Dan Jolley

Waterland

Aufbruch in die Tiefe

Aus dem Englischen von Sabrina Sandmann

FISCHER E-Books

Mit Vignetten von Helge Vogt

Inhalt

Über Dan Jolley

Dan Jolley begann im Alter von 19 Jahren mit dem Schreiben. Er schreibt Comics, Filmromane (z.B. Star-Trek) und Storyboards für Videospiele. Mit »Waterland« startet er eine mehrbändige epischen Fantasyserie. Dan lebt mit seiner Frau und einer Handvoll träger Katzen im Nordwesten von Georgia, USA.

 

Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden Sie unter www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Nach der Großen Flut beginnt das Abenteuer

 

Die Erde wurde vom Meer überspült, die überlebenden Menschen drängen sich auf einem gigantischen Turm, der aus dem Ozean ragt. Jacob gehört mit seinem Bruder Tristan zu den privilegierten Turmbewohnern, die ganz oben, fern der feindlichen Fluten, leben. Doch dann geschieht das Unfassbare: Bei einem Überfall aus dem Meer wird Tristan entführt! Steckt das unter Wasser lebende zwielichtige Flutvolk dahinter? Zusammen mit seinem zahmen Seelöwen King und Hali, einem Flutvolk-Mädchen, begibt Jacob sich auf eine gefährliche Suche, die in eine tiefblaue Welt voller Geheimnisse, faszinierender Wesen und überraschender Wahrheiten führt …

 

Band 1 der packenden Wasserfantasy-Saga!

Impressum

Der zweite Band der Serie erscheint im Frühjahr 2021.

 

Deutsche Erstausgabe

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

Text copyright © 2019 Working Partners Ltd.

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2020 Fischer Kinder- und Jugendbuch Verlag GmbH

Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

Umschlaggestaltung: Punchdesign

Umschlagabbildung: Helge Vogt

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-7336-0349-6

Aus Die Geschichte der Neuen Welt von Oona Overland

Tausendfünfhundert Meter über dem Meeresspiegel öffnete Jacob Overland die Tür zu seinem Schlafzimmer einen Spaltbreit und lauschte. Er glaubte nicht, dass sein Bruder Tristan und Onkel Sato schon wach waren – und tatsächlich kamen die einzigen Geräusche in dem Penthouse von Tristans gedämpftem Schnarchen und dem leisen Knarzen und Ächzen der sachte schwankenden Turmfestung. Also schlich Jacob sich hinaus in den Flur und weiter zur Eingangstür.

Sein Onkel Sato, der Gouverneur der Turmfestung, hatte ihm erklärt, dass diese ein wenig schwanken musste – etwas nachgeben musste. Sonst würden die heftigen Stürme, die über das Meer hinwegfegten, die Mauern des großen Turmes zertrümmern und alles in die Tiefe stürzen.

Am fernen Horizont lugte die Sonne gerade eben über die Wellen und tauchte die vereinzelten Wolken in ein blasses, silbriges Pink. Jacob wusste, dass er sich beeilen

Das war schlichtweg der aufregendste Tag des Jahres, jedenfalls wenn es nach Jacob ging. Der Tag, an dem Leute von sämtlichen Trockensiedlungen im weiten Ozean zur Meereskönigin reisten, um die erstaunlichsten Dinge zu kaufen und zu verkaufen. Exotische Lebensmittel, vorflutliche Gegenstände – sowohl echte als auch nachgemachte –, brandneue Technologien. Bei dem Gedanken daran bekam er vor Aufregung Schmetterlinge im Bauch.

Doch jetzt hatte Jacob erst einmal etwas anderes vor. Keine Sorge, Kumpel, dachte er. Ich bin auf dem Weg zu dir.

Jacob musste absolut leise sein. Zumindest, wenn er weiterhin hinunterschleichen und seinen Freund King besuchen wollte, einen Seelöwen. Jacob weigerte sich, King als sein Haustier zu bezeichnen; Freunde passte besser. Bloß lebte der eine Freund im Meer und konnte tun und lassen, was er wollte, während der andere dafür sorgen musste, dass sein Onkel nichts von den Ausflügen hinunter zum Pier mitbekam.

Nicht nur hatte Onkel Sato Jacob verboten, ohne Begleitung auf den unteren Ebenen herumzuspazieren, auch verstießen Wasserhaustiere gegen die Gesetze der Turmfestung – selbst für den Neffen des Gouverneurs. Besonders für den Neffen des Gouverneurs. Jacobs Onkel schärfte ihm immer wieder nachdrücklich ein, dass er als Mitglied der hochrangigsten Familie der Turmfestung den anderen

Vor dem Zimmer seines Bruders Tristan hielt Jacob inne. Tristan wusste über King Bescheid, und als sie noch jünger waren, hatte er sich oft zusammen mit Jacob rausgeschlichen und mit dem Seelöwen gespielt, ihm Fische zugeworfen oder manchmal auch Krebsfleisch. Doch in letzter Zeit – seit Tristan älter geworden war und Mädchen viel mehr Aufmerksamkeit schenkte als seinem kleinen Bruder – machte Jacob sich meistens allein auf den Weg. Nach kurzem Zögern öffnete er die Tür zu Tristans Zimmer und schlüpfte hinein.

Wie üblich lag sein Bruder schräg auf dem Bett ausgestreckt, die Decke um sich herumgewickelt. Für Jacob sah das immer aus, als würde Tristan in einem Kokon schlafen.

»Tristan. Tristan! Ich geh runter zum Pier. Willst du mit?«

Tristan grunzte, schnitt eine Grimasse und zog sich das Kissen über den Kopf. Er murmelte etwas, das wie »Grummel« klang.

Jacob hob eine Ecke des Kissens gerade so hoch, dass eines von Tristans Augen zum Vorschein kam, welches sich geöffnet hatte und ihn missmutig anblickte. »Was soll das denn bitte für ein Wort sein, Tristan?«

Tristan befreite einen Arm, schnappte sich sein Kissen und holte damit ein paarmal sanft in Jacobs Richtung aus, als würde er eine Motte wegscheuchen. Jacob musste lachen, und Tristan antwortete: »Ich frage mich, wie wohl Leute ohne kleine Brüder schlafen?« Tristan ließ das Kissen fallen, setzte sich auf und reckte ausgiebig die Arme. »Besser als ich, da wette ich mit dir. Hör mal, ich hab ’nen großen Tag vor mir. Und so gerne ich King mit dir besuchen würde, ich hab leider keine Zeit. Gib ihm einen Fisch von mir, ja?«

Jacob schnaubte, seufzte übertrieben und ließ die Schultern sinken. »Naaa gut. Du bist echt ein totaler Langweiler geworden.«

Tristan zuckte die Achseln. »Kann schon sein. Aber jetzt beeil dich besser. Im Turm wird heute ganz schön viel los sein.«

Dann den Flur hinunter und durch die Eingangshalle – doch bevor er die Penthouse-Tür öffnete, blieb er kurz vor einem hohen Spiegel stehen und beäugte seine Aufmachung, die er gern als sein »Kostüm« bezeichnete.

Statt der feinen seidenen Kleidung, die Onkel Sato ihm immer kaufte, trug Jacob heute Morgen eine einfache, triste, graubraune Kluft, die aus einer Kappe, einem Kittel und Kniehosen bestand, wie sie sonst die Reinigungskräfte trugen.

Mehr als einmal hatte Jacob in seinen zwölf Lebensjahren versucht, mit Kindern auf den unteren Ebenen Freundschaft zu schließen. Nie war es ihm gelungen. Entweder weigerten sie sich schlichtweg, mit ihm zu sprechen, oder sie wurden, falls sie doch einen Versuch wagten, von einem der Erwachsenen weggescheucht. Letzten Sommer hatte Jacob gedacht, endlich einen Freund gefunden zu haben, einen Jungen in seinem Alter mit Namen Oric, aber sie hatten lediglich eine Runde Murmeln spielen können, bevor Orics Mutter gekommen war und ihrem Sohn die Ohren langgezogen hatte. »Das is’ der Neffe vom Gouverneur«, hatte die Frau gezischt, während sie Oric fortschleifte. »Der Gouverneur will nich’, dass einer von seiner Familie sich mit jemandem wie dir abgibt!«

Jacob dachte lieber nicht darüber nach, als er jetzt das Penthouse verließ und sich zu einer der Hintertreppen

Als Jacob die Industrie- und Technik-Ebenen erreichte, musste er sich einen anderen Weg als üblich suchen, um die heute so viel geschäftigeren Korridore zu vermeiden. Er lief durch eine Reihe von Türen in eine große Halle. Leise ging er an den glänzenden Metalltüren einiger Expressaufzüge vorbei und trat auf einen Außenbalkon mit Eisenreling hinaus, der auf einem Umweg zu den Lastenaufzügen führte und über den manchmal Gegenstände transportiert wurden, die für die innen liegenden Korridore zu groß waren. Einen Augenblick lang blieb er stehen, hielt mit einer Hand die Kappe auf seinem Kopf fest, während der Wind vom Meer um ihn herumpfiff, und staunte einfach nur.

Jacob würde sich an diesem Anblick niemals sattsehen.

Die Turmfestung fiel zum Wasser hin ab, ein riesengroßer, aus dem Meer aufragender grauer Berg, erbaut aus Beton und Stahl und Glas und dem Trotz der Menschheit. Unendlicher Ozean erstreckte sich nach allen Seiten, der gewaltige Turm war das einzige Anzeichen menschlicher Zivilisation. Jacob wusste, dass die Turmfestung nicht die

Jacob folgte dem Balkonverlauf um den Turm herum und stieg in einen Lastenaufzug. Die Seitenwände bestanden aus Holzlatten, und als Jacob den Aufzug seewärts schickte, spähte er durch die Lücken zwischen den Latten ins Innere des Turms, das sich ihm Stockwerk für Stockwerk eröffnete.

Die Turmfestung hatte die Form einer hohen, schlanken Pyramide, die sich immer mehr verbreiterte, je weiter Jacob nach unten kam. Die obersten Stockwerke bis hin zum Gouverneurs-Penthouse wurden alle für Landwirtschaft genutzt – waren gläserne Gewächshäuser voller Pflanzen: Reis und Bohnen, Kürbisse und Tomaten. Von der Mitte ausgehende Ringe mit fruchtbarer schwarzer Erde, die Kartoffeln und Rüben hervorbrachten. Riesengroße Tanks mit Wasser, alles Salz herausgefiltert, in das Obst- und Gemüsepflanzen direkt ihre Wurzeln tauchten. Wenn er konnte, blieb Jacob gerne bei diesen Tanks stehen und beobachtete, wie Fische zwischen den Wurzeln umherschwammen, unerwünschte Insekten und Würmer abpflückten und den Tank zusätzlich mit Dünger versorgten.

Unter den landwirtschaftlichen Etagen erstreckten sich die Industrie-Ebenen, Stockwerke über Stockwerke mit Maschinen. Geborgene Relikte der Alten Welt kämpften sich durch die Hand von Technologen zurück in reaktivierte Funktionalität, und brandneue Geräte und Maschinenelemente erwachten zu elektrischem Leben.

Ruckelnd fuhr der Aufzug weiter nach unten, jetzt vorbei an den Wohnebenen, wo Menschen wie die Reinigungskräfte und die Mechaniker und manche der Fischer lebten.

Plötzlich verlangsamte sich der Aufzug, und Jacob hielt die Luft an. Was, wenn ihn jemand sah? Falls er erkannt würde, ginge es für ihn schnurstracks zurück zum Gouverneurs-Apartment, und Jacob wollte sich gar nicht ausmalen, welche Bestrafung ihn erwartete, wenn man seinen Onkel zu so früher Stunde aus dem Bett holen würde. Als die Tür sich öffnete, betrat ein Herr mit grau meliertem Haar und herunterhängendem Schnurrbart den Aufzug. Ibrahim, dachte Jacob, sein Gehirn ratterte. Das ist Joseph Ibrahim, Minister bei der Instandhaltung. Er kam oft in Onkel Satos Büro zu Besprechungsterminen.

Jacob zog den Kopf ein und schob sich die Kappe tiefer in die Stirn. Zum Glück schenkte Ibrahim ihm keinerlei Beachtung. Er stand nur da und starrte auf das Tablet in seiner Hand, als wäre er vollkommen allein im Aufzug. Jacob dachte schon, er hätte noch einmal Glück gehabt, doch gerade, als er sich wieder zu entspannen begann, drehte

»Habe ich dich nicht schon mal irgendwo gesehen, Junge?«, fragte Ibrahim, seine Aussprache war genauso klar und kultiviert wie die von Onkel Sato.

Jacob hielt den Kopf gesenkt, die Augen auf den Boden des Aufzugs gerichtet. Er versuchte, den Slang der Reinigungskräfte nachzuahmen. Dabei war sein Mund so ausgetrocknet, dass es ihn wunderte, überhaupt ein Wort herauszubekommen. »Wahrscheinlich schon, Sir. Hab in letzter Zeit ziemlich viele Schichten geschoben.«

Einen unendlichen Augenblick lang sagte Ibrahim nichts, und Jacob hatte nicht den geringsten Zweifel daran, auf frischer Tat ertappt worden zu sein, doch dann wandte der Mann sich ohne ein weiteres Wort wieder seinem Tablet zu und tippte mit einem Finger auf dem Bildschirm herum. Sobald der Aufzug in einem tieferen Stockwerk erneut hielt, flitzte Jacob an ihm vorbei und den Korridor hinunter, mit gesenktem Kinn und die Kappe tief ins Gesicht gezogen.

Das ist ja gerade noch mal gutgegangen!

Jacob war nun weit genug nach unten gelangt, um für den restlichen Weg die Treppen zu nehmen.

Ein paar Minuten später drückte er die rostige, quietschende Tür zur Meeres-Ebene der Turmfestung auf und trat hinaus. Er fand die Bezeichnung »Meeres-Ebene« nicht gerade treffend, denn das klang wie die zugemauerten

Er lief um eine Ecke – blieb stehen und erstarrte. Direkt vor ihm hatten gerade zwei junge Männer, vielleicht ein oder zwei Jahre älter als Tristan, ein grellgelbes Plakat mit schwarzer Schrift an die Wand eines Standes für getrockneten Fisch befestigt.

BÜNDNIS ODER TOD verkündete das Plakat in kantigen Buchstaben. Darunter befand sich das künstlerisch gezeichnete Bild zweier Hände, die je einen Dolch umklammerten. Von den Spitzen der Dolche tropfte Blut. Die Haut an der einen Hand war glatt und sandbraun, genau wie Jacobs, genau wie die fast aller Trockensiedler. Die andere Hand jedoch hatte zwar dieselbe Form wie eine menschliche Hand, war aber mit zarten grünlichen Schuppen bedeckt. Am unteren Rand des Posters, in einer Schrift,

Beide jungen Männer hatten sich ein unverkennbares schwarz-gelbes Band um den linken Oberarm gebunden, und schwarz-gelbe Tücher verdeckten ihre Gesichter von der Nase abwärts. Ohne Jacob eines Blickes zu würdigen, rannten sie davon.

Jacob wusste nicht viel über die WasserKrieger. Ein paarmal hatte er sie gesehen – meistens auf der Meeres-Ebene, aber hin und wieder auch oben im Turm –, sie hatten Plakate geschwenkt und Parolen gerufen. Er wusste, dass sie irgendwie politisch waren, aber Politik interessierte Jacob ungefähr so viel, wie Onkel Sato bei einem Vortrag über Fischereisteuern zuzuhören.

Jacob lief weiter, hatte sowohl das Poster als auch die jungen Männer gleich wieder vergessen und ließ den Markt bald hinter sich zurück. Seine Füße trugen ihn hinaus auf einen der vier gewaltigen Kais der Turmfestung – riesige rechteckige Gebilde, die strahlenartig vom Turm wegführten wie die Himmelsrichtungen auf einem Kompass – und huschten dann eine lange, gerade Treppe hinunter zu einem der kleineren Piere. Seine Lunge füllte sich mit der frischen salzigen Luft, die hier unten so viel schwerer war als oben in den schwindelerregenden Höhen des Penthouses. Er liebte diesen Geschmack.

Alle Boote der Turmfestung waren hier unten vertäut, an jedem der mehrere Dutzend Piere, die von den vier großen

Ein blubberndes Geräusch zu seiner Rechten erregte seine Aufmerksamkeit, und er ging langsamer. Plötzlich tauchten neben einem weiteren Fischerboot zwei Menschen aus dem Wasser auf. Jacob unterdrückte einen Aufschrei und duckte sich hinter einen Stapel Kisten. Sofort erkannte er, dass die beiden Menschen Taucherausrüstung in Spitzenqualität trugen. Ein Taucher mit einer so hochwertigen Ausrüstung musste irgendeine Verbindung zu Onkel Sato haben – wahrscheinlich waren das Sicherheitskräfte. Jacob wollte nichts weniger, als hier unten erwischt zu werden, vor allem, da er King noch gar nicht gesehen hatte, also blieb er reglos in seinem Versteck, während die beiden Männer eine rostige Leiter hochkletterten, auf den Pier traten und die Treppe hinauf zum Kai gingen. Jacob konnte ihre Gesichter nicht sehen, da sie sich mit dem Rücken zu ihm bewegten, aber sie hatten ihre Helme abgenommen, sobald sie aus dem Wasser gekommen waren:

Als sie sich weit genug entfernt hatten, kroch Jacob aus seinem Versteck, hätte sich aber fast wieder weggeduckt, als er eine Stimme rufen hörte.

»Hey!«

Der Ausruf wurde von einem platschenden Spritzgeräusch gefolgt, dann ertönte erneut: »Hey! Hey!«

Jacob ging von den Kisten weg zum Rand des Piers. Dort trieb King auf dem Rücken im Wasser, mit Schalk in den Augen, und öffnete weit den Mund: »Hey!«

Jacob grinste und setzte sich auf die Pierkante. »Du hast mich fast zu Tode erschreckt!«

Jetzt machte King ein anderes Geräusch – ein freches »Pfff« – und schlug einen Rückwärtssalto im Wasser. Jacob lachte und warf ihm einen der Fische zu, den der Seelöwe in der Luft auffing. King war schon immer gut darin gewesen, seltsame Geräusche zu machen, seit ein paar Monaten klang er jedoch fast wie ein Mensch. Natürlich sprach er nicht, benutzte keine Wörter, aber King konnte menschliche Stimmen mit verblüffender Genauigkeit nachahmen. Jacob fand das urkomisch. Zumindest, wenn er sich dabei nicht halb zu Tode erschreckte.

King tauchte ab, jagte dann geradewegs nach oben und schwang sich aus dem Wasser auf den Pier, bespritzte Jacob dabei mit Salzwasser. »King!«, lachte Jacob. »Pass doch auf!« King rollte sich auf den Rücken, machte wieder

Unter den winzigen Ohren, die Seelöwen schon immer gehabt hatten, befand sich ein Körpermerkmal, das Seelöwen normalerweise nicht hatten: Kiemen. Vollständig entwickelte Kiemen, die – soweit Jacob das beurteilen konnte – genauso gut funktionierten wie die eines Fisches. Onkel Sato würde deswegen doppelt wütend sein, wenn er irgendwann von King erfahren sollte. Denn Sato Overland hasste jedwede Form der genetischen Anpassung und für ihn wäre King … verdorben. Nicht geeignet für menschlichen Umgang.

Leise sagte Jacob: »Noch ein Grund, dich geheim zu halten, was, Kumpel?«

King reckte den Hals, um an Jacob vorbei zu den Stufen zu schauen, die zum Kai hochführten. Er öffnete sein barthaariges Maul und machte »Wow!«, eine formvollendete Nachahmung davon, wie Tristan das Wort aussprach, wenn er beeindruckt war oder etwas cool fand.

Jacob seufzte. »Tut mir leid, Kumpel. Tristan hat heute anscheinend Wichtigeres zu tun, als dich besuchen zu kommen.« King machte wieder das Pfff-Geräusch, und Jacob musste lachen. »Ja, finde ich auch. Aber heute ist Der Tag der Meereskönigin, weißt du.« Er streichelte immer noch Kings Bauch. »Alle Leute von allen Trockensiedlungen kommen einmal im Jahr zusammen. Und zwar auf der Meereskönigin, die befindet sich …« Er drehte den

King drehte sich auf den Bauch und reckte den Hals, um sich hinter Jacob einen der beiden übrigen Fische mit den Zähnen zu schnappen. Jacob sagte: »Hey!«, und nachdem King den Fisch im Ganzen verschlungen hatte, antwortete King ebenfalls mit: »Hey!«

Jacob lehnte sich zurück und ließ den letzten Fisch zwischen seinen Fingern baumeln. »Okay, vergessen wir den Tag der Meereskönigin. Ich werde diesen Fisch so hoch und so weit werfen wie möglich. Meinst du, du kannst ihn auffangen, bevor er aufs Wasser trifft?«

King schnaufte und wippte mit dem Kopf, und noch bevor Jacob mit dem Arm ausholen konnte, sprang der Seelöwe vom Pier ins Wasser. »Los geht’s, Kleiner! Ich werfe ihn jetzt!«

King machte: »Juuup juuup!«, als der Fisch in die Luft sauste, und jagte ihm hinterher.

Jacob blieb noch lange am Pier, sprach mit dem Seelöwen, streichelte ihn und übte Tricks mit ihm. King beherrschte Rückwärtssaltos, Drehungen um die eigene Achse und – Jacobs Lieblingstrick – »Torpedo-Surfen«: Wenn King

King wippte mit dem Kopf, machte »Juuup!« und ließ sich vom Pier ins Wasser gleiten.

Jacob winkte ihm zum Abschied und rannte zum Kai zurück.

Siebzehn Minuten später schlüpfte Jacob, jetzt wieder in den Kleidern, die sein Onkel ihm gekauft hatte, zurück in das Gouverneurs-Penthouse. Aus dem Speisesaal drangen die Stimmen von Onkel Sato und Tristan zu ihm – ein normales Frühstücksgespräch. Grinsend tappte Jacob den Flur zu seinem Zimmer hinunter, öffnete und schloss die Tür lautstark und schlenderte mit einem absichtlich herzhaften Gähnen in den Saal. Weder Onkel Sato noch Tristan schenkten ihm besondere Aufmerksamkeit.

»Morgen«, sagte er mit seiner schläfrigsten Stimme. Die Köche hatten ein großes Buffet auf der Anrichte zwischen Speisesaal und Küche aufgebaut, und Jacob steuerte schnurstracks darauf zu, um sich Reis und Dörrfisch auf den Teller zu häufen. Dann nahm er ein Ei, und allein bei dem Gedanken, wie er es über dem Reis aufschlagen und in der kochend heißen Schüssel verrühren würde, bis die Mischung köstlich klebrig war, lief ihm das Wasser im Mund zusammen.

Wie üblich saß Onkel Sato am Kopfende des Tisches – und wie üblich starrte er auf sein Tablet. Jacob vermutete, dass er bereits fleißig bei der Arbeit war, die Turmfestung am Laufen hielt. Gouverneur zu sein war eine wichtige und schwierige Aufgabe, doch Onkel Sato beherrschte sie bis ins kleinste Detail. Kein Wunder, dass ihn jeder so respektierte!

Tristan stand auf und kam zur Anrichte herüber. »Du riechst nach Seelöwe«, flüsterte er Jacob zu. Jacob warf einen erschrockenen Blick zu ihm hoch, aber Tristan grinste ihn nur verstohlen an. »Keine Angst, alles gut. Mach’s nur nicht immer so spannend, ja?«

Jacob stieß seinem Bruder spielerisch den Ellbogen in die Rippen und ging mit seinem Teller zum Tisch. Dann kam auch Tristan mit einer dampfenden Tasse Algentee zurück.

Ein paar Minuten später und die Augen weiterhin auf sein Tablet gerichtet, sagte Onkel Sato: »Großer Tag heute. Bist du bereit, Neffe?«

Jacob wollte sich gerade einen Bissen eigetränkten Reis in den Mund schieben, ließ jedoch bei den Worten seines Onkels fast die Essstäbchen fallen. Vielleicht würde er

Zum ersten Mal, seit Jacob eingetreten war, schaute Sato Overland ihn direkt an und verzog bedauernd den Mund. »Ich nehme dir deinen Optimismus nicht übel. Aber, Jacob, du weißt doch, dass du noch nicht alt genug bist. Ich meinte deinen Bruder.« Satos Augen glitten zu Tristan hinüber. »Er ist jetzt ein Mann. Für ihn ist es an der Zeit, die Verantwortung einer Führungsposition kennenzulernen.«

Jacob drehte sich der Magen um.

Allein am Tonfall seines Onkels erkannte Jacob, dass er Sato nicht würde überzeugen können. Nichts, was Jacob vorbringen könnte, würde die Meinung seines Onkels ändern.

Danach begannen Onkel Sato und Tristan über die Rationierung von Sonnenenergie-Kollektoren zu sprechen.

Jacob blendete das Gespräch aus und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Ihm war plötzlich der Appetit vergangen. Erst jetzt bemerkte er den Gegenstand an Tristans Handgelenk. Dads Uhr! Tristan trug sie an demselben Handgelenk wie sein geflochtenes Tau-Armband – Tristan hatte es selbst gefertigt, und es glich dem um Jacobs eigenem Handgelenk. Die Uhr sah gut aus neben dem verwitterten Tau.

Ein bitterer Geschmack breitete sich in Jacobs Mund aus. Blöder Tristan. Mit seinem blöden neuen Pferdeschwanz, den er sich in letzter Zeit immer band, und mit seinem blöden Erwachsenenzeug. Ständig schlich er sich weg, um seine Freunde zu treffen, und dauernd sagte er zu Jacob: Wenn du älter bist und die oberen Ebenen allein verlassen darfst, dann kannst du mit uns abhängen. Dabei konnte Jacob doch gar nichts dafür, dass er noch nicht sechzehn war! Würg!

Onkel Satos Tablet klingelte, und Jacob erkannte die Stimme von Toby Woolruff, einem der Assistenten seines Onkels. »Sir, es tut mir leid, aber Sie werden dringend auf Industrie-Ebene Drei gebraucht. Es geht um die Wasserentsalzung. Pumpenausfall.«

Sato nickte und stand auf, wischte sich dabei mit der Serviette sorgfältig den Mund ab. Zu Tristan gewandt sagte er: »Sei um neun Uhr bereit.« Anschließend kam er um den Tisch herum und legte Jacob eine Hand auf die Schulter. »Geduld zu lernen ist wichtig. Noch vier Jahre, dann bist du dran. Okay?«

Jacob nickte, den Blick starr auf den Teller gerichtet.

Sobald sich die Eingangstür hinter seinem Onkel geschlossen hatte, wandte Jacob sich Tristan zu. Er hoffte, dass man seiner Stimme die plötzliche Verzweiflung in seinem Herzen nicht anmerken würde. »Hör mal. Ich möchte dich um einen Gefallen bitten. Einen ziemlich großen sogar.«

Tristan kaute an einem Bissen Salzfleisch. »Ich glaube nicht, dass ich dir dabei helfen kann.«

»Du weißt doch noch gar nicht, worum es geht.«

Tristan sah seinen jüngeren Bruder mit hochgezogener Augenbraue an. »Du willst mit uns zum Tag der Meereskönigin

Jacob schoss jede Vorsicht in den Wind. »Okay, ja. Bitte nimm mich mit! Bitte?!«

Tristan hob abwehrend die Hände. »Du hast doch gehört, was Onkel Sato gesagt hat. Du bist nicht alt genug. Und das ist auch nicht nur seine Vorschrift. Das ist allgemeine Vorschrift. Du kannst nicht mitkommen.«

»Aber ich würde so gerne! Hier hab ich sowieso nichts zu tun, mir ist sterbenslangweilig!«

Tristan lachte spöttisch. »Du musst zum Unterricht! So in ’ner halben Stunde?«

Jacob verstummte kurzzeitig, malte sich in Gedanken den Privatunterricht aus, den er jeden Tag über sich ergehen lassen musste – ausgerechnet bei Miss Petersyn, einer strengen alten Schachtel mit dem Humor einer

Tristan stand auf und wuschelte ihm – zu Jacobs enormer Verärgerung – durchs Haar. »Tut mir leid, Kleiner. Die Antwort lautet immer noch nein.«

Jacob verschränkte die Arme vor der Brust und zog die Schultern hoch. »Du bist nicht unser Dad, weißt du. Du hast mir gar nichts zu sagen.«

Tristan erstarrte. »Ich will Dads Platz gar nicht einnehmen«, sagte er. »Ich versuche nur, zu tun, was für dich am besten ist.«

»Was für mich am besten ist?«, rief Jacob aus. »Du meinst, keine Freunde zu haben? Oder keine Freiheit? Die ganze Zeit hier oben im Turm eingesperrt zu sein und Zeug zu lernen, das ich niemals brauchen werde?«

Tristan ballte die Hände zu Fäusten. »Jetzt hör mir mal –«

»Nein! Jetzt hörst du mir mal zu!«, unterbrach Jacob ihn. »Du sagst, du willst dich nicht wie Dad benehmen – aber du benimmst dich auch nicht mehr wie mein Bruder! Nie hast du mehr Zeit für mich! Hast immer was ›ganz Wichtiges‹ zu tun. Bin ich nicht auch wichtig, Tristan?«

Tristan machte große Augen. »Natürlich bist du –« Er warf die Arme in die Luft. »Du verstehst das nicht! Alles, was ich tue, muss ich tun f–«

Dann drehte er Jacob bewusst den Rücken zu und blickte auf die Uhr ihres Vaters hinunter. »Tut mir leid, aber ich hab jetzt keine Zeit, dir das zu erklären. Ich muss los. Wir sprechen noch darüber – später.«

Tristan ging aus dem Zimmer, ohne ihn noch einmal anzusehen. Genau wie Onkel Sato. Ein paar Sekunden später fiel die Eingangstür erneut ins Schloss, diesmal hinter Tristan.

Jacob sackte auf dem Stuhl zusammen. Er stützte den Kopf in die Hände, versuchte, es zu verstehen – diese Veränderungen, dieses Gefühl, als sei sein Bruder jemand anderes geworden. Natürlich, Tristan wurde langsam erwachsen. Das war Jacob klar, und das war ja auch mehr oder weniger normal. Aber … Moment mal …

In Jacobs Kopf begann es, zu rattern.

Was hatte Tristan über das gesagt, was er tun musste?

Oder vielmehr: Was hatte Tristan ihm verschwiegen?

Jacob setzte sich wieder auf, ging den letzten kurzen Wortwechsel noch einmal im Kopf durch, immer und immer wieder. Je länger er darüber nachdachte, desto überzeugter war er davon, dass … na ja, dass Tristan irgendwas verheimlichte.

Hier ging es nicht um normalen Teenager-Kram. Das konnte nicht sein. Irgendetwas war passiert. Jacob wusste es plötzlich. Er spürte es instinktiv, und je mehr er darüber nachdachte, desto konkreter wurde das Gefühl.

In seinem Herzen machte sich Entschlossenheit breit. Umgab es so fest wie ein Panzer.

Jacob hatte neben King nur noch eine einzige Freundin – eine Fischerin namens Mari. Als kleiner Junge hatte er sich tagein, tagaus auf ihrem Fischerboot herumgetrieben, hatte mit Tristan Verstecken gespielt, kannte ihr Boot in- und auswendig.

Was bedeutete, dass er den perfekten Platz kannte, um als blinder Passagier mitzufahren – falls er es schaffte, zu ihrem Liegeplatz zu gelangen, bevor sie in Richtung Meereskönigin ablegte …!

Jacob rannte los, um seine Verkleidung zu holen.

Eine kleine Stofftasche an die Brust gedrückt, starrte Jacob durch das Bullauge nach draußen. Große, salzige Wellen türmten sich auf und klatschten alle paar Sekunden gegen die Seite von Maris Boot. Wie sehr wünschte Jacob, dass er vorne hinausschauen, die Meereskönigin genau betrachten könnte, wenn sie endlich nah genug wären, sie auf sich wirken lassen könnte – aber so hatte er sich nun mal entschieden. Hatte einen guten Ausblick für ein sicheres Versteck eingetauscht.

In der kleinen Kammer, in der er unter Deck hockte, wurde normalerweise die Taucherausrüstung verstaut, aber Mari trug nicht gerne »so eine Kluft«, wie sie es nannte, und konnte sie sich ohnehin nicht leisten. Alles um ihn herum war mit Staub und Schmutz bedeckt. Doch das machte Jacob nichts aus. Jeder Fleck auf seinem Reiniger-Kostüm würde es nur echter aussehen lassen.

Er war unschlüssig gewesen, was er mitnehmen sollte,

Er lehnte sich zurück, gegen die Kammertür, starrte hinaus auf die Wellen und den weiten blauen Himmel und fühlte das sanfte, beständige Surren des Elektromotors. Mari könnte auch die Segel auf ihrem Boot in den Wind drehen, wenn sie wollte, aber sie waren mit dem glatten schwarzen Sonnenabsorbierungsmaterial überzogen, das die meisten der Fischerboote nutzten. Es fing die Sonnenstrahlen ein und leitete die Energie nach unten zu den Propellern. Einmal hatte Jacob Onkel Sato darüber sprechen hören, dass Boote und Schiffe früher einmal irgendeine Flüssigkeit verbrannt hatten, um ihre Motoren zum Laufen zu bringen. Das konnte er sich kaum vorstellen. Eine Flüssigkeit, die brannte? Er sah ein flüchtiges Bild von Feuer auf Wasser vor sich und erschauderte.

Unsanft schreckte Jacob aus seinen Tagträumen hoch, als etwas gegen die Bootswand klatschte und eine Sekunde lang das Licht vor dem Bullauge verdunkelte. Er lehnte sich vor, blickte durch das dicke Glas und hätte fast aufgeschrien,

»King!«,