Dem Pharao versprochen

Marliese Arold

Dem Pharao versprochen

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Marliese Arold

Marliese Arold wurde 1958 in Erlenbach am Main geboren. Sie studierte Bibliothekswesen in Stuttgart und arbeitet seit 1983 sehr erfolgreich als Schriftstellerin. Ihre vielen Bücher wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt. Sie lebt mit ihrer Familie in Erlenbach.

 

Weitere Informationen, auch zu E-Book-Ausgaben, finden Sie bei www.fischerverlage.de

Impressum

Coverabbildung: »Relief im Grab des Ramose, 18. Dynastie, Theben«

Covergestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Fischer Schatzinsel ist der Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage

www.fischerschatzinsel.de

© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011

 

 

Nach den Regeln der neuen Rechtschreibung

 

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-10-401647-4

 Papyrus 1 

Ich weiß, Papyrus ist zu kostbar, um verschwendet zu werden. Trotzdem muss ich mir von der Seele schreiben, was mich beschäftigt. Vielleicht kommt dann endlich wieder Klarheit in meinen Kopf. Ich bin so durcheinander!

Seit heute Morgen reden alle nur davon, dass der König zurückkehrt. In ein paar Tagen wird Tutanchamun ankommen.

Mir ist klar, dass sich jetzt alles ändern wird. Nichts wird mehr so sein wie vorher.

In der letzten Zeit ist mein Leben dahingeflossen wie der Nil in den Sommermonaten: ruhig und gemächlich. Von mir aus könnte es so weitergehen.

Doch nun werde ich von meinen liebgewonnenen Alltagsbeschäftigungen Abstand nehmen müssen, um die Aufgabe zu erfüllen, für die ich bestimmt bin: als Große Königliche Gemahlin an Tutanchamuns Seite zu leben, zu repräsentieren und ihm eine aufmerksame Gattin zu sein.

Tut und ich sind schon als Kinder verheiratet worden. Es ist so lange her, dass ich mich kaum noch daran erinnern kann. Manchmal kommt es mir so vor, als sei alles nur ein Traum gewesen. Ich trug ein schönes Kleid, makellos weiß und hauchdünn. Der Stoff fühlte sich an, als käme er geradewegs aus der Götterwelt. Er war aufwendig bestickt, und ich trug wunderbare Ketten aus Gold und Edelsteinen. Ich durfte eine Perücke aufhaben, meine Augen waren mit schwarzem Kajal geschminkt, auf meinem Haupt saß ein Parfümkegel, der langsam schmolz und mich mit einem Duft nach Lilien umgab.

Tutanchamun saß neben mir, ebenfalls in einem Festgewand, er trug die Sechemtj, die Doppelkrone, die die weiße Krone Unterägyptens und die rote Krone Oberägyptens in sich vereinigte.

An jenem Tag war es unglaublich heiß. Wir hielten uns während der Trauungszeremonie an den Händen. Ich erinnere mich noch genau, wie verschwitzt sich seine Hand anfühlte, ich hätte sie am liebsten losgelassen. Ich hatte vor der Zeremonie viel getrunken und wünschte mir nichts sehnlicher, als dass die Feierlichkeit schnell vorüberginge, damit ich mich auf der Toilette erleichtern könnte. Doch es dauerte ewig. Zuerst segnete uns der Amun-Priester, ein glatzköpfiger Riese, von dem ich noch nächtelang Albträume hatte. Dann hielt Eje, Tuts Ziehvater, eine lange Rede, von der kein Wort in meinem Kopf hängenblieb, weil ich immer unruhiger wurde. Danach sprach Teje, meine Großmutter, von der Bedeutung der Ehe und von den Pflichten, die auf uns zukommen würden. Doch sie musste die Qualen auf meinem Gesicht erkannt haben, denn sie fasste sich kurz und verschaffte mir, noch während der Beifall toste, die Gelegenheit zu verschwinden.

»Schnell, lauf und erledige, was du zu erledigen hast, aber halte dich nicht auf und komm rasch wieder«, raunte sie mir zu, während ich zwischen den Männern, die uns mit Pfauenfedern Luft zugefächelt hatten, hindurchschlüpfte.

Ich rannte durch die kühlen Palastgänge und spürte, wie meine Perücke verrutschte und mir das Parfüm an den Schläfen herabrann. Dann erreichte ich das geheime Gemach, schob den Riegel vor und ließ mich auf den Sitz sinken.

Jetzt endlich hatte ich Gelegenheit, darüber nachzudenken, was mit mir und Tut soeben passiert war: Wir waren verheiratet, richtig verheiratet! Er würde für immer mein Mann sein und ich seine Frau.

Der Gedanke war noch so neu und ungewohnt, dass ich vor mich hinkicherte. Mir kam es vor, als würden wir König und Königin spielen – wie wir das in den vergangenen Jahren so oft gespielt hatten.

Tut hatte häufig mit uns Mädchen gespielt – mit meinen Schwestern und mir. Er ist unser Halbbruder. Es war klar, dass er eines Tages die Pharaonenkrone tragen und eine von uns heiraten würde. Wir sind von königlichem Blut, unsere Mutter war keine andere als Nofretete, von deren Schönheit man noch immer spricht, obwohl sie schon lange tot ist.

Vermutlich hätte Tut meine Schwester Maketaton gewählt, die Zweitälteste. Sie war die Schönste von uns und glich unserer Mutter Nofretete fast aufs Haar. Aber leider fiel Maketaton in einem sehr heißen Sommer dem Fieber zum Opfer; kein Arzt vermochte ihr zu helfen.

Ich weinte sehr um sie. Maketaton war meine Lieblingsschwester gewesen, wir hatten uns sehr gut verstanden. In der ersten Zeit nach ihrem Tod wünschte ich mir sogar, das Fieber möge mich treffen und ebenfalls dahinraffen, damit ich Maketaton im Jenseits wiedertreffen konnte.

Doch mein Wunsch ging nicht in Erfüllung, das Fieber verschonte mich. Und im Sommer nach Maketatons Tod wählte Tutanchamun mich als seine zukünftige Frau aus. Ich konnte es gar nicht fassen, ich war irrsinnig stolz.

Meine Schwestern waren natürlich eifersüchtig und ließen es mich auch spüren, indem sich mich von ihren Spielen ausschlossen. Jede von ihnen wäre gerne die Große Königliche Gemahlin eines Pharaos geworden! Zum Glück hatte ich noch Selket, meine beste Freundin. Wir beide waren Milchschwestern, das heißt, Selkets Mutter Imara hatte sowohl Selket als auch mich an ihrer Brust genährt. Selket und ich waren von Anfang an unzertrennlich. Wir schliefen in derselben Wiege, spielten zusammen auf dem Fußboden, machten gleichzeitig die ersten Schritte und heckten später gemeinsam Streiche aus. Ich kann Selket gar nicht aus meinem Leben wegdenken. Sie ist ein Teil von mir.

Ob ich Selket noch so oft sehen werde, wenn ich im Palast lebe? Ich wünsche mir so sehr, dass Tut mir meinen Wunsch erfüllt und Selket meine Dienerin sein darf. Dann könnten wir weiterhin oft zusammen sein …

Ich weiß, dass ich mich freuen soll, weil Tutanchamun zurückkommt und wir nun endlich die Ehe vollziehen werden. Aber ich bin auch unsicher und habe Angst. Wie wird das sein, wenn ich die Große Königliche Gemahlin und mit Tut zusammen bin – nicht nur bei öffentlichen Einweihungen, sondern Tag und Nacht?

Ach, wüsste ich doch schon, was die Zukunft bringt!

1. Kapitel Die Seherin

»Ich weiß, wer uns die Zukunft aus der Hand lesen kann«, sagte Selket.

Anchesenamun stemmte sich aus dem Badebecken und setzte sich an den gefliesten Rand. Sofort legte Selket ihr ein weiches Tuch um. Es roch leicht nach Lilien. Anchesenamun sog den Duft tief ein und schloss die Augen. Sie musste bei dem Geruch immer daran denken, wie ihr Duamutef im letzten Sommer einen Strauß dunkelroter Lilien geschenkt hatte.

»Ich habe eine Frau kennengelernt, die das Zweite Gesicht hat. Wollen wir sie fragen?« Selkets dunkle Augen blitzten unternehmungslustig. »Sie liest ganz umsonst aus der Hand. Das heißt, sie verlangt nichts dafür. Aber wir werden ihr natürlich etwas schenken.«

Anchesenamun hielt ihre Wange an das weiche Tuch. Ein verlockender Gedanke. Aber auch nicht ganz ungefährlich. »Und wenn sie uns etwas Schlechtes erzählt?«

Selket lachte. »Etwa, dass Tut dich gleich nach der Hochzeitsnacht mit einem anderen Mädchen betrügt? Oder dass du schon vom ersten Mal schwanger wirst?«

»Mach keine Witze.« Anchesenamun sah an sich herab und betrachtete ihren flachen Bauch. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass darin bald ein Kind wachsen würde. Und doch gehörte es demnächst zu ihren Pflichten, dem Pharao einen Thronfolger zu gebären. Selket schien ihre Gedanken gelesen zu haben, sie lachte.

»Pass auf, in ein paar Monaten bist du dick und fett wie eine trächtige Ziege und watschelst wie eine Ente! Du wirst keine Lust mehr haben zu singen und zu tanzen und mit Tut dein Lager zu teilen. Stattdessen wirst du schnaufen wie –«

»Jetzt halt endlich den Mund!« Anchesenamun schlug lachend mit dem Tuch nach ihr.

Selket wich geschickt aus und trat an das Tischchen, das an der Wand stand. Auf ihm befanden sich verschiedene Dinge für die Schönheitspflege: Öl, um die Haut zu salben, Malachitpulver zum Umrahmen der Augen, eine Creme fürs Gesicht sowie Kamm und Bürste. Anchesenamun kam auf die Beine und wickelte sich in das Tuch. Dann setzte sie sich auf den bereitstehenden Hocker, während Selket anfing, Anchesenamuns Schultern und Arme mit Öl einzureiben.

»Du hast eine wunderbare Haut«, sagte sie anerkennend. »Tut wird begeistert sein.«

Anchesenamun spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss. »Ach, hör damit auf, Selket!«

»Doch wirklich.« Selket streckte ihr den eigenen Arm hin. »Mein Arm ist viel rauer, schau. Und erst meine Hände … obwohl ich sie jeden Abend eincreme.«

Sie setzte sich neben Anchesenamun auf den Hocker. Es war ziemlich eng, aber den beiden vierzehnjährigen Mädchen machte das nichts aus. Sie saßen gern dicht beieinander, wenn sie sich ihre Geheimnisse anvertrauten oder sich Dinge erzählten, die nicht für fremde Ohren bestimmt waren.

»Also – was hältst du von meinem Vorschlag?«, fragte Selket. »Wir könnten die Seherin morgen früh aufsuchen. Ich muss sowieso zum Markt. Niemand würde etwas merken, nicht einmal meine Mutter.«

Anchesenamun kämpfte mit sich. Schließlich siegte die Neugier. Sie wollte zu gern etwas über ihr zukünftiges Leben erfahren. Wie viele Kinder würde sie bekommen? Würde sie mit Tut die große Liebe erleben? Würde sie ein hohes Alter erreichen und sehen, wie ihre Enkelkinder aufwuchsen?

»In Ordnung, ich komme mit.« Sie legte warnend den Zeigefinger an die Lippen. »Aber zu niemandem ein Wort!«

»Natürlich nicht.« Selket griff nach dem Kamm mit den breiten Zinken und begann, Anchesenamuns prachtvolles Haar durchzukämmen. Sie seufzte voller Neid. »Dein Haar ist so lang und kräftig! Ich wünschte mir, meines wäre auch so …« Sie fasste sich betrübt an eine Strähne. »Ich kann machen, was ich will. Ich habe mir meine Haare sogar schon mit dem Dotter eines Hühnereis gewaschen, trotzdem ist es nicht kräftiger geworden. Eines Tages bekomme ich garantiert so dünne Haare wie meine Mutter. Die hat inzwischen zwei richtig kahle Stellen auf dem Hinterkopf.«

»Unsinn, du hast viel dichteres Haar als sie.« Anchesenamun griff nach dem Bronzespiegel und betrachtete sich. Sie hatte ein schmales Gesicht und im Gegensatz zu ihren Schwestern leuchtend grüne Augen. Ihr Haar war tiefschwarz und glänzend. Wenn sie es offen trug, reichte es ihr fast zum Bauchnabel. Anchesenamun war kleiner und zierlicher als Selket, die etwas robuster gebaut war. Obwohl Selket nur wenige Wochen älter war, hatte sie bereits sehr weibliche Formen. Bei Anchesenamun zeigten sich erst zwei kleine Erhebungen, aber die Amme Imara hatte ihr versichert, dass diese bestimmt noch wachsen würden.

»Ich bin gespannt, was wir morgen erfahren«, murmelte Selket, während sie das Haar ihrer Freundin kämmte. »Wahrscheinlich werde ich später auch einmal Amme. Wenn du mir schnell einen Ehemann verschaffst, dann könnte ich vielleicht auch dein erstes Kind stillen.«

Anchesenamun schüttelte unwillkürlich den Kopf. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie es ist, ein eigenes Kind zu haben …«

»Es ist wie eine Puppe.« Selket summte leise vor sich hin. »Du wirst es herzen und lieben.«

»Aber es ist ein lebendiges Wesen und ich habe die Verantwortung dafür.« Anchesenamun atmete tief. »Wenn es krank wird … Ich weiß gar nicht, was ich da tun soll. Und wenn es laufen und sprechen kann und dann hinter mir her läuft und ›Mama‹ ruft – da komme ich mir sicher ganz merkwürdig vor, so alt und erwachsen.«

Selket prustete los. »Du hast manchmal wirklich komische Vorstellungen! Das ist doch alles ganz normal. Und als Große Königliche Gemahlin brauchst du nicht allein die Verantwortung zu tragen, du wirst zahlreiche Dienerinnen haben, die dich unterstützen. Wahrscheinlich bist du froh, wenn du dein Kind überhaupt mal zu sehen bekommst.«

»Ach, Selket.« Anchesenamun drehte sich um und lächelte sie an. »Irgendwie geht mir das jetzt zu schnell. Sicher, ich habe gewusst, dass Tut eines Tages von seinem Feldzug zurückkommt. Aber ich habe gedacht, dass es noch länger dauert.«

Selket setzte sich wieder neben sie und rückte vertraulich an sie heran. »Und mein Bruder Duamutef hat nicht zufällig etwas damit zu tun?«

Anchesenamuns Herz setzte einen Schlag aus. »Warum sollte er etwas damit zu tun haben?« Sie hoffte, dass ihre Stimme harmlos klang.

»Na ja, ich dachte … dass du ihn magst.«

»Das stimmt, ich mag ihn. Ich kenne deinen Bruder ja schon so lange wie dich. Aber was soll das mit Tut zu tun haben?«

»Ich hatte den Eindruck, dass du und Duamutef …« Selket verstummte, ohne den Satz zu beenden.

»Zwischen uns ist nichts«, erklärte Anchesenamun mit Nachdruck.

»Dann ist es ja gut.« Selkets Stimme klang erleichtert. »Das hätte die Sache furchtbar kompliziert. Obwohl die Vorstellung auf der anderen Seite auch schrecklich romantisch wäre: Du liebst Duamutef, aber du bist dem Pharao versprochen. Und jetzt kommt Tut zurück. Du müsstest dich entscheiden, ob du deiner großen Liebe für immer entsagst oder ob ihr zusammen flieht und euch vor dem Pharao versteckt.«

Anchesenamun zog die Augenbrauen hoch. »Imara hat dir zu viele Liebesgeschichten erzählt.«

»Das kann schon sein.« Selket stand wieder auf und bürstete Anchesenamuns Haar weiter. Spielerisch ließ sie Strähne um Strähne über ihr Handgelenk gleiten. »Wenn ich mir vorstelle, dass du bald die Große Königliche Gemahlin bist … Bestimmt wirst du dann vor lauter Pflichten gar keine Zeit mehr für mich haben. Ich bin ja nur Selket, deine Milchschwester. Du wirst mit vornehmen Leuten zu tun haben, Prinzen und Prinzessinnen aus fernen Ländern … Sie werden kommen, um dich zu besuchen und dir schöne Geschenke mitbringen … Ich bin neidisch auf dich! Tut würde mir übrigens auch gefallen, er sieht gut aus.«

»Ich fürchte, er gefällt vielen Frauen.«

»Stell dir vor, er wäre hässlich – und du müsstest trotzdem seine Frau sein. Oder er wäre uralt … wie Eje …«

»O nein.« Anchesenamun kicherte.

»Sicher hat Tut auf seinen Feldzügen bereits Erfahrungen gesammelt«, überlegte Selket laut, während sie Anchesenamuns Haar weiter bearbeitete. »Er ist bestimmt ein erfahrener Liebhaber, der weiß, wie man einer Frau Wonnen bereitet.«

Anchesenamun verschluckte sich, begann zu husten und sprang auf. »Selket, du bist unmöglich! Wie kannst du so über einen Pharao reden!«

»Aber er ist nicht nur ein Gott, sondern auch ein Mann«, verteidigte sich Selket. »Ich will ja nur, dass es dir gutgeht. Beim ersten Mal soll es wehtun, und es blutet auch. Das heißt, ich hoffe, dass es blutet, denn sonst könnte Tut meinen, du seist keine Jungfrau mehr – und dann hast du ein Problem.«

»O Selket, mit dir geht ständig die Phantasie durch.« Anchesenamun fasste ihre Freundin an den Handgelenken. »Ich habe mir nichts vorzuwerfen – und deswegen mache ich mir über diese Sache überhaupt keine Gedanken.«

»Entschuldige, aber ich wäre an deiner Stelle eben furchtbar nervös«, gestand Selket. Sie beugte sich zu Anchesenamun und flüsterte ihr ins Ohr: »Ich habe schon einmal einen Mann geküsst … ich meine, richtig geküsst, wie Verliebte es tun, und … fast wäre es zu mehr gekommen …«

Anchesenamun ließ überrascht ihre Handgelenke los. »Das hast du mir noch gar nicht erzählt.«

Jetzt war Selket an der Reihe zu erröten. »Es war dieses Jahr im Frühjahr. Du warst krank und hattest diese schrecklichen Kopfschmerzen, bei denen du kein Tageslicht ertragen kannst. Ich hatte mich mit Paser verabredet, er ist ein Freund von Duamutef. Ich glaube, du hast ihn schon einmal gesehen …«

Anchesenamun dachte nach. Sie erinnerte sich an einen großen dünnen Ägypter, der eine Hakennase hatte und so dunkelbraune Augen, dass sie schwarz wirkten. Er ähnelte ein bisschen einem wilden Falken.

»Und in den hast du dich verliebt?«, fragte sie ungläubig.

Selket druckste herum. »Nicht richtig verliebt«, sagte sie dann. »Oder höchstens ein paar Tage lang. Es hat mir geschmeichelt, dass er sich für mich interessierte; schließlich stammt er aus einer reichen Familie. Sein Vater ist Weinbauer.« Sie machte eine kurze Pause. »Wir trafen uns eines Abends am Nil und gingen dort spazieren. Paser kannte eine Stelle, wo wir ganz ungestört waren. Ich wollte ja nicht, dass meine Mutter etwas von meiner Verabredung erfuhr. Ich hatte sie angelogen und gesagt, ich würde eine Tante besuchen und ihr einen Topf Ziegenmilch bringen.«

Anchesenamun hörte gespannt zu.

»Paser sagte mir, dass er bald weggehen würde«, erzählte Selket weiter. »Er wollte in den Süden, nach Nubien, um dort sein Glück zu machen. Und er fragte mich, ob ich mir vorstellen könne, ihn zu begleiten. Ich war völlig überrascht. Ich hatte noch nie bemerkt, dass er sich besonders für mich interessiert. ›Warum willst du, dass ich mitkomme?‹, habe ich ihn gefragt. ›Ich bin doch nur ein einfaches Mädchen.‹ – ›Du bist mir schon lange aufgefallen, weil du wunderschön bist‹, antwortete er, zog mich an sich und fing an, mich zu küssen. Aber wie! Mir wurde schwindelig von seinen Küssen, und ich konnte überhaupt nicht mehr klar denken. Wir sanken auf den Boden. Pasers Hand war plötzlich in meinem Kleid, er streichelte meine Brüste, das war so ein schönes Gefühl, am liebsten hätte ich gewollt, dass er gar nicht mehr damit aufhört.« Selket senkte den Kopf. »Ich glaube … wir hätten es getan, doch auf einmal flog aus dem Gebüsch eine Wildente auf. Wir sind furchtbar erschrocken – und die Stimmung war dahin. Aber wenn das nicht passiert wäre …«

»Und wärst du denn wirklich mit Paser mitgegangen?«, fragte Anchesenamun. »Oder hat er das nur gesagt, um dich rumzukriegen?«

»Ich weiß nicht, was ich getan hätte«, gestand Selket. »Ich war so verwirrt. Und völlig überrascht von meinen eigenen Gefühlen. – Paser brachte mich nach Hause, wir verabschiedeten uns ein paar Straßen vorher, weil uns niemand zusammen sehen sollte. Wir verabredeten uns für den nächsten Abend. Ich wartete an der gleichen Stelle, aber Paser kam nicht. Von Duamutef erfuhr ich etwas später, dass er bereits die Stadt verlassen hat.«

Selkets Stimme klang traurig. Anchesenamun streichelte ihren Rücken.

»Das hat dir bestimmt das Herz gebrochen«, sagte sie mitfühlend.

»Na ja, mein Herz hält schon etwas aus«, meinte Selket. »Ich habe eine ganze Nacht geweint und mich gefragt, ob ich etwas Falsches getan hätte. Aber ein paar Tage später war ich irgendwie froh, dass es so gekommen war und ich keine Entscheidung treffen musste, ob ich auch aus Waset weggehen will. Das wäre mir nämlich wirklich schwergefallen.«

»Ich hätte dich nicht mehr gehabt«, ergänzte Anchesenamun. »Wie schrecklich!«

Selket lächelte. »Ich kann mir ein Leben ohne dich auch nicht vorstellen. Uns verbindet so viel.«

»Ja«, sagte Anchesenamun ernst. »Nichts soll uns trennen. Auch kein Mann. Ich werde Tut bitten, dass du meine Dienerin und Gesellschafterin wirst, dann können wir weiterhin zusammen sein.«

»Nichts wünsche ich mir mehr.« Selket errötete. Dann erzählte sie stockend: »Übrigens hat mir Duamutef eine Weile danach anvertraut, dass Paser Waset hauptsächlich deswegen verlassen hat, weil er Angst hatte, dass er in der Armee des Pharaos dienen soll. Offenbar waren schon Werber bei ihm zu Hause, und Pasers Vater fand die Idee nicht schlecht. Den Weinbaubetrieb soll nämlich sein ältester Sohn erben …« Selket spielte mit ihren Fingern. »Jedenfalls bin ich froh, dass an jenem Abend nicht mehr passiert ist. Wahrscheinlich wollte Paser nur ausprobieren, wie weit er mich rumkriegt. Heute glaube ich nicht mehr daran, dass er mich wirklich mitnehmen wollte.«

»Der Richtige kommt bestimmt noch«, tröstete Anchesenamun ihre Freundin.

Selket seufzte. »Die Liebe kann einen ganz schön durcheinanderbringen. Man ist dann gar nicht mehr richtig bei Verstand.« Sie sprang auf. »So, jetzt haben wir aber genug geplaudert.«

Sie half Anchesenamun ein frisches Gewand anzulegen, reichte ihr Ketten und Armreifen und bot ihr an, das Haar aufzustecken. Aber Anchesenamun lehnte ab, sie trug ihr Haar lieber offen.

Selket begleitete ihre Freundin durch die weiträumigen Palastanlagen in ihr Schlafgemach. Dort war es angenehm kühl, die Tageshitze drang nicht durch die dicken Mauern. Anchesenamun ließ sich auf ihr Bett fallen und lud Selket ein, ebenfalls Platz zu nehmen.

»Eigentlich müsste ich meiner Mutter helfen … Aber ein paar Augenblicke habe ich noch …« Sie setzte sich. Ihr Blick glitt bewundernd durch den Raum, der mit schönen Möbeln ausgestattet war. »So ein Zimmer, ganz für mich allein, hätte ich auch gern.« Selket musste sich einen Raum mit ihrer Mutter und ihrem Bruder teilen.

»Wenn Maketaton noch leben würde, würde sie hier wohnen.« Anchesenamun seufzte. »In der letzten Zeit muss ich oft an sie denken. Die Erinnerung an sie wird immer blasser. Ich weiß kaum noch, wie sie ausgesehen hat.« Sie richtete sich auf. »Glaubst du eigentlich, dass wir im Jenseits weiterleben, Selket?«

»Aber natürlich«, antwortete Selket ohne das geringste Zögern. »Du nicht? Zweifelst du etwa daran?«

»Ach, ich mache mir eben so meine Gedanken.« Anchesenamun starrte die Wand an. »Ich denke oft an meinen Vater. Er hat alle Götter verboten – bis auf Aton. Meinst du nicht, dass die Götter uns deswegen zürnen? Warum sollen sie uns durch das Jenseits geleiten und uns gewogen sein?« Sie spielte mit einem Zipfel des Baldachins, der aus feinstem Leinen gewebt war.

»Du bist doch nicht schuld daran an dem, was dein Vater getan hat«, sagte Selket. »Und Maketaton auch nicht.«

»Vielleicht frisst Ammit einfach mein Herz, wenn ich gestorben bin«, murmelte Anchesenamun. »Und das war’s dann.« Sie blickte Selket an. »Genau das habe ich neulich geträumt. Ich starb, und die Göttin mit dem Krokodilkopf verschlang mein Herz. Ich habe es richtig gespürt.« Sie legte ihre Hand auf die linke Brust. »Die Stelle hat mir noch am nächsten Tag weh getan.«

»Nur ein dummer Traum!« Selket schüttelte lachend den Kopf.

»Träume sind nicht dumm«, widersprach Anchesenamun. »Sie wollen uns etwas sagen.«

»Also, ich würde mir jedenfalls keine allzu großen Sorgen machen.« Selket stand auf. »Du bist gläubig und huldigst Amun und den anderen Göttern. Und Tut sorgt ja nach Kräften dafür, dass die Tempel und Götterbilder wiederhergestellt werden. Du hast dir wirklich nichts vorzuwerfen!« Sie wandte sich zur Tür. »Ich muss jetzt gehen, meine Mutter wartet bestimmt schon auf mich. Wir treffen uns morgen früh im Garten, am besten gleich nach Sonnenaufgang.«

 

»Du kommst spät«, empfing Imara ihre Tochter.

»Entschuldigung«, sagte Selket. »Anchesenamun hat ein Bad genommen, und ich bin ihr zur Hand gegangen.«

Duamutef stand gerade vor dem Waschgeschirr und wusch sich. Als seine Schwester den Namen erwähnte, horchte er auf.

»Ach, Anchesenamun? Wie geht’s ihr denn? Ich habe sie schon eine Weile nicht mehr gesehen, muss ja immer so früh zur Arbeit.« Er arbeitete in den Pferdeställen des Pharaos, kümmerte sich um die Tiere und säuberte die Ställe. Man sagte von ihm, er habe ein gutes Händchen für Pferde.

Imara war froh, dass ihr Sohn Arbeit hatte, aber oft rümpfte sie die Nase, wenn er nach Hause kam und nach Pferdestall roch.

»Es geht ihr gut«, beantwortete Selket seine Frage. »Sie ist ein bisschen aufgeregt, weil der Pharao bald zurückkommt.«

»Sicher freut sie sich«, meinte Imara. Sie nahm Duamutef die Waschschüssel weg, kippte den Inhalt vor die Tür und goss frisches Wasser aus einem Krug nach. »Noch ein Durchgang, mein Lieber!«

Duamutef brummte ein bisschen unwillig, rieb seinen Oberkörper aber dann erneut mit einem nassen Lappen ab. Selket betrachtete den muskulösen Rücken ihres Bruders. Seit er regelmäßig in den Ställen arbeitete, war sein Körper kräftiger und sehniger geworden. Die Mädchen sahen ihm hinterher. Bisher hatte Duamutef noch kein Interesse an einer jungen Frau gezeigt. Aber gerade eben hatten seine Augen einen besonderen Glanz gehabt, als er nach Anchesenamun gefragt hatte – das war Selket nicht entgangen.

Mit einem Tuch trocknete Imara ihrem Sohn den Rücken ab. Während sie kräftig rieb, seufzte sie. »Es wird Zeit, Duamutef, dass du dir eine Frau suchst und einen eigenen Hausstand gründest. Du kannst nicht ewig hier wohnen bleiben. Immerhin bist du schon siebzehn Jahre alt.«

Duamutef drehte sich um, umarmte seine Mutter und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Ach Mutter, sei ehrlich: Du bist doch ganz froh, wenn du dich noch um mich kümmern kannst. Außerdem habe ich die richtige Frau noch nicht gefunden!«

»Weil du dir keine Mühe gibst.« Imara befreite sich aus den Armen ihres Sohnes. »Für dich ist es sehr bequem, hier zu wohnen. Du wirst bekocht, ich mache deine Wäsche … Und wie du immer schmutzig bist von deiner Arbeit!« Sie schüttelte den Kopf. »Eine andere Frau würde das vielleicht gar nicht mitmachen!«

Duamutef zwinkerte seiner Schwester zu. Selket zwinkerte zurück. Diesen Dialog zwischen Mutter und Sohn gab es in der letzten Zeit häufig.

»Du bist erwachsen, Duamutef, du musst irgendwann dein eigenes Leben führen!«

»Das werde ich auch, Mutter!«

»Ich wünsche mir Enkelkinder!«

Duamutef lachte. »Vielleicht bekommst du die ja bald von Selket.«

Selket errötete und fragte sich, ob Paser ihrem Bruder etwas von jenem Abend erzählt hatte. »Ich habe es mit Kindern nicht so eilig«, sagte sie. »Du bist damit zuerst an der Reihe, schließlich bist du älter als ich.«

Duamutef lachte laut. Imara murmelte unverständliche Worte vor sich hin und klapperte laut mit dem Geschirr, um ihren Unmut kundzutun. Aber Selket wusste, dass ihr Bruder im Grunde recht hatte. Imara kümmerte sich gern um ihren Sohn, nahm ihm Arbeiten ab und verwöhnte ihn. Außerdem war sie, solange Duamutef noch bei ihnen lebte, genau darüber informiert, was er tagsüber getan hatte.

Selket war überzeugt, dass Imara die Freundin ihres Bruders erst einmal einer gründlichen Prüfung unterziehen würde. Und wahrscheinlich würde keine gut genug für ihren Sohn sein …

Als sie sich zum Essen setzten, erzählte Duamutef, was an diesem Tag passiert war.

»Ein Schimmel des Pharaos ist krank geworden. Das Pferd hatte schreckliche Bauchschmerzen, und wenn ich das Ohr an seinen Leib drückte, vernahm ich ein dumpfes Grollen.«

»Oh!« Selket lauschte gebannt.

»Erst im vorigen Monat ist ein Pferd mit denselben Symptomen gestorben«, berichtete ihr Bruder. »Zum Glück war ein anderer Pfleger für das Pferd verantwortlich und nicht ich.«

»Und was hast du mit dem Schimmel gemacht?«

»Ich habe ihn ständig herumgeführt, um ihn daran zu hindern, sich hinzulegen. Aber es half nicht viel. Dann hatte ich eine Idee und machte dem Pferd einen Einlauf mit Sandelholzöl.«

Selket hörte vor Überraschung auf zu kauen. »Sandelholz ist eines der sieben heiligen Öle des Pharaos.«

Duamutef nickte. »Ich weiß. Damit pflegen wir auch die Hufe der Pferde. Es war das einzige Öl, das ich auf die Schnelle bekommen konnte. Die Götter standen mir bei, es hat funktioniert, und die Verdauung des Pferdes geriet wieder in Gang. Ich werde morgen den Göttern ein Trankopfer stiften, weil sie das Tier gerettet haben.«

Selket starrte ihren Bruder an. »Und wenn das Pferd gestorben wäre?«

»Dann wäre ich schwer bestraft worden, denn ich habe die Verantwortung für das Tier«, erklärte Duamutef. »Der andere Pferdepfleger erhielt dreißig Peitschenhiebe und wurde entlassen. Man warf ihm vor, er habe dem Pferd verdorbenes Futter gegeben.«

»Und das Pferd, das du betreut hast?«, fragte Selket gespannt. »Du hast doch sicher aufgepasst. Warum ist es krank geworden?«

»Das weiß ich nicht«, erwiderte Duamutef. »Es gibt viele Gründe, warum ein Pferd Bauchweh bekommen kann. Manche Tiere sind empfindlicher als andere. Das Pferd, das heute krank war, ist einer der Lieblingshengste des Pharaos. Nicht auszudenken, wenn der Schimmelhengst bei der Rückkehr des Königs nicht mehr im Stall stehen würde.« Weil Imara sich gerade am Herd zu schaffen machte, beugte er sich zu Selket und flüsterte ihr zu: »Vielleicht müsste ich dann mit meinem Leben dafür bezahlen.«

Selket erschauderte. Sie hatte bisher nicht gewusst, was für ein großes Risiko es war, in den Stallungen des Pharaos zu arbeiten. »Ich werde für dich beten, damit die Götter dich auch in Zukunft beschützen!«

 

Anchesenamun zog einen Schleier über ihren Kopf, um unterwegs nicht erkannt zu werden. Dann verließ sie leise ihr Schlafgemach, huschte durch die Flure und schlüpfte durch eine Hintertür ins Freie.

Es wurde eben erst hell. Gräser und Blätter waren feucht vom Tau. Leichter Dunst schwebte über dem Boden. Anchesenamun fröstelte, während sie auf Selket wartete.

Sie war aufgeregt und neugierig. Was würde die Seherin ihnen prophezeien? Ob die Frau wirklich die Gabe des Zweiten Gesichts hatte? Es gab sicherlich Menschen, die tatsächlich in die Zukunft schauen konnten, aber es gab auch Betrügerinnen, die mit angeblichen Prophezeiungen ihren Lebensunterhalt verdienten. Aber Selket hatte ja behauptet, dass die Seherin nichts für ihre Dienste verlangte …

Anchesenamun war gespannt, diese Frau kennenzulernen.

Endlich erschien Selket. Sie machte einen abgehetzten Eindruck.

»Verzeih mir, dass ich dich habe warten lassen. Aber ich musste zuerst das Feuer im Herd entfachen, und heute wollte und wollte es nicht angehen. Ob das ein schlechtes Omen ist?«

»Der Wind wird durch den Kamin gedrückt haben, oder das Brennmaterial war feucht.« Anchesenamun hakte ihre Freundin unter. »Komm, jetzt lass uns gehen, bevor noch jemand kommt und uns aufhält.«

Sie wählten einen unauffälligen Weg durch die Palastanlagen. Eine halbe Stunde später hatten sie den Markt von Waset erreicht, auf dem die Händler gerade ihre Stände aufbauten. Die ersten Käufer hatten sich schon eingefunden, auf der Suche nach dem frischesten Fisch oder Obst, das auf dem Flussweg in die Stadt gelangt war. An mehreren Ecken wurde laut um den Preis gefeilscht. Die beiden Mädchen liefen gemeinsam von Stand zu Stand. Selket prüfte die Ware sorgfältig, bevor sie etwas kaufte und in ihren Korb steckte. Sie bezahlte mit selbstgefertigten Muschelketten und einmal mit einem kleinen Kupferstück, das sie schweren Herzens für ein Gazellenfilet aus der Hand gab. Der Händler wickelte das Stück Fleisch in einige große Blätter, damit es vor der Sonne geschützt war und frisch blieb.

»So, jetzt habe ich alles«, sagte Selket schließlich. »Wir können zu der Seherin gehen.«

Die hellsichtige Frau wohnte in einer kleinen armseligen Hütte am Stadtrand. In einem Pferch nebenan waren zwei Ziegen angebunden, die vor Hunger meckerten, als sie die beiden Mädchen sahen. Selket riss ein paar Stücke von den Blättern ab, in denen das Fleisch eingewickelt war, und warf sie den Ziegen hin. Gierig stürzten sich die Tiere auf das Grünzeug.

Im Eingang erschien eine alte Frau. Sie ging gebückt und benutzte einen Stock, um sich abzustützen. Es war die älteste Frau, die Anchesenamun je gesehen hatte. Ihr Gesicht war voller Runzeln, und graue Haarsträhnen lugten links und rechts unter dem Kopftuch hervor. Aber die dunklen Augen unter den buschigen grauen Brauen blickten noch klar und lebendig die beiden Besucherinnen an.

»Ich danke euch, dass ihr meine Ziegen füttert. Vielleicht könnt ihr ihnen nachher noch etwas Gras bringen. Mein Rücken schmerzt heute zu sehr, dass ich mich kaum bücken kann, um die Halme zu schneiden.«

»Machen wir gern«, sagte Selket sofort. Anchesenamun wusste, dass ihre Freundin es nicht übers Herz brachte, ein Tier leiden zu sehen.

»Seid willkommen in meiner Hütte und tretet ein.« Die Alte machte eine einladende Handbewegung.

Die Mädchen kamen der Aufforderung nach. Als Anchesenamun an der Frau vorbeiging, berührte diese sie am Arm.

»Ihr seid Schwestern, aber nicht blutsverwandt.«

»Stimmt«, sagte Anchesenamun überrascht und fragte sich, ob die Alte sie trotz des Schleiers erkannt hatte.

Im Innern der Hütte war es stickig und schmutzig. Sie bestand nur aus einem einzigen Raum mit wenigen Möbeln. Durch eine Öffnung unter dem Dach flogen Schwalben ein und aus. Anchesenamun hörte leises Gepiepse. Offenbar befand sich unter der Decke ein Nest mit Jungvögeln.

Die Alte griff nach zwei abgewetzten Kissen und forderte die Mädchen auf, darauf Platz zu nehmen. Während Anchesenamun und Selket sich auf den Boden hockten, humpelte die Alte geschäftig im Raum umher. Sie entzündete ein paar Öllampen und warf eine Handvoll getrockneter Kräuter ins Feuer. Der Raum füllte sich daraufhin mit beißendem Qualm, der in Nase und Lunge drang. Anchesenamun unterdrückte einen Hustenreiz.

Die Alte holte ein Säckchen aus schwarzem Leinen, zog sich einen Hocker herbei und wies Selket an, auf dem Boden zu ihren Füßen ein Tuch auszubreiten. Selket gehorchte.

»Ihr seid gekommen, um von mir zu hören, was euch in der kommenden Zeit widerfährt«, sagte die Alte mit krächzender Stimme. Sie griff in das Säckchen und holte eine Handvoll brauner Stücke heraus, die Anchesenamun im ersten Augenblick für Holz hielt. Erst eine Weile später begriff sie, dass es sich um kleine Tierknochen handelte.

Die Alte wog die Knochen kurz in der Hand, schloss die Augen und konzentrierte sich. Dann warf sie die Knochen auf das Tuch vor sich.

Selket beugte sich neugierig nach vorne, aber sie war natürlich nicht bewandert in der Kunst des Knochenlesens, und die Anordnung der Gebeine sagte ihr gar nichts. Auch Anchesenamun starrte unschlüssig auf das Tuch.

Die Alte begann zu sprechen.

»Du«, sie deutete mit ihrem knotigen Zeigefinger auf Selket, »dein Schicksal ist es, deiner Milchschwester treu zu dienen bis an das Ende deiner Tage. Deine Freundschaft ist wahrhaftig, und du teilst mit deiner Milchschwester Schmerz und Freude. Du stehst ihr immer zur Seite und erhellst ihre Tage, selbst wenn sie noch so dunkel sind.«

Selket hörte gebannt zu.

»Und du«, jetzt zeigte der Finger der Alten auf Anchesenamun, »wirst glückliche Tage erleben und auch schlimme. Du wirst eine Frau sein, die die Männer begehren, aber der Weg zum Glück ist sehr weit. Du wirst dich in Geduld üben und manche Schwierigkeit überwinden müssen. Die Götter werden dich prüfen, und du wirst oftmals nicht wissen, welchen Weg du einschlagen sollst. Du wirst zweifeln, ob du deinem Herzen folgen oder dich auf deine Pflicht besinnen sollst. Du wirst Fragen haben, auf die dir die Götter keine Antwort geben – oder zumindest nicht gleich. An Geld wird es dir jedoch nie mangeln.«

Anchesenamun saß wie erstarrt und versuchte, sich alles zu merken, obwohl ihr einige Zweifel gekommen waren. Ob die Alte überhaupt die Gabe des Zweiten Gesichts hatte? Aber sie hatte Verschiedenes gesagt, das wahr war. Sie hatte gewusst, dass Anchesenamun und Selket Milchschwestern waren. Und dass Anchesenamun reich war …

Konnte man das nicht leicht an der Kleidung erkennen? Wer einen Blick dafür hatte, sah solche Dinge sofort. Das alles musste gar nichts heißen …

Die Alte presste die Hand ins Kreuz und stand mühsam auf. »Und nun schneidet ein wenig Gras für die Ziegen, wie ihr es mir versprochen habt.« Sie deutete auf eine verbeulte Sichel mit einem langen Holzgriff, die an der Wand hing.

»Vielen Dank für Eure Mühe«, sagte Selket, kam auf die Füße und nahm die Sichel von der Wand.

»Ich danke Euch auch«, sagte Anchesenamun. Als sie sah, dass Selket die letzte Muschelkette aus ihrem Korb holte und die Alte damit für ihre Dienste bezahlen wollte, streifte sie rasch einen dünnen Goldreif von ihrem Handgelenk und hielt ihn der Alten hin.

»Bitte, nehmt diesen Armreif als Zeichen unserer Dankbarkeit.«

Die Alte zögerte, doch dann griff sie danach. »Danke für deine großzügige Gabe, sie wird mir das Leben ein wenig erleichtern.«

Sie legte den Armreif in ein kleines Kästchen, griff nach einem Krug und humpelte zur Tür hinaus, ohne sich noch einmal nach den Mädchen umzusehen.

Anchesenamun und Selket folgten ihr ins Freie. Anchesenamun war heilfroh, wieder im hellen Sonnenlicht zu stehen und der düsteren Atmosphäre in der Hütte entronnen zu sein. Die Alte hinkte mühsam zu ihrem Pferch, zog einen Holzschemel heran und versuchte unter Stöhnen und Ächzen, die Ziegen zu melken. Anchesenamun, die am Zaun lehnte, merkte, wie die Alte mit sich selbst redete. Sie verstand nur einige Worte, alles andere war undeutliches Gebrabbel.

»… mir verzeihen … nicht die ganze Wahrheit … zu schrecklich …«

Anchesenamun wurde blass. Bezog sich das Gemurmel auf die Prophezeiung? Was hatte die Alte ihnen verschwiegen? Sie hatte keine Gelegenheit mehr, darüber nachzugrübeln, denn Selket zog sie am Arm.

»Komm!«

Selket und Anchesenamun gingen schweigend nebeneinander her. An einem Feld machten sie halt. Selket begann, mit der Sichel das Gras am Feldrand abzuschneiden. Anchesenamun bückte sich und sammelte die abgeschnittenen Halme ein. Schließlich hatte sie die Arme voll.

»Ich glaube, das reicht vorerst, Selket. Lass uns zurückgehen, damit ich endlich dieses Gras loswerde.«

»Und ich die Sichel.« Selket kicherte.

Sie kehrten um. Während Anchesenamun das Gras im Pferch ausbreitete, brachte Selket die Sichel zurück und holte den Korb, den sie in der Hütte der Seherin zurückgelassen hatte. Die Alte war nirgends zu sehen.

Anchesenamun deutete auf den Korb. »Sieh lieber nach, ob noch alles drin ist, was du gekauft hast.«

Selket runzelte die Stirn. »Du meinst, sie hat vielleicht etwas … gestohlen?«

»Kann doch sein. Gelegenheit dazu hatte sie ja.«

Selket bückte sich und untersuchte den Korb. »Es fehlt nichts.«

»Umso besser.« Anchesenamun zupfte einige Grashalme von ihrem Gewand. »Lass uns nach Hause gehen, Selket. Diese Hütte ist mir irgendwie unheimlich.«

»Duamutef hat gestern Abend nach dir gefragt«, erzählte Selket auf dem Rückweg.

Anchesenamun fühlte, wie ihr Herz schneller schlug. »Ich habe ihn schon lange nicht mehr gesehen. Eine Ewigkeit.«

»Er geht früh zur Arbeit und kommt spät heim. Manchmal schlafe ich schon, wenn er kommt. Seine Arbeit ist sehr anstrengend. Gestern wäre fast ein Pferd gestorben, aber er konnte es retten.«

»Richte ihm bitte Grüße von mir aus, wenn du ihn das nächste Mal triffst«, bat Anchesenamun. Sie ertappte sich bei dem Wunsch, Duamutef noch einmal sehen und ungestört mit ihm reden zu können, bevor der Pharao nach Waset zurückkehrte.

 Papyrus 2 

Ob die Seherin die Wahrheit gesagt hat? Und was hat sie damit gemeint, dass mein Weg zum Glück weit sei? Was hat sie uns möglicherweise verschwiegen?

Ich bin beunruhigt … Vielleicht hätten wir die Seherin lieber doch nicht aufsuchen sollen. Aber jetzt ist es zu spät, es ist geschehen.

Noch etwas anderes beschäftigt mich. Ich muss ständig an Duamutef denken. Vielleicht liegt es daran, dass der Pharao bald zurückkommt und sich mein Leben dann verändern wird. Ich werde weniger Freiheiten haben als früher. Wahrscheinlich werde ich den Palast nicht mehr verlassen können, wann ich will, sondern ich werde mich nach Tuts Tagesablauf richten müssen. Meine Kindheit ist vorbei, ich werde eine erwachsene Frau sein mit all ihren Pflichten.

Ist das, was ich heute getan habe, richtig? Aber eigentlich ist doch nichts dabei … Ich habe einen Diener beauftragt, Duamutef eine Nachricht zu überbringen. Er ist zu den königlichen Pferdeställen gelaufen, hat einen Moment abgewartet, in dem Duamutef allein war, und ihm dann ausgerichtet, dass ich ihn treffen möchte. Wir haben uns für morgen Abend am Nil verabredet, dort, wo die wilden Schwäne ihren Badeplatz haben. Ich weiß nicht, warum ich Selket nicht eingeweiht habe. Sie hätte ihrem Bruder ja auch die Nachricht ausrichten können … Wahrscheinlich will ich nicht, dass sie über unser Treffen spekuliert und irgendetwas hineininterpretiert, was gar nicht da ist. Ist es denn so ungewöhnlich, dass ich Duamutef noch einmal sehen will? Er ist wie ein Bruder für mich!

Letzte Nacht habe ich geträumt, dass der Pharao zurückkommt. Ich stand mit vielen anderen Menschen an der Straße und wartete auf den Prunkzug. Endlich kam der goldene Streitwagen, der von vier weißen Pferden gezogen wurde. Tut stand aufrecht in seinem Wagen und lenkte die Pferde. Er trug die Krone Ober- und Unterägyptens, die Symbole der Macht. Der Wagen funkelte in der Sonne. Die Menge jubelte dem König zu. Auch ich hob die Hand, um zu winken. Da wandte Tutanchamun den Kopf und sah mich an. Aber es war nicht Tut, sondern Duamutef!

Ich bin verwirrt aufgewacht. Den ganzen Tag über musste ich an diesen Traum denken. Was hat er zu bedeuten?

2. Kapitel Das Treffen am Nil

Duamutef war zu früh zum Treffpunkt gekommen, Anchesenamun war noch nicht da. Es war schon dunkel, nur die Mondsichel spendete etwas Licht. Duamutef war nervös. Würde sie wirklich kommen oder würde sie ihn versetzen?

Er setzte sich unter eine Sykomore und lehnte seinen Rücken gegen den wuchtigen Stamm. Seine Augen hatten sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt, so dass er die Schatten der wilden Schwäne erkennen konnte, die sich am Nilufer niedergelassen hatten. Es waren drei Stück, alle hatten den Kopf unters Gefieder gesteckt und schliefen einen unruhigen Schlaf, bereit, beim ersten Anzeichen einer Gefahr zu fliehen.

Duamutef schnupperte an seinen Händen. Rochen sie noch nach Pferd, und würde sich Anchesenamun davon abgestoßen fühlen? Duamutef hatte sich inzwischen so an den Geruch, der in den Pferdeställen herrschte, gewöhnt, dass er ihn nicht mehr als unangenehm empfand. Es war der Duft lebendiger, temperamentvoller Tiere. Er hatte sie in sein Herz geschlossen. Einige Pferde erwiderten seine Zuneigung und zeigten ihm deutlich, dass sie ihn mochten. Sie begrüßten ihn mit einem leisen Wiehern, wenn er morgens in die Ställe kam, oder sie prusteten ihm ins Haar, wenn er ihr Fell bürstete, bis es glänzte.

Nur Imara machte wegen des Geruchs, der an ihm haftete, immer so einen Aufstand. Wahrscheinlich fürchtete seine Mutter sich vor Pferden, sie waren ihr zu groß und wild. Duamutef wusste, dass es ihr lieber gewesen wäre, wenn er Schreiber geworden wäre, das war ein angesehener Beruf. Doch er war eher praktisch veranlagt, schon als kleiner Junge. Er hasste es, stundenlang still zu sitzen, Hieroglyphen in Wachstäfelchen zu kritzeln und die Schriftzeichen so lange zu üben, bis sie ihm mühelos von der Hand gingen. Viel lieber war er in der freien Natur unterwegs, übte sich mit dem Wurfholz und versuchte, die einzelnen Pflanzen und Kräuter voneinander zu unterscheiden und ihren Namen kennenzulernen. Wenn er ein junges oder verletztes Tier fand, nahm er es mit nach Hause, pflegte es und versuchte, sein Vertrauen zu gewinnen. Er hatte schon Entenküken aufgezogen, die ihm in der Anfangszeit hinterherliefen, als sei er ihre Mutter; er hatte ständig aufpassen müssen, auf keines draufzutreten. Als die Enten herangewachsen waren, hatte es ihm fast das Herz gebrochen, als Imara ihnen den Hals umdrehte, um eine schmackhafte Mahlzeit zuzubereiten.

Anchesenamun hatte Duamutef auf seinen Streifzügen oft begleitet. Sie war wissensdurstig und sehr interessiert an den Vorgängen, die sich in der Natur abspielten. Sie hatten gemeinsam beobachtet, wie Katzen sich paarten, und sie hatten die Verstecke entdeckt, wo die Tiere ihre Jungen zur Welt brachten und aufzogen. Stundenlang konnten sie den Katzen zusehen, wie diese ihren Kleinen das Jagen lehrten und sie mit Liebe, aber auch Strenge erzogen.

Duamutef wiederum hatte begierig gelauscht, wenn Anchesenamun vom Leben im Palast und von ihren Schwestern erzählte. Manchmal berichtete sie ihm auch von ihren Pflichten als kindliche Gattin des Pharaos.

In den letzten beiden Jahren war ihre Freundschaft nicht mehr so eng wie früher. Anchesenamun hatte sich deutlich vom Mädchen zur Frau entwickelt, was Duamutef manchmal verlegen machte und ihren Begegnungen die Unschuld nahm.