Leena Krohn
Emil und der Pelikanmann
Aus dem Finnischen von Elina Kritzokat
Mit Vignetten von Sabine Wilharm
Fischer e-books
Leena Krohn, geboren 1947, gilt als Grande Dame der finnischen Literatur und ist eine der bedeutendsten Gegenwartsautorinnen Nordeuropas. Sie arbeitete nach dem Studium der Philosophie, Psychologie und Literaturwissenschaft als Bibliotheksassistentin und lebt heute als freie Schriftstellerin in Helsinki und Pernaja. Zu ihrem umfangreichen Werk gehören Romane, Erzählungen, Essays, Gedichte, Kinder- und Jugendbücher sowie Hörspiele. Leena Krohns Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und mit vielen Literaturpreisen ausgezeichnet.
Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage, auch zu E-Book-Ausgaben, gibt es bei www.fischerverlage.de
Die Übersetzung wurde gefördert von FILI – Finnish Literature Exchance
Covergestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
Coverabbildung: Sabine Wilharm
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die finnische Originalausgabe erschien 1976 und 2004 unter dem Titel ›Ihmisen vaatteisen‹ beim Verlag Teos, Helsinki.
© Leena Krohn, 1976 und 2004
Published in agreement with Stilton Literary Agency
Das Gedichtzitat »Roll an, du tiefe dunkelblaue See, roll an!« ist aus:
Edgar Lee Masters, Die toten von Spoon River, Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar 1966
Für die deutschsprachige Ausgabe
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2013
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-401825-6
Solange
der Traum währt,
so lange
ist es kein Traum.
»Unter den Pflastersteinen liegt der Strand.«
In der Stadt gab es Berufe, von denen Emil vorher nie gehört hatte: Pyjamabüglerin, Kaltbuffet-Koch, Fräser, Portioniererin.
Seit ihrem Umzug glättete Emils Mutter jeden Tag von acht Uhr morgens bis vier Uhr nachmittags an einer Faltenpresse in einer großen Wäscherei Pyjamas. Dienstags und donnerstags putzte sie danach sogar noch Büros, und deshalb aß Emil an diesen Tagen in einer Gaststätte Nudelauflauf oder Rindfleischsuppe.
Die Gaststätte war nicht besonders gemütlich. Vor den Fenstern hingen orangefarbene Fischernetze, die Rohrstühle quietschten schrill auf dem Fußboden. Aber es war billig und in der Nähe von Emils Zuhause.
Eigentlich mochte Emil den Nudelauflauf lieber, doch an diesem Donnerstag gab es bloß Rindfleischsuppe. Draußen hatte der Regen aufgehört, drinnen roch es nach Bier, Zigaretten und nassem Hund. Emil setzte sich an einen Tisch am Fenster, wartete auf sein Essen und beobachtete dabei eine Wespe, die über das Blatt einer Plastikgeranie krabbelte.
»Ein elender Sommer«, sagte jemand am Nachbartisch.
Auf dem schmalen Sofa an der Wand saß ganz allein ein Mann und las Zeitung. Er hatte ein langes hervorstehendes Kinn und war ungewöhnlich blass. Auch an der Zeitung war etwas ungewöhnlich: Der Mann hielt sie falsch herum.
Die Kellnerin brachte die Suppe und verdeckte für einen Moment Emils Sicht, doch Emil reckte sich und ließ den Mann nicht aus den Augen. Er trug einen sauberen Anzug mit Krawatte, über der Stuhllehne hing ein Trenchcoat.
Aber war er wirklich ein Mann? Eine Frau war er mit Sicherheit auch nicht, doch im Grunde erinnerte er überhaupt nicht an einen Menschen. Er raschelte mit der Zeitung und schien sie eifrig zu lesen, hielt sie jedoch beharrlich verkehrt herum.
Emil presste sich die Papierserviette an die Lippen; er verspürte Grusel und Lachreiz zugleich: Hinter der Zeitung saß kein Mann, sondern ein riesiger Vogel! Dieser weiße, mit dem merkwürdigen Schnabel …
Richtig: ein Pelikan!
Emil sah sich um. Teilte denn niemand seine Entdeckung? Die müde aussehende Kellnerin wischte die Tische ab und rückte lautstark die Stühle zurecht. Am Ecktisch wurde herzhaft gelacht und geflucht, und aus der Jukebox plärrte eine gekünstelte Stimme:
»Vorbei ist nun die wilde Jugendzeit,
doch als Frau bin ich noch lange nicht bereit.«
Der Pelikan blätterte wieder geräuschvoll in seiner Zeitung und rührte in seinem Kaffee. Er schien ihm nicht sonderlich zu schmecken und musste schon ziemlich kalt sein.
Beim Schlürfen hob der Vogel seinen Kopf – und in diesem Moment blähte sich mit einem knarrenden Geräusch der Sack unter seinem Kinn. Der Vogel bat die Kellnerin mit einer Geste seines stoffbedeckten Flügels um die Rechnung. Seine Stimme war auffallend tief und ein wenig knurrig, doch die Kellnerin gab gleichmütig das Wechselgeld heraus und beachtete weder die merkwürdige Stimme noch die merkwürdige Gestalt des Gastes.
Auf die blonde Perücke, mit der der Vogel seinen Kopf bedeckte, setzte er jetzt noch einen grauen Filzhut, warf sich den Mantel um die nicht vorhandenen Schultern und spazierte zur Tür. Er trug sandfarbene Mokassins, die er bestimmt beim Schuster hatte anfertigen lassen – nirgendwo sonst in der Stadt bekäme man Schuhe, die vorn so rund und breit waren wie ein Ruder.
Emil wollte aufstehen und dem Vogel folgen, doch die gereizte Stimme der Kellnerin stoppte ihn.
»Halt! Du wirst doch wohl bezahlen? Hast wohl heute Feuer unterm Hintern, was?«
Die Männer am Ecktisch verstummten und drehten sich um. Genau da war auch das Lied aus der Jukebox zu Ende. In einer Stille, die wie eine ganze Kirche hallte, kramte Emil seinen Geldbeutel hervor und holte den einzigen Schein heraus. Seine Wangen waren feuerrot.
Während die Kellnerin noch Emils Wechselgeld abzählte, war der schon auf der Straße. Voller Furcht, den Vogel für immer aus den Augen verloren zu haben, spurtete er den Fabrikweg hinunter. Dann musste er eine Vollbremsung einlegen, um das Tier nicht umzurennen. Vor ihm stand der Pelikan in leicht gebeugter Haltung und begutachtete die Männerkleidung in einem Schaufenster. Wenig später verschwand sein wankender Rücken in der Tür des Geschäfts, und nun war es Emil, der sich die Handschuhe, Krawatten und Frackhemden ansah.
Als der Vogel wieder herauskam, sah er hochzufrieden aus – ein rotgrünkarierter Schal schlang sich mehrmals um seinen Hals. Allerdings passte das grelle Muster überhaupt nicht zum Rest der Kleidung. Emils Ansicht nach war der Pelikan sowieso schon auffällig genug, doch anscheinend mochte er leuchtende Farben.
Der Vogel ging zurück in die Richtung, aus der er gekommen war. Vorbei an der Gaststätte, über die Kreuzung, an der er vorbildlich den Zebrastreifen benutzte, und von da über den Parkplatz zu Emils Haus. Er öffnete die Tür zum Aufgang F und marschierte hinein.
Emil zählte bis zehn, dann folgte er ihm. Im Treppenhaus war nichts zu hören, aber die Fahrstuhlanzeige leuchtete. Der Vogel hielt ganz oben im siebten Stock. Wohnte er tatsächlich in Emils Haus, oder machte er hier nur einen Besuch?
In seinem Zimmer sah Emil sofort im Lexikon unter dem Stichwort Pelikan nach: Pelikane waren große, kräftig gebaute Schwarmvögel mit langen breiten Flügeln, kurzem Schwanz, Schwimmfüßen und einem langen Schnabel, an dessen Unterseite ein dehnbarer Hautsack zum Fischefangen hing. Sie waren in warmen und gemäßigten Erdteilen zu Hause und lebten an salzigen und süßen Gewässern. Ab und zu verirrten die Tiere sich auch in den Norden.
Da ging quietschend die Wohnungstür auf.
»Rate mal, was ich heute erlebt habe!«, rief Emil.
Seine Mutter sah müde aus, und in ihrer Stimme lag Gereiztheit:
»Warte doch wenigstens, bis ich die Jacke abgelegt habe.«
Stumm verschwand Emil in seinem Zimmer. Nach einer Weile erschien seine Mutter im Bademantel an der Tür, sie wollte duschen.
»Hast du gegessen?«
»Ja, es gab Suppe. Und weißt du, da war so ein Mann …«
»Und was ist mit dem Restgeld?«
Emil bekam einen Schreck und wühlte in seinen Taschen, obwohl er schon wusste, dass sie leer waren.
»Es gab keins.«
Stille. Seine Mutter wartete, dass er weiterredete, aber er schwieg.
»Wieso das? Ich habe dir doch zehn Mark gegeben, und es war schließlich nur Suppe.«
Emil schämte sich.
»Ich hab’s vergessen. Ich …«
»Das kann doch nicht wahr sein. Was hast du mit dem restlichen Geld angestellt?«
Seit sie umgezogen waren, ging es immer nur ums Geld. Und in ihrem alten Zuhause wohnte Emils Vater nun allein. Das neue konnte man ja nicht so nennen, es war nur eine Wohnung. Und jetzt musste Emil seiner Mutter erklären, warum er nicht mehr auf das Wechselgeld gewartet hatte, warum er es sogar vollkommen vergessen hatte. Ja, warum? Wegen eines Vogels, eines Pelikans, der in eine Gaststätte ging und Kaffee bestellte. Wie soll man so etwas erklären? Wo doch Pelikane nicht einmal Kaffee tranken!
»Ich habe es vergessen, weil dieser Mann da war, von dem ich dir erzählen wollte.«
»Was für ein Mann denn? Und was hat der mit dem Geld zu tun?«
»Er war einfach so merkwürdig, dass ich ihm gefolgt bin. Ich musste sehen, wohin er geht.«
»Das verstehe ich nicht.« Emils Mutter setzte sich mit einem Ächzer auf die Bettkante. »Du bist ihm gefolgt? Einem fremden Menschen?«
»Aber er ist gar kein Mensch, Mama, er ist ein Vogel!«
»Was redest du heute nur für einen Unsinn? Bist du etwa krank?«
Sie sah ihn ungläubig an, befühlte seine Stirn.
»Oder denkst du dir das mal eben so aus?«
»Ich denke mir das nicht aus, jetzt glaub mir doch. Er ist ein Vogel, ein Pelikan. Und er wohnt bei uns im Haus, im Aufgang F im siebten Stock! Er hat genau so einen Hautsack vorn am Schnabel wie auf dem Bild im Lexikon.«
»Was erzählst da du bloß?« Emils Mutter lachte. »Du meinst bestimmt Herrn Mietling. Und dem bist du durch die halbe Stadt gefolgt, statt an das Geld zu denken? Morgen gehst du gleich wieder in die Gaststätte und bittest um unser Wechselgeld.«
Sie ging ins Badezimmer und drehte den Wasserhahn der Badewanne auf. Emil trottete hinterher.
»Was für ein Herr Miezling? Miez-miez, komischer Name.«
»Er heißt Herr Mietling. Er ist den Sommer über der Untermieter von Frau Nickel, die ihre Tochter im Ausland besucht. Ein äußerst höflicher Mensch, hat mir die alte Frau Nickel erzählt. Ich habe ihn selbst schon gesehen. Gut, sein Äußeres ist nicht besonders vorteilhaft, das schlaffe Doppelkinn und so weiter. Aber das ist kein Grund, andere Leute anzustarren. Geschweige denn, sie zu verfolgen! Mensch, du bist doch schon so ein großer Junge – was muss ich mir heute nur anhören.«
»Das ist aber kein Herr Mietling«, beharrte Emil. »Das ist ganz klar ein Vogel, ein Pelikan!«
»Bist du jetzt vollkommen verrückt geworden?« Seine Mutter wurde laut. »Kannst du etwa einen Menschen nicht mehr von einem Vogel unterscheiden? Du hältst besser den Mund, anstatt über anständige Menschen zu spotten.«
Sie drehte den Heißwasserhahn zu und schob Emil in den Flur hinaus.
Wie konnten die Leute nur so blind sein? Emil lag auf seinem Bett und vergoss ein paar Tränen in das Lexikon, genau auf das Foto des Pelikans. Es kümmerte ihn nicht, dass das glänzende Papier sich wellte – obwohl sein Vater ihm das Lexikon zum zwölften Geburtstag geschenkt hatte und Emil es bisher nur mit sauberen, trockenen Händen angefasst hatte.
Der Mann war ein Pelikan, das wusste er genau, und er würde auch die anderen dazu bringen, es zu erkennen.
Emil wurde wach. Er musste auf dem Lexikon eingeschlafen sein, denn inzwischen war es spät geworden. Der Augustabend schaute schon zum Fenster herein. Emil dachte jetzt nicht mehr an den Pelikan, er dachte an sein Zuhause. An das andere Zuhause, das richtige, das er in Katzendorf hatte zurücklassen müssen. In seinen Träumen kehrte er fast jede Nacht in das Haus an der Katzendorfer Kurve zurück. Er öffnete die vertrauten Türen und spazierte suchend durch die Zimmer, fand jedoch nie, wonach er suchte, und wusste ebenso wenig, was genau es eigentlich war.
Manchmal träumte er auch, dass er um Mitternacht aufwachte und sich durch das Dunkel der Stube bis in die Schlafkammer seiner Eltern tastete. Er stand einfach vor ihrem Bett und lauschte und lauschte … Er wagte nicht, seine Eltern zu berühren, denn er fürchtete sich vor dem unwilligen Brummen des Vaters: »Ist das schon wieder der Junge?!« Stattdessen trat er so nah heran, dass er ihre Atemzüge auf den Wangen spürte – obwohl sie ja gar nicht wirklich da waren.
Und dann gab es andere Träume, in denen sie nicht einmal atmeten, sondern nur dalagen, wie ein Bild – und ein Bild waren sie schließlich auch.
Im Traum lagen sie immer noch nebeneinander. In der Wirklichkeit war das nicht mehr möglich, denn in der Schlafkammer lag nun eine andere Frau neben Emils Vater. Und seine Mutter war mit ihm hierhergezogen, in die Stadt. Für immer.
Seine Mutter und er konnten froh sein, dass sie eine Mietwohnung gefunden hatten, denn in der Stadt waren die Wohnungen knapp, und es gab viele Menschen, die nie eine eigene bekamen. Ihnen blieb nur, sich mit einem Eckchen bei Bekannten oder Verwandten zufriedenzugeben, wenn sie nicht gar in einer Herberge oder unter einem umgedrehten Boot schlafen mussten.
Emil und seine Mutter hatten Glück gehabt, dass sie in eine Zweizimmerwohnung mit Badezimmer, Kühlschrank und elektrischem Herd einziehen konnten. Das war aber auch die einzige Verbesserung seit Katzendorf – dort hatte es nur die Sauna, einen Holzherd und einen alten Erdkeller mit Eisstücken zur Kühlung gegeben. Und den Brunnen und den See, aber keine warme Badewanne. Nur den Brunnen und den See.
Emil seufzte und zog seinen Schlafanzug an. Er wollte nicht an die Katzendorfer Kurve denken, er wollte dort sein. Und im Traum war das möglich.
Draußen wurden die hell erleuchteten Wohnwürfel, in denen die Stadtmenschen übereinandergeschichtet waren, einer nach dem anderen dunkel. Auch Emil zog die Gardinen vor und löschte das Licht.
Als er noch klein war, hatte er Angst vor der Dunkelheit gehabt und war ungern schlafen gegangen. Jetzt nicht mehr. Dem Schlaf konnte man nicht entfliehen, am Ende fand er Emil immer, so wie alle anderen Menschen auch. Auch Fische schliefen nachts, sogar die Mauersegler aus den Lüften, und Igel und Ameisen schliefen sogar den ganzen Winter hindurch. Das, was die Menschen das Wachsein und die Wirklichkeit nannten, konnte man nicht einmal vierundzwanzig Stunden am Stück ertragen. Denn der Schlaf nahm, bevor die Träume kamen, den Menschen alles weg, wirklich alles. Und das war eine große Erleichterung.
Weg waren die Lichter, die Farben und Geräusche, weg war das weit entfernte Zuhause, das Emil mit sich herumschleppte, weg waren die Felder drumherum und der dunkle Wald dahinter. Es gab keine Mutter und keinen Vater mehr, keine Bücher, keine Gegenstände.
Was gab es stattdessen? Nichts, wirklich nichts, und das war das Beste, was man bekommen konnte. Es war, als wäre eine drückende Last von Emils Schultern genommen, die Last der Wirklichkeit: Menschen, Häuser, Dinge, Wald und Felder, der glitzernde Fluss und auch diese Stadt, die schwer war wie Stahl und Eisen. All dies war ihm tagsüber auf die Schultern geladen, die ganze Welt, und die war schwer.
Nur die Nacht ließ alles verschwinden, sogar das Gefühl für seinen Körper. Und trotzdem zögerte er das Schlafengehen am nächsten Abend vielleicht wieder hinaus, denn die Erleichterung des Schlafs vergaß man schnell. Aber wenn Emil erst einmal an der Pforte zum tiefen Schlaf stand, würde ihn nichts mehr umkehren lassen. Die Nacht hatte von allen Farben die verlockendste, und die Stille war das einzige Geräusch, dem man lauschen wollte.
Nur noch diesen einen Geruch gab es, den man mit keiner Nase riechen konnte, und diesen einen Geschmack, für den man keine Zunge brauchte.
Doch dann begannen die Träume. Alles kehrte zurück, wenn auch in veränderter Gestalt. Emil brauchte keine Augen und kein Licht, er sah trotzdem.
Das war sonderbar.
Als Emil aufwachte, war seine Mutter schon zur Arbeit gegangen. Auf dem Tisch warteten gekochte Eier und ein großer Joghurt. Daneben lag eine Papiertüte, auf die sie geschrieben hatte: Denk an das Wechselgeld.
Emil war es peinlich, zurück in die Gaststätte zu gehen, aber er wusste, dass er sich nicht davor drücken konnte. Am Ecktisch saßen dieselben Männer wie gestern und tranken Bier. Dieselbe Kellnerin wischte mit demselben Lappen die Tische ab und sah ebenso müde aus wie am Vortag, obwohl erst Morgen war.
Sie erinnerte sich sofort an Emil und wusste gleich, warum er da war. Es war also ganz einfach.
»Der kleine Mann hatte es gestern wohl eilig«, sagte sie und lachte. Dabei war sie beinahe hübsch, aber dass sie Emil »kleiner Mann« nannte, gefiel ihm weniger.
»Sieben Mark zwanzig, bitte sehr. Ich würde reich werden, wenn alle Gäste so wären wie du.«
Sie räumte ein paar leere Flaschen fort, und Emil verließ erleichtert die Gaststätte.
Als wäre es schon Herbst, wehte draußen ein kühler Wind und ließ auf der anderen Straßenseite den bekannten bunten Schal flattern.
Der Pelikan! Emil hatte ihn fast vergessen.
Der Vogel schritt auf kurzen Beinen mit wankenden Schritten voran. Mit seinem Filzhut sah er ziemlich lächerlich aus – wie alle Tiere, die man in Menschenkleidung steckte. Aber keiner der vielen Passanten, die die Bürgersteige und Geschäfte bevölkerten, die einkauften und in Ämtern, Banken und Poststellen Dinge erledigten, keiner dieser Menschen schien den Pelikan zu beachten. Ganz so, als wäre ein leuchtend roter Schnabel mit einem Hautsack darunter in einer Stadt ein ganz alltäglicher Anblick.
Emil folgte dem Tier auch heute.
Sie gelangten in den Zentralpark, wo auf den Wegen der Kies unter ihren Schuhen knirschte – unter den ruderförmigen Schuhen des Pelikans und unter Emils Gummilatschen. Der Vogel verlangsamte seinen Gang und spähte in die Wipfel der hohen Linden, in denen der Wind rauschte. Er schien tief durchzuatmen und ein kleines Lied zu summen.
Auf einmal fiel ihm ein Zettel aus der Tasche. Da der Pelikan es nicht bemerkte, hob Emil ihn auf. Auf dem Papier stand in Kritzelschrift – oder müsste man sagen, in Pelikanschrift? – immer wieder der Großbuchstabe A.
Der Pelikan lernte also das Alphabet!
Emil rannte zu ihm.
»Entschuldigung, Sie haben Ihren Zettel verloren!«
Der Vogel drehte sich zu Emil um und krächzte ein höfliches Dankeschön, wirkte jedoch verlegen. Wahrscheinlich war es ihm unangenehm, dass jemand mitbekam, dass er das Alphabet lernte – in diesem Alter!
»Gern geschehen, Herr Pelikan«, sagte Emil mit klarer Stimme.
Der Vogel zuckte zusammen und ließ den Zettel noch einmal fallen. Mit ungeschickten und zittrigen Flügeln versuchte er ihn aufzuheben, scheiterte jedoch. Emil half ihm erneut.
»Gern geschehen, Herr Pelikan«, sagte er ein zweites Mal laut und deutlich und sah dem Vogel direkt in die runden gelben Augen, die schnell hinter den Blinzellidern verschwanden. Doch Emil hatte die Panik im Blick des Vogels gesehen, und plötzlich war sein Herz voller Mitgefühl.
»Keine Angst, ich verrate es niemandem«, sagte er, jetzt mit leiser und beruhigender Stimme.
Sie standen in der Nähe einer Parkbank, neben der ein Trinkbecken aufgestellt war. Wenn man den Hahn am Rand aufdrehte, perlte eine kleine Wasserfontäne in die Luft. Mit wankenden Schritten ging der Pelikan zum Trinkbecken, nahm ein paar Schlucke und legte dabei einen Flügel aufs Herz. Dann ließ er sich auf die Bank plumpsen, wobei seine staksigen Beine deutlich aus dem Hosenstoff ragten.
Emil setzte sich neben den Pelikan und sah höflich woandershin, bis das Tier sich gefangen hatte.
Nach einer Weile meldete sich wieder die seltsam krächzige Stimme: »Erlauben Sie mir die Frage (drückte der sich aber vornehm aus!), wie Sie (hier machte er eine Pause) meiner Abstammung auf die Schliche gekommen sind?«
»Aber das erkennt man doch sofort!«, erwiderte Emil verwundert.
»Nein, die Menschen erkennen das nicht«, widersprach der Pelikan. »Ihre Augen sehen nämlich nur den Schein. Vielleicht sind Sie ja gar kein Mensch?«
Hoffnungsvoll blickte er Emil an.
»Doch, natürlich bin ich ein Mensch«, versicherte Emil, klang dabei aber beinahe betrübt.
»Ganz sicher?«
»Ganz sicher.«
»Stimmt, Sie sehen ohne Zweifel aus wie ein Mensch. Aber man weiß ja nie …«
Emil fühlte sich etwas unbehaglich unter dem forschenden Blick der schwefelgelben Vogelaugen. Für einen winzigen Moment schien es ihm, als habe der Vogel recht und alle anderen seien im Unrecht, und dass er, Emil, von ganz anderer Herkunft war als die wimmelnden Leute auf den Straßen und in den Häusern, die alle einen Vor- und Nachnamen hatten und einen Beruf und eine Steuernummer.
Der Vogel wandte seinen durchdringenden Blick ab und seufzte: »Bisher haben die Menschen an mir nur meine Kleidung wahrgenommen. Immerhin trage ich die allervornehmste Herrenkleidung, nicht wahr?«
Er zupfte am Aufschlag seines Mantels und sah Emil herausfordernd an. Emil gab zu, dass der Pelikan in der Tat schick gekleidet war.
»Und weil ich gekleidet bin wie ein Mann, muss ich also auch ein Mann sein. So denken die Leute.«
Der Pelikanmann malte mit seinem Spazierstock ein großes A in den Sand, nur kam dabei Folgendes heraus:
»Das ist noch nicht ganz richtig«, sagte Emil. Er bückte sich und korrigiere den Buchstaben mit dem Zeigefinger.
»Soso, Sie können also schreiben«, sagte der Pelikan und schien nachdenklich.
»Na klar!« Emil lachte. »Im Herbst komme ich in die fünfte Klasse.«
»Soso.«
Der Pelikan zeichnete nun verschiedene Flügelformen in den Sand, fliegende und ruhende.
»Eine hohe Kunst«, sagte er wie zu sich selbst und schlug dann mit der Spitze seines Spazierstocks in den Sand.
»Ob Sie mich wohl unterrichten könnten?«, fragte er Emil. »Natürlich nicht ohne Gegenleistung.«