieb, mußte er der unter den gebildeten Geistern des sechzehnten Jahrhunderts geläufigen Sprache den Vorzug geben, der lateinischen nämlich. Irre ich darin, so kann ich mit dem Spanischen, dem Französischen, Italienischen, Griechischen oder Hebräischen einen Versuch machen. Aber die Gelehrten des sechzehnten Jahrhunderts schrieben im Allgemeinen lateinisch. Ich darf also als selbstverständlich annehmen, es sei Latein."

Ich sprang von meinem Stuhl auf. Meine Erinnerungen aus der Lateinschule sträubten sich gegen die Behauptung, diese Gruppe seltsamer Worte könne der sanften Sprache Virgil's angehören.

"Ja! Latein, fuhr mein Oheim fort, aber verworrenes Latein.

Das mag sein! dachte ich. Wenn Du es entwirrst, lieber Oheim, bist Du ein seiner Kopf.

Untersuchen wir gehörig, sagte er, und nahm das von mir beschriebene Blatt wieder zur Hand. Hier ist eine Gruppe von hundertzweiunddreißig Buchstaben, die wir in vollständiger Verworrenheit finden. Da sind Worte, worin nur Konsonanten vorkommen, wie das erste ›rnlls‹, andere dagegen, worin die Vokale überwiegen, z.B. das fünfte: ›uneeief‹, oder das vorletzte: ›oseibo‹. Nun ist offenbar diese Gruppirung nicht so zusammengesetzt worden; sie wurde mathematisch gegeben durch ein uns unbekanntes Verhältnis, nach welchem die Aneinanderreihung dieser Buchstaben bestimmt wurde. Ich halte für gewiß, dass die ursprüngliche Phrase regelmäßig geschrieben, sodann nach einem Grundgedanken, den man auffinden muß, umgebildet wurde. Wer den Schlüssel dieser ›Chiffre‹ besäße, würde sie geläufig lesen. Aber was ist das für ein Schlüssel? Axel, hast Du ihn?"

Auf diese Frage wußte ich nicht zu antworten, und aus gutem Grunde. Meine Blicke waren auf ein reizendes Porträt, das an der Wand hing, geheftet, das Porträt Gretchen's. Die Mündel meines Oheims befand sich damals zu Altona bei einer Verwandten, und ich war über ihre Abwesenheit sehr betrübt, denn, jetzt kann ich's gestehen, die hübsche Vierländerin und der Neffe des Professors liebten sich mit echt deutscher Herzlichkeit und Ausdauer. Wir hatten uns ohne Wissen unseres Oheims verlobt, der allzuviel Geolog war, um für solche Gefühle einen Begriff zu haben. Gretchen war eine reizende Blondine mit blauen Augen, von etwas gesetztem Charakter und ernstem Sinn; aber sie liebte mich darum nicht minder. Ich meinerseits betete sie an, sofern dieser Begriff im Altdeutschen existiert! Das Bild meiner kleinen Vierländerin versetzte mich also auf einmal aus der wirklichen Welt in die Welt der Träume, der Erinnerungen.

Ich erblickte in diesem Bild die treue Genossin meiner Arbeiten und Freuden. Sie half mir tagtäglich die köstlichen Steine meines Oheims ordnen, dieselben mit Etiketten versehen. Fräulein Gretchen war in der Mineralogie sehr stark! Sie hätte darin mehr als einen Gelehrten zurecht weisen können. Sie befaßte sich gerne damit, schwierige Fragen der Wissenschaft zu ergründen. Welche süße Stunden hatten wir mit gemeinsamen Studien hingebracht! Und wie oft beneidete ich die fühllosen Steine um das Glück, von ihren reizenden Händen betastet zu werden!

Hernach, wann die Erholungszeit kam, wandelten wir mit einander durch die belaubte Alsterallee, und besuchten zusammen die alte beteerte Mühle, die sich am Ende des See's so gut ausnimmt; unterwegs plauderten wir Hand in Hand. Ich erzählte ihr Dinge, worüber sie herzlich lachte. So kamen wir bis zum Elbufer, und nachdem wir den Schwänen, die zwischen den großen weißen Seerosen schwimmen, gute Nacht gesagt, begaben wir uns mit dem Dampfboot wieder zum Quai.

5

Als ich in meinem Träumen hier ankam, ward ich von meinem Oheim durch einen Faustschlag auf den Tisch gewaltsam in die Wirklichkeit zurückgerufen.

"Sehen wir, sagte er, die erste Idee, die sich dem Geist darbietet, um die Buchstaben einer Phrase aus ihrer Ordnung zu bringen, besteht, dünkt mir, darin, dass man die Worte, anstatt horizontal, vertical schreibt. Wir müssen anschauen, was dabei herauskommt. Axel, schreib' irgend einen Satz auf diesen Zettel, aber anstatt die Buchstaben neben einander zu stellen, setze sie in vertikalen Reihen einen nach dem andern, und zwar in Gruppen von fünf bis sechs."

Ich begriff, wie es gemeint war, und schrieb sogleich von oben nach unten.

"Gut, sagte der Professor, ohne gelesen zu haben. Jetzt schreibe diese Worte in eine horizontale Zeile.

Ich gehorchte und bekam folgende Phrase:

Jermtt chdzeech lilise ichinGn ehchgr! be,ue

Ganz recht, sagte mein Oheim, und riss mir den Zettel aus der Hand, das sieht schon aus wie das alte Dokument: die Vokale stehen so wie die Konsonanten in der nämlichen Unordnung gruppiert; da sind selbst Anfangsbuchstaben sowie Komma in der Mitte der Worte, ganz wie in dem Pergament des Saknussemm!"

Ich konnte nicht umhin, diese Bemerkungen für recht sinnreich zu halten.

"Nun, fuhr mein Oheim fort, um die Phrase, welche Du geschrieben hast, und deren Inhalt ich nicht kenne, zu lesen, brauch' ich nur zuerst den ersten Buchstaben jedes Wortes zusammen zu reihen, dann je den zweiten, hernach den dritten u.s.w."

Und mein Oheim las, zu seinem und meinem größten Erstaunen:

Ich liebe dich herzlich, mein gutes Gretchen!

"Oho!" sagte der Professor.

Ja, unversehens hatte ich als verliebter Tölpel diese verräterische Zeile geschrieben!

"So! Du liebst Gretchen? fuhr mein Oheim in echtem Vormünderton fort.

Ja ... Nein ... stotterte ich.

Du liebst also Gretchen! wiederholte er maschinenmäßig. Nun, wenden wir mein Verfahren auf das fragliche Dokument an."

Mein Oheim war schon wieder in das Nachsinnen, welches ihn ganz in Anspruch nahm, versunken, dass er bereits meine unvorsichtigen Worte vergaß. Ich sage unvorsichtigen, denn der Kopf des Gelehrten konnte die Herzensangelegenheiten nicht begreifen. Aber zum Glück hatte die große Angelegenheit des Dokuments das Übergewicht.

Im Begriff, seinen Hauptversuch zu machen, sprühten des Professors Augen Blitze durch seine Brille hindurch. Mit zitternden Fingern nahm er das alte Pergament wieder zur Hand. Er war von ernster Bewegung ergriffen. Endlich hustete er tüchtig, und dictirte mir mit würdigem Ton, indem er der Reihe nach zuerst den ersten Buchstaben, dann den zweiten jedes Wortes zusammen nahm, die folgenden Gruppen:

mmessunkSenrA.icefdoK.segnittamurtn
ecertserrette,rotaivsadua,ednecsedsadne
lacartuïïiluJsiratracSarbmutabiledmek
meretarcsilucoIsleffenSnI

Als ich sie fertig hatte, war ich, offen gestanden, in Gemütsbewegung; in diesen Buchstaben hatte ich gar keinen Sinn zu erkennen vermocht; ich war also darauf gespannt, des Professors Lippen würden stattlich eine Phrase prachtvollen Lateins hören lassen.

Aber wer hätte das gedacht! ein heftiger Faustschlag erschütterte den Tisch, dass die Tinte emporspritzte, die Feder meinen Händen entfiel.

"Das ist's nicht! schrie mein Oheim, das hat keinen Sinn!" Darauf stürzte er rasch wie eine Kugel durch das Kabinett, wie eine Lawine die Treppe hinab, auf die Königsstraße und entfloh aus Leibeskräften.

Viertes Kapitel - Entzifferung des Geheimnisses



"Er ist fort, rief Martha, die herbeigelaufen kam, als er die Haustür so heftig zuschlug, dass von dem Schmettern das ganze Haus erschüttert wurde.

Ja, erwiderte ich, ganz und gar fort!

Nun! und sein Mittagessen? sagte die alte Dienerin.

Er wird nicht zu Mittag speisen!

Und sein Abendessen?

Er wird auch nicht zu Abend speisen!

Wie? sagte Martha und rang die Hände.

Nein, gute Martha, er wird nicht mehr essen, und Niemand im ganzen Hause. Mein Oheim läßt uns alle fasten, bis es ihm gelingt, ein altes Gekritzel, das durchaus unleserlich ist, zu entziffern!

Jesus! So bleibt uns also nichts, als Hungers sterben."

Ich getraute nicht, einzugestehen, dass bei einem so unbedingten Mann, wie mein Oheim, dies uns unvermeidlich bevorstehe.

Ernstlich beunruhigt begab sich die alte Dienerin mit Seufzen in ihre Küche zurück.

7

Als ich allein war, kam mir der Gedanke, zu Gretchen zu eilen und ihr Alles zu erzählen. Aber wie konnte ich das Haus verlassen? Der Professor konnte jeden Augenblick heim kommen. Und wenn er nach mir rief? Und wenn er seine Enträtselungsarbeit, die man dem alten Ödipus vergeblich vorgelegt haben würde, wieder anfangen wollte? Und was würde es geben, wenn ich auf sein Rufen nicht Antwort gäbe?

Das Klügste war, zu bleiben. Eben hatte uns ein Mineralog aus Besançon eine Sammlung Klappersteine vom Kieselgeschlecht zugeschickt, welche zu klassifizieren waren. Ich machte mich an die Arbeit. Ich sonderte aus, machte Etiketten, ordnete in ihrem Glaskasten alle die hohlen Steine, worin kleine Krystalle eingeschlossen waren.

Aber diese Tätigkeit beschäftigte mich nicht völlig. Das alte Dokument machte mir in den Gedanken viel zu schaffen. Mein Kopf glühte, und eine unbestimmte Unruhe ergriff mich. Ich ahnte eine bevorstehende Katastrophe.

Nach Verlauf einer Stunde waren meine Klappersteine geordnet. Darauf wiegte ich mich in dem großen Lehnstuhl, den Kopf rückwärts, die Arme baumelnd. Ich zündete meine Pfeife an, deren lange krumme Röhre am Kopf mit dem Bild einer Nymphe geziert war, und ergötzte mich daran, die Fortschritte der Verkohlung zu beobachten, wodurch die Nymphe zu einer vollständigen Negerin geworden war. Von Zeit zu Zeit lauschte ich, ob sich nicht Tritte auf der Treppe vernehmen ließen. Nichts zu hören. Wo mochte mein Oheim eben sein? Ich sah ihn in Gedanken die schöne Allee der Altonaer Straße entlang laufen, gesticulirend, mit kräftigem Arm die Kräuter zerschlagen, Disteln köpfen und die Schwäne in ihrem Frieden stören.

Wird er triumphierend oder entmutigt heim kommen? Sollte er das Geheimnis heraus bekommen haben? So fragte ich mich, und nahm maschinenmäßig das Blatt Papier in die Hand, worauf die von mir geschriebenen unverständlichen Zeilen sich befanden. Ich wiederholte:

"Was bedeutet dies?"

Ich versuchte die Buchstaben so zu gruppieren, dass sie Worte bildeten. Unmöglich. Man mochte sie zu zwei, drei, fünf oder sechs zusammenstellen, es kam durchaus nichts Verständliches heraus. Doch ließ sich aus dem vierzehnten, fünfzehnten und sechzehnten Buchstaben das englische Wort "ice" bilden, aus dem vier-, fünf- und sechsundachtzigsten das Wort "sir". Endlich erkannte ich mitten in dem Dokument auf der dreißigsten Zeile die lateinischen Worte "rota", "mutabile", "ira", "nec", "atra".

Teufel, dacht' ich, diese letzteren Wörter könnten wohl meinem Oheim Auskunft über die Sprache des Dokuments geben! Und da sehe ich gar, auf der vierten Zeile noch das Wort "luco", das einen "heiligen Hain" bedeutet. Zwar auf der dritten Zeile ist das Wort "tabiled" zu lesen, welches ganz hebräisch aussieht, und auf der letzten die Wörter "mer", "arc", "mère", die rein französisch sind.

Darüber konnte man den Kopf verlieren: Vier verschiedene Sprachidiome in einer sinnlosen Phrase! In welchem Zusammenhang konnten die Wörter "Eis", "Herr", "Zorn", "grausam", "heiliger Hain", "wechselnd", "Mutter", "Bogen", "Meer" stehen? Das letzte und erste allein ließen sich leicht an einander reihen: es wäre nicht zu verwundern, wenn in einem auf Island geschriebenen Dokument von "Eismeer" die Rede wäre. Aber den übrigen Teil des Geheimschriftstücks zu begreifen, war doch eine andere Aufgabe.

Ich rang also mit einer unlöslichen Schwierigkeit; mein Gehirn erhitzte sich, meine Augen blinzelten bei dem Blick auf das Blatt; die hundertzweiunddreißig Buchstaben schienen um mich herum zu hüpfen, wie die Silbertropfen, die in der Luft unseren Kopf umflimmern, wenn das Blut stark dahin dringt.

Es wandelten mich Phantasiegesichte an; der Atem ging mir aus; ich bedurfte Luft. Unwillkürlich fächelte ich mich mit dem Blatt Papier, so dass seine Vorder- und Rückseite abwechselnd mir vor Augen kamen. Wie war ich überrascht, als ich bei einem solchen raschen Umwenden vollkommen lesbare Wörter zu erkennen glaubte, lateinische Wörter, z.B. "craterem", "terrestre".