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Dorothee Degen-Zimmermann

«Euch zeig ich’s!»

15 Zürcherinnen erzählen

Fotografien von Martin Volken

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Inhalt

Ruth Angst, 1930, Handarbeitslehrerin, Rafz

«Wartet nur, euch zeig ich’s!»

Erika Hug, 1945, Unternehmerin, Küsnacht

«Aber dann musst du in die Firma kommen»

Madlonne-Beatrix Goldschmid, 1934, Modellbauerin, Winterthur

«Den roten Faden nicht verlieren»

Heidi Iseli-Rebsamen, 1940, Bäuerin, Sternenberg

Vaters zuverlässigster Knecht

Heidi Witzig, 1944, Historikerin, Winterthur

Feuer und Flamme für den feministischen Aufbruch

Lide Hort-Pensa, 1925–2012, Textilarbeiterin, Aathal-Seegräben

«Ich habe geweint, als ich die Arbeit aufgeben musste»

Rose-Marie Obrist, 1944, Bardame, Hotelière, Zürich und Küsnacht

Die Niederdorf-Rose

Ulla Kasics, 1926, Tanz- und Gymnastikpädagogin, Zürich

Mit nichts anfangen

Barbara Bucher-Isler, 1936, Gymnasiallehrerin für Alte Sprachen, Rüschlikon

Lernbegierig, wissensdurstig

Ilse Wyler-Weil, 1930, Geschäftsfrau, Familienfrau, Uster

«Der Schabbes hat uns erhalten»

Leni Altwegg, 1924, Zürich, Pfarrerin

«Man muss Partei nehmen können»

Beate Schnitter, 1929, Architektin, Küsnacht

«Man hat von mir immer erwartet, dass ich Architektin werde»

Ursi Kamm-Keller, 1940, Hebamme, Weinbäuerin, Schloss Teufen

Stallgeruch und gärender Wein

Carola Maila von Schoultz, 1931, Kunstmalerin, Zürich

«Was blüht denn da?»

Eva Mezger-Haefeli, 1934, Schauspielerin, Fernsehfrau, Zürich

«Wenn ich eine Kamera sehe, werde ich kribbelig»

Glossar

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Ruth Angst, 1930

Handarbeitslehrerin, Rafz

«Wartet nur, euch zeig ich’s!»

Zuerst fallen die hellen, wachen Augen auf. Mit ihrem sonnengebräunten Gesicht und den rosigen Wangen sieht Ruth Angst aus, als hätte sie bis vor fünf Minuten im Garten gearbeitet. Stimmt nicht, leider. Vor zwei Jahren musste sie den Garten aufgeben, die Knie machten nicht mehr mit.

Die Freude am Gärtnern ist als Überraschung in ihr Leben gekommen. Längst ist sie bestandene Handarbeitslehrerin in Dübendorf, als ihr an einem trüben Novembertag ein holländischer Blumenkatalog in den Briefkasten flattert. An die Fensterscheiben prasselt der Regen, und aus dem Katalog leuchten ihr Tulpen, Osterglocken und Sterneblueme entgegen. Einem Impuls folgend, bestellt sie ein ganzes Paket Blumenzwiebeln. Denkt, das wäre etwas für ihre Schwester. Und weiss plötzlich: «Ich muss einen Garten haben.» Sie erbettelt sich von ihrem Vermieter, dem «Millionen-Keller», einem Immobilienhändler und ehemaligen Bauern, ein paar Quadratmeter Wiese und macht sich sofort an die Arbeit. Im Novemberregen sticht sie die zähen Graswurzeln aus, setzt Kompost auf, bereitet die Beete vor, und noch vor dem Klaustag steckt sie mit Begeisterung die Zwiebeln in die Erde. Abends ist sie hoch befriedigt, todmüde und kann endlich wieder einmal richtig schlafen. «Das ist es, das brauche ich als Ausgleich zum Schulalltag, dreckige Hände hin oder her.» Dabei hat sie als Kind dreckige Hände und Erde unter den Fingernägeln gehasst wie die Pest.

Fünf Gärten hat sie im Laufe der nächsten Jahrzehnte angelegt, jedes Mal aus einem Stück Wiese. Sie hat neben Blumen auch Gemüse und Beeren gezogen, und was in der Gefriertruhe keinen Platz mehr fand, «habe ich halt den faulen Weibern mit den gepflegten Fingernägeln schenken müssen. Man kann ja nichts umkommen lassen.»

Seit dreissig Jahren wohnt Ruth Angst in Rafz, in jener nördlichen Ecke des Kantons Zürich jenseits des Rheins, die von deutschem Gebiet umgeben ist. Seit dem Ausbau der S-Bahn ist das Dorf in den Sog der Agglomeration Zürich geraten. Ganze Einfamilienhausquartiere spriessen aus dem Boden. Die Gemeinde ist für Pendler attraktiv geworden. «Denen ist das Dorf egal, sie grüssen auch nicht.»

Geboren und aufgewachsen ist sie im Nachbardorf Wil. Am Sonnenhang über dem Dorf wachsen die Reben, dahinter senkt sich der Wald gegen die Grenze zu Deutschland. Im Süden breitet sich die Weite des Rafzerfeldes aus, topfebenes Schwemmland des Rheins. In ihrer Kindheit ist das noch Ackerland, so weit das Auge reicht. Ab 1960 wird hier in grossem Stil Kies abgebaut werden, «Futter» für die Autobahnen, Kläranlagen, Gewerbe- und Wohnbauten im ganzen Kanton. Fast alle im Dorf, so auch Ruths Eltern und Grosseltern, sind Bauern, es gibt zwei Schmitten, einen Wagner, einen Bäcker, vier Wirtschaften, damit hat sich’s. Wasterkingen, Hüntwangen, Wil und Rafz, die Zürcher Dörfer nördlich des Rheins, gehören zusammen und sind doch für sich. Die Siegrist in Wil schreiben sich mit IE, im Gegensatz zu den Sigrist mit I in Rafz. Sogar der Dialekt unterscheidet sich um Nuancen, die Ruth Angst auch im Alter noch bewusst pflegt: «Ich bin kein Windfahnen, spreche immer noch wilerisch wie in meiner Kindheit, ‹Vögili› mit dumpfem I, nicht mit dem spitzen Rafzer I.» Dagegen klingt der Dialekt der Knechte mit dem dunklen A schon fast exotisch. Sie kommen aus der Gegend um Zürich, das ist weit jenseits der Rheinbrücke von Eglisau.

Die Arbeit diktiert den Lebensrhythmus. Klar, dass die Kinder mithelfen in Haus, Feld und Stall. Ruth ist die Älteste von drei Schwestern, «leider», sie sollte Vorbild sein, das fällt ihr schwer. Viel lieber würde sie lesen, verschwindet ins Klo und stillt ihren Lesehunger mit den Zeitungspapierstücken, die als Klopapier dienen, denn Bücher gibt es nicht im Haus. Das setzt oft einen Klaps auf den Hintern oder bei frechen Antworten eine Maulschelle ab. Was soll’s, sie nimmt es hin wie die Sommergewitter.

«Zufällig» haben alle drei Mädchen in der zweiten Junihälfte Geburtstag, immer schön mit zwei Jahren Abstand. Als Ruth «schon drauskommt, wie das Ganze läuft», wundert sie sich darüber. «Wie habt ihr das fertiggebracht? Mit Knaus-Ogino?», fragt sie ihre Mutter. Die bekommt vor Verlegenheit rote Flecken am Hals: «Das mussten wir doch! Dann ist der Heuet vorbei, und bis zur Ernte mag man wieder mit dem Rechen gumpen.» Und die Zeugung fällt in die Sauserzeit, das passt auch nicht schlecht, folgert die gewitzte Tochter.

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Ruth Angst, vierzehnjährig, «beim Verzetten auf unserer Wiese».

Auf den Tisch kommt, was man geerntet hat, Gemüse aus dem grossen Garten, Kartoffeln. Ruth beneidet die Kinder, die nach dem Mittagessen mit roten Spaghetti-Schnäuzen in die Schule kommen. Wenn es bei Familie Angst ausnahmsweise auch einmal Spaghetti gibt, stürzen sich die Mädchen mit Heisshunger darauf. Da bekommt der Grossvater feuchte Augen: «Das isch au schöö, weme de Chind cha gnueg z Esse gii.» Er hat in seiner Kindheit, als die Kartoffeln verdarben, Hungerzeiten erlebt.

In der Erdbeerzeit gehen die Kinder am Mittag von der Schule direkt aufs Erdbeerfeld unten in der Ebene, um beim Pflücken zu helfen. Die Körbchen werden gegen Abend von der Migros abgeholt. «Joghurt mit Beeren, mmh», steht darauf. Was ist Joghurt? «Ich habe gefragt, aber niemand hat es mir sagen können.» – «Lauft», ruft die Mutter übers Feld, wenn der Zeiger der Kirchturmuhr auf zehn vor zwei steht und sie zurück zur Schule müssen. «Die Hände waschen konnte man natürlich nicht.»

Jenseits der Grenze ist Krieg

Ruth geht in die dritte Klasse, als der Zweite Weltkrieg ausbricht. Die Generalmobilmachung holt die Männer von den Erntefeldern. Und – ebenso einschneidend für die Bauernbetriebe – auch die Pferde werden eingezogen. Harte Arbeit für alle Daheimgebliebenen, auch für die Kinder. «Man musste sich zu Tode schaffen damals, es war kein brauchbares Hosenbein mehr hier. Man hatte allenthalben zu wenig Hände.»

Im Frühling 1940 zieht sich die Schlinge rund um die Schweiz zu. In Wil erwartet man täglich den Befehl zur Evakuierung. Die Bäuerinnen werden aufgeboten, den Auszug zu proben: Wie lange dauert es, bis sie das Vieh über die Eglisauerbrücke getrieben haben? Keinesfalls will man den Deutschen den Rindsbraten überlassen! Mitten im verhassten Kartoffelstecken ist die Aussicht, fortzugehen, verlockend. Endlich keine dreckigen Hände mehr! Ruth stellt sich die Evakuierung abenteuerlich vor. Sie ist ja noch kaum je über das Rafzerfeld hinausgekommen. Wohin würden sie fliehen? Wo würden sie untergebracht?

Die Grenze vom Rhein um das ganze Rafzerfeld herum bis wieder zum Rhein wird mit vierfachem Stacheldraht gesichert. Gegen Menschen, nicht gegen Panzer. In den ersten zwei Kriegsjahren ist die Angst besonders gross. Die Männer sind weit weg, im Reduit.

Einmal kommt es zu einer Begegnung am Grenzzaun. An einem Sonntagnachmittag in der Weihnachtszeit gehen ihrer paar Mädchen, sie nennen sich die «Sonntagsbande», ins Holz hinauf go striele. «He, Kinder!», werden sie von jenseits des Stacheldrahtzauns angesprochen. Der Mann trägt eine schäbige Uniform, sein Deutsch klingt ganz anders als das vertraute Schwäbisch der benachbarten Dettighofer, fast unverständlich. «Ihr seht gut genährt aus», stellt er fest und erzählt von den polnischen Kriegsgefangenen, die er bewache, vom Hunger und dass er «heim zu Muttern» und «Plätzchen essen» möchte. Und die Mädchen wundern sich, wie viele Mütter er hat und dass man Plätzchen essen kann. Am nächsten Sonntag bringen sie, was sie zu Hause stibitzt haben, Chrööli, Käse, und die kecke Els bringt gar ein Stück Geräuchertes mit, weil sie das selber nicht mag. Sie schieben die Sachen in eine trockene Entwässerungsröhre, die unter dem Grenzzaun hindurch auf die deutsche Seite ragt. Dreimal werden die Sachen abgeholt, das vierte Mal macht sich der Fuchs darüber her.

Gefragt nach Flüchtlingen, fallen Ruth Angst merkwürdigerweise zuerst diejenigen ein, die die Grenze Richtung Norden passiert haben. Der Apotheker von Rafz etwa und Lehrer W., von dem die Leute sagen, er sei ein choge Nazi, verschwinden, nachdem im Herbst 1942 die ersten Todesurteile wegen Landesverrat bekannt werden. «Wir sind so gern zu dem in die Schule gegangen. Er war bildhübsch. Ich habe noch lange für ihn gebetet.»

An einem Wintermorgen wird sie früher als sonst geweckt: «Zieh dich weidli an, in der Küche steht einer.» Die Mutter hat in den frühen Morgenstunden in der Küche das Kraftfutter gerichtet für eine Kuh, die in der Nacht gekalbt hat. Da wird ans Fenster geklopft. Ein Fremder, das einzige Wort, das sie versteht, ist «Bahnhof». Ruth ist fasziniert: «Ein Bild von einem Mann! Schwarze Haare, schwarze Augen, ein Zigeuner vielleicht, ganz anders als die Alemannentypen in unserem Dorf.» Auf Geheiss der Mutter begleitet sie ihn die drei Kilometer zum Bahnhof Hüntwangen-Wil, ohne ein Wort wechseln zu können.

Der hat es geschafft über die Grenze, andere nicht. Vom Polenlager erfährt Ruth Angst später Schauriges. Ihre Familie besitzt Land ennet der Grenze im nahen Dettighofen. In den ersten Kriegsjahren ist die Grenze hermetisch geschlossen. Aber später dürfen die Bauern wieder hinüberfahren, um ihr Land zu bewirtschaften. Da zeigen deutsche Nachbarn hinüber zur grossen Linde am Waldrand: Dort hängen vier Polen. Sie wollten in die Schweiz fliehen und wurden erwischt.

Der Krieg ist nahe, sehr nahe. An einem Nachmittag im Herbst ist die Familie am Kartoffellesen im Hard, dem Gebiet südlich der Bahnlinie, aber nördlich des Rheins. Manchmal schaut Ruth Angst den Güterzügen nach, die von Italien nach Deutschland rollen oder umgekehrt. Da wird sie von einem amerikanischen Fliegergeschwader aufgeschreckt – «den Ton werde ich nie vergessen!» –, das herabsticht und einen langsam nordwärts tuckernden Güterzug beschiesst, immer und immer wieder. Der Schrecken ist gross. Als es wieder ruhig ist, siegt die Neugier. Aber die Heerespolizei ist schon zur Stelle und weist die Schaulustigen weg. Später spricht sich herum, in den Fässliwagen befinde sich italienischer Rotwein. Wer ein Velo hat, fährt zum Schauplatz. Die Tankwagen weisen Schusslöcher auf, aus denen der rote Saft rinnt. Den lassen sich die Männer nicht entgehen, stellen die mitgebrachten Eimer unter. Der italienische Wein ist süsser als das damals noch ungepflegte Eigengewächs. Als der Vater spät an jenem Abend nach dem Vieh schauen will, fällt er die Treppe hinunter. Sein Jammern lässt die Mutter ungerührt. «Geschieht ihm recht», brummt sie.

Der Anbauplan Wahlen bringt viele Vorschriften für die Bauern, sie müssen Raps anbauen, weil das Speiseöl fehlt, und Wald roden, um Ackerland zu gewinnen. Familie Angst wird letzteres zum Verhängnis. Im Februar 1944 fährt der Vater mit Ross und Wagen ins Holz, um Bäume zu fällen. Er wird von einem Baum getroffen und stirbt noch auf der Unfallstelle. Der Verlust legt sich wie ein dumpfer Schatten auf die Familie. Es wird still, alle gehen stumm ihren Pflichten nach. «Man hat sich geschämt, Trauer zu zeigen, man musste doch tapfer sein.» Die Mutter arbeitet noch mehr als bisher, und Grossvater, «der General der Dynastie» nimmt noch einmal das Heft in die Hand. Aber die jungen Knechte nehmen ihn nicht ernst. Einmal kommt er verärgert und verdreckt in die Küche, um sich zu waschen. Der Jakob habe ihn auf den Mist gestossen.

Gegen Ende des Krieges, am 22. Februar 1945, wird das Nachbardorf Rafz von einem alliierten Flugzeug bombardiert, das hört man bis nach Wil. Ein Haus wird dabei voll getroffen und eine ganze Familie, drei Erwachsene und fünf Kinder, kommt ums Leben.

Am 8. Mai 1945 in aller Frühe trifft sich Ruth Angst mit ihren Schulkameraden der 3. Sekundarschulklasse im Wald oben, um Maikäfer einzusammeln. Sie breiten Tücher unter den jungen Buchen aus. Wenn die Käfer von der Morgenkälte noch starr sind, kann man sie von den Bäumen schütteln wie Obst. Zwei Bücki zu je 75 Liter füllen sie, binden einen Sack darüber, damit die Käfer nicht entweichen, schütten sie beim Bad-Wirt ins Güllenloch und erhalten dafür von der Gemeinde 11 Franken für die Klassenkasse. Als sie zum Schulhaus kommen, ist der Platz mit Hortensien geschmückt. Die in Wil einquartierten Innerschweizer Soldaten stehen herum und scheinen auf etwas zu warten. Mit müden Köpfen und Beinen stehen die Kinder an Fritschi-Schreiners Hag und warten auch. Als eine Fanfare erschallt, werden die Soldaten auf dem Platz ganz still. Und nun geschieht Befremdliches. Männer in gestickten Röcken kommen aus dem Schulhaus, kleine rauchende Pfännchen schwingend, fromme Gesänge werden angestimmt, die Männer bekreuzigen sich, knien nieder. Die Kinder in ihrer Müdigkeit fangen an zu kichern. «Bei uns war eben niemand katholisch, wir hatten noch nie eine Messe erlebt.» Danach gehen sie ins Schulzimmer hinauf, um beim Lehrer das Maikäfergeld abzugeben. Da beginnen die Kirchenglocken zu läuten. «Es ist Friede jetzt, ihr habt heute frei», sagt der Lehrer. «Als ich heimkomme, sitzt der Grossvater am Radio. Er hat Tränen in den Augen.»

Ruth Angst erzählt mir diese Geschichte in allen farbigen Details. Sie hat sie in ihrem unverfälschten Wiler Dialekt aufgeschrieben und auch schon öffentlich vorgetragen.

Das Landei in der Stadt

Ruth Angst ist gut in Fremdsprachen. Stewardess wäre sie gerne geworden, «da müsste man ausländisch schwatzen können». Die Kinder lachen sie aus: «Du mit deinen Zöpfen und den dicken Beinen! Dich nehmen sie nicht, du segelst hundertmal herunter!» Entmutigt gibt sie diesen Wunsch auf. Niemand klärt sie auf, wie man Sprachen studieren und was man damit allenfalls machen könnte. Im Gegenteil, die Handarbeitslehrerin empfiehlt drei andern Mädchen ihrer Klasse, die Aufnahmeprüfung für das Handarbeitslehrerinnenseminar in Zürich zu machen, «aber was aus der Ruth werden soll, nimmt mich wunder. Die braucht einen geschlagenen Samstagnachmittag, um acht Paar Schuhe zu putzen.» Ruth Angst ist verletzt. «Der zeige ich’s!» Es stimmt zwar, dass sie langsam arbeitet, dafür nimmt sie es sehr genau. Heimlich meldet sie sich auch zur Prüfung an. Und besteht sie – welch ein Triumph! – als Einzige von den Vieren. Ihr genaues Arbeiten hat sich ausgezahlt.

So findet sie ihren Berufsweg zunächst eher aus Trotz denn aus Neigung. Als Einzige der drei Angst-Töchter besucht sie eine höhere Schule. Fünf Jahre dauert die Ausbildung, drei Jahre Fädi – Frauenfachschule mit Schneiderinnenausbildung und allgemeinbildenden Fächern an der Töchti – und zwei Jahre Arbili-Semi, die eigentliche pädagogisch-didaktische Ausbildung zur Handarbeitslehrerin. Die ganzen fünf Jahre pendelt sie von Wil nach Zürich mit Velo, Zug und Tram. Mit ihren geflickten Röcken und angestrickten Strümpfen fühlt sie sich als Landei und den schicken «Stadtmamsellen» weit unterlegen. «Man trug damals weite Baumwollunterröcke, die man ein bisschen hervorlugen liess, das fand ich sagenhaft frech!» Der Anfang ist schwierig, so schwierig, dass sie sich nachts bei der Mutter ausweint und ans Aufgeben denkt. Davon will die Mutter gar nichts wissen: «Jetzt hast du schon so viel gekostet …» Mit der Zeit findet sie den Rank, und der Unterricht – die Ausbildung in ihrer ganzen Breite – gefällt ihr «schaurig gut». Sie lernt die Facetten eines Frauenbetriebs kennen, Mädchenfreundschaften, manchmal mit erotischem Touch, aber auch Intrigen, parteiische Lehrerinnen und schmeichlerische Mitschülerinnen.

Auf eigenen Füssen

1951 schliesst sie die Ausbildung ab. Damals teilt die Erziehungsdirektion den Junglehrerinnen die Stellen zu. Etwa ein Drittel von ihnen, unter ihnen Ruth Angst, geht leer aus. Wie gern hätte sie etwas verdient, «wegen der Mutter, weil ich so viel gekostet habe». Stattdessen geht sie als Au-pair nach England, wo sie das Heimweh kennen lernt. Am Ostermontag reist sie ab, zum ersten Mal wirklich fort von der Mutter. In Eglisau verlässt der Zug das Rafzerfeld, «schon da habe ich s luuter löötig Wasser geheult».

London erlebt sie zu ihrer Verwunderung als Gartenstadt. Hinter den Reihenhäusern grenzt Garten an Garten. Oft gibt es Begegnungen über den Gartenzaun hinweg. Das ist ihre Chance zum Englischsprechen, denn sie arbeitet bei einer deutschsprachigen jüdischen Familie. Viel Arbeit, geringer Lohn. Sie ärgert sich über den Russ, der in der kalten Jahreszeit durch die schlecht schliessenden Fenster dringt und alles mit einer schwarzen Staubschicht überzieht. Sie fühlt sich ausgenutzt, hat aber nicht den Mut, sich zu wehren, bis ihr ein Nachbar empfiehlt, die Stelle zu wechseln. Das tut sie dann auch. Aber als ihr eine Stellvertretung in Eglisau und Winkel bei Bülach angeboten wird, ist sie hocherfreut und reist früher als geplant in die Schweiz zurück.

Nun macht sie also ihre ersten Erfahrungen als Lehrerin. Sie sieht noch so jung aus, dass sie kaum von den grossen Schülerinnen zu unterscheiden ist und die Inspektorin auf Schulbesuch fragt: «Wer ist denn hier die Lehrerin?» Sie wohnt wieder zu Hause und fährt die fünfzehn Kilometer nach Winkel und von dort zurück nach Eglisau mit dem Velo, denn es gibt noch keine Postautoverbindungen. Ein Jahr später wird sie in ihr Heimatdorf Wil versetzt, ins Schulhaus, in dem sie selbst zur Schule gegangen ist, gegenüber ihrem Elternhaus. Das Handarbeitszimmer befindet sich im obersten Stock. Wenn sie nach dem Mittagessen das Küchenfenster öffnet und die Zahnbürste vom Sims holt – ein Badezimmer gibt es in ihrem Elternhaus noch nicht –, stehen schon die Schülerinnen am Schulzimmerfenster und warten auf diesen Augenblick, um ihr dann entgegenzulaufen.

Drei Jahre unterrichtet sie in Wil. Dann heiratet ihre Schwester, und das junge Paar wohnt im Elternhaus. Da wird es Ruth Angst zu eng, und sie wechselt nach Dübendorf, wo sie 25 Jahre lang, die längste Zeit ihres Berufslebens, unterrichtet.

War Heiraten für sie nie ein Thema? «Ich bin ein Einspänner», erklärt sie schon im ersten Gespräch. An Gelegenheiten habe es nicht gefehlt. Sie findet leicht Kontakt, ist nie um einen lockeren Spruch verlegen. «Aber ich bin nie bereit gewesen zu Konzessionen.» Sie habe den Gedanken nicht ertragen, jemandem zu gehören. Dumm sei sie ja nicht, sie komme schon allein durchs Leben. «Immer wenn ich merkte, ui, ich verliere meine Freiheit!, bin ich unwirsch und ein Kotzbrocken geworden.» Es gab Liebe in ihrem Leben und reichlich Liebeskummer, mehr gibt sie nicht preis. «Traktandum 17b erledigt», erklärt sie trocken.

Sobald sie eigenes Geld verdient, beginnt sie in den Schulferien zu reisen. Hier kommt endlich auch ihre Sprachbegabung zum Zug. Mit Leichtigkeit lernt sie Französisch, Englisch, Italienisch, Spanisch. Latein büffelt sie, um sich von einem Liebeskummer abzulenken. Auch einen Arabischkurs besucht sie sechs Semester lang, «aber wenn man es nicht mehr regelmässig braucht, ist es hoffnungslos». Sie bereist fast alle arabischen Länder von Marokko bis Persien, oft mit einer Gruppe für einen ersten Kontakt und später auf eigene Faust. «Mir war einfach rundum wohl, die Araber sind schafseelengut», fasst sie ihre Erfahrungen zusammen. Sie erlebt rührende Gastfreundschaft – «ich bin mir vorgekommen wie eine Kostbarkeit auf einem Silbertablett» – und hält Gegenrecht, so dass man sie in Dübendorf wegen ihrer vielen arabischen Gäste «das Araberliebchen» nennt.

Vom Düben-Dorf zur Agglo-Stadt

Als Ruth Angst 1956 nach Dübendorf kommt, stimmt das «Dorf» noch, «man hat sich Grüezi gesagt auf der Strasse». Die Gemeinde entwickelt sich zum Vorort von Zürich, verdoppelt von 1957 bis 1970 ihre Einwohnerzahl von 10 000 auf 20 000 und ist seit 1974 politisch eine Stadt. Ruth Angst nennt sie konsequent «Dübi» statt Dübendorf. Die sozialen Auswirkungen der starken Bautätigkeit werden auch in der Schule spürbar. Billige Wohnungen ziehen sozial schwächere Mieter an, «es gab viele gestörte Familienverhältnisse, Dübi bekam einen schlechten Ruf, wie Schwamendingen».

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Gastmahl in Meknes, Marokko, Ruth Angst in der Mitte (1965).

Mit fünfzig ist Ruth Angst aus heiterem Himmel mit Diabetes konfrontiert, wahrscheinlich ausgelöst durch eine rigorose Diät. Sie hat eine Knieoperation hinter sich, aber das Knie schmerzt weiterhin. «Kunststück, wenn man so zunimmt», sagt der Arzt, «mit solchen Knien darf man nicht so dick werden.» Das sitzt. Einmal mehr wird ihr Trotz angestachelt: Warte nur, dir zeig ich’s jetzt! In kurzer Zeit reduziert sie ihre Kleidergrösse von 44 auf 38. Alles wäre gut, wenn da nicht dieser wahnsinnige Durst wäre. Jemand macht sie darauf aufmerksam, dass dies ein Symptom von Diabetes sein könnte. Und wirklich, als sie den Arzt aufsucht, «haben sie mich grad ins Spital geschickt. Hochgradig Zucker!»

Von jetzt an ist alles anders. Sie, die so gern isst, muss Diät halten. Auslandsreisen sind von nun an zu riskant. Heftig lehnt sie sich gegen die Krankheit auf. So sehr, dass sie mehrmals daran denkt, ihr Leben fortzuwerfen. «Vier Jahre lang habe ich gcholderet.» Allmählich beginnt sie, die Grenzen zu akzeptieren, und damit wächst auch das Verständnis für anderer Leute Schwächen. «Früher hast du die Zimperlisen und Finöggeli verachtet, nun bist du selber so eine. Geschieht dir recht», weist sie sich selbst zurecht und findet, wenn nicht Trost oder Sinn, so doch eine Art grimmige Gerechtigkeit in dieser Einsicht.

Der Stress in der Schule wird zu viel, der Arzt rät ihr zu ruhigerer Gangart. Und sie glaubt, in der Kartause Ittingen den idealen Ort gefunden zu haben. Auf einer Wanderung entdeckt sie das idyllisch gelegene ehemalige Kartäuserkloster in der Nähe von Frauenfeld, vom Zerfall bedroht, von Holunderbüschen überwachsen. Eine Stiftung will die Anlage restaurieren und eine kirchliche Bildungsstätte daraus machen. Eine Hausmutter wird gesucht, die für die Bauarbeiter kocht und die Patienten aus der Psychiatrie, die im Werkbetrieb integriert werden, betreut. Ruth Angst stellt sich das ideal vor: Mit den Frauen würde sie Socken stricken, mit den Männern Lindenblüten pflücken und bis an ihr selig Ende in einer der lauschigen Mönchszellen wohnen. Sie kündigt ihre Stelle in Dübendorf und freut sich, dass sie den Mut aufbringt, mit gut 51 Jahren noch einmal etwas völlig Neues zu wagen.

Die Realität ist dann allerdings total chaotisch und hektisch. Die Küche ist behelfsmässig eingerichtet, die Zöglinge, die ihr helfen sollten, sind hoffnungslos unzuverlässig, die Arbeiter reklamieren, wenn das Essen nicht pünktlich auf dem Tisch steht. Sie rackert sich ab von früh bis spät, bis zum Zusammenbruch. Sie braucht Monate, um sich davon zu erholen.

Also doch wieder Schule. In Rafz wird eine Handarbeitslehrerin im Teilpensum gesucht. «Ich bin gern da, wo der Himmel gross ist», antwortet sie dem Schulpräsidenten auf die Frage, warum sie gerade nach Rafz kommen wolle. Zu ihrer Verwunderung wird sie jüngeren Bewerberinnen vorgezogen. «Was, soo ne Alti!», hört sie ein Mädchen am ersten Schulmorgen sagen. Das stachelt ihren Ehrgeiz an: «Denen zeige ich, was eine Alte kann!» Sie besucht Kurse und hält sich in Modefragen auf dem neuesten Stand, um attraktive Arbeiten anbieten zu können. Und sie schätzt es, dass die kleine Schulgemeinde Rafz ihr mit dem Material viel mehr Freiheit lässt als jene in Dübendorf. «Ich glaube, den Mädchen hat das gefallen.»

Zwischen der Nähschule, die sie als Kind erlebt hat, und dem textilen Werken, das sie in ihren letzten Berufsjahren unterrichtet, liegen Welten. «Meine Mutter war noch froh, wenn wir Mädchen ein selbstgenähtes Baumwollnachthemd oder handgestrickte Strümpfe heimbrachten.» Das Flicken hatte einen hohen Stellenwert, die Kleider wurden ausgetragen, so lange es ging. «Und wenn man so sauber geflickt hat, dass der Flick kaum zu sehen war, hat man gestunken vor Stolz.» In den Fünfzigerjahren können die meisten Mädchen schon stricken, wenn sie in die Schule kommen. Nach und nach werden immer mehr Handarbeitsstunden aus der Stundentafel gestrichen, so reicht die Zeit kaum noch für grössere Arbeiten. Als die Konfektionskleider immer billiger werden, verliert das Selbernähen seinen Sinn und auch das Flicken wird vernachlässigt. An die Stelle des Nützlichen tritt das Gestalten. Ruth Angst kann nicht allzu viel anfangen damit: «Da gibt es ja originelle Sachen, aber eigentlich ist das Wohlstandsmüll.»

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Ruth Angst in Akko, Israel (1962).

Kurz vor ihrer Pensionierung wird der Handarbeitsunterricht auch für Knaben obligatorisch. Sie selber unterrichtet keine gemischten Klassen mehr und ist nicht unglücklich darüber. «Das geht auf Kosten der Mädchen, die in Feinmotorik den Buben überlegen sind.»

Für ihre Pensionierung hat sie sich das Wandern vorgenommen, wenn schon das Reisen nicht mehr möglich ist. Dazu kauft sie sich viele Wanderkarten. «Ich habe mir vorgestellt, ich laufe alle diese Wege ab, und mit leergegessenem Rucksack und verschwitztem Blüsli wandere ich bis ins Grab. Das war so meine Idee von der dritten Epoche.» Knieschmerzen und Gleichgewichtsstörungen machen ihr einen Strich durch die Rechnung. Trotzdem macht sie täglich einen Rundgang, so weit sie die Beine tragen. Geblieben sind ihr Konzerte und Kinobesuche, die Handarbeiten – sie strickt beispielsweise bunte Fingerhandschuhe mit anspruchsvollen Mustern, exakt, wie es ihre Art ist – und die Freude an der Sprache, gerade auch an ihrer Muttersprache. Sie schreibt Erinnerungen im Wiler Dialekt auf und trägt sie da und dort vor, so auch im Radio in der Sendung «Schnabelweid».

Beim Erdbeerdessert – «Joghurt mit Beeren, mmh …» – frage ich: «Sie wirken lebenslustig und fröhlich. Stimmt der Eindruck?» Ruth Angst relativiert: «Ich hatte wiederholt mit Depressionen zu tun.» In Dübendorf und in Rafz habe sie je ein halbes Jahr aussetzen müssen deswegen. «Ich habe dann gelernt, damit umzugehen. Wenn ich merke, es geht bergab, werde ich aktiv. Ich lenke mich mit irgendetwas ab, was stärker ist als mein Herzweh.»

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Erika Hug, 1945

Unternehmerin, Küsnacht

«Aber dann musst du in die Firma kommen»

Klarinettentöne wehen zum Fenster herein, Mozart, zwischendurch zugedeckt vom Lärm des vorbeiratternden Trams. Die offene Halle des Helmhauses ist ein beliebter Standort von Strassenmusikanten. Erika Hug schliesst seufzend die Fenster: «Ich liebe ja Musik. Aber wenn das stundenlang so geht, immer dasselbe …»

Natürlich hat sie nichts gegen die Musik! Wie sollte sie auch, Musik ist doch die Existenzgrundlage der Chefin des Musikhauses Hug. Ihr geräumiges Büro befindet sich an einem der schönsten Orte in Zürich, hoch über dem Limmatquai, unter der Zinne der «Münsterburg», einem Geschäftshaus, das mit sechs Geschossen Mitte des 19. Jahrhunderts als eines der ersten Hochhäuser gelten durfte. Aus den Fenstern blickt man nach Westen zum Dach der Wasserkirche, nach Süden zum See und, je nach Wetter, auf die Alpen.

Im ansonsten ziemlich nüchternen Büro steht eine Harfe, ein Familienerbstück aus dem 18. Jahrhundert. An der Wand daneben hängt ein altes, nachgedunkeltes Porträt in Öl, Pfarrer Jakob Christoph Hug sen., der Urururgrossvater von Erika Hug. Er gilt als Gründervater des Musikhauses Hug, auch wenn er eher unfreiwillig zum Geschäft kam. Er hatte seinem Freund Hans Georg Nägeli für dessen «Musikalien-Handlung und Leihbibliothek» Geld geliehen. Nägeli veröffentlichte Chormusik und Volkslieder wie den Evergreen «Freut euch des Lebens», aber auch die Erstausgabe des «Wohltemperierten Klaviers» von Johann Sebastian Bach, eine Pionierleistung. Er war ein begnadeter Musiker und Förderer des Chorgesangs – nicht umsonst wurde er «Sängervater» genannt –, aber ein miserabler Geschäftsmann. Als er überschuldet und zahlungsunfähig war, übernahm Jakob Christoph Hug wohl oder übel das Musikaliengeschäft, zusammen mit seinem Bruder und einem dritten Compagnon. Das war 1807 und wird als Gründungsjahr des Musikhauses Hug bezeichnet.

Das Musikhaus Hug dümpelte mehr schlecht als recht vor sich hin und wäre wohl eingegangen, wenn es nicht spätere Generationen mit grösserem merkantilem Geschick durch wechselvolle Zeiten gesteuert hätten, umsichtige Männer, väterliche Patrons, Förderer des Zürcher Musiklebens: Jakob Christoph Junior, Emil, die beiden Adolfs, Senior und Junior. Ihnen standen Brüder, Schwäger, langjährige, treue Mitarbeiter zur Seite. Und eine Frau, Susanna Hug-Wild, die in den 1850er-Jahren nach dem Tod ihres Mannes Jakob Christoph jun. zehn Jahre lang den Laden «mit grosser Energie und Sachkenntnis weiterführte», wie die Neue Zürcher Zeitung 1909 schreibt. Sie bewahrt das Andenken dieser «äusserst klugen und temperamentvollen» Frau mehr als vierzig Jahre nach ihrem Tod im Nachruf auf ihren Sohn Emil: Sie sei «die kostbarste Hinterlassenschaft» ihres Ehemannes gewesen. (In: Thomas Meyer, Musik & Hug, 2007) Ihre Ururenkelin Erika ist also nicht die erste Frau Hug an der Spitze des Unternehmens.

Musikhaus und Hausmusik

So wurde das Geschäft von Generation zu Generation weitergereicht, und man könnte denken, Erika Hug als Repräsentantin der sechsten Generation sei geradlinig und zielgerichtet ins Direktionsbüro der Hug ag marschiert. Ist sie aber nicht.

«In meiner Kindheit war das Geschäft weit, weit weg. Mein Vater hat Unternehmen und Familie strikt getrennt, zu Hause durfte man nicht vom Geschäft reden.» Sein Gegengewicht zum Musikhaus ist die Hausmusik. Abend für Abend spielt der Vater auf dem Flügel und beschert damit seiner Tochter eine der frühesten Erinnerungen: «Ich lag in meinem Bettchen, und von unten herauf drang Klaviermusik, erfüllte mich und alles, ich schwebte in Musik. So bin ich eingeschlafen. Und als ich ein bisschen grösser war, durfte ich im Musiksalon zuhören. Mein Vater spielte gut, so gut, dass mich stümperhaftes Geklimper bis heute ärgert. Er war ein sehr verschlossener, schüchterner Mensch, aber über die Musik konnte man sich ihm nähern. Ich lag am liebsten bäuchlings unter dem Flügel, ganz Ohr, und beobachtete dabei, wie seine Füsse die Pedale bearbeiteten. Wissen Sie, es klingt wahnsinnig dort unten!» Noch ist kein Konzerthaus auf die Idee gekommen, Tickets für diesen besten aller Plätze anzubieten.

Adolf Hug jun., Erika Hugs Vater, der Patron der fünften Generation, war der einzige Berufsmusiker in der Hug-Dynastie. Er studierte am Leipziger Konservatorium, schloss als Klavierpädagoge ab und fasste eine Pianistenkarriere ins Auge. Es sollte anders kommen, sein Vater brauchte ihn im Geschäft, zunächst in der Filiale in Leipzig. Kurz vor dem Krieg kehrte Adolf Hug nach Zürich zurück. 1943, nach dem Tod seines Vaters, trat er dessen Nachfolge an. «Zur Leitung des Musikhauses berufen, trennte er sich schweren Herzens von den geliebten Plänen und ging den Weg der Pflicht», heisst es in der Chronik zum 150-jährigen Jubiläum der Firma. Hinter diesem lakonischen Satz verbirgt sich ein Drama. Wäre Hans noch dagewesen, der um zehn Jahre ältere Bruder: Hätte nicht er die Leitung des Hauses übernehmen können? Wäre der Jüngere dann frei gewesen, seiner Neigung zu folgen? Aber der Bruder war verschollen, seit vielen Jahren schon, nie wurde auch nur eine Spur von ihm gefunden. Geredet wird nicht viel darüber in der Familie.

Neben dem Weg der Pflicht bleibt die Kür: das abendliche Klavierspiel allein oder im Duo mit der Geigerin Mrs. Murphy, einer irischen Diplomatengattin. Wenn Adolf Hugs Musiker-Freunde zu Besuch kommen, blüht er auf. Unter ihnen sind die Komponisten und Dirigenten Othmar Schoeck und Volkmar Andreae und der Pianist Kurt Herrmann, mit dem er einst in Leipzig Konzerte gab.

Erika lernt bei Mrs. Murphy Geige spielen, da ist sie etwa sechs Jahre alt. Es ist nicht ihr Wunschinstrument, aber sie wird nicht gefragt. «So war das damals. Ich fand es schwierig, ein Geknorze, krrrr, krrrr, krrrr, bis es endlich ein bisschen klang. Und mein Musiker-Vater sass daneben und musste sich das anhören.» Während der gesamten Schulzeit, Woche für Woche, geht sie in die Geigenstunde. Wenn sie daran denkt, fallen ihr zuerst die Rückenschmerzen ein: «Jeden Abend nach der Schule, nach den Hausaufgaben auch noch üben – uff! Ich war hochaufgeschossen und dünn und bekam beim Stehen sofort Rückenweh.» Und in der nächsten Lektion sagt die unerbittliche Mrs. Murphy mit sanfter Stimme: «Also ich täte jetzt ein bisschen mehr üben, sonst kommst du gar nicht weiter.» Klavier hätte ihr wahrscheinlich eher entsprochen, meint Erika Hug rückblickend.

Aber die Geige beschert ihr auch glückliche Erlebnisse. «Manchmal haben wir zusammengespielt, der Vater und ich, und wenn ich eine Vortragsübung hatte, begleitete er mich, das fand ich wunderschön. Über die Musik kam ich ihm am nächsten. Und später konnte ich im Orchester des Konservatoriums mitspielen. Wie das klang, wenn man mittendrin sass, das war toll.» Nach der Schulzeit sinkt das Instrument allerdings in einen Dornröschenschlaf, aus dem es bis heute nicht richtig aufgewacht ist. Die Mutter teilt das Interesse an der Musik und am Musikerleben nicht, wenngleich sich die Eltern im Musikhaus kennen gelernt haben. Der Junior-Chef erblickte einst das bildhübsche Mädchen im Sekretariat des hauseigenen Musikverlags. Susanna Elsa Kaufmann war die Tochter aus dem schicken Blumenladen gleich um die Ecke. Erika Hug charakterisiert ihre Mutter als «sehr narzisstisch, ichbezogen, das hat mein Leben und das meiner Schwester nicht gerade einfach gemacht. Aber sie war auch lebensfroh und trug gern schöne Kleider. Sie war immer eine schöne Frau und auf ihre Art selbständig bis ins hohe Alter.» Die Schwester ist fünfeinhalb Jahre jünger, «da ist man am Anfang Kindermädchen, notgedrungen».

Die Familie wohnt in einer Villa in Fluntern am Zürichberg. Die Mutter besorgt den Haushalt mit der Hilfe einer Putzfrau und einer Hausangestellten, die vor allem in der Küche wirkt. «Meine Mutter war keine Köchin, ich behaupte, dass sie nie in ihrem Leben gekocht hat.» Erika Hug erzählt das mit Vergnügen, denn sie selbst kocht leidenschaftlich gern. «Na ja, wenn es nicht täglich sein muss.»

Das Beste am Haus ist der Garten. «Als ich klein war, kurz nach dem Krieg, hatten wir noch Gemüse, Obstbäume und Beeren, das war ganz toll. Mit der Zeit sind die Beete verschwunden, stattdessen wurde überall langweiliger Rasen angelegt.» Sie hegt und pflegt ihr eigenes Blumenbeet. Im Spätherbst steckt sie Tulpenzwiebeln in den Boden, beobachtet im Frühling fasziniert die ersten Blattspitzen und wartet darauf, wie die dicken, grünen Knospen allmählich Farbe annahmen. Gelb oder rot? Manchmal schneidet sie Sträusse, Tulpen im Frühling, Gladiolen im Sommer, und verkauft sie ihrer Mutter.

Hin und wieder kommt Erikas Gotte auf Besuch, Vaters Schwester Eva, die mit dem Schriftsteller und Maler Albert Welti verheiratet ist und in einem Vorort von Genf lebt. Sie bringt den Hauch einer ganz andern, aufregenden Welt mit, in der Künstler, Autorinnen, Wissenschaftler vorkommen. «Eine aussergewöhnliche Frau, sehr hübsch. Sie soll vor ihrem Vater nach Genf geflohen sein, das habe ich nie so genau erfahren, auch darüber sprach man nicht. Jedenfalls hat sie in Genf Biologie studiert und doktoriert. Ich ging sehr gern zu ihnen in die Ferien, sie hatten ein kleines Haus mit Bildern an den Wänden, sehr französisch, ganz anders als bei uns. Meine Gotte besass ein ganzes Zimmer voller biologischer Präparate, kleine Skelette und getrocknete Tiere, Fische und Käfer, Vogeleier, das fand ich total faszinierend. Wenn ich von den Ferien heimkam, legte ich selber Sammlungen an. Meine Gotte schenkte mir Kartonschachteln, die in kleine Fächer unterteilt waren, darin bewahrte ich Steine, Seepferdchen, Schneckenhäuser auf, alles Mögliche. Ich besass im Estrich ein ganzes Lager von solchen Schachteln.»

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Erika Hug, etwa vierjährig.

«Es hat gebrannt in der Nacht»

Unvergessen jener Morgen – 1957, Erika besucht die Sekundarschule –, als sie zum Frühstück herunterkommt und weder Vater noch Mutter vorfindet, die Betten leer. Das hat es noch nie gegeben, was ist los? In der Schule erfährt sie, dass es in der Nacht gebrannt habe, «ich glaube, bei euch», sagt der Lehrer. Erika weiss von nichts. Verstört eilt sie am Mittag nach Hause. Die Mutter ist wieder da. Ja, das Hauptgeschäft am Limmatquai habe gebrannt, die oberen Stockwerke der Münsterburg. Nein, es sei niemand verletzt worden.

Sie steht vor der Brandstätte, blickt an der Fassade empor zu den russgeschwärzten Fensterhöhlen – «das ist kein schöner Anblick» – und stellt sich mit Schaudern vor, wie der Hauswart mit der Leiter aus seiner Wohnung im obersten Stockwerk des brennenden Hauses gerettet werden musste, sehr dramatisch, es hätte bös enden können. Das Haus ist noch abgesperrt, es sei einsturzgefährdet, des vielen Löschwassers wegen, sagt der Vater. Später erfährt man die Brandursache, eine Leinöl-Mischung, von einer Putzfrau in einem Schrank zurückgelassen, hat sich selbst entzündet. Die Statik erweist sich als stabil, aber nach und nach zeigt sich das Ausmass des Schadens. In den oberen Stockwerken befinden sich der Verlag und die Musikaliensammlung, es sind wertvolle Originale verloren gegangen. Erschwerend kommt hinzu, dass das Haus unlängst umgebaut wurde und die Versicherung noch nicht dem neuen Wert angepasst war.

Weichenstellungen

Als Erikas Berufswahl ansteht, denkt niemand an eine Zukunft im Geschäft. Dass sie als Vertreterin der sechsten Generation in die Firma eintreten könnte, wird niemals auch nur erwogen. «Aber ich wusste genau, ich wollte in die Handelsschule.» Ein glücklicher Entscheid. In der Handelsschulabteilung der Töchterschule im ziemlich neuen Gottfried-Keller-Schulhaus an der Hottingerstrasse fühlt sie sich ausserordentlich wohl. «Nach der Sekundarschule war das eine Erfrischung, die ihresgleichen suchte. Endlich hatten wir richtig gute Lehrer – die siezten uns! Die nahmen uns für erwachsen! Das machte mir enorm Eindruck. Sie stellten aber auch Ansprüche. Dass es eine reine Mädchenschule war, empfand ich als grosse Erleichterung. Plötzlich konnte man über alle möglichen Themen diskutieren, ohne von den Buben gestört zu werden. Es herrschte eine super gute Stimmung.»

Erika Hug begeistert sich unter anderem für ein Fach, das bei den meisten Schülerinnen verpönt ist: «Wir hatten eine absolut tolle Buchhaltungslehrerin. Die meisten hatten Angst vor ihr, ich nicht. Zwei oder drei von uns waren gut in diesem Fach, und wir verstanden uns prima mit ihr. Die andern quälten sich mit der Buchhaltung herum.»

Nach dem Diplom verbessert sie ihre Sprachkenntnisse, Englisch in Cambridge, Italienisch in Perugia, und tritt danach ihre erste Stelle als Buchhalterin an. «Es war eine kleine Firma für Hörgeräte, nicht sehr sexy. Aber es waren lustige Leute, und es gefiel mir, dass ich die Buchhaltung ganz selbständig machen konnte, inklusive Abschluss, zusammen mit der Revisionsstelle.»

Mit 23 zieht sie von zu Hause aus. «Ich fand eine kleine Dachwohnung an der Hofackerstrasse mit toller Aussicht, direkt in den Schülergarten. Ich hatte immer Wohnungen mit Ausblick. Ich finde es schlimm, wenn man nur eine Hauswand vor der Nase hat.» Sie, die immer gerne gemalt hat, bildet sich zur Werbeassistentin weiter, da kommen ihre künstlerischen Interessen und gestalterischen Fähigkeiten zum Zug. Und sie lernt neue Leute kennen, Maler, Bildhauer, Künstler. Durch einen Schauspielerfreund erweitert sich ihr Bekanntenkreis zusätzlich um Theaterleute, Schriftstellerinnen, Redaktoren. Für sie geht buchstäblich eine neue Welt auf. Man trifft sich in den angesagten Beizen des Niederdorfs, jeder kennt jeden. «Es war unerhört anregend, ein intellektuelles Aufwachen: ‹Das musst du lesen!› und ‹Jene Ausstellung musst du gesehen haben!› Nächtelang haben wir diskutiert. ‹Und was findest du dazu?›, wurde ich gefragt und war baff, dass sich jemand ernsthaft für meine Meinung interessierte.»

Von dieser Welt fühlt sich Erika Hug angezogen. Sie malt und zeichnet selber, beteiligt sich an Ausstellungen, mit Erfolg: «Ich habe mal im Helmhaus gehangen», sagt sie nicht ohne Stolz. In jener Ausstellung werden die prämierten Werke von jungen Zürcher Künstlerinnen und Künstlern gezeigt. Sie erwägt, ob sie die Kunst zum Beruf machen soll. Es gibt so vieles, was sie interessiert: «Man kann auch Filme machen, oder Musik, oder Literatur. Ich musste eine Entscheidung fällen.»

Diese führt nicht tiefer in die Künstlerwelt und lässt doch das Gestalterische nicht ausser Acht. Erika Hug belegt an der Hochschule St. Gallen ein zweijähriges Seminar zur Werbeleiterin, das sich bald als sehr brauchbar erweisen wird. «Das war eine andere Liga als die Werbeassistentin, es ging auch um Marketing, Strategie, Führung.»

Einstieg ins Geschäft von unten und oben

Adolf Hug ist drauf und dran, die Firma zu verkaufen. «Als ich sah, wie er sie verkaufen wollte, war ich entsetzt», erinnert sich seine Tochter. «Dann kannst du sie genauso gut verschenken, sagte ich. Ich sah schon die Aasgeier kreisen.» Darauf sagt der Vater etwas, was er noch nie gesagt hat: «Aber dann musst du in die Firma kommen.» Sie nimmt die Herausforderung an. Das bedeutet nun endgültig die Abkehr von einem Berufsweg als Künstlerin, «aber Musik und Musikinstrumente verkaufen, damit konnte ich mich schon identifizieren». So steigt sie am 1. September 1973 gleichzeitig von unten und von oben ins Musikhaus Hug ein: Sie arbeitet sich in den Musikverlag und in die Werbung ein und nimmt Einsitz in den Verwaltungsrat.

Die Werbung entpuppt sich als ausgezeichnete Möglichkeit, die Firma gründlich kennen zu lernen und Einfluss zu nehmen. Schon im folgenden Jahr übernimmt sie die Werbeleitung und kümmert sich um das Erscheinungsbild. Musik verbindet Tradition und neuste Technik, sie ist ästhetisch und kreativ, das macht Erika Hug im Auftritt des Musikhauses sichtbar, angefangen beim Namenszug. Sie verwendet dafür abwechselnd Lettern einer klassischen Serifen- und einer strengen Groteskschrift. Das Firmenlogo erscheint an jeder Filiale, in jedem Inserat, auf jedem Briefkopf, auch die Grafik der Musikalien und die Innengestaltung der Verkaufsräume passen dazu. Corporate Identity heisst das in der Sprache der Werber. Bis heute ist das ein Bereich, der Erika Hug fasziniert und den sie mitprägt: «Alles, was Sie sehen, trägt meine Handschrift.»

1979, nach dem Tod ihres Vaters, tritt Erika Hug in die Geschäftsleitung ein. Die Durchsetzung auf der Chefetage ist kein Spaziergang. «Der Direktor, den mein Vater eingestellt hatte, agierte gegen mich, das wäre nicht nötig gewesen. Ich suchte mir Unterstützung im Verwaltungsrat und musste mich schliesslich von diesem Direktor trennen. Auch von einigen andern Leuten, das war sehr belastend. Eigentlich wurde es erst gut, als ich die führenden Leute selbst eingestellt hatte. Man muss sich in der eigenen Firma behaupten können, sonst wird das nichts.»

Das traut man ihr ohne weiteres zu. Gross, sportlich, kurz geschnittenes Haar, markante Brille, heller Hosenanzug – diese Frau weiss, was sie will. Aber sie relativiert: «Zäh war ich zwar immer, aber mein Selbstbewusstsein habe ich eigentlich erst im Alter bekommen.» Ob es für Frauen schwerer sei, sich durchzusetzen? «Ganz klar ja», sagt Erika Hug, «in der Schweizer Wirtschaft sind die Frauen nach wie vor nicht integriert. Das hat mit der Kinderbetreuung zu tun. Wie sollen sich die Frauen in Ruhe auf ihre Karriere konzentrieren, wenn sie sich um ein oder zwei Kinder kümmern müssen? Ich konnte mich ganz aufs Geschäft einlassen, weil ich keine Familie hatte.»

In den Achtzigerjahren begibt sie sich auf Reisen, um Geschäftsbeziehungen zu knüpfen, «das hat mein Vater nicht mehr gemacht». Sie reist allein in die USA und nach Fernost. Aus Südkorea bringt sie eine Generalvertretung für Klaviere mit. Von Japan ist sie begeistert: «Die haben ja einen Geschmack! Ein Farben- und Formgefühl, einmalig! Wenn man als ausländischer Geschäftspartner ankommt, ist alles hervorragend organisiert und blitzsauber.» In Japan sind die weltweit grössten Produzenten von Musikinstrumenten wie der Pianohersteller Yamaha beheimatet. Aber Erika Hug bringt auch praktische Ideen mit nach Hause. «Yamaha hat an der Ginza in Tokio einen Laden. Das ist ein sehr teures Pflaster, da muss man jeden Quadratmeter ausnutzen. Die Musiknoten hatten sie im Kellergeschoss. Zu meiner grossen Verwunderung standen die Noten dort wie Bücher im Regal, mit einem festen Umschlag versehen.» Das leuchtet ihr sofort ein: «Im Yamaha-Laden bedienten sich die Kunden selbst, und die Noten brauchten sogar noch viel weniger Platz. Wie umständlich und unübersichtlich dagegen unser System: Wir hatten damals im Hauptgeschäft drei Stockwerke voll Musiknoten, auf Brettchen gestapelt. Das Personal holte den Stapel aus dem Lagerraum, knallte ihn vor dem Kunden auf die Theke zum Durchblättern und musste ihn danach wieder in Ordnung bringen und wegräumen.» Als sie, zurück in Zürich, ihren Fachleuten die japanische Einrichtung schildert, wehren diese ab: «Aber das geht doch nicht! Wir haben das immer so gemacht! Wir sind doch der Huuug!» Um es kurz zu machen: Erika Hug setzt sich durch, die Notenabteilung wird beträchtlich verkleinert und für die Kundschaft zugänglich gemacht.

Die Unternehmensführung bleibt eine Herausforderung. Der technische Wandel im Musiksektor ist seit mehr als hundert Jahren enorm. Schon im frühen 20. Jahrhundert löste eine Novität die andere ab, Phonographen, Reproduktionsklaviere, Spielautomaten, Grammophone kamen in Mode und sanken schon bald wieder in Vergessenheit. Das ist bis heute nicht anders. «Als ich anfing, gab es noch keine CDS. Plötzlich kamen sie auf, und es galt, schnell zu reagieren, Platz zu schaffen, die Gestelle auszuwechseln. Man muss sich immer mit der Entwicklung des Marktes befassen, neben der Tradition und der Liebe zur alten Musik offen sein für Neues, für elektronische Tasteninstrumente, E-Gitarren, Perkussion. Hinzu kommt, dass die vielen Mietinstrumente und das grosse Lager an Meisterinstrumenten viel Kapital binden. Und schliesslich muss man Geld verdienen, das ist das A und O. In dieser Branche ist das sehr anspruchsvoll.»

Doch noch eine eigene Familie

Damit hat Erika Hug nicht gerechnet. Dieser Mann ist offen, gewinnend, von entwaffnender Unbeschwertheit, «eine absolut aussergewöhnliche Person und das pure Gegenteil meines introvertierten Vaters». Sie lernt Eckard Harke 1986 auf einer Tagung des Fachverbands Musikinstrumente in Deutschland kennen, er leitet drei Musikfachgeschäfte in Detmold und Paderborn. Als Erika Hug und Eckard Harke 1989 heiraten, ist das nicht nur ein privates Glück, sondern auch für die Firma ein grosser Gewinn. Denn er kennt das Handwerk von Grund auf und ist ein erfahrener Musikfachhändler. «Solche Leute sind dünn gesät. Plötzlich hatte ich einen super Fachmann, das hat uns wahnsinnig stark gemacht.» Sein eigenes Geschäft übergibt er seinen Söhnen aus erster Ehe.

Und es geht weiter mit dem unverhofften Glück, Erika Hug wird mit 43 Mutter. «Ich hatte mir immer Kinder gewünscht, aber einfach keinen guten Mann gefunden, ich hatte ja gar keine Zeit dazu.» Rechtzeitig vor der Ankunft des Babys zieht die Familie in eine geräumige Wohnung in Zumikon. «Meine bisherige Wohnung war zu klein, und in der Stadt fand ich nichts Passendes. Ich muss Ruhe haben und einen Ausblick. Später mieteten wir ein Haus in Küsnacht mit einem wunderbaren Garten, ich bin ein Mensch der Erde.»