E.T.A. Hoffmann


Meister Floh


ein Märchen in sieben Abenteuern zweier Freunde

Impressum




Klassiker als ebook herausgegeben bei RUTHeBooks, 2016


ISBN: 978-3-95923-171-8


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Siebentes Abenteuer



Feindliche Nachstellungen der verbündeten Mikroskopisten nebst ihrer fortwährenden Dummheit. Neue Prüfungen des Herrn Peregrinus Tyß und neue Gefahren des Meisters Floh. Röschen Lämmerhirt. Der entscheidende Traum und Schluß des Märchens.

Fehlt es auch über den eigentlichen Ausgang des Kampfs in Leuwenhoeks Zimmer gänzlich an bestimmten Nachrichten, so steht doch nichts anders zu vermuten, als daß die beiden Mikroskopisten mit Hilfe des jungen Herrn George Pepusch einen vollständigen Sieg über die bösen feindlichen Gesellen erfochten haben mußten. Unmöglich hätte sonst der alte Swammer bei seiner Rückkehr so freundlich, so vergnügt sein können, als er es wirklich war. Mit derselben frohen freudigen Miene trat Swammer oder vielmehr Herr Johannes Swammerdamm am andern Morgen hinein zu Herrn Peregrinus, der noch im Bette lag und mit seinem Schützling, dem Meister Floh, in tiefem Gespräch begriffen war.

Peregrinus unterließ nicht, sogleich, als er den Herrn Swammerdamm erblickte, sich das mikroskopische Glas in die Pupille werfen zu lassen.

Nach vielen langen und ebenso langweiligen Entschuldigungen seines zu frühzeitigen Besuchs nahm endlich Swammerdamm Platz dicht an Peregrinus' Bett. Durchaus wollte der Alte nicht zugeben, daß Peregrinus aufstehe und den Schlafrock umwerfe.

In den wunderliebsten Redensarten dankte der Alte dem Peregrinus für die großen Gefälligkeiten, die er ihm erwiesen, und die darin bestehen sollten, daß er ihn nicht allein als Mietsmann in sein Haus aufgenommen, sondern auch erlaubt, daß der Hausstand durch ein junges, bisweilen etwas zu lebhaftes und zu lautes Frauenzimmer vermehrt worden. Ferner aber müsse er die größte Gefälligkeit darin finden, daß Peregrinus, nicht ohne selbst Opfer zu bringen, seine (des Alten) Versöhnung mit dem alten Freunde und Kunstkollegen Anton von Leuwenhoek bewirkt habe. So wie Swammerdamm erzählte, hatten sich beider Herzen in dem Augenblick zueinander hingeneigt, als sie von dem schönen Geist und dem Bartscherer überfallen wurden und die schöne Dörtje Elverdink retten mußten vor den bösen Unholden. Die förmliche ernstliche Versöhnung der Entzweiten war dann bald darauf erfolgt.

Leuwenhoek hatte den günstigen Einfluß, den Peregrinus auf beide gehabt, ebensogut erkannt als Swammerdamm, und der erste Gebrauch, den sie von dem wiederhergestellten Freundschaftsbunde machten, bestand darin, daß sie gemeinschaftlich das seltsam und wunderbar verschlungene Horoskop des Herrn Peregrinus Tyß betrachteten und soviel als möglich zu deuten suchten.

"Was," so sprach Herr Johannes Swammerdamm, "was meinem Freunde Anton von Leuwenhoek allein nicht gelang, das brachten unsere gemeinschaftlichen Kräfte zustande, und so war dieses Experiment das zweite, welches wir trotz aller Hindernisse, die sich uns entgegenstemmten, mit dem glänzendsten Erfolg unternahmen."

"Der alberne kurzsichtige Tor," lispelte Meister Floh, der dicht neben Peregrinus' Ohr auf dem Kopfkissen saß, "noch immer glaubt er, daß durch ihn Prinzessin Gamaheh belebt worden ist. Fürwahr, ein schönes Leben ist das, zu dem die Ungeschicklichkeit der blöden Mikroskopisten die Ärmste gezwungen!"

"Mein bester," fuhr Swammerdamm fort, der den Meister Floh um so weniger vernommen, als er gerade stark zu niesen genötigt, "mein bester, vortrefflichster Herr Peregrinus Tyß, Sie sind ein von dem Weltgeist ganz besonders Erkorner, ein Schoßkind der Natur; denn Sie besitzen den wunderbarsten, mächtigsten Talisman oder, um richtiger und wissenschaftlicher zu sprechen, das herrlichste Tsilmenaja oder Tilsemoht, das jemals, getränkt von dem Tau des Himmels, aus dem Schoß der Erde hervorgegangen. Es macht meiner Kunst Ehre, daß ich und nicht Leuwenhoek es herausgebracht, daß dieses glückliche Tsilmenaja von dem Könige Nacrao abstammt, der lange vor der Sündflut in Ägypten herrschte. Doch die Kraft des Talismans ruht zurzeit, bis eine gewisse Konstellation eintritt, die ihren Mittelpunkt in Ihrer werten Person findet. Mit Ihnen selbst, bester Herr Tyß, muß und wird sich etwas ereignen, das Ihnen in demselben Augenblick, als die Kraft des Talismans erwacht ist, auch dieses Erwachen erkennen läßt. Mag Ihnen Leuwenhoek über diesen schwierigsten Punkt des Horoskops gesagt haben, was er will, alles ist erlogen, denn er wußte über jenen Punkt so lange nicht das mindeste, bis ich ihm die Augen geöffnet. Vielleicht hat Ihnen, bester Herr Tyß, mein lieber Herzensfreund sogar bange machen wollen vor irgendeiner bedrohlichen Katastrophe; denn ich weiß, er liebt es, Leuten unnützerweise Schrecken einzujagen; doch, trauen Sie Ihrem Sie verehrenden Mietsmann, der, Hand aufs Herz, Ihnen schwört, daß Sie durchaus nichts zu befürchten haben. Gern möchte ich aber denn doch wissen, ob Sie zurzeit den Besitz des Talismans gar nicht verspüren, und was Sie über die ganze Sache überhaupt zu denken belieben?"

Swammerdamm sah bei den letzten Worten mit giftigem Lächeln dem Herrn Peregrinus so scharf ins Auge, als wolle er seine tiefsten Gedanken durchschauen; das konnte ihm aber freilich nicht so gelingen als dem Peregrinus mit seinem mikroskopischen Glase. Mittelst dieses Glases erfuhr Peregrinus, daß nicht sowohl die gemeinschaftliche Bekämpfung des schönen Geistes und des Bartscherers als eben jenes geheimnisvolle Horoskop die Versöhnung der beiden Mikroskopisten herbeigeführt. Der Besitz des mächtigen Talismans, das war es nun, wornach beide strebten. Swammerdamm war, was den gewissen geheimnisvoll verschlungenen Knoten im Horoskop des Herrn Peregrinus betrifft, ebenso in verdrießlicher Dummheit verblieben als Leuwenhoek, doch meinte er, daß in Peregrinus' Innerm durchaus die Spur liegen müsse, die zur Entdeckung jenes Geheimnisses führe. Diese Spur wollte er nun geschickt aus dem Unwissenden herauslocken und ihn dann mit Leuwenhoeks Hilfe um den Besitz des unschätzbaren Kleinods bringen, noch ehe er dessen Wert erkannt. Swammerdamm war überzeugt, daß der Talisman des Herrn Peregrinus Tyß ganz dem Ringe des weisen Salomo gleich zu achten, da er wie dieser dem, der ihn besitze, die vollkommene Herrschaft über das Geisterreich verleihe.

Peregrinus vergalt Gleiches mit Gleichem, indem er den alten Herrn Swammerdamm, der ihn zu mystifizieren sich mühte, selbst mystifizierte. Geschickt wußte er in solchen verblümten Redensarten zu antworten, daß Swammerdamm befürchten mußte, die Weihe habe bereits begonnen, und ihm werde sich bald das Geheimnis erschließen, das zu enthüllen keiner von beiden, weder er noch Leuwenhoek, vermocht.

Swammerdamm schlug die Augen nieder, räusperte sich und stotterte unverständliche Worte heraus; der Mann befand sich wirklich in gar übler Lage, seine Gedanken schnurrten beständig durcheinander: "Teufel, was ist denn das, ist das der Peregrinus, der zu mir spricht? Bin ich der gelehrte weise Swammerdamm oder ein Esel!"

Ganz verzweifelt raffte er sich endlich zusammen und begann: "Doch von etwas anderem, verehrtester Herr Tyß, von etwas anderem und, wie es mir vorkommen will, von etwas Schönem und Erfreulichem!"

Sowie Swammerdamm nun weiter sprach, hatte er sowohl als Leuwenhoek mit großer Freude die innige Zuneigung der schönen Dörtje Elverdink zu dem Herrn Peregrinus Tyß entdeckt. War nun auch sonst jeder anderer Meinung gewesen, indem jeder geglaubt, Dörtje müsse bei ihm bleiben, und an Liebe und Heirat sei gar nicht zu denken, so hatten sie sich doch jetzt eines Bessern überzeugt. In Peregrinus' Horoskop meinten sie nämlich zu lesen, daß er durchaus die schöne anmutige Dörtje Elverdink zu seiner Gemahlin erkiesen müsse, um das für alle Konjunkturen seines ganzen Lebens Ersprießlichste zu tun. Beide zweifelten nicht einen Augenblick, daß Peregrinus nicht in gleicher glühender Liebe zur holden Kleinen befangen sein solle, und hielten daher die Angelegenheit für völlig abgeschlossen. Swammerdamm meinte noch, daß Herr Peregrinus Tyß überdem der einzige sei, der seine Nebenbuhler ohne alle Mühe aus dem Felde schlagen könne, und daß selbst die bedrohlichsten Gegner, wie z.B. der schöne Geist und der Bartscherer, gar nichts gegen ihn ausrichten würden.

Peregrinus erkannte aus Swammerdamms Gedanken, daß die Mikroskopisten wirklich in seinem Horoskop die unabänderliche Notwendigkeit seiner Vermählung mit der kleinen Dörtje Elverdink gefunden zu haben glaubten. Nur dieser Notwendigkeit wollten sie nachgeben und selbst aus Dörtjes scheinbarem Verlust den größten Gewinn ziehen, nämlich den Herrn Peregrinus Tyß selbst einfangen mitsamt seinem Talisman.

Man kann denken, wie wenig Vertrauen Peregrinus zu der Weisheit und Wissenschaft der beiden Mikroskopisten haben mußte, da beide den Hauptpunkt des Horoskops nicht zu enträtseln vermochten. Gar nichts gab er daher auf jene angebliche Konjunktur, die die Notwendigkeit seiner Vermählung mit der schönen Dörtje bedingen sollte, und es wurde ihm nicht im mindesten schwer, ganz bestimmt und fest zu erklären, daß er auf Dörtjes Hand verzichtet, um seinen besten innigsten Freund, den jungen George Pepusch, der ältere und bessere Ansprüche auf den Besitz des holden Wesens habe, nicht zu kränken, und daß er unter keiner Bedingung der Welt sein gegebenes Wort brechen werde.

Herr Swammerdamm schlug die graugrünen Katzenaugen, die er so lange zu Boden gesenkt, auf, glotzte den Peregrinus mächtig an und lächelte wie die Fuchsschlauheit selbst.

Sei, meinte er dann, der Freundschaftsbund mit George Pepusch der einzige Skrupel, der den Peregrinus abhalte, seinen Gefühlen freien Raum zu gönnen, so sei derselbe in diesem Augenblick gehoben; denn eingesehen habe Pepusch, unerachtet er an einigem Wahnsinn leide, daß seiner Vermählung mit Dörtje Elverdink die Konstellation der Gestirne entgegen sei, und daß daraus nichts entstehen könne als nur Unglück und Verderben; deshalb habe Pepusch allen Ansprüchen auf Dörtjes Hand entsagt und nur erklärt, daß er mit seinem Leben die Schönste, die niemanden angehören könne als seinem Herzensfreunde Tyß, verteidigen wolle gegen den ungeschickten Tölpel von schönem Geist und gegen den blutgierigen Bartkratzer.

Den Peregrinus durchfuhren eiskalte Schauer, als er aus Swammerdamms Gedanken erkannte, daß alles wahr, was er gesprochen. Übermannt von den seltsamsten widersprechendsten Gefühlen, sank er zurück in die Kissen und schloß die Augen.

Herr Swammerdamm lud den Peregrinus dringendst ein, sich herabzubegeben und selbst aus Dörtjes, aus Georges Munde die jetzige Lage der Dinge zu vernehmen. Dann empfahl sich derselbe auf ebenso weitläuftige und zeremoniöse Weise, wie er gekommen.

Meister Floh, der die ganze Zeit über ruhig auf dem Kopfkissen gesessen, sprang plötzlich hinauf bis zum Zipfel der Nachtmütze des Herrn Peregrinus. Da erhob er sich hoch auf den langen Hinterbeinen, rang die Hände, streckte sie flehend zum Himmel empor und rief mit von bitteren Tränen halberstickter Stimme: "Weh mir Ärmsten! Schon glaubte ich geborgen zu sein, und erst jetzt kommt die gefährlichste Prüfung! Was hilft aller Mut, alle Standhaftigkeit meines edlen Beschützers, wenn sich alles, alles gegen mich auflehnt! Ich gebe mich! Es ist alles aus!"

"Was," sprach Herr Peregrinus mit matter Stimme, "was lamentiert Ihr so auf meiner Nachtmütze, lieber Meister? Glaubt Ihr denn, daß Ihr allein zu klagen habt, daß ich mich selbst nicht auch in dem miserabelsten Zustande von der Welt befinde, da ich in meinem ganzen Wesen ganz zerrüttet und verstört bin und nicht weiß, was ich anfangen, ja, wohin ich meine Gedanken wenden soll? Glaubt aber nicht, lieber Meister Floh, daß ich töricht genug sein werde, mich in die Nähe der Klippe zu wagen, an der ich mit all meinen schönen Vorsätzen und Entschlüssen scheitern kann. Ich werde mich hüten, Swammerdamms Einladung zu folgen und die verführerische Dörtje Elverdink wiederzusehen."

"In der Tat," erwiderte Meister Floh, nachdem er wieder den alten Platz auf dem Kopfkissen neben dem Ohr des Herrn Peregrinus Tyß eingenommen, "in der Tat, ich weiß nicht, ob ich, so sehr es mir verderblich scheint, Euch doch nicht gerade raten sollte, sogleich zu Swammerdamm hinunterzugehen. Es ist mir, als wenn die Linien Eures Horoskops jetzt immer schneller und schneller zusammenliefen und Ihr selbst im Begriff ständet, in den roten Punkt zu treten. Mag nun das dunkle Verhängnis beschlossen haben, was es will, ich sehe ein, daß selbst ein Meister Floh solchem Beschluß nicht zu entgehen vermag, und daß es ebenso albern als unnütz sein würde, von Euch meine Rettung zu verlangen. Geht hin, seht sie, nehmt ihre Hand, überliefert mich der Sklaverei, und damit alles geschehe, wie es die Sterne wollen, ohne daß Fremdes sich einmische, so macht auch keinen Gebrauch von dem mikroskopischen Glase."

"Scheint," sprach Peregrinus, "scheint doch sonst, Meister Floh, Euer Herz stark, Euer Geist fest, und doch seid Ihr jetzt so kleinmütig, so verzagt! Aber möget Ihr sonst auch so weise sein, wie Ihr wollt, ja, mag Clemens des Siebenten hochberühmter Nuntius Rorar Euren Verstand weit über den unsrigen setzen, so habt Ihr doch keinen sonderlichen Begriff von dem festen Willen des Menschen und schlagt ihn wenigstens viel zu geringe an. Noch einmal! Ich breche nicht mein Euch gegebenes Wort, und damit Ihr sehet, wie es mein fester Entschluß ist, die Kleine nicht wiederzusehen, werde ich jetzt aufstehen und mich, wie ich es mir schon gestern vorgenommen, zum Buchbinder Lämmerhirt begeben."

"O Peregrinus," rief Meister Floh, "des Menschen Wille ist ein gebrechliches Ding, oft knickt ihn ein daherziehendes Lüftchen. Welch eine Kluft liegt zwischen dem, was man will, und dem, das geschieht! Manches Leben ist nur ein stetes Wollen, und mancher weiß vor lauter Wollen am Ende selbst nicht, was er will. Ihr wollt Dörtje Elverdink nicht wiedersehen, und wer steht Euch dafür, daß es geschieht in dem nächsten Augenblick, da Ihr diesen Entschluß ausgesprochen?"

Seltsam genug war es wohl, daß wirklich sich begab, was Meister Floh mit prophetischem Geiste vorausgesagt.

Peregrinus stand nämlich auf, kleidete sich an und wollte, seinem Vorsatz getreu, zum Buchbinder Lämmerhirt gehen; als er indessen bei Swammerdamms Zimmer vorbeikam, wurde die Türe weit geöffnet, und Peregrinus wußte selbst gar nicht, wie es geschah, daß er plötzlich an Swammerdamms Arm mitten im Zimmer dicht vor Dörtje Elverdink stand, die ganz fröhlich und unbefangen ihm hundert Küsse zuwarf und mit ihrem silbernen Glockenstimmlein freudig rief: "Guten Morgen, mein herzlieber Peregrinus!"

Wer sich aber noch in dem Zimmer befand, das war Herr George Pepusch, der zum offnen Fenster hinausguckte und ein Liedchen pfiff. Jetzt warf er das Fenster heftig zu und drehte sich um. "Ach, sieh da," rief er, als gewahre er jetzt erst den Freund Peregrinus, "ach, sieh da! Du besuchst deine Braut, das ist in der Ordnung und jeder Dritte dabei nur lästig. Ich werde mich darum auch gleich fortpacken; doch zuvor laß es dir sagen, mein guter Freund Peregrinus, daß George Pepusch jede Gabe verschmäht, die der barmherzige Freund ihm gleich dem armen Sünder hinwirft wie ein Almosen! Verwünscht sei deine Aufopferung, ich will dir nichts zu verdanken haben. Nimm sie hin, die schöne Gamaheh, die dich so innig liebt, aber hüte dich, daß die Distel Zeherit nicht Wurzel faßt und die Mauern deines Hauses zersprengt."

Georges Ton und ganzes Betragen grenzte an renommistische Brutalität, und Peregrinus wurde von dem tiefsten Unmut erfüllt, als er gewahrte, wie sehr ihn Pepusch in seinem ganzen Beginnen mißverstanden. "Nie," sprach er, ohne jenen Unmut zu bergen, "nie ist es mir in den Sinn gekommen, dir in den Weg zu treten; der Wahnsinn eifersüchtiger Verliebtheit spricht aus dir, sonst würdest du bedenken, wie schuldlos ich an allem bin, was du in deiner eignen Seele ausgebrütet. Verlange nicht, daß ich die Schlange töten soll, die du zu deiner Selbstqual nährst in deiner Brust! Und daß du es nur weißt, dir warf ich keine Gabe hin, dir brachte ich kein Opfer, als ich der Schönsten, vielleicht dem höchsten Glück meines Lebens entsagte. Andere, höhere Pflichten, ein unwiderrufliches Wort zwangen mich dazu!"

Pepusch ballte in wildem Zorn die Faust und erhob sie gegen den Freund. Da sprang aber die Kleine zwischen die Freunde und faßte die Hand des Peregrinus, indem sie lachend rief: "Laß doch nur die geckische Distel laufen, sie hat nichts als wirres Zeug im Kopfe und ist, wie es Distelart ist, starr und störrisch, ohne zu wissen, was sie eigentlich will; du bist mein und bleibst es auch, mein süßer herzlieber Peregrinus!"

Damit zog die Kleine den Peregrinus auf das Kanapee und setzte sich ohne weitere Umstände auf seinen Schoß. Pepusch rannte, nachdem er sich die Nägel sattsam zerkaut, wild zur Türe hinaus.

Die Kleine, wiederum in das fabelhafte verführerische Gewand von Silberzindel gekleidet, war ebenso anmutig, ebenso ganz Liebreiz als sonst; Peregrinus fühlte sich durchströmt von der elektrischen Wärme ihres Leibes, und doch wehten ihn dazwischen eiskalte unheimliche Schauer an wie Todeshauch. Zum erstenmal glaubte er tief in den Augen der Kleinen etwas seltsam Lebloses, Starres zu gewahren, und der Ton ihrer Stimme, ja selbst das Rauschen des wunderlichen Silberzindels schien ein fremdartiges Wesen zu verraten, dem nimmermehr zu trauen. Es fiel ihm schwer aufs Herz, daß damals, als Dörtje gerade so gesprochen, wie sie gedacht, sie auch in Zindel gekleidet gewesen; warum er gerade den Zindel bedrohlich fand, wußte er selbst nicht; aber die Gedanken von Zindel und unheimlicher Wirtschaft verbanden sich von selbst miteinander, so wie ein Traum das Heterogenste vereint und man alles für aberwitzig erklärt, dessen tiefern Zusammenhang man nicht einzusehen vermag.

Peregrinus, weit entfernt, das kleine süße Ding zu kränken mit etwa falschem Verdacht, unterdrückte mit Gewalt seine Gefühle und wartete nur auf einen günstigen Moment, sich loszuwickeln und der Schlange des Paradieses zu entfliehen.

"Aber," sprach Dörtje endlich, "aber wie kommst du mir heute vor, mein süßer Freund, so frostig, so unempfindlich! Was liegt dir im Sinn, mein Leben?"

"Kopfschmerz," erwiderte Peregrinus so gleichmütig, als er es nur vermochte, "Kopfschmerz, Grillen, einfältige Gedanken, nichts anders ist es, das mich etwas verstört, mein holdes Kind. Laß mich ins Freie, und alles ist vorüber in wenigen Minuten; mich ruft ohnedies noch ein Geschäft."

"Es ist," rief die Kleine, indem sie rasch aufsprang, "es ist alles gelogen; aber du bist ein böser Affe, der erst gezähmt werden muß!"

Peregrinus war froh, als er sich auf der Straße befand; doch ganz ausgelassen freudig gebärdete sich Meister Floh, der in Peregrinus' Halsbinde unaufhörlich kicherte und lachte und die Vorderhände zusammenschlug, daß es hell klatschte.

Dem Peregrinus war diese Fröhlichkeit seines kleinen Schützlings etwas lästig, da sie ihn in seinen Gedanken störte. Er bat den Meister Floh ruhig zu sein, denn schon hätten ihn ernsthafte Leute mit Blicken voll Vorwurfs betrachtet, glaubend, er sei es, der so kichere und lache und närrische Streiche treibe auf öffentlicher Straße.

"O ich Tor," rief aber Meister Floh, in den Ausbrüchen seiner unmäßigen Freude beharrend, "o ich blödsinniger Tor, daß ich da an dem Siege zweifeln konnte, wo gar kein Kampf mehr vonnöten. Ja, Peregrinus, es ist nicht anders, gesiegt hattet Ihr in dem Augenblick, als selbst der Tod der Geliebten Euren Entschluß nicht zu erschüttern vermochte. Laßt mich jauchzen, laßt mich jubeln, denn alles müßte mich trügen, wenn nicht bald das helle Sonnenlicht aufgehen sollte, das alle Geheimnisse aufklärt."

Als Peregrinus an Lämmerhirts Türe pochte, rief eine sanfte weibliche Stimme: "Herein!" Er öffnete die Türe, ein Mädchen, die sich allein in der Stube befand, trat ihm entgegen und fragte ihn freundlich, was ihm zu Diensten stehe.

Mag es dem geneigten Leser genügen, wenn gesagt wird, daß das Mädchen ungefähr achtzehn Jahre alt sein mochte, daß sie mehr groß als klein und schlank im reinsten Ebenmaß der Glieder gewachsen war, daß sie hellbraunes Haar und dunkelblaue Augen und eine Haut hatte, die das zarte Flockengewebe schien von Lilien und Rosen. Mehr als alles dies wollte aber gelten, daß des Mädchens Antlitz jenes zarte Geheimnis jungfräulicher Reinheit, hohen himmlischen Liebreizes aussprach, wie es mancher alte deutsche Maler in seinen Gebilden erfaßt.

Sowie Peregrinus der holden Jungfrau ins Auge blickte, war es ihm, als habe er in schwerlastenden Banden gelegen, die eine wohltätige Macht gelöst, und der Engel des Lichts stehe vor ihm, an dessen Hand er eingehen werde in das Reich namenloser Liebeswonne und Sehnsucht. Das Mädchen wiederholte, indem sie, vor Peregrinus' starrem Blick errötend, sittsam die Augen niederschlug, die Frage, was dem Herrn beliebe. Mühsam stotterte Peregrinus heraus, ob der Buchbinder Lämmerhirt hier wohne. Als nun das Mädchen erwiderte, daß Lämmerhirt allerdings hier wohne, daß er aber in Geschäften ausgegangen, da sprach Peregrinus wirr durcheinander von Einbänden, die er bestellt, von Büchern, die Lämmerhirt ihm verschaffen sollen; zuletzt kam er etwas ins Geleise und gedachte der Prachtausgabe des Ariost, die Lämmerhirt in roten Maroquin binden sollen mit reicher goldner Verzierung. Da war es aber, als durchführe die holde Jungfrau ein elektrischer Funke; sie schlug die Hände zusammen und rief, Tränen in den Augen: "Ach Gott! Sie sind Herr Tyß!"

Sie machte eine Bewegung, als wolle sie Peregrinus' Hand ergreifen, trat aber schnell zurück, und ein tiefer Seufzer schien die volle Brust zu entlasten. Dann überstrahlte ein anmutiges Lächeln der Jungfrau Antlitz wie liebliches Morgenrot, und sie ergoß sich nun in Dank und Segenswünsche dafür, daß Peregrinus des Vaters, der Mutter Wohltäter sei, daß nicht dies allein, nein! Seine Milde, seine Freundlichkeit, die Art, wie er noch zu vorigen Weihnachten die Kinder beschenkt und Freude und Fröhlichkeit verbreitet, ihnen den Frieden, die Heiterkeit des Himmels gebracht. Sie räumte schnell des Vaters Lehnstuhl ab, der mit Büchern, Skripturen, Heften, ungebundenen Drucken bepackt war, rückte ihn heran und lud mit anmutiger Gastlichkeit den Peregrinus ein, sich niederzulassen. Dann holte sie den sauber gebundenen Ariost hervor, fuhr mit einem leinenen Tuch leise über die Maroquinbände und überreichte das Meisterwerk der Buchbinderkunst dem Peregrinus mit leuchtenden Blicken, wohl wissend, daß Peregrinus der schönen Arbeit des Vaters seinen Beifall nicht versagen werde.

Peregrinus nahm einige Goldstücke aus der Tasche; die Holde, dies gewahrend, versicherte schnell, daß sie den Preis der Arbeit nicht wisse und daher keine Bezahlung annehmen könne, Herr Peregrinus möge es sich aber gefallen lassen, einige Augenblicke zu verweilen, da der Vater gleich zurückkommen müsse. Dem Peregrinus war es, als schmölze das nichtswürdige Metall in seiner Hand in einen Klumpen zusammen, er steckte die Goldstücke schneller wieder ein, als er sie hervorgeholt. Das Mädchen griff jetzt, als Peregrinus sich mechanisch in Lämmerhirts breiten Lehnsessel niedergelassen, nach ihrem Stuhl; aus instinktmäßiger Höflichkeit sprang Herr Peregrinus auf und wollte den Stuhl heranrücken, da geschah es aber, daß er statt der Stuhllehne des Mädchens Hand erfaßte, und er glaubte, als er das Kleinod leise zu drücken wagte, einen kaum merkbaren Gegendruck zu fühlen.

"Kätzchen, Kätzchen, was machst du!" Mit diesen Worten wandte sich das Mädchen und hob ein Zwirnknäuel von dem Fußboden auf, das die Katze zwischen den Vorderpfoten hielt, ein mystisches Gewebe beginnend. Dann faßte sie mit kindlicher Unbefangenheit den Arm des in Himmelsentzücken versunkenen Peregrinus, führte ihn zum Lehnsessel und bat ihn nochmals, sich niederzulassen, indem sie selbst sich ihm gegenübersetzte und irgendeine weibliche Arbeit zur Hand nahm.

Peregrinus schwankte im Sturm auf einem wogenden Meer. "O Prinzessin!" Das Wort entschlüpfte ihm, selbst wußte er nicht, wie es geschah. Das Mädchen schaute ihn ganz erschrocken an; da war es ihm, als habe er gegen die Holde gefrevelt, und er rief mit dem weichsten, wehmütigsten Ton: "Meine liebste, teuerste Mademoiselle!"

Das Mädchen errötete und sprach mit holder jungfräulicher Verschämtheit: "Die Eltern nennen mich Röschen, nennen Sie mich auch so, lieber Herr Tyß, denn ich gehöre ja auch zu den Kindern, denen Sie so viel Gutes erzeigt, und von denen Sie so hoch verehrt werden."

"Röschen!" rief Peregrinus ganz außer sich; er hätte der holden Jungfrau zu Füßen stürzen mögen, kaum hielt er sich zurück.

Röschen erzählte nun, indem sie ruhig fortarbeitete, wie seit der Zeit, als die Eltern durch den Krieg in die bitterste Dürftigkeit geraten, sie von einer Base in einem benachbarten kleinen Städtchen aufgenommen, wie diese Base vor wenigen Wochen gestorben, und wie sie dann zu den Eltern zurückgekehrt.

Peregrinus hörte nur Röschens süße Stimme, ohne viel von den Worten zu verstehen, und er überzeugte sich erst, daß er nicht selig träume, als Lämmerhirt ins Zimmer trat und ihn mit dem herzlichsten Willkommen begrüßte. Nicht lange dauerte es, so folgte auch die Frau mit den Kindern, und wie denn in des Menschen unergründlichem Gemüt Gedanken, Regungen, Gefühle in seltsamem bunten Gewirr durcheinanderlaufen, so geschah es, daß Peregrinus selbst in der Ekstase, die ihn einen nie geahnten Himmel schauen ließ, plötzlich daran dachte, wie der murrköpfische Pepusch sein Beschenken der Lämmerhirtschen Kinder getadelt. Es war ihm sehr lieb, auf Befragen zu vernehmen, daß keins von den Kindern sich den Magen am Naschwerk verdorben, und die freundlich feierliche Art, ja der gewisse Stolz, womit sie nach dem hohen Glasschrank, der das glänzende Spielzeug enthielt, heraufblickten, zeigte, daß sie die letzte Bescherung für etwas Außerordentliches hielten, das wohl niemals wiederkehren dürfte.

Die übelgelaunte Distel hatte also ganz unrecht.

"O Pepusch," sprach Peregrinus zu sich selbst, "dein verstörtes, zerrissenes Gemüt durchdringt kein reiner Lichtstrahl der wahrhaften Liebe!" Damit meinte Peregrinus nun wieder wohl mehr als ein beschertes Naschwerk und Spielzeug. Lämmerhirt, ein sanfter, stiller, frommer Mann, sah mit sichtlicher Freude auf Röschen, die geschäftig aus- und eingegangen, Butter und Brot herbeigebracht und nun an einem kleinen Tischchen in der entfernten Ecke des Zimmers dem Geschwister stattliche Butterstollen bereitete. Die muntern Jungen drängten sich dicht an die liebe Schwester, und wenn sie in verzeihlicher kindischer Begier das Maul etwas weiter aufsperrten, als gerade nötig, so tat das der häuslichen Idylle doch keinen sonderlichen Eintrag.

Den Peregrinus entzückte des holden Mädchens Beginnen, ohne daß ihm dabei Werthers Lotte und ihre Butterbrote in den Sinn kamen.

Lämmerhirt näherte sich dem Peregrinus und begann halb leise von Röschen zu reden, was sie für ein frommes gutes, liebes Kind sei, der der Himmel auch die Gabe äußerer Schönheit verliehen, und wie er nur Freude an dem holden Kinde zu erleben hoffe. Was, setzte er hinzu, indem sein Gesicht sich in Wonne verklärte, was ihm aber so recht im innersten Herzen wohl tue, sei, daß Röschen sich auch zur edlen Buchbinderkunst hinneige und seit den wenigen Wochen, während sie sich bei ihm befinde, in feiner zierlicher Arbeit ungemein viel profitiert habe, so daß sie bereits viel geschickter sei als mancher Lümmel von Lehrbursche, der Jahre hindurch Maroquin und Gold vergeude und die Buchstaben schief und krumm stelle, daß sie aussähen wie betrunkene Bauern, die aus der Schenke torkeln.

Ganz zutraulich flüsterte der entzückte Vater dem Peregrinus ins Ohr: "Es muß heraus, Herr Tyß, es drückt mir sonst das Herz ab, ich kann mir nicht helfen. Wissen Sie wohl, daß mein Röschen den Schnitt des Ariosto vergoldet hat?"

Sowie Peregrinus dies vernahm, griff er hastig nach den saubern Maroquinbänden, als müsse er sich des Heiligtums bemächtigen, ehe ein feindlicher Zufall es ihm raube. Lämmerhirt hielt das für ein Zeichen, daß Peregrinus fort wolle, und bat ihn, es sich noch einige Augenblicke in der Familie gefallen zu lassen. Eben dies erinnerte aber den Peregrinus, daß er doch endlich sich losreißen müsse. Er zahlte schnell die Rechnung, und Lämmerhirt reichte ihm wie gewöhnlich die Hand zum Abschiede, die Frau tat dasselbe und auch Röschen! Die Jungen standen in der öffnen Türe, und damit der Liebestorheit ihr Recht geschehe, riss Peregrinus im Hinausschreiten dem Jüngsten das Restchen Butterstolle aus der Hand, an dem er eben kaute, und rannte wie gehetzt die Treppe hinab.

"Nun, nun," sprach der Kleine ganz verdutzt, "was ist denn das? Hätt' es mir ja sagen können, der Herr Tyß, wenn er hungrig war, hätt' ihm ja gern meine ganze Stolle gegeben!"

Schritt vor Schritt ging Herr Peregrinus Tyß nach Hause, die schweren Quartanten mühsam unter dem Arm fortschleppend und mit verklärtem Blick einen Bissen des Butterstollenrestes nach dem andern auf die Lippe nehmend, als genösse er himmlisches Manna.

"Der ist nunmehro auch übergeschnappt!" sagte ein vorübergehender Bürger. Es war dem Mann nicht zu verdenken, daß er dergleichen von Peregrinus dachte.

Als Herr Peregrinus Tyß ins Haus trat, kam ihm die alte Aline entgegen und winkte mit Gebärden, die Angst und Besorgnis ausdrückten, nach dem Zimmer des Herrn Swammerdamm. Die Türe stand offen, und Peregrinus gewahrte Dörtje Elverdink, die erstarrt auf einem Lehnstuhl saß, und deren zusammengeschrumpftes Gesicht einer Leiche zu gehören schien, die bereits im Grabe gelegen. Ebenso erstarrt, ebenso leichenähnlich saßen vor ihr auf Lehnstühlen Pepusch, Swammerdamm und Leuwenhoek. "Ist das," sprach die Alte, "ist das eine tolle gespenstische Wirtschaft hier unten! So sitzen die drei unseligen Menschen schon den ganzen lieben Tag über und essen nichts und trinken nichts und reden nichts und holen kaum Atem!"

Dem Peregrinus wollte zwar ob des in der Tat etwas schauerlichen Anblicks halber einiges Entsetzen anwandeln, indessen wurde, indem er die Treppe hinaufstieg, das gespenstische Bild von dem wogenden Meer der Himmelsträume verschlungen, in dem der entzückte Peregrinus schwamm seit dem Augenblick, als er Röschen gesehen. Wünsche, Träume, selige Hoffnungen strömen gern über in das befreundete Gemüt; aber gab es für den armen Peregrinus jetzt ein anderes als das ehrliche des guten Meisters Floh? Dem wollte er nun sein ganzes Herz ausschütten, dem wollte er von Röschen alles erzählen, was sich eigentlich gar nicht so recht erzählen ließ. Doch er mochte so viel rufen, so viel locken, als er wollte, kein Meister Floh ließ sich sehen, er war auf und davon. In der Falte der Halsbinde, wo sonst Meister Floh bei Ausgängen sich beherbergt, fand Peregrinus bei sorgfältigerem Nachsuchen ein kleines Schächtelchen, worauf die Worte standen:

"Hierin befindet sich das mikroskopische Gedankenglas. Seht Ihr mit dem linken Auge scharf in die Schachtel hinein, so sitzt Euch das Glas augenblicklich in der Pupille; wollt Ihr es wieder heraushaben, so dürft Ihr nur, das Auge in die Schachtel hineinhaltend, die Pupille sanft drücken, und das Glas fällt auf den Boden der Schachtel. Ich arbeite in Euren Geschäften und wage viel dabei, doch für meinen lieben Schutzherrn tue ich alles als

Euer dienstwilligster
Meister Floh."