Josephine Siebe


Die Oberheudorfer in der Stadt



Allerlei heitere Geschichten von den Oberheudorfer Buben und Mädeln

Impressum




Klassiker als ebook herausgegeben bei RUTHeBooks, 2016


ISBN: 978-3-95923-188-6


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Im Zirkus



Im September kam wirklich, wie es das Füchslein gesagt hat, nach Feldburg ein Zirkus. Es ist aber noch nicht gesagt, daß alle in einen Zirkus gehen können, wenn schon einer da ist. Die Oberheudorfer Bauern meinten, es sei genug, wenn ihre Kinder in diesen Herbstferien zum Vogelschießen nach Niederheudorf gingen. Vom Zirkus wollten sie nicht viel wissen. Ja freilich, das Vogelschießen lockte nicht minder. Da wollten sie alle hin, und wenn in dieser Zeit jemand gesagt hätte, rechts ist Zirkus, links ist Vogelschießen, kein Kind in Oberheudorf hätte gleich eine Antwort geben können. Einmal bettelte Schulzens Jakob beim Sonntagmittagessen: "Ich möcht' in den Zirkus."

"Ach was, Vogelschießen ist genug," brummte der Schulze.

"Aber ... aber, Zirkus soll so fein sein! Friede Hopserling sagt, man muß hin, weil ..."

"Na, wenn's Friede Hopserling so gut weiß, dann soll er dich man einladen und die andern dazu; mir ist's recht."

Der Schulze schob seinen Teller ein Stück fort. Das war ein Zeichen: "Nun sputet euch, ihr andern, wir haben lange genug gegessen."

Jakob wagte kein Wort mehr; aber nachher auf dem Dorfplatz erzählte er, was der Vater gesagt hatte. "Friede Hopserling läd uns nicht ein," schrie Anton Friedlich, "aber vielleicht sonst wer."

Ja, sonst wer! Niemand fand sich, der es tat. Die Tage kamen und gingen. Das Vogelschießen kam und ging auch vorbei und war vergnüglich wie immer, und schon guckten die Herbstferien in das Schulhaus hinein, und von einer Einladung war nichts zu sehen und zu hören. Da kam eines Tages ein Brief an den Lehrer, und der ging mit dem Schreiben zum Schulzen. Der lachte und sagte: "Meinetwegen." Und ebenso sagten noch ein paar andere Bauern, und die Bäuerinnen setzten noch hinzu: "Man gönnt's ihnen schon, das Vergnügen."

Auch Muhme Lenelies bekam einen Brief, und auch sie schaute froh drein; ja sie guckte geschwind mal nach dem Wetter und sagte: "Wenn's doch schön würde!"

Am nächsten Tag also gab es in der Schule eine große Überraschung. Keine solche, bei der die Feuerspritze die Schulstube unter Wasser setzt oder jemand in die große Trommel fällt oder in sonst etwas hinein, nein, eine wundervolle Überraschung war es. Professor von Spiegel lud Traumfriedes Freunde und Freundinnen zum Zirkus ein. Und das beste dabei war, die Eltern erlaubten es. Glücklicherweise begannen just die Herbstferien, und Sonnabend früh durften sie alle nach Feldburg fahren. Am Nachmittag war im Zirkus eine große Festvorstellung; zu der sollten sie gehen. Der Herr Lehrer hatte die Sache am Schulschluß gesagt, und das war gut. Wohl keines der Kinder hätte sonst mehr aufgepaßt.

"Eingeladen zum Zirkus!" Sie stürzten alle eilfertig auf die Straße. Dort konnte man sich doch ordentlich freuen, und das taten sie auch sehr laut und sehr nachdrücklich. In der Stadt hätten die Menschen wohl gleich die Feuerwehr herbeigerufen oder gedacht, ein Kirchturm oder mindestens drei Häuser wären eingestürzt, der Krieg sei ausgebrochen oder so etwas Ähnliches; doch in Oberheudorf war man nicht so zimperlich.

Vier Schultage waren es noch, und jeder Schultag dehnte und dehnte sich wie ein Stück Gummi. Unglaublich, wie es ein Schultag fertig bringt, so lang zu sein. Aber dann kam doch der Morgen, an dem es hieß: "Heute geht's nach Feldburg zum Zirkus!" Und daß es kein Traum war, bewiesen die beiden Wagen, die mit Tannengrün geschmückt auf dem Dorfplatz die Stadtfahrer aufnahmen.

Es war eine wunderschöne Fahrt durch den herbstlichen Wald. Die Buchen, die da und dort in den Tannenwald hineingelaufen waren, und die Eichen, die am Rande standen, trugen schon ihr goldrotes Herbstkleid. Sie spreizten ihre Laubkronen stolz in der Sonne und schienen zu rufen: "Seht uns an, wir haben ein goldenes Gewand." Ach, die armen Bäume konnten viel rufen, die Oberheudorfer Buben und Mädel achteten gar nicht darauf; sie sahen nichts von der Pracht des sonnenreichen Herbsttages, sie schwatzten nur vom Zirkus. Höchstens sagte mal eins: "Die Eicheln fallen schon runter," oder sie lugten auf der Landstraße nach den Pflaumenbäumen und griffen in die vollen Äste hinein, denn Friede Hopserling zumal, der den einen Wagen führte, fuhr auch immer so seltsam dicht unter den Bäumen dahin.

Im Spiegelhaus warteten die Sonntagskinder und Jobst und Friede auf die Gäste. Fräulein Wunderlich war herübergekommen und hatte mit Frau Emma und Marie ungeheure Töpfe voll Schokolade gekocht. Weißbrot und Kuchen standen bereit, und hinten im Garten waren ein paar lange Tafeln gedeckt. Professor von Spiegel ging lächelnd und heiter auf und ab, schaute sich alles an und freute sich mit seinem Pflegesohn auf die Gäste. Füchslein war in namenloser Aufregung. Sie rannte immer zwischen Tor und Festplatz hin und her. "Ich kann's kaum erwarten," rief sie immer wieder. "Friede, freu dich doch, schrei mal, du bist so still!"

Traumfriede gehörte nun nicht zu denen, deren Freude überlaut ist. Wenn er sich so recht innerlich im Herzen freute, war er meist sehr still. Aber Jobst besorgte etliche Male das Freudeschreien, und drüben in Wunderlichs Garten krähte der kleine Teufel wie besessen. "Er ahnt, daß die Oberheudorfer kommen," sagte Marie. "Es ist ein sehr kluges Tier."

Endlich kamen sie. Die beiden Wagen rumpelten laut und vernehmlich über den Johannesplan, und ein paar Minuten lang war der stille Platz von dem fröhlichsten Leben erfüllt. "Muhme Lenelies," rief Friede plötzlich aufgeregt und stürzte auf die alte Frau zu, die zwischen allen Buben und Mädeln aus Friede Hopserlings Wagen kletterte.

"Nun siehst du, mein Friede," sagte die alte Frau vergnügt, "da bin ich auch einmal. Wenn man eingeladen wird und es so arg bequem hat, nach der Stadt zu kommen, ist es eine leichte Sache."

Muhme Lenelies konnte es schon sagen, daß es arg bequem sei, auf einem Mehlwagen zu fahren, denn sie war viele, viele Jahre als Botenfrau den weiten Weg zwischen Oberheudorf und Feldburg hin und her gegangen. Heute kam sie als lieber Gast. Professor von Spiegel und Fräulein Wunderlich gingen ihr beide so freudevoll entgegen, als wäre die einfache alte Frau ihnen schon eine gute, langvertraute Freundin.

Das Schokoladenfest im Spiegelhaus war sehr schön, aber das allerschönste war dann doch der Zirkus. Der war so groß, daß sicher das ganze Niederheudorfer Vogelschießen mitsamt dem Karussell, dem Kasperletheater, der Pfefferkuchenfrau und allem, was sonst da war, hineingegangen wäre. Die Buben und Mädel sagten gleich alle am Eingang: "Ah," und sie waren ein bißchen ärgerlich, daß sie nicht "ah" genug sagen konnten, denn ein Mann rief immer: "Weiter, weiter, Stehenbleiben ist verboten."

"Das ist in Niederheudorf nie verboten," knurrte Schnipfelbauers Fritz; aber als er von einem nachfolgenden Mann einen Puff in den Rücken erhielt, ging er doch eilig weiter.

Der dicke Friede hatte einen heißen, sehnsüchtigen Wunsch; es war der, nur einmal im Leben ein richtiges Kasperle zu sehen. Ein Kasperle war für ihn das Allerlustigste, Allerschönste, was er sich denken konnte. Als nun gleich zu Anfang ein Clown in die Reitbahn sprang, entzückte ihn dieses große, lebendige Kasperle so, daß er in ein nicht endenwollendes Gelächter ausbrach, in das seine Gefährten jauchzend einstimmten. Und weil es die Oberheudorfer vom Niederheudorfer Vogelschießen so gewöhnt waren, mit dem Kasperle zu reden, so schrien sie allesamt: "Guten Tag, Kasperle, wir sind da!"

"Freut mich sehr." Der Clown war etwas verblüfft; der Zuruf paßte nicht in sein Spiel. Er fragte aber doch: "Woher seid ihr denn?"

"Aus Oberheudorf!" tönte es zurück, und von gegenüber kamen ein paar Bubenstimmen: "Herrjeh! die Oberheudorfer sind auch da!"

Der Clown grinste und schoß zehn Purzelbäume hintereinander, so fix, daß Anton Friedlich bewundernd rief: "Der kann's fein." Aber da ritt plötzlich eine wunderschöne Dame in die Reitbahn, die in ihrem rosa Kleid mit goldenen Flügeln wie ein leibhaftiger Engel aussah. Sie verneigte sich auf ihrem Pferd, sprang in die Höhe, streckte erst das rechte, dann das linke Bein in die Luft und ergriff schließlich ein von der Decke herabhängendes Seil. Flugs lief in diesem Augenblick das Pferd unter ihr weg, und Heine Peterle, den eine namenlose Angst um die schöne Dame ergriff, warnte: "Du, dein Pferd reißt aus."

"Seid doch still da oben," rief der Clown.

"Ja," brüllten die Buben und Mädel nach Niederheudorfer Gewohnheit, und das Pferd erschrak über das Gebrüll und stieg erschrocken kerzengerade in die Höhe.

Der Stallmeister rief "Stille!" und der Clown drohte mit der Faust. Nun sieht aber ein Clown, wenn er ernst sein will, erst recht komisch aus, und die Buben und Mädel fanden es denn auch so spaßhaft, daß sie vor Vergnügen kreischten und auf ihren Sitzen hin und her wackelten. Das steckte an, der Zirkus dröhnte vor Lachen. Da aber keine lustige Nummer auf dem Programm stand, sondern Miß Florence Wilson ihre Künste als Seiltänzerin zeigen sollte, ging der Clown rasch hinaus.

"Adjeh, Kasperle! Legste dich ins Bett?" schrien sämtliche Oberheudorfer, und von neuem rauschte das Lachen durch den Zirkus.

"Nä, Kinder, ihr müßt doch stille sein," mahnte Muhme Lenelies, während Professor von Spiegel lachte, daß ihm nur immer die dicken Lachtränen über die Wangen rannen. Die Kinder dachten: "Wenn man in der Stadt ist, hört man darauf, was Stadtleute sagen." Da der Professor jedoch schwieg und selbst lachte, achteten sie nicht auf der Muhme sanfte Mahnung, sondern brüllten: "Kasperle, komm raus, Kasperle, komm raus!"

Da! Atemlos stieß Heine Peterle Annchen Amsee an. Die schöne Dame war an dem Seil hochgeklettert und schwebte nun wie ein großer Schmetterling in der Luft auf und ab. "Die kann fliegen," kreischte Schulzens Jakob, während Heine Peterles Augen vor Erstaunen immer runder und kugliger wurden.

Jetzt trat Miß Florence auf ein hoch über dem Boden ausgespanntes Seil, und aus der Luft schwebte eine Geige herab. Die ergriff sie und begann auf dem dünnen Seil stehend zu spielen. Sehr schön klang das nun zwar nicht, und Füchslein dachte: "Dies sollte Herr Wunderlich hören, der möchte gut schelten!" Aber die Oberheudorfer gingen beinahe auseinander vor Staunen. Sie waren noch ganz verdattert, als ein Reiter mit vier Pferden in die Bahn sprengte und diese die merkwürdigsten Dinge vollführten. Sie sprangen, stellten sich auf die Hinterbeine, tanzten. Und Bäckermeisters Mariele flüsterte: "Am Ende sind's gar keine richtigen Pferde."

"Guten Tag, Kasperle, biste wieder da?" brüllten etliche Buben, und Mariele vergaß ihren Zweifel über dem Kasperle, das mit einem Purzelbaum in die Reitbahn schoß. Hinter ihm drein kam noch eins, aber auf einmal, nein, das war doch nicht schön, fing der schwarze Herr mit den Kasperles an zu zanken; er sagte, sie hätten ihm etwas weggenommen.

"Laß se doch, die tun doch nischt," schrien Jakob und Schnipfelbauers Fritz empört.

Aber der schwarze Herr kümmerte sich gar nicht darum, er schalt immer weiter, immer heftiger auf die Kasperle. Das wurde dem dicken Friede zu toll, er nahm einen Apfel, den er in der Tasche hatte, und warf ihn höchst geschickt dem schwarzen Herrn an den Rücken. Dabei kreischte er zornig: "Die haben nischt genommen, ich hab's doch gesehn!"

"Nicht wahr?" Der erste Clown trat an die Rampe und sah zu den Oberheudorfern hinauf. "Du bist aber gut, daß du mir hilfst!"

Der dicke Friede wurde klatschmohnrot vor Freude über das Lob, er reckte sich ordentlich und schrie: "Verhau den schwarzen Herrn, der ist eklig!"

Schwupp lief das Kasperle zu dem schwarzen Herrn hin; es legte den Kopf auf die Seite und sagte mit dünner Stimme: "Erlaubst du es mir, daß ich dich verhaue?"

"Der ist aber dumm, der fragt erst," riefen ein paar Buben, und sie fanden es höchst begreiflich, als der schwarze Herr sagte: "Nein, ich erlaube es nicht, mach daß du fortkommst."

In diesem Augenblick drehte sich eins der Pferde um und fuhr mit seinem Maul in des Clowns Hosentasche. Der schrie laut auf und flüchtete, hopps, sprang er über die Bänke, sauste über die Köpfe hinweg und platsch, saß er mitten zwischen den Oberheudorfer Buben und Mädeln. Die kreischten wie besessen. Ein paar Mädel flüchteten unter die Bänke, der dicke Friede schnappte wie ein Fisch nach Luft, und der ganze Zirkus bebte von dem Gelächter der Zuschauer.

Aber ... trapp, trapp, trapp ... kam das Pferd die Treppe herauf. Wutsch, kroch der Clown hinter Krämers Trude und Schulzens Röse her unter die Bank und jammerte: "Der war's, der war's!" Dabei zeigte er auf den völlig sprachlosen Friede.

Und da ... laut gellte das Angstrufen der Kinder durch den Zirkus, das Pferd packte den dicken Friede am Hosenboden und trug ihn davon.

"Es frißt ihn, es frißt ihn, es macht ihn tot! Halt, halt! huhuhuhu!"

"Aber Kinder, 's ist nur Spaß!" Der Professor konnte kaum noch vor Lachen. Traumfriede tröstete: "Aber seid doch still, seid doch still!" Fräulein Wunderlich nahm gleich zwei heulende Mädel auf den Schoß. Muhme Lenelies wußte nicht, um wie viele sie schützend die Arme breiten sollte. Die Nachbarn beruhigten: "Kinder, Kinder, es ist ja nur ein Scherz!" Doch das half alles nichts. Die Kinder brüllten, als ob sie alle miteinander gebraten werden sollten. Selbst Füchslein, das doch die Sache kannte, brüllte mit. Nur Heine Peterle brüllte nicht, der zeigte, was ein echter Held in der Welt ist. Trapp, trapp, polterte er auch die Stufen hinab, dem Pferde nach, und urplötzlich fühlte sich das so fest am Schwanz gepackt, daß es den dicken Friede erschrocken fallen ließ und der in den Sand der Reitbahn kollerte.

22

Der schwarze Herr und ein paar Diener sprangen herbei, hoben Friede auf und führten das Pferd zur Seite. Rings von den Bänken und aus den Logen heraus aber ertönte ein nicht endenwollender Jubel: "Bravo, bravo, bravo!"

Das schien dem Pferd besonders gut zu gefallen, denn ... eins, zwei, drei ... ergriff es Held Heine Peterle am Hosenboden und trug ihn nun im sausenden Galopp in der Reitbahn herum, bis ihm der Stallmeister ein "Halt" zurief.

"Jetzt frißt er Heine Peterle!" Anton Friedlich und Schnipfelbauers Fritz wollten auch hinunter, wollten auch Helden sein. Doch der Professor hielt sie erschrocken fest; ihm war es ordentlich unheimlich zumute geworden bei dem Geschrei.

Unten sprach der Stallmeister mit dem Pferd, und während der Diener die beiden Buben vom Staub reinigte, lief das Pferd hinaus und kam wieder und ... brachte eine riesengroße Zuckertüte. Die legte es vor Heine Peterle nieder, dann kehrte es wieder um, lief noch mal zurück, kam noch mal wieder und brachte eine zweite Zuckertüte für den dicken Friede.

Da vergaßen oben sämtliche Oberheudorfer Buben und Mädel ihre Angst, und jubelnd fielen sie in das Bravorufen des Publikums ein.

Der Stallmeister sagte unten etwas zu den Buben, und stolz kehrten diese nun wieder auf ihre Plätze zurück. Das Pferd aber kam ... trapp, trapp ... hinter ihnen her.

"Vielleicht holt's uns, und wir kriegen auch 'ne Tüte," sagte Anton Friedlich hoffnungsfroh, aber der Clown jammerte: "Es holt mich, es holt mich!"

"Kriech nur wieder unter die Bank," rieten die Kinder hilfsbereit, obgleich den Mädeln das Kasperle so in der Nähe recht unheimlich war. Aber da war schon das Pferd und schnapp, hatte es den Clown am Hosenboden gepackt und trug ihn nun die Treppe hinab. Unten rollten die Diener eine große Tonne herbei, und o Entsetzen! das Pferd steckte Kasperle in die Tonne. Eine Zuckertüte gab's nicht.

"Das ist, weil er gelogen hat," rief Heine Peterle und preßte stolz seine Zuckertüte ans Herz. Trotzdem sah er mitleidig nach dem Kasperle aus. Würde das in der Tonne stecken bleiben? Die Diener rollten die zur Bahn hinaus, sie rollten und rollten sehr heftig, und auf einmal war der Clown draußen, und niemand hatte es gesehen. Die Oberheudorfer brachen in stürmischen Jubel aus: "Kasperle, das war fein!"

"Lebt wohl!" rief der Clown, stand plötzlich auf den Händen und lief so davon.

"Komm bald wieder!" brüllten ihm alle nach. Da drehte er sich wie ein Rad und stand wieder auf den Beinen und quiekte mit ganz hoher, dünner Fistelstimme: "Ach nein, jetzt muß ich mich bei meiner Mutter in einen Pflaumenmußtopf schlafen legen, lebt alle wohl!"

"Heute macht der Clown auch zu dumme Witze," brummte ein alter, griesgrämiger Herr hinter den Kindern, der sich schon die ganze Zeit über den Lärm geärgert hatte.

Da drehten sich urplötzlich alle Buben und Mädel um und starrten den Griesgram namenlos verwundert an. Der wurde ordentlich verlegen und murrte: "Das sind ja unglaublich ungezogene Rangen."

"Ungezogen, diese Kinder? Na hören Sie, mein Herr, die tun doch nichts," rief Fräulein Wunderlich entrüstet. Ihr, die sonst so leicht gescholten hatte, gefielen alle diese Buben und Mädel gut, denn in ihrem Herzen war ein Türlein aufgesprungen, durch das viel Freude und Liebe aus und ein gehen konnte. Waldbauers Mariandel, die neben ihr saß, streichelte sie zutraulich und flüsterte: "Du bist aber nett, Fräulein Wunderlich."

Annchen Amsee huschelte sich von der andern Seite an sie an, und Traumfriede drehte sich um und nickte ihr strahlend, dankbar zu.

Der verdrießliche Herr aber brummelte weiter. Dies war ihm nicht recht und das. Einige Buben sagten schon untereinander: "Er ist wie Hans Rumpf, wenn er seinen Linksaufstehtag hat."

"Das Schwatzen stört," knurrte der Herr wieder, schon zornesrot im Gesicht.

Unten standen gerade acht Pferde steif in einer Reihe, und alles wartete neugierig, daß sie springen würden, da tönte in die tiefe Stille, die just über dem Zirkus lagerte, Annchen Amsees helles Stimmchen hinein: "Gib dem Herrn was aus deiner Tüte, Heine Peterle, der ärgert sich nur, weil er keine hat."

Hunderte von Augen richteten sich auf den Platz, wo die Kinder saßen, und alle diese vielen, vielen Augen sahen, wie Heine Peterle über die Köpfe seiner Gefährten hinweg seine Tüte dem brummigen Herrn darbot.

"Es sind furchtbare Kinder," dachte der. All die lachenden Blicke waren ihm äußerst fatal, und in seiner Verlegenheit griff er wirklich in die Tüte, und weil er sich schämte, lächelte er dazu ganz freundlich, und Heine Peterle lächelte wieder und sagte in hörbarem Flüsterton zu Schulzens Jakob: "Jetzt sieht er nicht mehr so böse aus!"

"In der nächsten Pause geh' ich," dachte der brummige Herr wütend. "Für diese Nachbarschaft danke ich." Aber dann kam die Pause, und kaum hatte sie begonnen, da wandte sich Heine Peterle wieder um, streckte ihm nochmals seine Tüte hin und fragte treuherzig: "Gelt, das ist fein?" Und auf einmal lächelten ihm alle Buben und Mädel freundlich und ermunternd zu. Da vergaß er das Weggehen und blieb; er vergaß aber auch das Brummen, denn der Jubel der Oberheudorfer erklang immer von neuem so laut, so selig froh, daß sich darüber die griesgrämigsten Mienen aufhellten.

Was gab es aber auch nur für wunderbare Dinge in diesem Zirkus!

Vier feuerrote Clowns brachten vier rosenrote Schweinchen an, und die machten allerlei Kunststücke. Sie sprangen und marschierten auf Befehl, wie es noch nie in Oberheudorf ein Schwein getan hatte.

"Warum machen sie's nur bei uns nicht?" tuschelten die Kinder einander zu. Ein paar Augenblicke später hatten sie diese Frage schon wieder vergessen, denn lauter schöne Fräuleins schwebten in die Bahn. Auf einem Wagen wurde eine Prinzessin hereingefahren, und nun gab es einen wundervollen Tanz. Als er zu Ende war, war auch die Vorstellung zu Ende, und der Professor mahnte zur Heimkehr.

"Schon aus?" "Ach, ich wollte, ich könnte bis morgen bleiben," erklang es. Draußen auf der Straße aber rief der dicke Friede laut: "Ich werd'n Kasperle."

"Ich so einer, der mit den Pferden springt," schrie Anton Friedlich, und das wollten noch etliche andere ebenfalls. Die Mädel wollten so wunderschöne Tänzerinnen werden. Annchen Amsee quiekte: "Ich so eine mit Flügeln," und Schulzens Jakob, ein dicker, purzeliger Bube sagte bestimmt: "Ich werd' auch so'ne Dame!" Nur Heine Peterle blieb dabei: "Ich lern 's Fiedeln." Alle waren sich aber darüber einig, einstmals zum Zirkus zu gehen, und Friede Hopserling riet ihnen: "Bleibt doch gleich da!"

Das wollten sie nun doch nicht, nur der dicke Friede schwankte ein wenig, dann kletterte er aber doch noch fix mit auf den Wagen. Vorläufig erschien ihm das Elternhaus noch verlockender. Freilich, der Abschied von Feldburg wurde ihnen allen an diesem Abend bitter schwer, und sie alle stimmten laut und sehnsüchtig in des Füchsleins Ruf ein: "Ach, lägen doch Feldburg und Oberheudorf nur etwas näher zusammen!"

Beim Abschied hielt Muhme Lenelies Herrn von Spiegels Hand fest in ihrer arbeitsharten. Sie wollte ihm danken für alles, was er an ihrem Friede getan hatte und noch tun wollte, aber sie vermochte nur ein paar Worte zu reden. Doch der alte Herr klopfte und streichelte die Muhme herzlich und sagte: "So Gott will, sehen wir uns noch oft, ehe unser Friede ein Mann geworden ist."

"Und Gott geb's, daß er ein rechter Mann wird," flüsterte die alte Frau. "So einer wie sein Pflegevater," fügte sie ganz leise hinzu.

Der Professor aber hatte es doch gehört. Er sah der alten Frau in die guten Augen und sagte fest: "So einer, der seiner Pflegemutter Ehre macht."

Von den andern hatte niemand auf das Zwiegespräch geachtet. Die schwatzten, lachten und lärmten, bis Friede Hopserling "hüh hott" rief und die beiden Wagen davonrollten. Bis Wiesental etwa ging's noch laut in den Wagen zu, dann wurde es still und stiller. Ein Kind nach dem anderen schlief ein; zuletzt wachten außer den Kutschern nur noch Muhme Lenelies und Friede. Die sahen beide, wie der Mond groß und rot über den Bergen emporstieg. Dann sahen sie, wie sein Licht in den Wald eindrang, sie hörten das Rauschen der Bäume und hin und wieder den verschlafenen Schrei eines Vogels. Manchmal kletterte auch Friede Hopserling vom Wagen herunter und schaute nach, ob noch alle da waren, ob nicht eins im Begriff war hinauszufallen. "Die bringen alles fertig," dachte er und stopfte kräftig ein vorwitziges Bubenbein in den Wagen zurück. Reden tat er nicht dabei, und auch der Schulzenknecht, der den andern Wagen führte, störte die Muhme und ihren Pflegesohn nicht im traulichen Zwiegespräch.

"Möchtest du auch zum Zirkus gehen?" fragte Muhme Lenelies den Buben lächelnd.

"Nein!" Der schüttelte den blonden Kopf und schmiegte sich fest an die treue alte Freundin an. "Muhme Lenelies, weißt du, weit in die Welt hinein reisen möchte ich einmal wie der Herr Professor. Griechenland möchte ich sehen und viele, viele fremde Länder und viel, viel lernen und ...." Traumfriede wollte noch viel; große Taten wollte er vollbringen, Schönes, Gutes tun, alles wollte er. Nur die alte Muhme und der Heimatwald hörten, was er alles wollte, sann und dachte. Knabenträume waren es, aber Muhme Lenelies dachte bei diesen Träumen doch: "Vielleicht wird mein Friede noch einmal einer, dessen Name einst die Welt mit Stolz und Freude nennt. Warum soll in einem kleinen Dorf wie Oberheudorf nicht auch ein großer Mann geboren werden, ja warum nicht?"

23

 

 

Inhalt



Auf dem Johannesplan

Traumfriedes Abschied

Die Grünmützen von Feldburg

Ein böser Tag

Heine Peterles Brief

Eine Stadtfahrt

Verkehrte Gedanken

Das Abenteuer im Schloß

Der kleine Teufel hilft Fräulein Wunderlich über die Dornenhecke

Allerlei Geschenke, und was aus ihnen wird

Die Denkmalsbuben von Schwipperlingen

Sommerferienlust

Im Zirkus

 

 

 

 


1

2

Auf dem Johannesplan



Auf den Stufen, die zu der altersgrauen Stadtkirche von Feldburg emporführten, saßen drei Kinder: zwei Buben und ein Mädel. Es war just um die Zeit, da es die Blumen schrecklich langweilig finden, immer warm und wohlbehütet im braunen Erdbettchen zu liegen, und lieber hinaus wollen, um die Sonne zu sehen und den blauen Himmel. Auch die drei Kinder ließen sich die Frühlingssonne behaglich auf die Nasen scheinen. Mit untergeschlagenen Armen und weit vorgestreckten Füßen saßen die drei da und schauten unverwandt nach einem kleinen Haus hinüber, das in einem Winkel lag. An dem Haus war eigentlich nicht viel zu sehen. Es war das unscheinbarste und kleinste am Johannesplan, so wurde der Kirchplatz genannt. Ein bissel schüchtern und schief stand es in seinem Eckchen, zwei vornehme Nachbarn zur Seite. Links wurde es von dem Schulhof des Gymnasiums begrenzt, zur rechten Seite stand ein prächtiges, altertümliches Haus. Recht vornehm, ja beinahe hochmütig sah das aus; seine Fenster waren fest verschlossen und verhüllt, und über dem breiten Tor trug es ein großes steinernes Wappen.

"Es ist noch immer zu," sagte das eine Mädel und warf einen flüchtigen Blick auf die verhängten Fenster des großen Hauses. Die Kleine seufzte, und da keiner der Buben etwas sagte, begann sie wieder: "Ich möchte nur wissen, wann er kommt!"

"Wer?" fragte der eine Junge kurz, "der Professor oder der Junge aus Oberheudorf?"

"Natürlich der Junge!" rief das Mädel, verwundert, daß der Gefährte überhaupt fragen konnte.

Der, ein stämmiger, hellblonder Junge, dem eine kleine, lustige Himmelfahrtsnase keck im runden Gesicht stand, brummte etwas mürrisch: "Du bist ganz verdreht mit deinem Oberheudorfer Jungen, Füchslein. Wer weiß, was du gehört hast!"

"Ich habe schon recht gehört; Fräulein Wunderlich hat es meiner Mutter erzählt, sie bekämen einen Jungen aus Oberheudorf in Pension, für den der Graf Dachhausen alles bezahle. Freilich, das Warten ist langweilig."

Die Kleine stand auf und rekelte sich. Sie war ein feines, hübsches Ding mit einem Paar rotblonder Zöpfe und braunen, lachenden Augen. Um der roten Haare willen nannten ihr Bruder Ulrich und ihr Freund Jobst sie "das Füchslein"; der Neckname kränkte sie aber nicht, ja sie war schon so daran gewöhnt, daß sie fast erstaunt war, wenn sie einmal jemand mit ihrem Taufnamen Marianne ansprach.

"Sei nicht so ungeduldig!" knurrte Ulli und sah gelassen weiter nach dem Häuschen hinüber. Einmal würde ja dort die Türe aufgehen, und er, Ulrich Sonntag, hatte das Warten gelernt. So rasch und flink in Wort und Tat das Füchslein war, so langsam und bedächtig war ihr Bruder Ulli. Dem spazierte jedes Wort immer fein sacht aus dem Munde heraus, und die Schwester sagte manchmal ungeduldig: "Du sagst aber auch erst zu Mittag guten Morgen, so lange dauert es bei dir!"

"Ist besser, als vor Eifer mit der Nase in die Suppenschüssel fallen," gab dann wohl der Bruder zurück. Da lachte die Schwester, und die beiden waren wieder die allerbesten Freunde; langes Bösesein kannten sie nicht.

"Jetzt wird die Türe aufgemacht," schrie Marianne Sonntag plötzlich. "Vater Wunderlich ist's, der sagt uns, ob der Junge wirklich kommt." Sie schnellte auf und raste über den Platz nach dem kleinen Haus hinüber, aus dem jetzt ein alter Herr trat. Jobst rannte der Freundin nach, Ulrich aber blieb sitzen, er dachte gelassen: "Sie werden schon herüber kommen."

Sie kamen auch wirklich, denn Herr Matthias Wunderlich wollte in die Kirche gehen. Das Füchslein hing an seinem Arm und schwatzte: "Vater Wunderlich, ist das wahr, kommt ein Junge aus Oberheudorf zu dir, und ist das der, von dem mein Onkel Doktor sagt, er wäre ein kleiner Held, weil er einmal im Winter bei Gewitter ..."

"Aber Füchslein," rief Jobst lachend, "bei einem Schneesturm war es doch."

"Ach ja, das meine ich doch auch," sagte Marianne verlegen. Sie redete nämlich mitunter wirklich so geschwind, daß etwas anderes herauskam, als sie sagen wollte.

Der Organist hatte es aber doch verstanden, und just am Fuße der Treppe, so daß Ulli die Antwort hören konnte, erwiderte er freundlich: "Ich weiß schon, was du meinst, Mädel. Ja, das ist der Junge, der einmal, um Medizin für seine kranke Pflegemutter zu holen, den weiten Weg von Oberheudorf bis hierher gelaufen ist; er wäre ja damals beinahe im Schnee umgekommen!"

"Und was will er hier, warum kommt er her?" rief das Füchslein und hielt den alten Mann fest, der gerade den riesigen Schlüssel in das Schloß der Kirchtüre stecken wollte.

"Lernen soll er hier, auf das Gymnasium gehen."

3

"Ein Junge aus 'nem Dorf auf das Gymnasium?" schrie Jobst und sah so hochmütig drein, als wäre Gymnasiastsein die höchste Würde.

"Warum nicht, wenn er gut lernt?" Vater Wunderlich schaute Jobst von Hellfeld mit seinen klaren, guten Augen ernst an. "Dieser Friede, der zu mir kommt, ist ein armer Waisenjunge, und wenn man den auf das Gymnasium schickt, muß er doch schon ein besonders fleißiger Bube sein!"

"Ich bin schrecklich neugierig auf ihn," versicherte das Füchslein eifrig, "o so neugierig! Wann kommt er denn, und wie heißt er weiter, und warum kommt er gerade zu dir, Vater Wunderlich, und wie sieht er aus?"