Über dieses Buch

Tante Domenica ist gestorben. Die bigotte alte Jungfer hatte mit dem Pfarrer zusammen über die Moral im Dorf ge­wacht. An ihrem Totenbett sitzt der angereiste Neffe. Jugenderin­nerungen steigen hoch, und im Leichenzug be­geg­net er Giovanna, seiner ersten Liebe, wieder. Aus den Erinnerungen zwischen Zorn und Zärt­lich­keit ersteht ein eindrückliches, realis­tisches Bild des alten Val Bavona, entwickelt sich die Geschichte einer glücklich-­un­glücklichen Kindheit und ­Jugend im engen Tal, geprägt von Katholizismus und ­Tradition. Dann erhält Tante Domenica eine feierliche ­Totenmesse, wird zu Grab getragen, ein jeder wirft eine Handvoll Erde ins Grab und geht seiner Wege. Libera me, Domine!

Martini%20Plinio.tif

Plinio Martini lebte von 1923 bis 1979 in Cavergno im Maggiatal als Volksschullehrer, Lyriker, Romancier und Er­zäh­ler. Martini revidierte die klischierten Tessinbilder in
der Literatur und gehört als Klassiker in jede Tessinbibliothek. 

Plinio Martini

Requiem für Tante Domenica

Roman

Aus dem Italienischen von Trude Fein

Limmat Verlag

Zürich

Die Erzählung spielt im Val Bavona, einem hochgelegenen Tessiner Tal. Dennoch wird man auf der Karte dort vergeblich einen Ort Aldrione suchen – es ist ein Deckname. Auch das Bergmassiv Sevinera wird man nicht auf der Karte finden. Es steht hier symbolisch für die Abgrenzung des Tessins gegen Norden.

In der geräumigen Küche von Tante Domenica wartete Marco inmitten der Verwandten, gleich ihm fast alle Brüder, Vettern oder Neffen väterlicherseits der Abgeschiedenen, die mit ihren Frauen oder Männern und Kindern zum Begräbnis zusammengeströmt waren, auf den Beginn der Leichenfeier. So zahlreich waren sie erschienen, daß er, der seit einigen Jahren in der Ferne lebte, ganz erstaunt war, als er sie nun alle beisammen sah, und, allerdings ohne viel Erfolg, eine Rechnung aufzustellen, die jüngeren Familienmitglieder ihrer Ähnlichkeit nach den betreffenden Eltern zuzuordnen versuchte. Wenn er bedachte, daß zu Ende des letzten Jahrhunderts der Großvater als einziger der Serazzi-Sippe im Dorf verblieben war, um den Namen der Familie lebendig zu erhalten, während alle anderen durch Unglücksfälle umgekommen oder ausgewandert waren, schien es ihm geradezu unmöglich, daß diese ganze Schar seinen patriarchalschen Lenden entsprossen sei, um zu der erschreckenden Bevölkerungszunahme der Welt das ihre beizu­tragen.

Männer, Frauen, Kinder drängten sich in der Küche und im Gang. Nur die Vorratskammer auf der anderen Seite blieb durch die Stille des Todes vor dem Lärm bewahrt. Dort war er kurz vorher eingetreten, um der Tante den letzten Gruß zu entbieten. Er war einen Augenblick lang neben dem schon verschlossenen Sarg gestanden, ohne daß es ihm gelang, irgend­einen Gedanken in sich zu entdecken, außer einem allgemeinen Gefühl der Traurigkeit über die verfließende Zeit, die vertraute und geliebte Erscheinungen auslöscht und andere, ebenso vergängliche entstehen läßt. Er war auch nicht imstande, ein Gebet, ein Requiem, in Worte zu fassen, wie es sicherlich die anderen, die vor ihm an der Bahre vorbeidefiliert waren, getan hatten und wie es eben jetzt auch einige Frauen taten, vermutlich entfernte Verwandte oder Kirchenfreundinnen der armen Tante, die in ihren dunklen Kleidern schweigend an der Wand standen, den Rosenkranz in den gefalteten Händen, während Perle um Perle von Daumen und Zeigefinger ertastet wurde, um dann, wenn das Avemaria zu Ende war, gleichsam von einem winzigen Automaten verschluckt, in der Hand zu verschwinden. In dem herrschenden Halbdunkel war es kaum zu merken, daß sie beim Erscheinen jeder neuen Person die Lider aufschlugen und den Blick zur Tür schweifen ließen, um ihn, sobald sie den Namen, den Verwandtschaftsgrad und den Gesundheitszustand des Eingetretenen festgestellt hatten, gleich wieder zu senken und in ihre archaische Regungslosigkeit zurückzukehren.

Doch er fühlte sich von ihnen beobachtet und somit gezwungen, seine Ehrfurchtsbezeugung vor der sterblichen Hülle auszudehnen, sich in dieser unwirklichen Stille länger ihren verstohlenen Blicken aus­zusetzen. Er wußte, daß die schwarzen, silberbefransten Vorhänge, die ringsum drapiert waren, alte Lärchenholzregale verdeckten; um seine Gedanken zu beschäftigen, suchte er sich zu vergegenwärtigen, wie sie an den Wänden entlangliefen, vollgestopft mit allen möglichen Töpfen und Schüsseln aus Stein und Steingut, mit Säcken und Büchsen und anderen ausgedienten Gegenständen, die hier ordentlich verwahrt wurden. Da gab es vor allem Schöpfkellen und Löffel zum Abrahmen in allen möglichen Größen und altertümlichen Formen, Becken, Kannen, Buttermodeln, konzentrisch ineinandergesteckte Rahmen für die Käse­formen, Butterfässer, Molke- und Pökelfäßchen aus Ahorn-, Eschen- und Eichenholz mit Maßeinteilung in präziser Einlegearbeit, alles wie es der Groß­vater vor vielen Jahren, nach seiner letzten Alpfahrt, mit weiß Gott welch bekümmerten Gedanken hier versorgt hatte und wie es seither treulich aufbewahrt wurde, als könnte es noch jemandem dienen – und vielleicht hatten sogar schon die Hände von Altwarenhändlern darin herumgewühlt, die es nicht erwarten konnten, in diesen Zeugnissen uralten Duldens zu stöbern und zu kramen. Jetzt hatte man diese Dinge verborgen, beinahe als wären sie des Mysteriums des Todes nicht würdig; doch sie waren mit dem ewigen Schlaf der Tante, die man gleichfalls mit geduldiger Sorgfalt in ihren Sarg gebettet hatte, inniger verbunden als die ringsum ausgespannte, fransengezierte Dekoration, die man vielleicht ursprünglich gar nicht in Aussicht genommen hatte, aber schließlich nicht umgehen konnte, aus Platzgründen und wahrscheinlich auch weil es jetzt, da der Dorftischler sich vornehm als Leichenbestattungsunternehmer etabliert hatte, eine Beleidigung gewesen wäre, ihn nicht heranzuziehen.

Der war in seiner neuen Würde gleichfalls erschienen, stolz auf die wohlgelungene Inszenierung und pünktlich in der Ausübung seiner Obliegenheiten. Er hatte sich einen schwarzen Anzug und das obligate Leichenbittergesicht, halbwegs zwischen dem Totengräber und dem Pfarrer, zugelegt, dazu einen krummen Rücken, was ihm die Verneigungen erleichterte, denn er hatte sich auch angewöhnt, seine Offerten, Ratschläge, Empfehlungen mit einer salbungsvollen, dienernden Bewegung, einem Zurückweichen des Hinterteils, zu begleiten. Eine wenig schätzenswerte Gewohnheit, die um so ungerechtfertigter erschien, als es sich bei seinen Kunden um Leute handelte, mit denen er normalerweise auf du und du stand; sie hatte ihn schon weit von seinem früheren redlichen Handwerkertum entfernt, als noch jeder Sarg von Fall zu Fall nach Maß zurechtgehobelt und zusammengenagelt wurde, und ihn zum Urbild der Nachkriegs-Tessiner umgeformt, die in der Tür der diversen Grand-Hotels und Kursäle bereitstehen, um vor jedem echten oder falschen Maharadscha und jedem großen Tier aus dem Norden ihre Katzenbuckel zu vollführen. Wobei dieses Zurückweichen oder Hinausrecken des Hintern eine Reflexbewegung war, die ihren Höhepunkt fand, oder besser gesagt geadelt wurde, als der ehrenwerte Vorsteher des Innendepartements und zugleich Chef des Kantonalen Fremdenverkehrsverbandes auf seiner Propagandareise nach Hamburg, im Nationalkostüm dienernd, eine Kamelie – das Lächeln unserer Seen, wenn dort oben alles noch vor Kälte klappert – überreichte: «Kennen Sie das Land, Madame, wo die Kamelien blühen?»

Ungeachtet der feierlichen Pompe-funèbre-Dekoration strömte das Steinpflaster der Vorratskammer aus alter Gewohnheit noch immer seinen Geruch nach unserer heimatlichen Nahrung, nach Wurst, Kastanienmehl, Käse, Kartoffeln aus, den die Verwandten durch Versprengen von billigem Kölnischwasser vergeblich zu vertreiben versucht hatten. Mitten im Raum stand der nackte Fichtensarg, vier Kandelaber und ein Kruzifix, aber entsprechend dem letzten Willen der Verstorbenen ohne allen Blumenschmuck. Wohltätige Spenden hingegen ja. Auf ihrem Totenbett hatte die arme Tante wiederholt den Wunsch geäußert, man solle sich über das hinaus, was zur Wahrung der religiösen Würde unbedingt notwendig wäre, keine Kosten machen, um das belanglose Ereignis ihres Hinscheidens aus dieser Welt feierlich zu gestalten, und das so ersparte Geld den kirchlichen Hilfswerken, den Missionen und dem Pfarrer für das Lesen von Seelenmessen zukommen lassen.

Über diese ausdrücklichen letztwilligen Verfügungen und ihre Durchführung wurde er von Margherita informiert, die ihn beiseite zog und mit Beschlag belegte, sobald er nur die Vorratskammer verlassen und die von Menschen wimmelnde Küche betreten hatte; so als ob die würdevolle, saubere Armut seiner Verwandten sich schämte, nicht mehr getan zu haben, und es daher notwendig sei, ihn unter vier Augen aufzuklären. Gleichzeitig mit dieser ausführlichen Auskunft nahm er das Stimmengewirr der Anwesenden in sich auf wie einen Klang, der nicht der Gegenwart ­ent­­stam­mte, sondern aus der Tiefe seiner Jugenderinnerungen oder noch ferneren Tagen wieder empor­tauchte: das Durcheinander zwitschernder Frauen­stimmen, von männ­lichen Einzellauten kontra­punktiert, das übliche Geplauder von Leuten, die nichts Rechtes anzufangen wissen und sich die Zeit mit Reden vertreiben, über das Wetter, die Gesundheit, die Arbeit, die Kinder, alles, was bei einem solchen Anlaß nicht unpassend erscheint, da ja eine Leichenfeier eine der wenigen Gelegenheiten ist, bei denen sich wieder einmal alle zusammenfinden; oder auch Erinnerungen an die Selige, was sie gesprochen, ehe sie für immer die Augen schloß, wieviel sie gelitten und wie sie, fromm wie sie war, ihr eigenes Ende vorausgesagt hatte.

Mit ihrem Gesicht, das von einer überlangen Nase bis zum schmalen Schlitz des Mundes in zwei asym­metrische Hälften geteilt war und kein Lächeln zustande brachte, war Tante Domenica nach siebzig Jah­ren irdischer Mühsal und endlosen, von Darmkrebs verursachten Todesqualen Montag, den 19.März 1962, am Tag des heiligen Joseph, in ein besseres Dasein ­eingegangen. Dies war, wenn man Margherita glauben wollte, ein bedeutsamer Umstand; weil besagtem ­Heiligen bei der Aufteilung der himmlischen Hilfe­leistungen just die Pflicht zugefallen ist, den Christen in ihrer Todesstunde beizustehen; und der Tod der Tante wäre auch wahrhaft erbaulich gewesen, ein Tod im Geruch der Heiligkeit, wie Don Luigi ausdrücklich erklärt hatte.

Als der Pfarrer in jener Nacht nach dem Beten des Proficiscere das Ritualbuch zuklappte und in achtungsvollem Schweigen dem Sichschneuzen der anwesenden Frauen lauschte, hatte er sich, durchdrungen und erleuchtet von jener Atmosphäre, die eigentlich nichts anderes ist als Duft und Licht der soeben von den ­Engeln in den Himmel entführten Seele – und in seiner frommen Begeisterung erkühnte er sich sogar zur ­Hypothese von einem vagen Echo der himmlischen Harmonien –, hatte er sich also trotz der späten Stunde offenbar nicht recht zum Schlafengehen entschließen können und war noch ein Weilchen geblieben, um ­weitere schöne Worte von sich zu geben. Marco suchte ihn sich vorzustellen, den dicken, frommen Mann in Chorhemd und Stola zu Füßen des Bettes, vor dem weißen Hintergrund der Leintücher, aus denen die große tote Nase gleich einer einsamen Felszacke geradewegs zum Himmel aufragte, wie er die bereits Getrösteten zu trösten fortfuhr: die weitgeöffnete Hand mit drei ausgestreckten Fingern in einer schützenden Gebärde erhoben, Daumen und Zeigefinger jedoch schulmeisterlich aneinandergelegt, genau wie die frommen Seelen es nach der geheiligten Ikonographie der Kirchenlehrer von ihm erwarteten; jetzt da er seine Pflicht erfüllt und der Sterbenden beigestanden hatte, ließ er sich gern zu einem Glas Wein in ihrer bescheidenen Gesellschaft herab.

«Das ist einmal ein braver, einfacher Herr», erklärte Margherita, wobei in ihrer Bemerkung ein unausgesprochener Tadel seines Vorgängers lag. «Don Carlo, der hat unsere Stühle nie mit seinem Hintern beehrt, außer vielleicht in den allerletzten Jahren am Karsamstag, wo er schon alt war und die Leute im Dorf sich doch so vermehrt haben, daß ihm der Einsegnungsrundgang zu einer wahren Via crucis wurde; aber gerade nur zwei Minuten lang und bloß so am Rand, um seiner Würde nichts zu vergeben, als ob es ihn vor unseren Sachen grauste.» Sie schlug sich erschrocken auf den Mund, weil ihr eine Bosheit über einen verstorbenen Geistlichen herausgerutscht war, und entschuldigte sich gleich: «Friede seiner Seele! Aber Don Luigi, der hat sich nicht rasch davongemacht, sondern von diesem und jenem geplaudert und dann die Rede auf die arme Tante gebracht: eine Heilige, die die christlichen Tugenden bis zum Heldentum praktiziert hätte – genau so hat er gesagt. Und Sankt Joseph hätte sie belohnt. Das ist aber wirklich wahr, denn noch Sonntagabend hat die arme Tante gesagt, morgen würde sie sterben. ›Diese Gnade ist mir der heilige Joseph schuldig‹, hat sie gesagt, ›daß er mich an seinem Namenstag sterben läßt.‹ Und gegen ein Uhr nachts ist sie dann wirklich gestorben.»

Hier mußte sie innehalten, um wieder zu Atem zu kommen, ein bißchen keuchend, aber hochbefriedigt, weil jetzt fast alle verstummt waren, um ihrer Rede zu lauschen. Marco benützte die Gelegenheit und trat einen Schritt zurück, um der unmittelbaren Auswirkung dieses apologetischen Eifers, nämlich dem feinen Sprühregen, zu entgehen, den die gute Frau, die ihre Rede vor allem an ihn richtete, ihm ins Gesicht hauchte.

«Schmerzen hatte sie keine mehr. Wir wußten schon, das war die Besserung knapp vor dem Tod, und sie beklagte sich beinah, daß es ihr besser ginge, denn wenn man ihr glauben wollte, hätte sie ein sündhaftes Leben geführt. Wie oft wäre sie schwach und feige gewesen, so hat sie gesagt, und das Paradies müßte man sich verdienen. Und sie müßte auch für die anderen leiden, für die arme Angela, die ohne das heilige Sakrament sterben mußte, für die Großeltern, die Neffen. Wißt ihr, sie hat sich an euch alle erinnert, auch an dich, Marco, sie hat immer gefragt, in welches Land es dich jetzt verschlagen hätte. Dann hat sie den Kopf geschüttelt und geseufzt. Ach, du hast sie manchen Seufzer gekostet! Du warst ja ihr Patenkind, und sie hat solche Pflichten ernstgenommen. Wer weiß, was sie von deinem Beruf gedacht hat, der dich von einer Stadt in die andere treibt, denn, hat sie gesagt, um sein Seelenheil einzubüßen, ist schon das Valbavona groß genug. Und dann glaube ich, was sie sich nie verziehen hat, war damals dein … Also deine Geschichte in Aldrione, weißt du noch? Nichts für ungut, jetzt ist ja alles längst vorbei. Und was mich betrifft …» Sie zuckte konziliant die Schultern, eine plumpe, bäurische Gebärde, als bildeten Kopf und Rumpf einen einzigen Block. «Ich meine, damals, wie die Giovanna bei der armen Leonilde zu Besuch war. Und die arme Tante hat immer behauptet, sie allein wäre schuld daran … Na ja. Aber du kannst dir nicht vorstellen, wieviel sie für die Giovanna gebetet hat, ein so wohlerzogenes Mädel und richtig angeleitet, hat sie gesagt, bei ihrer Intelligenz hätte sie sogar Klosterschwester werden können. Und was passiert? Sie brennt aus dem Pensionat durch, brennt von zu Hause durch, heiratet, läßt sich wieder scheiden! Und dann streunt auch sie in der Welt herum, genau wie du, alle beide wie der Ewige Jude … Heutzutage haben die Menschen keinen festen Boden mehr unter den Füßen, hat sie immer gesagt, aber auf dem Kirchhof werden sie ihn wiederfinden. Das war ja ihr ein und alles: Tod, Gericht, Hölle, Paradies. Als ob man nur lebte, um zu sterben …»

«Lebend zahlt man den Tod ab.»

Aus «Il porto sepolto» von Ungaretti.

Die Verszeile, die Marco in den Sinn kam, schien ihm das gleiche zu bedeuten. In Tante Domenicas Sicht war der Tod wohl ein bereits verfallener Wechsel, den der Inhaber mit dem Anspruch des Wucherers jederzeit ohne Kündigungsfrist präsentieren kann: hier die ­geliehene Sum­me, hier die fälligen Zinsen. Tante ­Domenica hatte nur gelebt, um ihren Wechsel abzuzahlen, sie hatte mit eiserner Willenskraft jede Freiheit, die wenigen Freuden, die das Leben bietet, von sich gewiesen, denn das Leben war seinem Ursprung nach ein Übel, von dem es sich um diesen Preis los­zukaufen galt. Das war kein Wahnsinn; es war die Ableh­nung jeder Mittelmäßigkeit im Hinblick auf die Wer­te, die sie anerkannte und in deren Rahmen es ­wenigstens keine zermürbende Angst und Verzweiflung gab. Zumindest diesen Vorzug hatte Tante ­Do­menica gehabt …

«… Und als sie schließlich für alle gebetet hatte, Lebende und Tote, da hat sie sich noch an einen Holländer erinnert und auch für ihn ein Vaterunser, Ave und Gloria gesprochen … Ach, das muß ich dir aber erzählen! Voriges Jahr, als sie schon sehr krank war, ist sie in Aldrione doch noch einmal ausgegangen, um in der Kapelle des heiligen Joseph zu beten; nicht etwa daß er sie von ihren Qualen befreie, sondern daß er ihr die Kraft gäbe, sie zu ertragen. Und in der Kirche stand das Allerheiligste, Don Luigi hatte es, glaub ich, eigens für sie ausgestellt. Sie legt also die Hand auf die Klinke, schon ganz in Andacht versunken. Ich war mit Corinna draußen auf dem Platz, wir konnten alles genau sehen. Sie hat also die Hand schon auf der Klinke, da geht die Tür von selbst auf, und sie steht gerade vor einem Holländer, der nur so aus Neugier hineingegangen war, um zu gaffen. Aber in was für einem Aufzug die Leute heutzutage eine Kirche betreten können! Der Kerl war nackt und blank wie eins von unseren schönsten Ferkeln, über und über rosig bis auf die Badehose, Slip, wie sie das nennen, aber nicht viel mehr als ein Band, grad daß er sein Zeugs da nicht verliert …» Sie schlug sich wieder auf den Mund. «Na, ja. Dazu hatte er zwei Brüste, beinahe wie ein Weibsbild, der Dickwanst …» Sie griff sich an ihren eigenen üppigen Busen. «… und einen riesigen Bauchnabel. Die arme Tante, die eine Stufe unter ihm stand und von ihrem Leiden schon ganz krumm war, wäre mit der Nase fast hineingerannt. Was das für ein Schock für sie gewesen sein muß! Was hat sie nicht unseren jungen Müttern alles hineingesagt, weil sie den Buben Hosen anziehen, die nur bis zum Knie reichen! Erinnerst du dich, Marco, was für Gesichter sie und Leonilde ­damals wegen Giovannas Kleid gemacht haben? Ach Gott, die arme Tante! Und der arme Don Carlo, Friede seiner Seele, der ihr solche Ideen in den Kopf gesetzt hat … Allen hat er sie in den Kopf gesetzt, und ihr natürlich besonders … Also an diesen Holländer hat die arme Tante sich auf ihrem Totenbett erinnert und für ihn gebetet, der Herr möge ihm die Gottes­lästerung verzeihen und seine Seele erretten.

Sie war so auf jede Stunde zum Beten versessen, daß wir ihr kein Morphium geben durften. Wir haben auch keinen Platz mehr für die Einspritzung gefunden. Ihr Hinterteil hat mich an das Stuckwerk im Beinhaus erinnert. Zwei Schenkel wie Zündhölzer, die Haut ganz welk und wie ein Sieb durchlöchert, man mußte immer eine Handvoll zusammenraffen. Die ganze Tante hat vielleicht noch dreißig Kilo gewogen. Sie ist praktisch verhungert. Wir haben sie mit Infusionen am Leben ­erhalten, mit ein bißchen Wasser … Und der ganze Körper ein einziger Schmerz.» Sie fuhr sich, durch ihre eigenen Worte ehrlich gerührt, mit dem Handrücken über die Augen. «Ach ja, das Gebet um einen heldenhaften Tod, das von Don Cafasso,

Don Cafasso, der Nachfolger von San Giovanni Bosco, Verfasser eines Gebets, in dem der Gläubige sich bereit erklärt, auch den furchtbarsten Tod freudig hinzunehmen, um seine Seele zu ­retten.

hat seine Wirkung auf sie gehabt, man weiß gar nicht wie.»

Margherita, die im Obergeschoß wohnte – mit ihrem Mann und zwei Söhnen, von denen der ältere seit ein paar Tagen zur Würde und Vornehmheit eines Verkehrspolizisten aufgestiegen war, und wieviel hatte er doch studieren müssen, der Ärmste, um zu Glanz und Pracht der Uniform zu gelangen! –, Margherita erlebte jetzt, in ihrer Eigenschaft als Hausherrin, Nichte und Krankenwärterin, die die Tante gepflegt hatte, die Stunde ihres bescheidenen persönlichen Ruhms. Noch während ihrer Rede griff sie nach der großen strohumflochtenen Flasche und begann Wein einzuschenken, etwa ein Dutzend Gläser voll. Dabei erklärte sie Marco, St. Joseph wäre ihr, der Tante, ­eigent­licher Heiliger gewesen, nicht nur als Schutz­patron des guten Todes, sondern auch, weil ihm die Kirche von Aldrione geweiht war.

«Und heuer wäre sie canepara

caneparo: Etwas Ähnliches wie Sakristan oder Messmer, doch mit größerer Verantwortlichkeit verbunden. Der Reihe nach fällt jedem Mitglied der Pfarrgemeinde das Amt zu, die Kirche in Ordnung zu halten.

geworden, sie war an der Reihe! Jetzt wo sie tot ist, wird es wohl mich treffen, aber wir anderen haben nicht die Poesie, die sie daran gewendet hat. Jeden Tag fegen und frische Blumen in die Vasen und die vier Kandelaber auf Glanz polieren …» Sie war mit dem Ausschenken ­fertig. «So, das ist für den Anfang, aber wenn jemand mehr möchte, es ist für alle genug da, Wein und ­Gläser!» schloß sie, während sie die Flaschenöffnung mit der flachen Hand abwischte und die Flasche verkorkte und auf den Tisch zurückstellte. Marco sah zu, wie sie das Tablett mit den Gläsern aufnahm und sich vorsichtig, um nichts zu verschütten, damit umwandte; rotbackig und vierschrötig, wie sie war, schien es, als trüge sie die gerla vor sich her, wie sie es alle Tage tun mußte, wenn sie das Heu aus dem Schober in den Stall schleppte.